10 Die Ent-Mythologisierung einer Illusion
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Bei jeder Therapie, die ich in diesem Buch untersucht habe (mit Ausnahme der radikalen und der feministischen Therapie, bei denen sich andere Probleme ergeben), wird ein Mangel an Interesse für soziale Ungerechtigkeit erkennbar. Sie alle interessieren sich nicht für körperliche Mißhandlungen und sexuellen Mißbrauch. Damit akzeptieren sie stillschweigend den politischen Status quo.
Mit anderen Worten, fast jede Therapie zeigt einen gewissen Mangel an Interesse für die Welt, in der wir leben. Der Therapeut sieht, wie jeder andere, die Probleme der Menschen im Lichte dessen, was er bereits weiß. Wenn das, was dem Therapeuten gesagt wird, in seinen Theorien keinen Platz hat, wird es so uminterpretiert, daß es in sein theoretisches Gebäude hineinpaßt.
Um sich selbst behaupten zu können, sieht sich der Therapeut gezwungen, so zu tun, als verfüge er über ein Wissen, das er in Wirklichkeit nicht besitzt. Die Therapeuten versuchen, ihren Patienten die für sie selbst geltenden Strukturen aufzuzwingen. So ist es zum Beispiel leichter, als Mitglied des Berufsstandes der Psychotherapeuten anerkannt zu werden, wenn man sich der für richtig gehaltenen Auffassung anschließt, daß jeder selbst für seine Situation im Leben verantwortlich sei. Sobald man einen dieser Lehrsatze für ungültig erklärt, droht die ganze Struktur zusammenzubrechen.
Ich glaube, keine Therapie ist jemals ehrlich. Das soll nicht heißen, daß alle Therapeuten unehrlich sind. Die meisten sind es nicht. Die meisten wollen ihren Patienten helfen. Aber auch was sie unter den günstigsten Voraussetzungen anbieten können, ist weniger als das, was sie anbieten wollen. Das kann gar nicht anders sein. Weil die Existenz der Therapie an die Voraussetzung geknüpft ist, daß sich die Wahrheit über das Leben eines Menschen durch die Therapie aufdecken läßt, ist der Therapeut nur selten bereit oder in der Lage anzuerkennen, daß er die Menschen bei der Ausübung seines Berufs betrügt.
Eine Methode, mit der die Therapeuten Fragen ausweichen, die dazu führen könnten, das wirkliche Wesen der Psychotherapie gründlich zu überprüfen, besteht darin, gewisse Klischees als profunde Wahrheiten zu akzeptieren. Im Lauf der Zeit beginnen die Therapeuten, auf oft wiederholte Mythen automatisch zu reagieren. Deshalb ist es so wichtig, diese Mythen zu identifizieren.
Einer dieser Mythen ist eine Version des Satzes, »er kam zu mir, nachdem er alles andere versucht hatte« oder »diese Therapie war für sie der letzte Ausweg«. Zunächst wird angenommen, daß diese Behauptung richtig ist. Da sie aber offensichtlich nur der Rechtfertigung des Therapeuten dient, wird sie vermutlich sehr oft falsch sein.1)
Freud hat schon in seinen 1895 geschriebenen Hysterie-Studien angefangen, sich dieses Mythos' zu bedienen, und kaum ein Therapeut hat das seither nicht mindestens von einigen seiner Patienten behauptet. Wir haben gesehen, daß John Rosen und Albert Honig es von ihren Patienten behauptet haben, und natürlich tun das auch die Psychiater, die mit Elektroschocks arbeiten. Die Behauptung, es habe sich um den »letzten Ausweg« gehandelt, wird stets damit gekoppelt, daß der Patient sonst gestorben, sein Leben lang eingesperrt worden oder irgend etwas anderes Furchtbares und nicht Wiedergutzumachendes geschehen wäre, wenn er nicht gerade diese Therapie und diesen Therapeuten gefunden hätte. Das klingt sehr gut, weil niemand es wagen wird, etwas zu kritisieren, das einem Menschen das Leben gerettet hat.
Es gibt einen ähnlichen Mythos der von den Patienten verbreitet wird, die sagen »ohne seine oder ihre Hilfe wäre ich längst gestorben« oder »diese Therapie hat mir großartig geholfen«. Wir hören von vielen Patienten und ehemaligen Patienten, wie sehr ihnen eine bestimmte Person oder eine bestimmte Behandlung genützt habe. Wir hören es von Leuten, die mit Elektroschocks behandelt worden sind, von Menschen, denen gefährliche Psychopharmaka verschrieben wurden und von Personen, bei denen eine Lobotomie, ein neurochirurgischer Eingriff, vorgenommen wurde.
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Ich bezweifle nicht, daß sie daran glauben, ihnen sei geholfen worden, aber bei einiger Überlegung wird einem klar, daß es für viele Menschen kaum möglich wäre, etwas anderes zu glauben, da sie sowohl bei der stationären als auch bei der ambulanten Behandlung intensiv in dieser Richtung beeinflußt werden und die Gesellschaft akzeptiert im großen und ganzen, ohne viel darüber nachzudenken, die von der Psychiatrie geschaffenen Wertbegriffe.
Auch wenn sich jemand freiwillig behandeln läßt, besteht ein emotionaler und mentaler Zwang, den Psychiater und Psychotherapeuten kaum in Betracht ziehen. Wenn die Therapie nicht freiwillig ist, verstärken sich die Möglichkeiten für die Beeinflussung des Patienten.
