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(4)  C. G. Jung 

   Anmerk 

 

125-155

Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, ging Ferenczi zunächst davon aus, daß die Therapie eine harmlose und ermutigende Tätigkeit sei, mit der sich die Überlebenden eines Traumas beschäftigen. Aber im Lauf der Zeit begann er, sich ernste Sorgen zu machen, daß die Therapie alles andere als harmlos sein könnte. 

Carl Gustav Jung erscheint uns wie eine Verkörperung der Befürchtungen von Ferenczi. Obwohl von vielen Seiten bestätigt wurde, daß Jung Anfang der dreißiger Jahre deutliche Sympathien für die deutschen Nazis zeigte, hat niemand versucht, eine Beziehung zwischen dieser wohlwollenden Einstellung und Elementen der Jungschen Psychotherapie herzustellen.

Jungs Interesse an der realen Welt war eingeengt durch seine persönlichen Vorlieben. Ich glaube, das erstaunliche Ausmaß der Versenkung in sein eigenes Selbst hat es Jung ermöglicht, sich gegenüber den realen Traumata, denen Menschen ausgesetzt sind, abzukapseln und politische Tragödien ebenso zu ignorieren wie persönliche.

Carl Gustav Jung (1875-1961) war ein Schweizer Psychiater, der seine Ausbildung an der Klinik Burghölzli in Zürich unter Eugen Bleuler erhalten hatte und während einiger Jahre (1907 bis 1912) eng mit Sigmund Freud verbunden war. Von seinen Kollegen war in der breiten Öffentlichkeit nur Freud bekannter als er selbst, und sein Ruhm war vielleicht noch weiter in der ganzen Welt verbreitet als der von Freud. Sein erstes Buch erschien im Jahr 1902, sein letztes wurde postum veröffentlicht. Seine gesammelten Werke sind in zwanzig Bänden herausgekommen. Nach seinem Bruch mit Freud ging er seinen eigenen Weg und begründete die Schule der »analytischen Psychologie«, die noch heute aktiv ist. Sie hat auf die gebildeten Kreise einen sehr viel stärkeren Einfluß ausgeübt als auf die Psychiatrie selbst. Dennoch haben die meisten eklektischen Psychotherapeuten einige ursprünglich von Jung formulierte Ideen in ihre Systeme übernommen.

 

   Jung und die Nazis   

 

Viele Menschen haben Jung vorgeworfen, während des Zweiten Weltkriegs mit den nationalsozialistischen Psychiatern in Deutschland zusammengearbeitet zu haben. Jung und seine Anhänger behaupteten, er habe mit der Übernahme der Präsidentschaft der <Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie> (deren Mitglieder bis dahin hauptsächlich Deutsche waren) seine jüdischen Kollegen schützen wollen, da sie nicht Mitglieder der deutschen Abteilung werden konnten, wohl aber Mitglieder der Internationalen Gesellschaft. Folgendes hatte sich zugetragen: 1930 wurde der deutsche Psychiater Ernst Kretschmer Präsident der <Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie>, die zwei Jahre zuvor gegründet worden war. Jung war ihr Vizepräsident.

1933, als in Deutschland eine Verordnung erlassen wurde, nach der alle künstlerischen, wissenschaftlichen und ähnlichen Gesellschaften »gleichgeschaltet«, das heißt der nationalsozialistischen Ideologie angepaßt werden mußten, stellte Kretschmer, der kein Nazi war und dem es darauf ankam, daß die Psychotherapie ausschließlich nach psychiatrischen Grundsätzen betrieben wurde, sein Amt zur Verfügung. Darauf wurde Jung Präsident der Internationalen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie, und Matthias Heinrich Göring (1879-1945), ein Vetter von Hermann Göring, wurde Präsident der deutschen Abteilung dieser Gesellschaft. Die wichtigste Funktion der Gesellschaft war neben der Veranstaltung von Kongressen die Herausgabe einer in Leipzig erscheinenden deutschsprachigen Zeitschrift mit dem Titel Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete. Jung wurde Chefredakteur dieser Zeitschrift. In der Ausgabe vom Dezember 1933, Bd. 6, Seite 1, in der das bekanntgegeben wurde, erregten zwei Mitteilungen weltweites Aufsehen. Diese Ankündigungen sind im Lauf der Jahre ständig wiederholt worden. Die erste war eine Erklärung von Matthias Göring:

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Die Gesellschaft setzt von allen ihren schriftstellerisch und rednerisch tätigen Mitgliedern voraus, daß sie Adolf Hitlers grundlegendes Buch »Mein Kampf« mit allem wissenschaftlichen Ernst durchgearbeitet haben und als Grundlage anerkennen.1  

Ebenso wichtig war ein von Jung verfaßter Leitartikel. Er ist eine knappe Seite lang. Darin erklärt er, er habe das Amt des Präsidenten der Gesellschaft und des Chefredakteurs des Zentralblatts übernommen. Weiter spricht er von der bisher in der Psychotherapie herrschenden Verwirrung, »nicht unähnlich den früheren politischen Zuständen«: ein deutlicher Hinweis auf Hitler und eine subtile Empfehlung für die »Gleichschaltung«, denn mit seiner Aussage deutete er an, daß die Verwirrung jetzt beendet sei. Es folgte die Erklärung Jungs, die ihm im Lauf der Jahre bittere Vorwürfe eingetragen hat:

Die tatsächlich bestehenden und einsichtigen2 Leuten schon längst bekannten Verschiedenheiten der germanischen und der jüdischen Psychologie sollen nicht mehr verwischt werden, was der Wissenschaft nur förderlich sein kann. (G. W. 10: 581)

Schon nach wenigen Monaten brach der Sturm los, als der Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker Gustav Bally am 27. Februar 1934 einen Artikel in der Neue Zürcher Zeitung veröffentlichte, in dem er die Worte Görings zitierte, darauf hinwies, daß die Zeitschrift »gleichgeschaltet« sei und ein Schweizer Bürger, Jung, den Posten des Chefredakteurs übernommen habe. Jung reagierte am 13., 14. und 15. März mit sehr ausführlichen Stellungnahmen. Unter anderem schrieb er:

Sollte ich mich als vorsichtiger Neutraler in die Sicherheit diesseits der Grenzpfähle zurückziehen und meine Hände in Unschuld waschen, oder sollte ichwie ich wohl wußtemeine Haut zu Markte tragen und mich dem unvermeidlichen Mißverständnis aussetzen, dem keiner entgeht, welcher aus höherer Notwendigkeit mit den bestehenden politischen Mächten in Deutschland zu paktieren hat? (G. W. 10: 584)

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Die »höhere Notwendigkeit«, die Jung zwang, mit den bestehenden politischen Mächten in Deutschland zu paktieren, war offenbar seine Befürchtung, daß die Psychotherapie im nationalsozialistischen Deutschland abgeschafft werden könnte:

So wie die Verhältnisse damals lagen, hätte es eines einzigen Federstriches in den oberen Regionen bedurft, um die ganze Psychotherapie (in Deutschland) unter den Tisch zu wischen. Das mußte im Interesse der leidenden Menschen und der Ärzte undlast not least — der Wissenschaft und Kultur um jeden Preis verhindert werden. (G. W. 10: 584)

Dann erklärte Jung, man habe ihm gesagt, die Erklärung Görings werde in einer deutschen Sonderausgabe erscheinen, nicht aber in der internationalen Ausgabe, die seinen Namen auf dem Titelblatt trug: »Auf diese Weise ist mein Name unversehens über ein nationalsozialistisches Manifest gekommen, was mir persönlich alles andere als angenehm war. Aber schließlich — was sind Hilfeleistung und Freundschaftsdienst, die nichts kosten?« (G. W. 10: 586) Dann fuhr Jung fort:

Die Heilkunst hat mit der Politik nichts zu tun..., darum kann und soll sie zum Wohle der leidenden Menschen unter allen Regierungen ausgeübt werden... Man wird im Kriegsfalle den Arzt, der seine Hilfe den Verwundeten der gegnerischen Seite angedeihen läßt, doch auch nicht als Landesverräter auffassen. (G. W. 10: 587)

Jung war sich zweifellos bewußt, was ihm in Wirklichkeit vorgeworfen wurde, nämlich daß die »gegnerische Seite« der er geholfen hatte, nicht die Opfer, die Juden waren, sondern ihre Unterdrücker, die Nazis:

Ich gebe zu, ich bin unvorsichtig, so unvorsichtig, daß ich das Allermißverständlichste tue, was man im gegenwärtigen Moment überhaupt tun kann: ich lege die Judenfrage auf den Tisch des Hauses. Ich habe dies absichtlich getan... Das jüdische Problem ist ein Komplex, eine schwärende Wunde, und kein verantwortlicher Arzt könnte es über sich bringen, daran ärztliche Vertuschungsmethode zu üben. (G.W. 10:588)

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Wenn wir uns ansehen, was Jung 1933 wirklich in der Zeitschrift geschrieben hat, dann stellen wir fest, daß er die »Frage« (aus der nach wenigen Zeilen ein »Problem« werden sollte) der Juden gar nicht gestellt hat, um ihnen zu helfen oder um die Deutschen davon zu überzeugen, daß sie hier eine verwerfliche Haltung einnahmen. Für wen war denn die »jüdische Frage« ein Problem, eine »schwärende Wunde«? Sogar die Terminologie seiner sogenannten Erklärung, die mit Sicherheit nicht als Apologie gemeint war, ist die gleiche, die von den Nazis benutzt wurde. Jung schrieb dann: 

»Aber, wird mein Publikum einwenden, warum werfen Sie gerade heute und gerade in Deutschland das jüdische Problem auf?« (G.W. 10:591). Jung rechtfertigte sich mit dem Hinweis, er habe schon früher Ähnliches gesagt: »Sollte ich politisch ausgeschlachtet werden, so kann ich es nicht hindern.« (G.W 10:592). 