Ein weiterer Mythos kommt in der Behauptung zum Ausdruck, »zugegeben, es gibt Mißbräuche in der Psychotherapie, aber das sind die Ausnahmen. Im allgemeinen wird der Therapeut seinem Patienten keinen Schaden zufügen.« Als ich noch als Psychoanalytiker praktizierte, habe ich oft gehört, wie andere Psychoanalytiker über die von ihren Kollegen begangenen Fehler sprachen. Ich erinnere mich daran, wie ich einen prominenten Psychoanalytiker, der an einem berühmten Institut in New York arbeitete, fragte, an wie viele Kollegen er einen Verwandten überweisen würde. Er erklärte, er habe kein Vertrauen zu der großen Mehrheit seiner Kollegen. Ich habe dies immer wieder gehört, obwohl kein Analytiker, den ich kenne, es jemals öffentlich gesagt hat.
Ich glaube nicht, daß Mißbräuche in der Psychotherapie etwas Ungewöhnliches sind. Man redet nur nicht viel darüber. Der Grund für die erstaunliche Zunahme der wegen ärztlicher Kunstfehler gegen Psychotherapeuten durchgeführten Gerichtsverfahren liegt nicht darin, daß solche Mißbräuche heute häufiger vorkommen als früher, sondern die Zahl der Personen, die bereit sind, Schadenersatz zu verlangen, hat sich erhöht.2
Wenn wir uns die zahlreichen in der Fachliteratur enthaltenen psychotherapeutischen Krankengeschichten aus dem 19. Jahrhundert ansehen, dann werden eine große Anzahl von Therapeuten mit uns der Ansicht sein, daß in den meisten Fällen nach den heute geltenden Maßstäben grob fahrlässig verfahren wurde und die behandelnden Ärzte, zum Teil aus Unkenntnis, schwere Fehler begangen haben. Aber müssen wir nicht davon ausgehen, daß die Menschen im nächsten Jahrhundert nicht auch das gleiche von den Fällen sagen werden, über die aus unserer Zeit berichtet wird?
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Ein weiterer Mythos sagt, daß jede Therapie etwas nützt, gleichgültig welcher Theorie der Therapeut folgt. Diese Auffassung ist am überzeugendsten von Jerome D. Frank in seinem einflußreichen Buch <Persuasion and Healing: A Comparative Study of Psychotherapy> zum Ausdruck gebracht worden: »Die in diesem Buch vertretene Hypothese ist, daß charakteristische Ansätze aller Psychotherapierichtungen die grundlegenden Ursachen seelischer Leiden und Störungen von Personen bekämpfen, die sich psychotherapeutisch behandeln lassen.«3)
Leute wie Frank behaupten, es käme in erster Linie auf die Beziehung an, die sich zwischen einem Therapeuten und einem Patienten entwickle. Die »liberaleren« Kritiker der Psychotherapie aus den eigenen Reihen wie Hans H. Strupp weisen darauf hin, daß »der Therapeut keine Krankheit oder Störung, sondern vielmehr ein menschliches Wesen behandelt, das mehr oder weniger große Schwierigkeiten hat, mit dem Leben fertig zu werden«. Strupp meint, »die künftige Forschung muß sich darum bemühen, die Möglichkeit zu schaffen, daß der richtige Patient von dem richtigen Therapeuten behandelt wird, um eine menschliche Beziehung herzustellen, in der sich der Patient als menschliches Wesen geachtet, akzeptiert und verstanden fühlen kann«.4)
Aber alle Therapeuten behaupten, die Menschen, die sie behandeln, zu achten, zu akzeptieren und zu verstehen. Alle Therapeuten sind geneigt zu glauben, daß eine Beziehung zu ihnen für den Patienten etwas Gutes ist. Kein Therapeut sagt,: »Eine Beziehung zu mir ist eine gefährliche und furchterregende Erfahrung.«
Wenn es irgend jemandem jemals gelungen wäre, ein gültiges Rezept für die Herstellung der idealen »Verbindung« zu entwickeln, wie sie Strupp beschreibt, dann gäbe es keine Scheidungen mehr. Es ist unmöglich und unvernünftig, so etwas zu erwarten. Dabei werden die Schwierigkeiten nicht berücksichtigt, die sich in der Praxis der Psychotherapie ergeben. Hier zeigt sich nur die Unmöglichkeit, Psychotherapie zu praktizieren, eine Folgerung, der Strupp leidenschaftlich widersprechen würde. Die Behauptung, jede Beziehung zu jedem beliebigen Therapeuten sei »heilsam«, kann offensichtlich nicht zutreffen. Eine Frau reagierte zum Beispiel negativ auf Marihuana und ließ sich von Dr. Robert Zaslow mit einer »suchtmindernden Therapie« behandeln. Hat ihr die Beziehung zu ihm geholfen? Seine Diagnose lautete »beginnende Schizophrenie«, und sie wurde »mit einer mehr als zehn Stunden dauernden neu entwickelten Therapie behandelt... Dabei wurde sie die ganze Zeit gestoßen, geschlagen und gequält... und erlitt schwere Kontusionen am Oberkörper mit einem vollständigen Nierenversagen«.5)
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Die <American Psychiatrie Association Commission on Psychiatrie Therapies> hat erklärt, daß die Z-Therapie, wie sie auch genannt wird, nur einen begrenzten Anwendungsbereich habe, und zwar »bei einigen autistischen Kindern und unter Depressionen leidenden Patienten«. Die Kommission beschreibt diese brutale Therapie wie folgt: »Die Therapie besteht darin, das autistische Kind niederzuhalten (das heißt physische Gewalt anzuwenden) und außerdem das Kind zu kitzeln, um bei ihm heftige Zornausbrüche zu erzeugen. Sobald dieser Zorn wachgerufen worden ist, läßt der Therapeut das Kind wieder los und zeigt ihm seine Liebe und Zuneigung.«
Wenn es ein Erwachsener ist, »wird der Patient mit Gewalt festgehalten, während der Therapeut ihm peinliche Fragen stellt, mit denen traumatische Erfahrungen aus der Vergangenheit ins Gedächtnis zurückgerufen werden sollen. Während die Fragen gestellt werden oder im Anschluß daran kitzelt der Therapeut den Brustkorb des Patienten oder bringt ihm durch Stoßen Schmerzen bei, um eine Zornreaktion zu erzeugen. Ohne Rücksicht auf die heftige Abwehr oder das Geschrei des Patienten wird dieser so lange festgehalten, bis sich seine Wut zum Äußersten gesteigert hat und er sie hemmungslos und direkt zum Ausdruck bringt. Solche Sitzungen können mehrere Stunden dauern (die typische Sitzung dauert vier bis acht Stunden), bis der Patient völlig erschöpft ist und seinen Widerstand aufgegeben hat.«6
Wie wir gesehen haben, hat diese Therapie den Patienten von John Rosen und Albert Honig nicht geholfen. Aber hier möchte ich diese Fälle einmal unberücksichtigt lassen und mir vorstellen, daß sie für die Psychotherapie im allgemeinen nicht bezeichnend sind. Jerome Frank schreibt in Persuasion and Healing: »Man ist sich im allgemeinen darin einig, daß der Erfolg eines Psychotherapeuten zum Teil davon abhängt, daß er ein echtes Interesse am Wohl seines Patienten hat.« (S. 183)
Strupp und seine Kollegen stellen in einer Studie über 131 Patienten, die in der ambulanten Klinik eines Universitätskrankenhauses mindestens fünfundzwanzig Mal mit einer intensiven Psychotherapie behandelt worden waren, fest, daß der »gute Therapeut ein besonders aufmerksamer, interessierter, wohlwollender und besorgter Zuhörer ist — ein warmherziger und sich natürlich verhaltender Freund, der es nicht ablehnt, Ratschläge zu geben, die gleiche Sprache spricht wie der Patient, verständlich redet und nur selten dessen heftigen Zorn erregt.«7
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Was bedeutet es, eine »Beziehung« zu einer solchen Person zu haben, wenn eine echte Beziehung nur mit einem Gleichgestellten möglich ist? In Wirklichkeit können wir diese Eigenschaften nur bei einem Menschen finden, den wir gut kennen. Viele Therapeuten können den Eindruck erwecken, sie seien warmherzig, interessiert, wohlwollend und besorgt Aber das garantiert noch nicht, daß sie diese Eigenschaften besitzen oder daß solche Eigenschaften außerhalb der therapeutischen Beziehung existieren.
Schließlich wird der Therapeut — jeder Therapeut — für die Aufmerksamkeit, die er dem Patienten entgegenbringt, bezahlt. Es ist nicht schwierig, einem Menschen seine ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden, wenn man ein gutes Honorar dafür bekommt. Wenn wir einem anderen vertrauen, dann kommt es sehr darauf an, ob diese Person nur vertrauenswürdig erscheint oder unser Vertrauen wirklich verdient. Und das können wir erst nach einiger Zeit feststellen, und zwar in einer Beziehung ohne Macht und Hierarchie. In einer therapeutischen Beziehung besteht jedoch immer eine Unausgewogenheit der Macht. Der eine bezahlt, der andere läßt sich bezahlen. Pausen im Verlauf der Therapie, der Zeitpunkt und die Dauer der Sitzungen werden alle von der einen Person festgelegt. Nur der Therapeut gilt als »Experte« für menschliche Beziehungen und menschliche Gefühle. Aber nur eine Person befindet sich angeblich in Schwierigkeiten. Das muß die Urteilskraft und die Wahrnehmungsfähigkeit des weniger mächtigen Patienten beeinflussen.
Einer der angesehensten Psychiater seiner Zeit war D. Ewen Cameron (1901-1967). Er war Präsident der Abteilung für Psychiatrie an der McGill University in Kanada, Direktor des berühmten Allan Memorial Institute und Professor für Psychiatrie am Albany Medical College. Außerdem war er Präsident der American Psychiatrie Association und der World Psychiatrie Association. Während des Zweiten Weltkrieges gehörte er einem internationalen Ausschuß von Psychiatern und Sozialwissenschaftlern an, der den Ursprung und das Wesen der nationalsozialistischen Ideologie untersuchte. Nach dem Kriege wurde er damit beauftragt, bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen einige der führenden nationalsozialistischen Angeklagten zu untersuchen und psychiatrische Gutachten über sie anzufertigen. Zu ihnen gehörte auch Rudolf Hess.