Er hätte es jedoch sehr wohl verhindern können, wenn er solche Erklärungen nicht abgegeben oder sich entschieden gegen die Judenverfolgung ausgesprochen hätte, was er jedoch nicht getan hat. Und doch schrieb Jung in demselben Artikel: »Ich gestehe mein gänzliches Unvermögen ein, zu begreifen, was es für ein Verbrechen ist, von einer <jüdischen> Psychologie zu sprechen.« (G.W. 10:541). Dieser Mangel an Einsicht ist keine Entschuldigung für Jung; hier verbindet sich lediglich Ignoranz (und sie ist in diesem Fall nur eine Art Verdrängung) mit Opportunismus.

Wäre Jung wirklich empört gewesen, wie er es behauptet hat, dann hätte er sofort seinen Rücktritt erklären können. Er blieb jedoch bis 1939 Herausgeber der Zeitschrift. In einem Brief an den Leiter der dänischen Abteilung der Gesellschaft, Dr. Oluf Brüell, vom 2. März 1934 bezeichnete Jung das Manifest von Göring als »einen taktischen Fehler« und erklärte, er werde in Zukunft alles versuchen, um vom Zentralblatt politische Einflüsse auszuschalten. Seine eigenen Äußerungen über »jüdische« und »arische« Psychologie hielt er offenbar nicht für politisch.3

Am gleichen Tag, es war der 2. März, schrieb Jung auch an Walter Cimbal, einen deutschen Psychiater, der von 1933 bis 1935 Sekretär der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie war. In diesem Brief hat sich Jung nicht etwa lautstark über den »Fehler« beschwert, das Manifest von Göring abzudrucken, sondern nur darum gebeten, ihm einen gewissen Einfluß auf den Inhalt der Zeitschrift einzuräumen. Dabei versprach er, er werde »diesen Einfluß unter keinen Umständen zu irgendeiner innenpolitisch unzulässigen Publikationsweise benützen« (Briefe, S. 190) — ein Versprechen, das er halten sollte.

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In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daran zu erinnern, wer der Empfänger des Briefes von Jung gewesen ist. Walter Cimbal war 1933 in die NSDAP eingetreten. In einem Artikel, den er für die Deutsche Seelenheilkunde (zitiert in Cocks, S. 83) verfaßt hat, empfiehlt er am Schluß wärmstens die Lektüre von Mein Kampf. 

Die Freudsche Psychoanalyse wurde zu jener Zeit in gemeinster Weise angegriffen, besonders von Julius Streicher, dem nationalsozialistischen Herausgeber des Stürmer. Jung muß das gewußt haben. Er muß auch gewußt haben, daß diese Angriffe oft von den gleichen Männern geführt wurden, die für den Inhalt des von ihm herausgegebenen Zentralblatts verantwortlich waren, denn sie handelten im Auftrag von Matthias Göring. Gegenüber seinen europäischen Kollegen versuchte Jung, die Bedeutung dieser Zusammenhänge herunterzuspielen. So bemühte er sich, den holländischen Psychiater J. H. van der Hoop zu beruhigen, als er ihm am 12. März 1934 schrieb: »Im übrigen können Sie... versichert sein, daß die nationalsozialistischen Ergüsse der deutschen Mitglieder wesentlich auf politischer Notwendigkeit beruhen und nicht auf religiöser Überzeugung der betreffenden Herren.« (Briefe, S. 196). Jung lag sehr viel daran, andere und vielleicht auch sich selbst davon zu überzeugen, daß das, was in Deutschland geschah, mit einer wirklichen Verfolgung nichts zu tun hatte. In einem Brief vom 26. Mai versuchte er, sich gegenüber James Kirsch, einem seiner jüdischen Studenten, der damals in Palästina lebte, wie folgt zu rechtfertigen: »Ebenso habe ich weder im Rundfunk noch sonst irgendwie Hitler angesprochen oder etwas in politischer Hinsicht gesagt.« Offensichtlich hat Jung seine früheren Aussagen nicht für politisch gehalten. Im gleichen Brief zeigt sich sein Ärger, wenn er schreibt: »Schon Freud hat mich, wie Sie wissen, des Antisemitismus angeklagt, weil ich seinen seelenlosen Materialismus nicht billigen konnte. Mit dieser Bereitwilligkeit, überall Antisemitismus zu wittern, beschwört der Jude direkt Antisemitismus herauf« (Briefe, S. 209-211).4)

Nach dem Krieg hat Jung natürlich behauptet, er habe sich oft für jüdische Ärzte in Deutschland und anderswo eingesetzt. Aber ich habe nirgends irgendwelche zeitgenössischen Beweismittel gefunden, die diese Behauptung stützen. 

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Vielmehr geht aus einem Brief, den Jung an den britischen Psychiater Eric Benjamin Strauss, ein Mitglied des Organisationskomitees für den 1938 in Oxford abgehaltenen zehnten internationalen Ärztekongreß für Psychotherapie, schrieb, deutlich hervor, daß die deutschen Mitglieder Einwände dagegen erhoben hatten, Juden auf dem Kongreß sprechen zu lassen. 

Jung schrieb: »Ich kann und werde nicht-arische Redner nicht ausschließen.« (Briefe, S. 307). Aber dann heißt es weiter: »Die einzige Bedingung, auf der ich bestehen muß, ist die, daß jeder, arisch oder nicht, sich jeder Bemerkung enthält, die die politische Psychose unserer Tage zum Aufflammen bringen könnte.« Mit anderen Worten, Jung nahm in der Öffentlichkeit eine nach seiner Ansicht streng neutrale Haltung ein. Seine Weigerung, etwas zu sagen, war ein beredtes Schweigen für die Nazis. Außerdem unterhielt er enge Beziehungen zu Männern in seiner Gesellschaft, die verlangten, daß Juden nicht angehört wurden. Alle Deutschen, mit denen Jung in der Gesellschaft zusammenarbeitete, waren Nazis oder arbeiteten mit den Nazis zusammen.5

So war der deutsche Psychiater Gustav Richard Heyer von Anfang an ein überzeugter Anhänger des Regimes und trat 1937 in die Nationalsozialistische Partei ein. Seine Kollegen erinnern sich an ihn als an einen begeisterten Nazi (Cocks, S. 61). Außerdem war er ein Schüler von Jung (Jungs Brief an ihn vom 20. April 1934). Hans von Hattingberg, ein weiteres Mitglied des inneren Kreises der Mitarbeiter an Jungs Zeitschrift »reagierte begeistert auf die Ereignisse von 1933; wenn er damals Vorbehalte hatte oder seine Haltung später bereut haben sollte, dann wissen wir nichts darüber« (Cocks, S. 70).

1934 nahm Jung im Zentralblatt wieder das für seine deutschen Kollegen so wichtige Thema des »Judenproblems« auf, und zwar in einem Artikel mit der Überschrift »Zur gegenwärtigen Lage der Psychotherapie« (G.W. 10:190-191) »Die Juden haben diese Eigentümlichkeit mit den Frauen gemein? als die physisch Schwächeren müssen sie auf die Lücken in der Rüstung des Gegners zielen...« Der folgende Abschnitt gehört zu den beunruhigendsten Aussagen, die Jung jemals geschrieben hat:

Die jüdische Rasse als Ganzes besitzt darum nach meiner Erfahrung ein Unbewußtes, das sich mit dem arischen nur bedingt vergleichen läßt.6)

Abgesehen von gewissen schöpferischen Individuen ist der Durchschnittsjude schon viel zu bewußt und differenziert, um


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noch mit den Spannungen einer angeborenen Zukunft schwanger zu gehen. Das ansehe Unbewußte bat ein höheres Potential als das jüdische; das ist der Vorteil und der Nachteil einer dem Barbarischen noch nicht völlig entfremdeten Jugendlichkeit. Meines Erachtens ist es ein schwerer Fehler der bisherigen medizinischen Psychologie gewesen, daß sie jüdische Kategorien, die nicht einmal für alle Juden verbindlich sind, unbesehen auf den christlichen Germanen oder Slawen verwandte. Damit hat sie nämlich das kostbarste Geheimnis des germanischen Menschen, seinen schöpferisch ahnungsvollen Seelengrund als kindisch-banalen Sumpf erklärt, während meine warnende Stimme durch fahrzehnte des Antisemitismus verdächtigt wurde. Diese Verdächtigung ist von Freud ausgegangen. Er kannte die germanische Seele nicht, so wenig wie alle seine germanischen Nachbeter sie kannten.7)

Hat sie die gewaltige Erscheinung des Nationalsozialismus, auf den eine ganze Welt mit erstaunten Äugen blickt, eines Besseren belehrt? Wo war die unerhörte Spannung und Wucht, als es noch keinen Nationalsozialismus gab? Sie lag verborgen in der germanischen Seele, in jenem tiefen Grunde, der alles andere ist als der Kehrichtkübel unerfüllbarer Kinderwünsche und unerledigter Familienressentiments. Eine Bewegung, die ein ganzes Volk ergreift, ist auch in jedem Einzelnen reif geworden. Darum sage ich, daß das germanische Unbewußte Spannungen und Möglichkeiten enthält, welche die medizinische Psychologie in ihrer Bewertung des Unbewußten berücksichtigen muß. Sie hat es nicht mit Neurosen zu tun, sondern mit Menschen, und das ist ja gerade das schöne Vorrecht einer ärztlichen Psychologie, daß sie nicht künstlich abgetrennte Funktionen, sondern den ganzen Menschen nicht nur behandeln darf, sondern auch soll.8)

Darum muß auch ihr Rahmen weit gespannt sein, so daß nicht nur die krankhaften Irrgänge einer gestörten seelischen Entwicklung, sondern auch die aufbauenden, zukunftschaffenden Kräfte der Seele, nicht nur ein trüber Teil, sondern das bedeutungsvolle Ganze dem ärztlichen Blicke sich offenbaren.