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Kaum ein anderer Psychiater ist so mit Ehrungen überhäuft worden wie Dr. Cameron. Nach seinem Tode zitierte das American Journal of Psychiatry die folgende Würdigung:
Seinen weltweiten Erfolg in seinem Beruf verdankte er natürlich in erster Linie seinem großen Wissen und seinem Scharfsinn. Ein wesentlicher Faktor war mit Sicherheit aber auch die Sanftmut — man ist versucht zu sagen der Charme — seiner Persönlichkeit. Wer den Vorzug gehabt hat, ihn auch nur kurz zu kennen, wird nicht so bald die Wärme und die Freundlichkeit dieses verständnisvollen Mannes vergessen.8)
Aber es gibt wenigstens 53 Menschen, die meisten von ihnen sind Frauen, die in den Jahren 1957 bis 1961 das Allan Memorial Institute aufgesucht haben, um sich bei der Überwindung der verschiedensten Schwierigkeiten helfen zu lassen, und die danach eine ganz andere Seite von Cameron nicht vergessen haben.
Mit Geldern der Central Intelligence Agency, des amerikanischen Geheimdienstes, der sich für die neuen von Cameron entwickelten Techniken zur Gehirnwäsche interessierte, wurden diesen 53 Menschen Überdosen von LSD verabreicht. Sie wurden mit Hilfe von Drogen einer »Schlaftherapie« unterzogen, wobei sie bis zu 65 aufeinanderfolgende Tage schlafen mußten, und sie erhielten außerordentlich intensive Elektroschocks. Außerdem wurden sie gezwungen, in 16 Stunden dauernden Intervallen immer wieder die gleichen Botschaften vom Tonband anzuhören, eine Behandlungsmethode, die Cameron als »psychisches Antreiben« bezeichnete.
Keiner dieser Patienten hatte seine Zustimmung zu diesem Experiment gegeben, und man hatte ihnen auch nicht gesagt, daß mit ihnen ein Forschungsvorhaben durchgeführt wurde. Eine Gruppe von neun ehemaligen Patienten stellte im Dezember 1980 beim amerikanischen Bezirksgericht in Washington Strafantrag gegen die Regierung der Vereinigten Staaten. Eine gerichtliche Entscheidung liegt bis heute nicht vor. In einem ausgezeichneten Artikel in der Washington Post vom 28. Juli 1985 mit der Überschrift »Twenty-Five Years of Nightmares« schreibt David Rennic:
Dr. Mary Morrow wandte sich an Cameron und beantragte ein Stipendium für das Studium der Psychiatrie, aber Cameron glaubte, nach einer ärztlichen Untersuchung, Frau Morrow sei »nervös«, und nahm sie statt dessen als Patientin in Behandlung.
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Frau Morrow berichtet, man habe mit ihr elf Tage Desorientierungsversuche angestellt, in deren Verlauf sie mit Elektroschocks und Barbituraten behandelt wurde. Die Behandlung hatte eine Gehirnanoxie zur Folge. Das heißt, ihr Gehirn wurde nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt, sie mußte stationär in ein Krankenhaus aufgenommen werden. Heute leidet Frau Morrow unter Prosopagnosie - der Unfähigkeit, Gesichter wiederzuerkennen.
Die Desorientierungsbehandlung, die an Frau Morrow vorgenommen wurde, hat Cameron in einem Artikel beschrieben, der in einer führenden psychiatrischen Fachzeitschrift veröffentlicht worden ist.9
Die Patientin erhielt an einem einzigen Tag so viele Elektroschocks, daß sie »ein organisches Gehirnsyndrom mit akuter Verwirrung, Desorientierung und Beeinträchtigung ihrer erlernten Gewohnheiten beim Essen und bei der Blasen- und Darmfunktion entwickelte«. Dadurch sollte die Person in den Zustand eines vierjährigen Kindes versetzt werden, damit anschließend das Erinnerungsvermögen des Patienten umstrukturiert werden konnte. Cameron hoffte, durch diese neue Behandlungsmethode für »Schizophrene« ebenso berühmt zu werden wie Freud.
Ironischerweise war es ein bekannter Analytiker aus der Schule Freuds, Gregory Zilboorg, der in The American Journal of Psychiatry vom 12. Juli 1963 in einem Artikel die Arbeit von Cameron würdigte und schrieb: »Zu seinen Mitarbeitern gehören bewährte Psychoanalytiker, und er sieht in Freud einen Teil der Gesamtentwicklung des psychiatrischen Denkens«, was zeigt, daß auch Analytiker Cameron akzeptierten. Andererseits klingt der Bericht des Psychiaters R. A. Cleghorn, des Nachfolgers von Cameron am Allan Memorial Institute, über die von ihm angeordneten Nachuntersuchungen der Patienten Camerons alles andere als optimistisch:
»Ein Fragebogen zur detaillierten Untersuchung des Erinnerungsvermögens wurde von 27 ehemaligen Patienten ausgefüllt, an denen eine intensive Elektroschockbehandlung vorgenommen worden war... Bei 63 Prozent der Versuchspersonen wurde festgestellt, daß sie sich an vergangene Ereignisse nur mit Hilfe anderer Personen erinnern konnten. Bei 60 Prozent der Versuchspersonen wird eine Rückbildung der Amnesie und der Desorientierung innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten bis zu zehn Jahren berichtet.«
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Am Schluß des Berichts heißt es: »Das Auftreten physischer Komplikationen und die im Patienten erzeugten Ängste wegen der wirklichen oder eingebildeten (!) Erinnerungsschwächen sprechen gegen die Verabreichung des intensiven Elektrokonvulsivschocks als therapeutisches Standardverfahren. «10 Als sich Cameron 1958 in einem Artikel mit der Überschrift »Treatment of the Chronic Paranoid Schizophrenie Patient« zum ersten Mal schriftlich zu seiner Methode äußerte, sagte er: »Wir stellen hier eine Behandlungsmethode vor, von der wir festgestellt haben, daß sie erfolgreicher ist als alle bisher bekannten.«11
Wenn die Patienten nicht bereit waren, mitzuarbeiten, nannte Cameron ihre Reaktionen in seinem Artikel »paranoid«. Die CIA hoffte, mit Hilfe Camerons die Erinnerung ehemaliger Agenten an ihre Operationen auslöschen zu können. Sie hat von 1953 bis 1973 (und vielleicht sogar darüber hinaus) wenigstens 25 Millionen Dollar ausgegeben, um ein Verfahren entwickeln zu lassen, mit dem sich das menschliche Bewußtsein beherrschen ließ.12 Sie interessierte sich vor allem für einen Artikel, den Cameron 1960 veröffentlicht hatte und in dem er von einem Patienten berichtete, der nach einer Behandlung »die Erinnerung an alle Ereignisse seines Lebens vollständig verloren hatte«.13
Nach Cameron kann die differenzierte Amnesie, das heißt das Vergessen bestimmter Ereignisse, »bis zu einem Zeitpunkt zehn Jahre vor Beginn der Behandlung« und die vollständige Amnesie bis zu einer Zeit von fünf Jahren vor Beginn der Behandlung bewirkt werden.
In dem Aufsatz »Twenty-five Years of Nightmares« wurde ein Patient als »menschliches Versuchskaninchen« bezeichnet, ein »armer, bemitleidenswerter Mann«. Der Sohn dieses Patienten, der Psychiater Dr. Harvey Weinstein, ist der Direktor des Gesundheitsdienstes für die Studenten an der Stanford University. Am 4. Mai 1987 habe ich ihn in einem Telefongespräch gefragt, ob das, was Cameron seinem Vater angetan hat, seine Auffassungen von der Psychiatrie im allgemeinen oder vom Elektroschock im besonderen verändert hat. Er sagte, das sei nicht geschehen. Er selber werde keine Elektroschocks anwenden, weil sich bei ihm gewisse Vorstellungen damit verbinden. Aber er habe gegen ihre Anwendung »unter den richtigen Voraussetzungen, bei sorgfältiger Kontrolle und bei dem richtigen Patienten« nichts einzuwenden.
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Ich erwiderte, die Tatsache, daß Cameron Präsident der amerikanischen, der kanadischen und der weltweiten psychiatrischen Gesellschaft gewesen sei, bedeute doch eigentlich, daß seine Praktiken von der Psychiatrie im allgemeinen anerkannt würden. Er sei also keineswegs ein Außenseiter gewesen. Im Gegenteil, er war eines der angesehensten Mitglieder seines Berufsstandes. Das sage doch mit Sicherheit etwas über den Zustand der Psychiatrie aus? Dr. Weinstein meinte, es sage nur etwas über den damaligen Zustand der Psychiatrie aus und nicht über den jetzigen. Als Beweis dafür erwähnte er die Tatsache, daß viele seiner als Psychiater in diesem Land arbeitenden Kollegen entsetzt wären, wenn sie erführen, was Cameron getan hatte.
Wenn das richtig ist, weshalb hat dann seit 1977, als die teilweise Finanzierung dieser Praktiken durch die CIA bekannt wurde, keine einzige psychiatrische Fachzeitschrift einen Artikel veröffentlicht, der die Methoden von Cameron mißbilligte? Es mag Psychiater geben, die behaupten, was Cameron getan hat, sei ein Mißbrauch der Psychiatrie. Aber es ist praktisch unmöglich, einen Psychiater zu finden, der bereit ist zuzugeben, daß das was Cameron getan hat, die eigentliche Absicht der Psychiatrie ist, daß dies in der Psychiatrie Brauch ist und nicht als Mißbrauch angesehen wird.
Es gibt auch einen Mythos über die Ausbildung des Psychiaters, der hier erwähnt werden muß. Therapeuten sind im allgemeinen sehr stolz auf ihr »Fachwissen« und die »gründliche Ausbildung«, die sie genossen haben. Bei der Beurteilung der Fähigkeiten eines Therapeuten wird häufig gesagt, »er ist gut ausgebildet« oder »er hat eine Spezialausbildung genossen«. Über die Art einer solchen Ausbildung weiß man im allgemeinen sehr wenig, und die Therapeuten selbst lassen sich nicht gern von ihren Patienten fragen, wie diese Ausbildung im einzelnen aussah. Das liegt daran, daß sich die Spezialausbildung in sehr bescheidenen Grenzen hält.
Wer zum Beispiel die Berechtigung erwerben will, sich als Ehe-, Familien- und Erziehungsberater zu bezeichnen, muß nach dem Erwerb des niedrigsten akademischen Grades, eines Bakkalaureus, nur noch ein Jahr studieren. Das gründlichste und längste Ausbildungsprogramm müssen die Studenten der klassischen Psychoanalyse absolvieren. Das liegt aber nicht am Umfang des Lehrmaterials, das bewältigt werden muß. (Meine psychoanalytische Ausbildung hat acht Jahre gedauert. Rückblickend glaube ich, ich hätte mir die Grundbegriffe bei intensiver Lektüre innerhalb von acht Stunden aneignen können.)