Damit seine Leser auch wirklich begreifen, daß er mit der allgemeinen Kritik der Nazis an der Freudschen (das heißt jüdischen) Psychoanalyse einverstanden ist, wird er auf der folgenden Seite noch deutlicher und spricht vom »Gift der entwertenden Deutung« und »sie überhaupt nichts anderes mehr denken können als den infantil-perversen Jargon gewisser Neurosenfälle, welche sich durch die Besonderheit der Freudschen Psychologie auszeichnen«.


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Jung schreibt, daß Juden, verglichen mit den »anständigen« Deutschen, überintellektuell seien:

Wenn aber der Arzt laut oder leise ebenso negativ und entwertend denkt und ebenso alles und jedes in den infantil-perversen Sumpf einer obszönen Witzpsychologie herunterreißt wie der Kranke, so muß man sich nicht wundern, wenn der letztere seelisch verödet und diese Verödung durch einen heillosen Intellektualismus kompensiert... Solche Menschen reduktiv zu behandeln, ihnen hinterhältige Motive zu unterschieben und ihre natürliche Reinlichkeit auf unnatürlichen Schmutz zu verdächtigen, ist nicht nur sündhaft dumm, sondern geradezu verbrecherisch.

Die Behauptung Jungs, man habe ihn mit einem Trick dazu gebracht, Görings Loblied auf Hitler zu veröffentlichen, wird unglaubwürdig, wenn wir uns die einzelnen Ausgaben des unter Jungs Namen von 1933 bis 1939 erschienenen Zentralblatts ansehen. Beim Lesen dieser Ausgaben fiel mir auf, daß die schamlose Forderung Görings, die Psychotherapeuten sollten von nun an Hitlers Mein Kampf zum wissenschaftlichen Vorbild nehmen, unter der Rubrik »Aktuelles« auf der ersten Seite der Januar-Nummer des Jahres 1933 abgedruckt war, unmittelbar nach der kurzen Bekanntgabe von Jung, daß er die Präsidentschaft der Gesellschaft und den Posten des Chefredakteurs der Zeitschrift übernähme, und nach seinem Schlachtruf, die Unterschiede zwischen Juden und Ariern sollten nun nicht mehr vertuscht werden.

Die Spalte beginnt mit der Erklärung Görings, daß die neue Gesellschaft am 15. September 1933 nach den Leitsätzen des Nationalsozialismus gegründet worden sei. Es folgt die Empfehlung von Hitlers Buch und eine Liste der neuen Mitglieder des Komitees. Da die Aussage über Hitlers Buch in einem Kommentar enthalten ist, der Mitteilungen für die Mitglieder der Gesellschaft enthält, hat es den Anschein, daß diese Mitteilung im Gegensatz zur Behauptung von Jung nicht etwa ursprünglich in einer Sonderausgabe hätte erscheinen sollen, sondern gerade an dieser Stelle unmittelbar nach den Ankündigungen von Jung.


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Wenn das zutrifft, dann ist Jung weder von Göring noch von irgendeinem anderen Mitglied des Komitees vorgespiegelt worden, daß diese Erklärung nicht in »seiner« Zeitschrift abgedruckt werden würde.

Es gibt aber auch noch viele andere Beweise für die Zusammenarbeit Jungs mit den Nazis. In den folgenden Jahrgängen zeigt sich sehr deutlich der Einfluß Hitlers und des Rassismus, von dem Jung nach dem Krieg ausdrücklich behauptet hat, er könne in einer Zeitschrift, deren Chefredakteur er war, nicht geduldet worden sein. Heft 7 des Zentralblatts aus dem Jahr 1934 war das erste, dessen Titelblatt den Namen Jungs trägt. Es enthält einen Bericht über den ersten, vom 10. bis zum 13. Mai 1934 abgehaltenen Kongreß in Bad Nauheim. Am Freitag, den 11. Mai, wurde der Kongreß mit drei Ansprachen eröffnet. Eine wurde von Dr. R. Sommer über die Geschichte der Psychotherapie gehalten, eine zweite von Jung und eine dritte von Matthias Göring, in dem dieser von der »Befruchtung der deutschen Psychotherapie durch die Ideen des Führers« spricht (S. 130). Die gleiche Ausgabe enthält einen Artikel von K. Gauger mit der Überschrift »Psychotherapie und politisches Weltbild«. Darin finden sich die folgenden Worte:

Seit Adolf Hitler sind die Worte Volkstum und Heimat, Zucht, Treue und Ehre in Deutschland wieder Worte von biologischem Wert!... Die Medizin insgesamt hat im neuen Deutschland eine politische Bedeutung, an die früher niemand zu denken gewagt hätte. Ich erinnere nur an die großen ärztlich orientierten bevölkerungspolitischen Pläne des Führers, an die außerordentlich bedeutungsvollen rassehygienischen Maßnahmen und anderes. (S. 168)

Das ist ein deutlicher Hinweis auf die Pläne, geisteskranke Patienten zu ermorden, die Hitler mit der Hilfe deutscher Psychiater ausgeführt hat.

Ein dänischer Sympathisant der Nazis, der Psychiater Oluf Brüell, veröffentlichte in der gleichen Ausgabe der Zeitschrift einen Artikel mit der Überschrift »Psychotherapie im Norden«. Darin berichtete er von einem jungen, blonden, nordischen Mädchen, das durch einen Film über den Glöckner von Notre Dame »traumatisiert« wurde. Am Ende des Artikels schreibt der Verfasser:


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Wie Sie gesehen haben, handelt es sich in dem vorgelegten Falle gerade um eine selten rassereine Nordgermanin, die im zarten Kindesalter einer artifiziell-psychischen Traumatisierung ausgesetzt war, wo das Häßliche des Daseins brutal über ihren keimenden Idealismus hereinbricht, während sicher viele, typologisch weniger veredelte Individuen mit Leichtigkeit entsprechende Erlebnisse hätten ertragen können. (S. 284)

So wurden in einer Zeitschrift, deren Chefredakteur Jung war, und auf dem gleichen Kongreß, auf dem er zum Präsidenten der Gesellschaft gewählt wurde, rassistische Aussagen gemacht, wurde Hitler verherrlicht und eine nordische Psychologie im Gegensatz zu einer jüdischen gefordert. Konnte Jung ernsthaft behaupten, er habe keine Ahnung gehabt, daß dies geschehen war, oder er habe die Veröffentlichung dieser Artikel in seiner Zeitschrift nicht verhindern können?

Im Band 9, Jahrgang 1936 — Jungs Name steht auf der Titelseite — ist ein Artikel von Göring mit der Überschrift »Weltanschauung und Psychotherapie« abgedruckt, in dem Hitler ausführlich zitiert wird.9 In diesem Artikel hieß es:

Wer im nationalsozialistischen Staate lebt und für ihn arbeiten will, muß den Gegensatz der Rassen anerkennen und daraus seine Konsequenzen ziehen. Es ist durchaus verständlich, daß die Partei mit größtem Mißtrauen an alles, was Psychotherapie heißt, herangegangen ist, weil dieser eine rassische Betrachtungsweise ganz fremd war. (S. 292)

Jung muß sich der zutiefst antisemitischen Haltung der Organisation bewußt gewesen sein, deren Präsident er jetzt geworden war. Seine nach dem Krieg aufgestellte Behauptung, er habe nur versucht, den Juden zu helfen, klingt hohl und unaufrichtig, wenn man sich die Mühe macht festzustellen, was damals tatsächlich gedruckt wurde. Mir ist völlig klar, daß Jung damals in vieler Hinsicht ähnliche Ansichten vertreten hat wie die Nazis.10

Am 21. Juni 1933 hatte Jung im Berliner Rundfunk seinem Schüler, dem deutschen Neurologen und Psychiater Adolf Weizsäcker ein Interview gegeben.11)


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Der Interviewer stellte Jung ausdrücklich als Protestanten vor und betonte damit den Unterschied zu Freud und Alfred Adler, die Juden waren. Dann sagte er, über die Deutschen gäbe es in den anderen europäischen Nationen zahlreiche Mißverständnisse. Jung stimmte ihm zu und erklärte, die Begeisterung des deutschen Volkes »für den Wiederaufbau des deutschen Gemeinwesens bleibt den Westeuropäern unverständlich«. Dann zitierte er Hitler, und ich glaube, dies war das einzige Mal, daß er es getan hat:

Nur die Entwicklung des Individuums aus sich selbst, die ich für das höchste Ziel aller psychologischen Bemühungen halte, kann bewußt verantwortliche Sprecher und Führer der kollektiven Bewegung hervor­bringen. Wie Hitler kürzlich gesagt hat, muß der Führer allein sein können und muß den Mut haben, seinen eigenen Weg zu gehen.