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Es liegt vielmehr daran, daß diese Ausbildung ein umfangreiches Indoktrinierungsprogramm darstellt, in dessen Verlauf der Studierende darauf vorbereitet wird, einem »Berufsstand« anzugehören. Das ist ein anerkanntes und von den zuständigen Stellen gefördertes Verfahren:
14Eine Berufsausbildung, die erfolgreich abgeschlossen wird, führt zur Verschmelzung der Person mit der Aufgabe, die sie zu erfüllen hat. Wir sprechen nicht davon, daß jemand einen Job hat, sondern er gehört einem Berufsstand an. Wer einen solchen Beruf hat, identifiziert sich ganz bewußt mit seiner Tätigkeit. Der Status, den ihm seine Funktion innerhalb des Gemeinwesens verleiht, bereitet ihm Freude und macht ihn stolz, und er kann sich kaum vorstellen, seinen Beruf zu wechseln, auch wenn ihm eine größere finanzielle Sicherheit geboten wird, weil die tiefste Befriedigung in der Ausübung des Berufs liegt, der zu einem Teil seines Lebens geworden ist. Dieses Gefühl der professionellen Identität ist ein wesentliches Attribut in einem Beruf wie der Psychotherapie, und das Erlangen dieser Identität muß als eines der wichtigsten Ausbildungsziele angesehen werdend.
Kurz gesagt, man lernt, zum loyalen Mitglied einer exklusiven Gruppe zu werden. Die natürliche Reaktion auf jede Kritik besteht Idarin, den Kritiker anzugreifen, weil die Loyalität gegenüber dem eigenen Berufsstand als unbedingt erforderlich gilt. Aber wie soll es möglich sein, eine ernsthafte kritische Untersuchung der Grundforderungen auf einem Gebiet vorzunehmen, mit dem man sich persönlich identifiziert? Wir nehmen Aussagen, wie die oben von Eckstein und Wallerstein gemachten, widerspruchslos hin, weil sie der allgemeinen Struktur unseres Gesellschaftssystems entsprechen. Wie also könnte sich die Psychotherapie als Teil dieser Gesellschaftsstruktur von der Gesellschaft distanzieren und sie kritisieren? Psychotherapeuten lernen ebenso wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft, gute und angepaßte Bürger zu sein. Ich würde den Schlußfolgerungen von Eliot Freidson zustimmen, zu denen er in seinem ausgezeichneten Buch Profession of Medicine kommt:
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Es ist meine persönliche Meinung, daß sich die Rolle des Berufsstandes in einer freien Gesellschaft darauf beschränken sollte, die technischen Informationen zu vermitteln, welche die Menschen brauchen, um ihre eigenen Entscheidungen aufgrund ihrer persönlichen Wertvorstellungen zu treffen. Wenn er sich die Autorität anmaßt, auch die Entscheidungen der Menschen aufgrund seiner eigenen Wertvorstellungen zu bestimmen, ist der Angehörige eines Berufsstandes kein Fachmann mehr, sondern Mitglied einer neuen privilegierten Klasse und tarnt sich nur als Fachmann.15)
Nach meiner Überzeugung wird heute allgemein anerkannt, daß keine Psychotherapie wertfrei sein kann und daß kein Psychotherapeut vermeiden kann, den Patienten mit seinen Wertvorstellungen zu beeinflussen oder das zu versuchen. David Rosenthal, der schon in den 50er Jahren auf diesem Gebiet geforscht hat, vertritt die Auffassung, daß Patienten die Wertvorstellungen ihrer Therapeuten akzeptieren, was auch unseren Erfahrungen entspricht.16
Nathan Hurvitz sagt praktisch das gleiche, wenn er erklärt: »Auf diese Weise gewährt die Psychotherapie der etablierten Ordnung eine starke Unterstützung — diejenigen, die versuchen, die Gesellschaft zu verändern, werden von ihr herausgefordert, in bestimmte Kategorien eingeordnet, manipuliert, abgelehnt oder veranlaßt, sich anzupassen.«17
Erving Goffman schreibt in seinem mit großer Begeisterung aufgenommenen Buch Asylums: »Es ist verständlich, daß die Psychotherapie zum großen Teil daraus besteht, dem Patienten seine Sünden vorzuhalten und ihm zu zeigen, welche Irrtümer er begangen hat. Und in gewissem Sinne kann ich nicht sehen, wie das anders sein könnte oder sollte.«18
Ob man nun Goffmans Beurteilung dessen, was in der Psychotherapie geschieht, zustimmt oder nicht, sei dahingestellt, wenn er jedoch sagt, er könne nicht sehen, wie es anders sein könnte oder sollte, dann halte ich das für falsch. Natürlich kann es in gewissem Sinne nicht anders sein, weil die Psychotherapie Ausdruck der vorherrschenden Meinung in der Gesellschaft ist. Es könnte und sollte jedoch anders sein, weil wir gänzlich auf die Psychotherapie verzichten sollten.