1938 wurde Jung von dem amerikanischen Auslandskorrespondenten H. R. Knickerbocker interviewt. Das Interview erschien 1939 in der Januarausgabe von Hearst's International-Cosmopolitan und machte den Namen Jungs in weiten Kreisen der Vereinigten Staaten bekannt.12)

Das Ungewöhnliche an diesem Interview ist die Tatsache, daß Jung seiner Bewunderung für Mussolini Ausdruck verleiht und sich entschieden positiv über Hitler äußert. Von Mussolini sagt er, er sei ein Mann mit Stil und gutem Geschmack, »warm« und »menschlich«; »ich konnte mir nicht helfen, aber Mussolini gefiel mir«. Was er über Hitler sagt, ist nicht weniger beunruhigend:

»Es ist keine Frage, daß Hitler in die Kategorie der wahrhaft mystischen Medizinmänner gehört. Wie irgend jemand auf dem letzten Nürnberger Parteitag über ihn gesagt hat, hat man seit der Zeit Mohammeds nichts Ähnliches in dieser Welt gesehen. Dieser ausgeprägt mystische Charakterzug Hitlers ist es, was ihn Dinge tun läßt, die uns unlogisch, unerklärlich, seltsam und unvernünftig erscheinen... Sie sehen also, Hitler ist ein Medizinmann, eine Art spirituelles Gefäß, ein Halbgott oder, besser gesagt, ein Mythos...«

Für Jung war diese ganze politische Ideologie und die mörderische politische Realität nichts weiter als ein psychologisch zu interpretierendes Phänomen: »Man könnte sagen, daß er einen gewaltigen Mutterkomplex hat, was bedeutet, daß er entweder von einer Frau oder von einer Idee beherrscht wird. Die Idee ist immer weiblich.« Bedeutet dies, daß Hitlers »Idee«, die Juden, Geisteskranke, Homosexuelle, Zigeuner und Slaven zu ermorden, »weiblich« ist?13)


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Mit diesen Aussagen distanzierte sich Jung in keiner Weise von den Männern, über die er sprach. Wie wir sehen werden, behauptete er später, es sei seine Absicht gewesen, die Menschen vor den Gefahren zu warnen, die er sah. So habe er die Welt schon von Anfang an vor der Identifizierung der Deutschen mit Wotan gewarnt: In seinem Interview von 1938 sagte er:

Und dann nehmen Sie das verbreitete Wiederaufleben des Wotankults im Dritten Reich. Wer war Wotan ? Der Gott des Windes. Nehmen Sie den Namen »Sturmabteilung«. Sturm. Sie sehen — der Wind... und zusammen deuten alle diese Symbole für ein Drittes Reich, geführt von seinem Propheten unter dem Banner des Windes, des Sturms und wirbelnder Strudel auf eine Massenbewegung hin, die das deutsche Volk in einen Hurrikan sinnloser Emotionen reißen sollte in ein Schicksal, das vielleicht niemand als der Seher, der Prophet, der Führer selbst voraussagen kann — und vielleicht nicht einmal er. (S. 118)

Nach dem Krieg änderte sich der Ton von Jung vollkommen. Sein bekanntester Aufsatz trägt die Überschrift »Nach der Katastrophe«. Er wurde 1945 in Zürich in der Neuen Schweizer Rundschau veröffentlicht (G.W. 10:194-217).14

Da über die früheren Äußerungen Jungs eine heftige Kontroverse entstanden war, hat Jung diesen Aufsatz zweifellos in der Absicht verfaßt, sich zu rechtfertigen. Im Vorwort kommt das deutlich zum Ausdruck: »Meine Aussagen haben offensichtlich zu allen möglichen Mißverständnissen geführt...« (G.W. 10:177). Obwohl Jung nicht bis zum Kriegsende hätte warten müssen, um seine Haltung klarzustellen (in der neutralen Schweiz hätte er das ohne weiteres schon vor oder während des Krieges tun können), war er überrascht, daß die Menschen ihm sein Schweigen übelnahmen: »... Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, daß es eine Zeit geben werde, in der man mir vorwerfen würde, ich hätte vor 1945 absolut nichts über diese Dinge gesagt« (Nachwort, G.W. 10:236).

Sein Aufsatz »Nach der Katastrophe« war in einem sonderbar unpersönlichen Ton geschrieben. Jung distanziert sich von den Ereignissen, als habe alles nichts mit seinem persönlichen Verhalten während des Krieges zu tun.


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Und die oben zitierten Abschitte zeigen deutlich, daß er wußte, seine Stellungnahme werde als Rechtfertigung seines persönlichen Verhaltens aufgefaßt werden. Aber Jung suchte diesen Aspekt seines Aufsatzes zu verdrängen, als er erklärte, aus welchem Grunde er ihn geschrieben habe: »Von allen Seiten werden Fragen über die Bedeutung der ganzen Tragödie gestellt. Die Menschen haben sich sogar an mich gewandt und um eine Erklärung gebeten, und ich mußte ihnen hier und jetzt antworten, so gut ich es konnte« (G.W. 10:194).

Jetzt überhäufte Jung Hitler und die Deutschen mit Schmähungen. Was geschehen war, nannte er »das ungeheuerlichste Verbrechen aller Zeiten«. Er erwähnte mehrmals die Konzentrationslager, nannte Hitler einen »größenwahnsinnigen Psychopathen«, »eine psychotische Vogelscheuche... und kein menschliches Wesen«: »Er war eine völlig unfähige, unangepaßte, verantwortungslose, psychopathische Persönlichkeit, voll hohler, kindischer Phantasien, jedoch mit dem scharfen Witterungs­vermögen einer Ratte oder eines Randsteinschnüfflers wie mit einem Fluche belastet.« (»Der Kampf mit dem Schatten«, 251)

Dann begann Jung ganz plötzlich und unerwartet eine leidenschaftliche Hetzkampagne gegen die moderne Malerei, die atonale Musik und James Joyce. Dabei erklärte er: »Hier haben wir schon den Keim dessen, was in Deutschland zur politischen Realität werden sollte.« Doch was er schrieb, war keine Erklärung des nationalsozialistischen Phänomens, sondern glich in bemerkenswerter Weise dem, was die Nationalsozialisten während des Krieges über die zersetzende Wirkung der modernen Kunst publiziert hatten. Jung beklagte sich auch bitter darüber, daß man seine Warnungen nicht gehört habe, und sagte, er fühle sich wie ein einsamer, unverstandener Prophet.

Wenn die Menschen nur erkennen könnten, welche Bereicherung es sei, die eigene Schuld zu finden, meinte Jung nun und sprach von Ehrenhaftigkeit und geistiger Würde. Aber nirgends schiene es auch nur einen Schimmer dieser Einsicht zu geben. Statt dessen höre man nur von Versuchen, anderen die Schuld zu geben - niemand wolle zugeben, ein Nazi gewesen zu sein.

Aber wer ist das beste Beispiel für diesen völligen Mangel an Einsicht, wenn nicht Jung selbst? Denn nirgends in seinem Aufsatz entschuldigte er sich für etwas, das er getan oder nicht getan hat. Wie er es auch wenden mochte, Jung muß sicher erkannt haben, daß viele seiner Aussagen vor und während des Krieges gegen die Juden benutzt werden konnten.


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Wie wir sehen werden, haben nationalsozialistische Autoren Jung zitiert und damit zu der Erzeugung eines Klimas beigetragen, in dem man es für zulässig hielt, zunächst jüdische Wertbegriffe für minderwertig zu erklären und schließlich die Juden selbst zu vernichten. Der Kernpunkt der Aussage in Jungs Aufsatz war, daß die Geschichte der vergangenen zwölf Jahre die Krankengeschichte eines hysterischen Patienten sei, aber dieses Verschieben des Problems auf die Ebene der Psychiatrie diente nur dazu, Jung vor dem Vorwurf zu schützen, er habe sich persönlich an der Denunziation der Juden beteiligt.15)

Der Begriff »Hysterie«, hinter dem sich auch das »unbewußte« Lügen verbirgt, ist irrelevant, wenn man berücksichtigt, was Jung wirklich gesagt hat, und zwar durchaus bewußt.

Jungs Schülerin und Sekretärin, Aniela Jaffé, hat versucht, in einer Veröffentlichung mit der Überschrift »Der Nationalsozialismus« Jung zu verteidigen.16)

Sie behauptet, ohne es dokumentieren zu können, daß Jung richtig gehandelt habe, denn »es gab keine andere denkbare Möglichkeit für ihn, seinen deutsch-jüdischen Kollegen zu helfen«. Aber sie war ehrlich genug zu sagen, was Jung getan habe, sei ein »schwerer menschlicher Irrtum« gewesen (85).

Aniela Jaffé schrieb, Jung »sparte nicht an schonungsloser öffentlicher Kritik«, aber sie räumt ein, daß das erst aus seinen Schriften deutlich wird, »nachdem das schauerliche Drama vorüber war«. Jaffé, die selbst Jüdin ist, hat sich offenbar bei dem, was Jung getan hat, nicht wohlgefühlt und billigte auch seine späteren Aussagen nicht. Aber sie hat eine erstaunliche Erklärung dafür:

Mehr als drei Jahrzehnte sind seit der Hitler-Schreckenszeit vergangen. Jung starb 1961, und in der Rückschau fügen sich dem ordnenden Blick auch seine damaligen Fehler und Irrtümer in sein Leben und sein Werk, ohne daß die Größe seiner Persönlichkeit vermindert würde. In den Worten der Jungschen Psychologie könnte man von einem Manifestwerden seines Schattens sprechen, der als ein Archetypus zu jedem Menschen gehört und oft um so dunkler ist, ein je helleres Licht von der Persönlichkeit ausgeht. Jung hat der Welt und den Menschen zu viel gegeben, als daß sein Schatten je seine geistige Bedeutung und seine menschliche Größe in Frage stellen könnte. (101)

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Was Jung getan hat, war falsch. Dieses Fehlverhalten als »ein Manifestwerden seines Schattens« zu bezeichnen, ist ein bloßes Spiel mit Worten. Nach meiner Ansicht waren Jungs Antisemitismus und, was noch wichtiger ist, seine Sympathie für den Faschismus tief in ihm verhaftet.