Sie kann und sollte durch eine offene und gründliche Kritik am Fundament unserer Gesellschaft ersetzt werden, durch eine Neubewertung ihrer Grundforderungen, und dazu gehört natürlich auch eine rücksichtslose Untersuchung der Grundforderungen der Psychotherapie sowie die Untersuchung der Ursachen, weshalb die Gesellschaft es zugelassen hat, daß die Psychotherapie so weit verbreitet und so destruktiv ist.
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Kate Millett wurde neulich gefragt, was sie mit jemandem »tun« würde, der sich ständig streitet, Gegenstände zerstört und sich unsinnig gebärdet. Ihre Antwort ist sehr aufschlußreich:
Sehr viele Menschen können sich unaufhörlich streiten, weil sie genug davon haben, von jemandem belästigt zu werden, oder es geschieht in diesen emotionsgeladenen Situationen, die erfüllt sind von Liebe und Haß und von Problemen mit der Familie, den Kindern und einem Ehepartner, der sich scheiden lassen will. Dann benehmen sich die Menschen verrückt, weil sie in dem guten alten amerikanischen Sinn verrückt sind; das heißt, sie sind böse auf die Menschen in ihrer Umgebung.
Es gibt keinen Grund zu glauben, daß sie sich durchaus normal benehmen würden, wenn sie diesen Kreis verlassen könnten, außerhalb dessen sie nicht auf Feindschaft und Antagonismus stoßen würden. Wie wäre es zum Beispiel, wenn ich mich mit Ihnen heftig streiten würde, sagen wir etwa über dieses Thema, und Sie könnten zum Telefon gehen und den Notdienst anrufen, um mich von diesen weißgekleideten Männern in einen Krankenwagen zerren zu lassen und damit als Sieger aus diesem Streit hervorgehen?
Nun, das ist es, was diese Familien tun. Wenn sie nun nicht den Notdienst angerufen hätten, dann hätte ich mich ins Flugzeug setzen und mein eigenes Leben führen können. Ich will damit sagen, daß die Menschen das Recht haben, ihr eigenes Leben zu führen, und wenn man irgend jemandem nicht helfen kann, dann sollte man ihm aus dem Weg gehen. 19)Man wird kaum einen Therapeuten finden, der sich seinem Berufsstand nicht verpflichtet fühlt. Die professionelle Loyalität bedeutet, daß man menschliche Impulse dem unterordnet, was für den ganzen Berufsstand am vorteilhaftesten zu sein scheint. Die Therapeuten brauchen ein soziales Netz, nach dessen Regeln sie sich richten können. Selbst wenn der einzelne Therapeut somatische Eingriffe entschieden ablehnt — zum Beispiel Drogen oder Elektroschocks —, lassen sie sich oft kaum vermeiden, wenn dieser Therapeut im Rahmen eines Umfeldes arbeitet, wo sie vorgenommen werden. In diesem Fall wird seine Ablehnung verdrängt, das heißt zum Schweigen gebracht.
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Und sogar Therapeuten, die nicht in einer Klinik arbeiten, gehören einer größeren therapeutischen Gemeinschaft an, die es nicht ohne weiteres hinnehmen wird, daß ein einzelner die professionelle Solidarität verletzt. Ein Therapeut, der sich zum Beispiel entschieden gegen den Elektroschock ausspricht, riskiert die Isolation von seinen Berufskollegen oder Schlimmeres. Das ist einer der Grunde, weshalb so wenige Therapeuten öffentlich etwas gegen die Elektroschocktherapie gesagt haben. Selbst wenn Therapeuten auf den Elektroschock verzichten, gehören sie einer professionellen Welt an, welche die Anwendung dieser Methode sanktioniert und sogar dazu ermutigt. Ein Beispiel dafür ist Carl R. Rogers, der gezwungen wurde, sich an dem Leben in einer Institution zu beteiligen, die er zunächst nur hatte kennenlernen wollen. Es ist unmöglich, angesichts einer Tyrannei zu schweigen, ohne daß man durch dieses Schweigen zum Förderer dieser Tyrannei wird.
Es ist die Welt der Therapie, es ist die Therapie selbst, die den Kern der Entartung bildet, die ich in diesem Buch geschildert habe. Jeder Therapeut, gleichgültig wie freundlich und wohlwollend er in seinem Auftreten und Verhalten auch sein mag, wird früher oder später in dieses Verderben hineingezogen, weil der Berufsstand selbst verdorben ist. Ein Beruf, dessen Existenz vom Elend anderer Menschen abhängt, ist ganz besonders gefährdet. Die treibende Kraft, die hinter der Psychotherapie steht, ist der materielle Gewinn aus dem Leiden anderer Menschen. Historisch gesehen haben die Therapeuten beim Ringen um gesellschaftliche Veränderungen niemals in der vordersten Front gestanden. Es liegt nicht im Interesse ihres Berufs, Verhältnisse zu schaffen, die dazu führen würden, daß sich die Psychotherapie erübrigt.
Im letzten Kapitel haben wir gesehen, daß auch radikale Therapeuten und feministische Therapeuten (beides sind Widersprüche in sich) hier keine Ausnahme bilden. Beide profitieren von einem System, das leidende Menschen ausbeutet, und beide stellen die Loyalität gegenüber ihrem Berufsstand über die Loyalität gegenüber den Menschen, die sie behandeln, gleichgültig, mit welchen hochtrabenden Reden sie diese Tatsache zu verbergen suchen. Was ich so empörend finde, ist die Tatsache, daß niemand den Mut hat, deutlich gegen die vielen Formen der Tyrannei in der Psychiatrie aufzutreten.