Viele spätere Schüler Jungs haben es auf sich genommen, Jung gegen diese Vorwürfe zu verteidigen. Laurens van der Post schreibt zum Beispiel in seinem Buch Jung and the Story of Our Time:

Seine Aussagen wurden nicht nur mißverstanden und aus dem Zusammenhang gerissen, um von den Deutschen als zusätzliche Rechtfertigung für die Intensivierung ihrer unmenschlichen Kampagne gegen deutsche und österreichische Juden benutzt zu werden, sondern sie haben auch die Juden und die Gegner Hitlers überall in Europa zutiefst beleidigt.17)

Van der Post gab zu, daß Jungs Äußerungen zur Unzeit getan worden seien, erklärte aber, dabei würde übersehen, daß Jung »sich mit einer vollkommen anderen Dimension der Realität beschäftigte« und man deshalb von ihm nicht erwarten könne, daß er sich der Zeitumstände bewußt gewesen sei. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Jung nicht gewußt hat, was er sagte und wann er es sagte. Mit Sicherheit wußte er, wo er es sagte: In einer deutschen Zeitschrift, die von einer nationalsozialistischen Gruppierung herausgegeben wurde.

In einem Buch über Gespräche mit Jung in den Jahren 1946 bis 1961, Meetings with Jung18) hat E. A. Bennet eine ganze Reihe von Gerüchten in die Welt gesetzt, unter anderem auch, daß Jung von den Nazis auf die schwarze Liste gesetzt worden sei, da diese vorgehabt hätten, ihn umzubringen.

Die erste Eintragung in sein Tagebuch vom 29. März 1946 lautet:

Er sagte, bis 1935 habe man es in Deutschland und Italien für möglich halten können, daß der National­sozialismus etwas Gutes bewirken könnte. In Deutschland hatte sich ein großer Wandel vollzogen. Die Arbeitslosen waren von der Straße verschwunden, alles hatte sich verändert und war friedlich geworden. Dann habe er andere Dinge bemerkt und erkannt, daß sie schlecht waren. Er begann sich dagegen zu äußernwie zum


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Beispiel auf dem Kongreß in Oxford — und tat das immer häufiger. Erzeigte mir einen amerikanischen Artikel, in dem ein Zitat von ihm zu diesem Thema falsch übersetzt worden war. Er hatte gesagt, er habe die Entwicklung in Europa »mit erstaunten Augen betrachtet«, aber hier hieß es »mit bewundernden Augen betrachtet«. Er hat in Wirklichkeit seine Kritik an Deutschland so deutlich geäußert, daß Frau Jung befürchtete, er werde angesichts der starken deutschen Einflüsse in Zürich in Schwierigkeiten geraten. Zu den Gerüchten über seine angeblichen Sympathien für die Nazis sagte mir C. G., sein Name habe wegen seiner Ansichten in Deutschland auf der schwarzen Liste gestanden, und er wäre sicher sofort erschossen worden, wenn er den Nazis in die Hände gefallen wäre.

Wenn wir uns die Ansprache Jungs auf dem Kongreß in Oxford ansehen, finden wir darin keine kritischen Äußerungen über den Nationalsozialismus, ja Deutschland wird darin überhaupt nicht erwähnt (G.W. 10:564-567). Niemand hat je bestätigt, daß Jungs Name auf einer schwarzen Liste gestanden hat. Wir wissen sogar von ihm selbst, daß er in Berlin mit Goebbels zusammengetroffen ist, daß Hitlers Ärzte ihn eingeladen hatten, Hitler zu untersuchen, und daß sich »ein Schüler Jungs, Wolfgang Kranefeldt, daran erinnerte, 1935 in Berlin anläßlich einer Vortragsreihe über Archetypen mit großer Freude und Bewunderung empfangen worden zu sein, besonders von Matthias Heinrich Göring, und zwar wegen seiner Beziehungen zu Jung.«19)

Die meisten Menschen, die Jung gekannt haben, wollen sich mit seinen Beziehungen zu den Nazis nicht näher beschäftigen. So schreibt Barbara Hannah in ihrem Buch Jung: His Life and Work:

Für jeden, der wie ich im Juli 1933 in Berlin mit Jung zusammengewesen ist und ihn während der folgenden 28 Jahre häufig gesehen und gehört haben, ist der Vorwurf, Jung sei ein Nazi gewesen, so absurd und so vollständig unbegründet, daß man ihn nicht ernst genug nehmen kann, um ihm zu widersprechen.20)

Tatsache ist, daß Jung Dinge gesagt und getan hat, die Juden und anderen Menschen geschadet haben, und dabei kommt es nicht darauf an, ob er Mitglied der Nazipartei war oder nicht. Jungs eigene Worte sind unmißverständlich, und sie besagen, daß er mit den Nazis zusammengearbeitet hat.


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Das ist deshalb wichtig, weil sich in der Psychotherapie Jungs eine Einstellung offenbart, die diese Zusammenarbeit überhaupt erst ermöglicht hat. Mit ihren Zwangsmaßnahmen und ihrer Geringschätzung der traumatischen Erlebnisse seiner Patienten zeigt Jungs Psychotherapie deutlich faschistische Züge.

Was Jung in jenem entscheidenden historischen Augenblick getan hat, zeigt sicherlich, wer Jung gewesen ist. Er hat sich niemals grundsätzlich gegen den Faschismus ausgesprochen. Er hat sich nicht gegen das Leiden der Juden und anderer von den Nazis verfolgter Gruppen gewandt.21)

Bei der Lektüre seiner Schriften gewinne ich den Eindruck, daß ihn sein Verhalten den Rest seines Lebens verfolgt und bedrückt hat. Nach 1945 hat Jung in all den vielen Jahren, die bis zu seinem Tode im Jahre 1961 noch vor ihm lagen und in denen er viel geschrieben hat, in seinen Schriften den Zweiten Weltkrieg oder Hitler nie wieder ausführlicher erwähnt.

Ich weiß, Jung hat vor und nach dem Krieg zahlreiche jüdische Schüler gehabt. Ich weiß auch, daß Harvard ihm 1936 die Ehrendoktorwürde verliehen hat, wie es Oxford 1938 tat, und daß er 1937 eingeladen wurde, an der Yale University die Terry Lectures zu halten. Ich weiß, daß Jung in seinem Leben mit so vielen Ehrungen überhäuft wurde, daß es unmöglich ist, sie alle zu nennen. Aber ich weiß auch, daß er nie bereit gewesen ist, die volle Verantwortung für das zu übernehmen, was er getan hat, und das ist fast ebenso unentschuldbar wie sein Verhalten selbst.22

 

 

Jungs Psychotherapie

Der Besitz an Neurose dementiert den Therapeuten 
Carl Gustav Jung

1937 hielt Jung auf dem Jahreskongreß des Bundes der Köngener zum Thema Psychotherapie einen Vortrag. Er sagte:


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Ich bin Herr Jung und sonst niemand, und da ist das Fräulein Soundso. Es wäre ja gar nicht nett, wenn ich solche kranken Menschen nicht behandeln würde. Dazu habe ich eine gewisse Arbeitsfreude. Ich bin unternehmungslustig, ich habe eine Pioniereinstellung. Wenn irgend so ein verrücktes Huhn zur Tür hereinkommt, dann wacht meine Entdeckerfreude auf, meine Neugier, meine Abenteuerlust, mein Mitleid. Es rührt sich mein zu weiches Herz — und Leute von meiner Statur haben meistens etwas davon. Sie suchen es zu verstecken, aber das gelingt ihnen dummerweise nicht —, und ich freue mich, zu sehen, was man mit solch einem verrückten Kerl tun kann. Ich habe einen Sport daraus gemacht, auch schwierige Fälle zu heilen. Das ist einfach eine Art von Neugier und Abenteuerlust.23)

In diesem wenig bekannten Zitat von Jung enthüllt sich eine Seite des Mannes, über die kaum je etwas geschrieben worden ist. Aber ich glaube nicht, daß sich die frivole und gefühllose Haltung, die hier erkennbar ist, sehr von der unterscheidet, für die er allgemein bekannt ist. Wenn ein Therapeut so viel schreibt, wie Jung es getan hat, dann muß sich in seinen Schriften auch seine Einstellung zu vielen aktuellen Problemen zeigen, die im allgemeinen weniger freimütig von Psychotherapeuten behandelt werden. (Im Gegensatz zu ihm wird ein Analytiker der Freudschen Schule kaum Hinweise darauf geben, welche Haltung er gegenüber vielen drängenden Tagesproblemen einnimmt.)

Jung hat es mit Sicherheit nicht für notwendig gehalten, daß der Therapeut anonym bleiben muß oder geglaubt, daß seine eigene ethische Grundeinstellung bedeutungslos ist. 1933 schrieb er in Modern Man in Search of a Soul, daß »nach dem jüngsten Fortschritte der analytischen Psychologie (so nannte Jung das von ihm begründete System der Psychologie) die ethische Haltung des Arztes ein unvermeidbares Problem darstellt«.24)

In »Grundsätzliches zur praktischen Psychotherapie« schrieb Jung 1935, daß »der Arzt aus seiner Anonymität heraustreten und Rechenschaft von sich selber geben (muß), genau das, was er von seinem Patienten verlangt«. In »Psychotherapie und Welt­anschauung«, einem Aufsatz, der 1942 veröffentlicht wurde, schrieb er:

Mit anderen Worten also fordert die Kunst der Psychotherapie, daß sich der Therapeut im Besitz einer angebbaren, glaub- und verteidigungswürdigen letzthinigen Überzeugung befinde, die ihre Tüchtigkeit dadurch bewiesen hat, daß sie auch bei ihm

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selber neurotische Dissoziationen entweder aufgehoben hat oder nicht aufkommen läßt. Der Besitz an Neurose dementiert den Therapeuten. (Hervorh. durch den Verfasser)25)

Mit anderen Worten, Jung war fest davon überzeugt, daß der Therapeut per definitionem ein geistig gesunder Mensch sein muß. Nur dann könne er anderen helfen. In seinem autobiographischen Werk Erinnerungen, Träume, Gedanken schrieb er, daß »in der eigentlichen Analyse der ganze Mensch in die Schranken gerufen (ist), Patient und Arzt... da ist der Arzt mit seinem ganzen Sein herausgefordert«.26)

Diese Aussagen zeigen deutlich, daß der Psychotherapeut Jung als menschliches Wesen beurteilt werden wollte. Er erkannte die Bedeutung der Ethik an. Wenn wir hier nach seiner Ethik fragen, folgen wir damit seinen eigenen Lehren. Jungs Vorurteile gegenüber den Juden würden daher bei der Behandlung eines Juden durch ihn ins Spiel kommen. Auch wenn seine Vorurteile ihn selbst nicht hinderten, würde er erkennen müssen, daß die Therapie einen Juden angesichts der Haltung, die er während des NS-Regimes eingenommen hatte, für den jüdischen Patienten unzumutbar wäre. Zudem zeigen Jungs Äußerungen über moderne Kunst, moderne Literatur und moderne Musik, daß er sich auch auf anderen Gebieten nicht von seinen Vorurteilen befreien konnte. Wie sollte er dann Maler, Musiker oder Schriftsteller behandeln und glauben, er könne ihnen helfen? Aber seine starke Voreingenommenheit beschränkte sich nicht nur auf diese Bereiche. Seine Einstellung gegenüber Frauen war noch 1955 alles andere als vorurteilsfrei:

Der Mann sollte sich vor allem für seine Arbeit interessieren. Aber eine Frau ist ihre Arbeit und ihr Geschäft. Ja, ich weiß, es klingt wie die bequeme Philosophie eines selbstsüchtigen Mannes, wenn ich das sage. Aber die Ehe bedeutet ein Zuhause. Und das Zuhause gleicht einem Nest — beide Vögel finden nicht gleichzeitig Platz darin. Der eine sitzt im Nest, der andere auf dem Nestrand, sieht sich um und kümmert sich um die Angelegen­heiten außerhalb des Nestes.27

Als Jung gegen Ende seines Lebens seine Autobiographie diktierte, sprach er auch über seine Reisen nach Afrika und überlegte:

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Ich frage mich, ob die Vermännlichung der weißen Frau nicht mit dem Verlust ihrer natürlichen Ganzheit... zusammenhänge, nämlich als eine Kompensation für ihre Verarmung, und ob die Verweiblichung des weißen Mannes nicht eine weitere Folgeerscheinung darstelle. (S. 267)

Da Jung um die gleiche Zeit schrieb, »ich hatte hauptsächlich weibliche Analysanden« (S. 145), muß man sich fragen, wie er mit denen umgegangen ist, die nicht seine Ansicht teilten, daß sie »im Nest bleiben« sollten. Vielleicht hätten sie sich gegenüber den Vorurteilen von Jung in dieser Beziehung durchsetzen können, doch warum sollten sie es versuchen? Und was geschah, wenn sie ängstlich waren und nicht wagten, ihm zu widersprechen? Wie reagierte er, wenn sie sich fürchteten, von ihrem Wunsch zu sprechen, das Nest zu verlassen? Würde Jung das nicht automatisch als eine »Verarmung« deuten? Wie konnte er Frauen helfen, mit sich selbst zufrieden zu sein, wenn er nicht mit den Frauen fühlte?

Jungs erschreckende Haltung gegenüber den Schwarzen und seine Sympathien für den Kolonialismus kommen in zahlreichen Äußerungen zum Ausdruck. So schreibt er:

In Südafrika sind die Holländer, die zu der Zeit, als sie das Land kolonisierten, ein entwickeltes und zivilisiertes Volk waren, als Folge ihres Kontakts mit den wilden Rassen auf ein sehr viel niedrigeres Niveau gesunken. Die wilden Bewohner eines Landes müssen beherrscht werden. Bei dem Versuch, sie zu beherrschen, wächst in ihrem Meister die Neigung zur Brutalität. Er muß rücksichtslos sein. Er muß alles Weiche und Feine opfern, um die Wilden zu beherrschen. Ihr Einfluß ist sehr stark; je sicherer er sie beherrschen will, desto wilder muß der Meister werden. Der Sklave hat den größten Einfluß von allen, denn er ist dem, der ihn beherrscht, am nächsten.28)

In einem wissenschaftlichen Bericht, den Jung auf einem Kongreß in Gegenwart von Freud vorlas, heißt es:

Die Ursachen für die (sexuelle) Unterdrückung lassen sich in dem spezifisch amerikanischen Komplex finden, nämlich im Zusammenleben mit minderwertigen Rassen, besonders mit Negern. Das Zusammenleben mit barbarischen Rassen hat suggestive Auswirkungen auf die mühsam gezähmten Instinkte der weißen Rasse und trägt dazu bei, ihr Niveau zu senken.29

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In einer oft zitierten Passage aus dem Jahr 1933 behauptete Jung, alle seine mehr als 35 Jahre alten Patienten hätten mit religiösen Problemen zu kämpfen:

Ich möchte auf die folgenden Tatsachen aufmerksam machen. Während der vergangenen 30 Jahre haben mich Menschen aus allen zivilisierten Ländern der Erde konsultiert. Ich habe viele hundert Patienten behandelt. Die meisten von ihnen waren Protestanten, eine kleinere Zahl waren Juden, und nicht mehr als fünf oder sechs waren gläubige Katholiken. Von all meinen Patienten in der zweiten Lebenshälfte — das heißt älter als 35 Jahre — hat es nicht einen gegeben, dessen Problem letzten Endes nicht darin bestand, eine religiöse Lebens­auffassung zu finden. Man kann mit Sicherheit sagen, daß jeder von ihnen krank wurde, weil er das verloren hatte, was die lebenden Religionen aller Zeiten ihren Anhängern gegeben haben, und keiner von ihnen konnte wirklich geheilt werden, der nicht seine religiöse Auffassung wiedergefunden hätte.30)

Das ist eine reichlich ungewöhnliche Behauptung. Jung spricht hier natürlich nicht von »Tatsachen«, sondern äußert lediglich seine Meinung. Was er jedoch sagen will, ist ganz klar: Wer auch immer als Atheist oder Agnostiker zu Jung kam oder sich nicht für religiöse Probleme interessierte, wurde auf subtile oder weniger subtile Weise dazu gezwungen, sich mit etwas auseinanderzusetzen, mit dem er sich eigentlich gar nicht auseinandersetzen wollte. Und zwar deshalb, weil diese Menschen, wie Jung meinte, eine religiöse Bindung vermeiden wollten; sein System jedoch verlangte, daß sie sich mit diesem Problem auseinandersetzten, bevor er sie als »geheilt« entlassen konnte. Deshalb würde es nach den Maßstäben seiner ärztlichen Pflicht nicht genügen, wenn er religiöse Fragen unbeachtet ließe, gleichgültig wie sehr sich seine Patienten dagegen wehrten und behaupteten, diese Fragen interessierten sie nicht. Wenn jemand »unglücklich« war, dann deutete Jung das so, daß sie »noch keinen Zugang zur Religion gefunden hätten«. So schreibt er in demselben Aufsatz von 1933:


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Etwa ein Drittel meiner Fälle leiden an keiner klinisch definierbaren Neurose, sondern an der Sinnlosigkeit und Leere ihres Lebens. Mir scheint jedoch, man kann das als die allgemeine Neurose unserer Zeit bezeichnen. Ganze zwei Drittel meiner Patienten haben die Hälfte ihres Lebens überschritten. (S. 61)

Mit anderen Worten, wenn ein Patient oder eine Patientin zu Jung kam und sich über die »Sinnlosigkeit« und »Leere« des Lebens beklagte, deutete Jung das sofort als religiöse Krise und faßte eine religiöse Lösung ins Auge. »So weit hergeholt das auch klingen mag, die Erfahrung zeigt, daß viele Neurosen dadurch verursacht werden, daß die Menschen die Augen wegen einer kindischen Leidenschaft für rationale Erleuchtung vor ihren eigenen religiösen Eingebungen verschließen« (S. 67).

Zweifellos hat sich Jung für Gebiete interessiert, die anderen Psychotherapeuten uninteressant erschienen. Dazu gehörten die Alchimie, die Parapsychologie, die germanische Mythologie, das I Ging, das Okkulte, Yoga, die UFOs, Symbolik und anderes. Jung war überzeugt, seine Interessen bezögen sich auf die Realität der Welt: »Vorerst allerdings stehen nur zwei Tatsachen­gruppen fest, nämlich einerseits die Übereinstimmung zwischen individuellen Symbolen und Mythologemen und andererseits das E.S.P.-Phänomen«, (der außersinnlichen Wahrnehmung) (G.W. 16:133). 

Wenn sich Jung darauf beschränkt hätte, Patienten mit solchen Interessen zu behandeln, hätte er ihnen vielleicht helfen können. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß alle seine Patienten diese Neigungen teilten. Aus den Aussagen früherer Patienten läßt sich schließen, daß er ihnen seine Interessen sehr bald aufgedrängt hat. So schreibt Aniela Jaffé:

Das Persönliche spielte in Jungs Erleben nie eine überragende Rolle; das Eigentliche und Wesentliche war immer das Unpersönliche. Einst wollte ich in einer Analysenstunde von der Beziehung zu meinen Eltern sprechen, dem Kernstück klassischer Analysen. Jung ließ mich gar nicht erst zu Wort kommen: ich solle meine Zeit nicht verschwenden! Überdies erkenne er die Elternbeziehung eines Menschen schon auf den ersten Blick.31)


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Das ist Unsinn, aber offensichtlich beeindruckender Unsinn und viele seiner Patienten müssen ihm geglaubt und darauf verzichtet haben, über Dinge zu sprechen, die ihn offensichtlich nicht interessierten. Man sieht sehr deutlich, wenn man die von Jung veröffentlichten Krankengeschichten liest, in denen frühere Beziehungen ignoriert werden, daß Jungs Desinteresse ernst gemeint war. Er war schon im voraus davon überzeugt, daß die Patienten, die ihn konsultierten, nicht die Probleme hatten, die sie zu haben glaubten.

Es ist nicht ganz klar, was Jung mit seinen Patienten wirklich getan hat. Seine veröffentlichten Berichte erwecken den Eindruck, daß er dabei den ehrwürdigen alten Weisen aus der Stadt Küsnacht spielte. Er scheint seinen Patienten seine Auffassungen über die Mythologie, über die spirituelle Erlösung und die Weisheit des kollektiven Unbewußten und die archetypischen Erinnerungen aufgenötigt zu haben. Seine persönlichen vorgefaßten Meinungen wurden zum Gegenstand der Therapie. Ein Beispiel dafür findet man in der Geschichte einer seiner Patientinnen in dem Aufsatz »Die Realitäten der praktischen Psychotherapie«, den er 1937 geschrieben hatte (G.W. 16: 327). Die Patientin war eine 25jährige Frau, die, wie er sagte, »an einer hochgradigen Erregbarkeit, übertriebener Sensibilität« und einer »zwanghaften Streitlust litt« (das heißt, sie neigte dazu, Jung zu widersprechen). Die Bedeutung eines der Träume dieser Frau interpretierte er als ihren Wunsch zu heiraten:

Sie lehnte jede solche Möglichkeit auf das leidenschaftlichste ab. Wie sich dann herausstellte, verbarg sich hinter diesen Widerständen eine einzigartige Phantasie ganz unvorstellbarer erotischer Abenteuer, die alles übertrafen, was mir in meiner Erfahrung bisher begegnet war. Mir schwirrte der Kopf, und ich dachte an eine nymphomanische Besessenheit, an unheimliche Perversionen, an unglaublich lasterhafte erotische Phantasien. (G.W 16: 331-332)

Dann berichtete Jung über die Vergangenheit der Frau und suchte ihr Verhalten damit zu erklären:

Die Patientin war eine reinblütige Europäerin, war jedoch auf Java geboren. Als Kind sprach sie malaiisch und hatte eine ayah, eine eingeborene Kinderfrau. Als sie das Schulalter erreicht hatte, ging sie nach Europa und kehrte nie wieder nach Indonesien zurück. Die Welt ihrer Kindheit war unwiederbringlich in Vergessenheit geraten. (G. W. 16: 334)


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Wie der Zufall es wollte, stieß er zur gleichen Zeit, als er diese Patientin behandelte, auf ein Buch von Sir John Woodroffe (alias Arthur Avalon), The Serpent Power, über den Symbolismus des tan-trischen Yoga. Es behandelte insbesondere die Kundalini, die Schlangenkraft, die angeblich an der Basis der Wirbelsäule zusammengerollt ist und unter bestimmten mystischen Voraussetzungen aufsteigt und dabei starke Glücksgefühle erzeugt.32

Anschließend konnte Jung alle ihre Symptome im Sinne der taufrischen Symbole »deuten« und erklärte, »dieser Einblick in die tantrische Philosophie half der Patientin, in ein normales menschliches Leben als Frau und Mutter zurückzukehren und sich von der Dämonologie zu befreien, die sie mit der Milch ihrer ayah eingesogen hatte« (G.W. 16: 337). Aber nichts deutet darauf hin, daß diese Frau von ihrer Amme in Java jemals etwas über den Tantrismus gehört hat. Wenn das so gewesen sein sollte, dann hat Jung zumindest keine Beweise dafür vorgelegt. Ich kann jedenfalls keine Verbindung zwischen den indischen tantrischen Texten und den seltsamen Träumen und Phantasien dieser Frau erkennen, von denen Jung zugeben mußte, daß er sie nicht verstehen könne. (Er verstand ihre Träume ebensowenig wie die tantrischen Texte.) 

Das ist ein Beispiel dafür, wie Jung seine eigenen Vorstellungen und Interessen einer Patientin aufgezwungen hat. Natürlich ist es unvermeidliche daß alle Therapeuten das tun. Es kommt aber nur selten vor, daß es so durchsichtig ist wie im Falle von Jung. Die meisten Therapeuten versuchen mit mehr oder weniger Erfolg zu vermeiden, daß ihre Voreingenommenheiten so deutlich zum Vorschein kommen wie es bei Jung der Fall war. Doch was Jung getan hat, ist typisch für die Auswirkungen der Psychotherapie. Es wäre absurd zu behaupten, Jung habe Fehler gemacht, die andere Anhänger seiner Schule nicht begehen oder Jungs Verfahren sei atypisch für die Jungsche Analyse und Freud sei ein untypischer Vertreter der Freudschen Analyse gewesen.

Die Deutung von Träumen anderer Menschen ist bestenfalls ein subjektives und gewagtes Unternehmen. (Sich die Träume eines anderen anzuhören und darüber mit ihm oder ihr zu sprechen, ist etwas ganz anderes — aber es ist keine Therapie.) Es ist anmaßend, wenn ein Therapeut behauptet, er könne die Träume eines anderen Menschen »verstehen«.


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Zudem ist es außerordentlich schwierig und oft unmöglich, einem anderen Menschen einen zusammen­hängenden und vollständigen Bericht über den Inhalt eines Traums zu geben. Aber über diese gewöhnlichen Schwierigkeiten hinaus ergab sich bei Jung noch eine weitere Dimension von Schwierigkeiten. Denn er hatte eine besondere Art, Träume zu verwenden, eine Methode, die er die »anagogische« oder spirituelle Deutung von Träumen nannte. (Das entsprach der von ihm so bezeichneten »progressiven« allgemeinen Deutungsmethode, der »Synthese« im Gegensatz zur »Analyse«.) Dieser Kunstgriff erlaubte es Jung zu behaupten, Träume seien oft prophetisch, und das nahm er besonders für seine eigenen Träume in Anspruch, von denen er glaubte, sie sagten wichtige weltgeschichtliche Ereignisse voraus. So berichtete er dem Religions­historiker Mircea Eliade 1952 von einem Traum, den er 1913 gehabt und der ihm, wie er glaubte, den Ersten Weltkrieg vorausgesagt habe:

Ich befand mich in Begleitung eines Freundes im Sommer in der Südsee nahe Sumatra. Aber aus den Zeitungen hatten wir erfahren, daß Europa von einer furchtbaren Kältewelle heimgesucht wurde, wie es sie bisher noch nie gegeben hatte. Ich beschloß, nach Batavia zu gehen und mit einem Schiff nach Europa zurückzukehren. Mein Freund sagte mir, er werde ein Segelschiff von Sumatra nach Hadramaut nehmen und von dort seine Reise durch Arabien und die Türkei fortsetzen. Ich kam in der Schweiz an. Ringsumher sah ich nichts als Schnee. Irgendwo wuchs eine riesige Weinrebe, an der viele Büschel Trauben hingen. Ich näherte mich ihr und fing an, die Trauben zu pflücken und an die Menschenmenge zu verteilen, die um mich her stand, die ich aber nicht sehen konnte.33)

Jung behauptete, diesen Traum dreimal gehabt zu haben. Seine Erzählung enthält zahlreiche für einen Traum untypische Elemente, aber das ist es nicht, was mich daran interessiert. Jung berichtet, er habe anschließend in Aberdeen einen Vortrag über Schizophrenie halten wollen: »Der Kongreß sollte im Juli 1914 stattfinden — genau zu der Zeit, als ich mich in drei Träumen auf einer Schiffsreise in der Südsee befand.« Er behauptet, in den Träumen das Gefühl gehabt zu haben, die Traumerlebnisse fänden im Juli 1914 statt, und diese in der Zukunft liegende Zeitvorstellung wiederholte sich mit allen anderen Einzelheiten des Traums dreimal!


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Der Erste Weltkrieg brach am 31. Juli aus. So behauptete Jung zu wissen, der Traum habe nicht, wie er fürchtete, seine eigene Schizophrenie vorausgesagt (»als Psychiater machte ich mir Sorgen und fragte mich, ob ich nicht auf dem Wege sei, eine Schizophrenie zu entwickeln...«), sondern daß sein Traum eine Prophezeiung des größeren »Wahnsinns« war, wie er die Ereignisse nannte, die damals über ganz Europa mit Ausnahme der Schweiz hereinbrachen. Jung war überzeugt, den Ausbruch des Krieges vorausgesehen zu haben, und glaubte fest daran, daß er während des Krieges eine besondere Rolle als Heiler übernehmen müsse (eine Prophezeiung, die nicht in Erfüllung ging). Ich muß gestehen, daß ich hier etwas skeptisch bin. Ich meine, daß der Traum nichts mit dem Ersten Weltkrieg zu tun hatte, und ich glaube auch, daß Jung diesen Traum nicht so geträumt hat, wie er ihn erzählt. Schließlich glaube | ich, daß Jung ihn nicht zu der von ihm angegebenen Zeit geträumt hat. Die Herausgeber der Sammlung, in der von diesem Traum berichtet wird, William mc Guire und R.F.C. Hüll, kommentieren ihn wie folgt:

Jung war froh, kurze Zeit später eine zweite Deutung seines Traums zu bekommen. Die Zeitungen berichteten kurz darauf von einem deutschen Schiffskapitän namens von Mücke, der auf einem Segelschiff die Südsee von Sumatra nach Hadramaut überquert, Zuflucht in Arabien gefunden hatte und von dort in die Türkei gereist war.34

In einer Fußnote heißt es dann:

Eine Notiz über die Reise des Korvettenkapitäns Helmuth von Mücke erschien in der Neue Zürcher Zeitung vom 4. August 1915, und die Reiseroute entspricht der hier angegebenen. Noch im gleichen Jahr veröffentlichte von Mücke einen Bericht über seine Abenteuer in einem Buch mit dem Titel Ayeshsi (der Name seines Schoners).

Aber das ist keine sehr eindrucksvolle Bestätigung von Jungs Traum, es sei denn, Jung hätte den Inhalt seines Traums veröffentlicht, bevor der Bericht über die Schiffsreise in der Schweizer Zeitung erschien. In Wirklichkeit hat Jung erst 1952 jemandem etwas von diesem Traum erzählt. 


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Welchen Beweis gibt es also dafür, daß Jung den Traum erst gehabt hat, nachdem er den Zeitungsbericht gelesen hatte, was sehr viel wahrscheinlicher ist? Ich bin mir der Tatsache bewußt, daß Jung damit der Unaufrichtigkeit überführt wäre, aber diese Möglichkeit scheint mir sehr viel wahrscheinlicher als die ungewöhnliche Darstellung des Traums und der darin auftretenden Umstände durch Jung. Nach 37 Jahren mag Jung sich geirrt haben, aber was war das für ein egoistischer Irrtum! Unter den Analysen Jungs sind seine Traumanalysen die bekanntesten. Aber wo es um den Meister selbst geht, fehlt manches.

Im gleichen Sinne untersuchte Jung die Träume seiner Patienten nicht nur nach der anagogischen Methode, sondern verwendete auch seine eigenen Träume bei der Interpretation der Realität des Patienten. So spricht er in Erinnerungen, Träume, Gedanken von einem Traum über eine unbekannte Patientin, die zu ihm kam, ihm von sich erzählte, während er, immer noch träumend, das Gefühl hatte, sie nicht zu verstehen, bis ihm plötzlich einfiel, »daß sie einen ungewöhnlichen Vaterkomplex habe«. Am folgenden Tag »erschien ein junges Mädchen. Eine Jüdin, Tochter eines reichen Bankiers, hübsch, elegant und sehr intelligent... Sie war eine angepaßte westliche Jüdin, aufgeklärt bis in die Knochen.« In der folgenden Nacht hatte Jung wieder einen Traum, in dem er vor ihr niederkniete und ihr einen Schirm überreichte, »wie einer Gottheit«. Er erzählte der Frau seine Träume, »und in acht Tagen war die Neurose verschwunden«. Jung erklärt den Vorgang wie folgt:

Der Traum hatte mir gezeigt, daß sie nicht nur eine oberflächliche Person war, sondern daß dahinter eine Heilige stand. Aber sie hatte keine mythologischen Vorstellungen, und darum fand das Wesentliche in ihr keinen Ausdruck. Alle ihre Intentionen gingen auf Flirt, Kleider und Sexualität, weil sie gar nichts anders wußte. Sie kannte nur den Intellekt und lebte ein sinnloses Leben. In Wirklichkeit war sie ein Kind Gottes, das Seinen geheimen Willen hätte erfüllen sollen. Ich mußte mythologische und religiöse Vorstellungen in ihr wachrufen, denn sie gehörte zu den Menschen, von denen geistige Betätigung gefordert ist. Dadurch erhielt ihr Leben Sinn, und von Neurose keine Spur mehr! (S. 145)


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Jungs eigener Traum vor dem Erscheinen der Frau konnte unmöglich etwas mit ihr zu tun haben. Trotzdem behauptete er, das Leben der Frau sei sinnlos gewesen, und nur die religiöse Bekehrung zum orthodoxen Judaismus könne sie von ihrer Neurose befreien. Das ist reine psychologische Tyrannei. Es ist absurd und überheblich, wenn Jung behauptet, »sie war ein Kind Gottes, das Seinen geheimen Willen hätte erfüllen sollen«. Selbst wenn man Jungs vorgefaßte Meinung über Gott akzeptieren will, wie konnte Jung das Geheimnis Gottes kennen, wenn es ein Geheimnis war? Vielleicht wollte Jung, als er diese Geschichte erzählte, gleichzeitig andeuten, daß er in direkter Verbindung mit Gott stehe (S. 145).

Es überrascht nicht, daß Jung ohne weiteres diese dem Anschein nach tief religiösen Deutungen des Verhaltens seiner Patienten in ihr Gegenteil verkehren und Träume dazu benutzen konnte, ebenso unglaubwürdige, aber nichtsdestoweniger erschreckende Voraussagen zu machen. So erzählt Jung in seinem Bericht über seine psychiatrischen Tätigkeiten von einer Begegnung mit einem augenscheinlich normalen Mann, der Psychoanalytiker werden wollte. Jung erklärte sich bereit, ihn zu analysieren, kam aber zunächst nicht weiter, bis der Mann ihm nach zwei Wochen von einem Traum erzählte, in dem er »ein idiotisches Kind von etwa zwei Jahren« sah. »Das saß auf einem Nachttopf und hatte sich mit Faeces angeschmiert.« Jung war beunruhigt: »Nun wußte ich genug: das war eine latente Psychose! Ich kann Ihnen sagen, ich schwitzte, als ich versuchte, ihn aus dem Traum herauszuführen. Ich mußte den Traum so harmlos wie möglich darstellen. Auf Details ging ich überhaupt nicht ein« (S. 141).

Jung erklärte: »Schon für Arzte ist es oft schwer, eine latente Schizophrenie zu erkennen und zu behandeln« (142). Zweifellos sind im Lauf der Jahre viele Patienten nur deshalb als schizophren diagnostiziert und in psychiatrische Anstalten eingewiesen worden, weil der behandelnde Psychiater den Teil eines Traumes entsprechend gedeutet hat. Aus den zahlreichen Artikeln, die er über Schizophrenie geschrieben hat, geht hervor, daß sich seine Auffassungen nicht geändert haben, seit er im Jahr 1900 von Eugen Bleuler, dem Professor für Psychiatrie und Chef der Burghölzli-Klinik in Zürich ausgebildet worden war. 

Ich will damit nicht sagen, daß die heutigen Auffassungen besser sind als die damaligen, aber Jung hat den Anspruch erhoben, über die Psychiatrie hinausgegangen zu sein. In Wirklichkeit hat er das nicht getan, sondern ist während seines ganzen Lebens durch und durch Psychiater geblieben.


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Er zeigte deutlich die für den Psychiater typische Arroganz, die es ihm zum Beispiel zu sagen erlaubte, daß »es gar keinen Sinn (hat), einen einfachen Patienten, dem nichts fehlt als eine Dosis gesunden Menschenverstandes, einer komplizierten Analyse des Triebsystems zu unterziehen oder gar der verwirrenden Subtilität psychologischer Dialektik auszusetzen« (G.W. 16: 8) oder: »Die einfachsten Fälle sind die, welche bloß menschlichen common sense und eines guten Rates bedürfen. Sie benötigen bestenfalls nur eine Konsultation« (G.W. 16: 19). Natürlich ist es besser, jemandem einen guten Rat zu geben, als ihn in einer psychiatrischen Anstalt einzusperren, aber in Jungs eigenem Leben vermissen wir den von ihm gepriesenen »common sense« ebenso wie seine Fähigkeit, gute Ratschläge zu erteilen.

Ich habe den Eindruck, in den Berichten Jungs fehlt jedes Verständnis für die Tragödien, die sich im Leben von Menschen ereignen. Die wirkliche Welt existiert in seinen Büchern nicht. Dabei kann ich nicht glauben, daß Jungs Patienten niemals über die wirkliche Welt gesprochen haben. Viel wahrscheinlicher ist, daß diese »banalen« Dinge den Interessen Jungs und seiner Vorliebe für das Spirituelle nicht entsprachen. Seine Berichte gehen über den Bereich seiner eigenen Interessen nicht hinaus.

Was ich in den Berichten über das Leben seiner Patienten vermisse, sind die Traumata, die sexuellen Nötigungen, die Kindsmißhandlungen, die Vergewaltigungen, die körperliche Gewalt, die Folter, die Beleidigungen, die Konzentrationslager und viele andere Arten der Gewaltanwendung, zu denen es sehr viel häufiger kommt, als es die Psychiatrie je zugegeben hat. Sollen wir glauben, daß die Patienten Jungs so etwas nicht erlebt oder ihm gegenüber immer verschwiegen haben? Das ist unwahrscheinlich und widerspricht jeder Erfahrung. Sehr viel wahrscheinlicher ist, daß sich Jung ganz einfach nicht für die Tragödien interessiert hat, die wir alle erleben.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen Jungs Beziehungen zum Nationalsozialismus und seiner Psychotherapie? Die Schwäche der Psychotherapie Jungs liegt im wesentlichen in dem Versuch, die Berührung mit den konkretesten, realsten, direkt auf den Körper und auf einen bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte bezogenen Fragen zu vermeiden. Das ist bei Jung der Grund für den offenkundigen Mangel an Interesse für das Sexualleben und die Familien­geschichte seiner Patienten.

Aber mir scheint, daß dies kein Zufall ist. Jung konnte es sich nicht leisten, seine Patienten aufzufordern, ihre Vergangenheit zu untersuchen, denn er mußte es vermeiden, an seine eigene Vergangenheit zu denken, die durch die Zusammenarbeit mit den Nazis belastet war. Welche bessere Möglichkeit gab es als die Errichtung eines mächtigen theoretischen Modells der Psychotherapie, in dem die Vergangenheit nur eine geringe Rolle spielte? Jungs Psychotherapie war ein Schirm, hinter dem er seine eigene unannehmbare Vergangenheit verbergen konnte.

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