Ich kenne zum Beispiel keine Gruppe feministischer Therapeutinnen, die sich öffentlich gegen den Elektroschock ausgesprochen hat. Ich habe von früheren Patienten aus psychiatrischen Kliniken gehört, sie seien von radikalen Therapeuten oder von feministischen Therapeutinnen dort eingewiesen worden.
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Der angesehene Psychoanalytiker Kurt R. Eissler, ein Schüler von Freud und ehemaliger Direktor des Freud-Archivs, hat einen 1963 in Deutschland veröffentlichten Artikel mit dem eindrucksvollen Titel »Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?« geschrieben.20)
Dieser Artikel wandte sich leidenschaftlich gegen die deutschen Psychiater, die jüdische Wiedergutmachungsansprüche für die psychischen Schäden ablehnten, die während des Aufenthalts in Konzentrationslagern entstanden waren, und zwar mit der Begründung, daß diese Leute entweder simulierten, fantasierten oder daß ihre Konstitution traumatische Reaktionen bedingt habe. Mir scheint der mit aufrichtiger Empörung geschriebene Artikel von Eissler überzeugend zu sein.
Und doch ist mir bei der Lektüre klargeworden, wie tief das psychiatrische Denken in unsere Kultur eingedrungen ist. Denn Eissler sagt in seinem Aufsatz, wenn das Trauma groß genug sei, könnten wir eine normale Konstitution nicht von einer anomalen unterscheiden, und wir könnten nicht erkennen, welche Schizophrenie echt und welche falsch sei. Aber Eissler verzichtet darauf, die Begriffe der normalen und der anomalen Konstitution oder der echten und falschen Schizophrenie gründlich zu untersuchen. Er glaubt ganz einfach, daß es so etwas wie eine normale und eine anomale Konstitution gebe, und daß man eine echte von einer falschen Schizophrenie unterscheiden muß. Außerdem behauptet er, ein erfahrener Psychiater (ein oft von ihm benutzter Ausdruck) werde dazu fähig sein. Aber die deutschen Psychiater, die in ihren Berichten behaupteten, die von den Konzentrationslagerinsassen erlittenen Traumata hätten keine besondere Bedeutung, waren auch erfahrene Psychiater.
Es ist durchaus möglich, daß diese deutschen Psychiater Antisemiten waren, aber hier scheint es um ein grundsätzlicheres Problem zu gehen, das Eissler und andere Psychiater völlig außer acht lassen: Sobald wir irgend jemandem das Recht einräumen zu entscheiden, wer oder was normal oder anomal sei, haben wir auf eine fundamentale intellektuelle Verantwortlichkeit verzichtet (zu bestreiten, daß solche Unterscheidungen gemacht werden können), und es sollte uns nicht überraschen, wenn dieses Recht von Menschen »mißbraucht« wird, die einer anderen psychiatrischen Richtung angehören. Dieses Recht kann nur mißbraucht werden.
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Jeder sollte daher wissen, daß er, wenn er in das Behandlungszimmer eines Psychotherapeuten kommt, eine Welt betritt, in der ihm schwerer Schaden zugefügt werden kann, gleichgültig, welcher Schule der Therapeut angehört. In Kalifornien kann jeder Psychotherapeut einen Patienten gegen dessen Willen in eine psychiatrische Anstalt einweisen oder ihn (oft unter Zwang) veranlassen, sich »freiwillig« dort aufnehmen zu lassen. In diesen Anstalten werden die Patienten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit Psychopharmaka oder Elektroschocks behandelt (die auch in den Privatpraxen der Psychiater nicht fehlen), gar nicht zu reden von den alltäglichen, die Menschenwürde verletzenden Methoden, die in jeder psychiatrischen Anstalt angewendet werden, in den staatlichen psychiatrischen Kliniken ebenso wie in den teuersten Privatsanatorien.
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Wie viele Therapeuten können ehrlich von sich sagen, sie hätten nie die Einweisung eines Patienten in eine psychiatrische Anstalt veranlaßt? Aber auch Menschen, bei denen nicht die Gefahr zu bestehen scheint, daß sie in solche Kliniken eingewiesen werden, haben sich in eine Welt begeben, in der sie automatisch ein gewisses Risiko eingehen müssen. Therapeuten verfügen über eine ungeheure Macht, ob sie es wollen oder nicht. Ein Ungleichgewicht der Machtverhältnisse führt nur selten zu einem mitfühlenden Verhalten. Und doch ist es gerade dieses Mitgefühl (und dieses Verständnis), das wir von jedem Therapeuten erwarten.
Meine Kritik in diesem Buch richtet sich nicht gegen den »Patienten«, eine Person, die Mitgefühl von einem Therapeuten erwartet, denn das hat man sie zu erwarten gelehrt. Gleichgültig wie oft jemand von einem Therapeuten enttäuscht worden ist, es bleibt stets die Hoffnung, daß der nächste Therapeut sich als der weise, tugendhafte und gütige Guru erweisen wird, der ganz darauf eingestellte ist, zuzuhören und die Leiden des anderen Menschen zu lindern. Die meisten von uns geben die Hoffnung nicht auf, einer solchen Persönlichkeit zu begegnen, wenn sie einen Therapeuten aufsuchen.
Meine Kritik richtet sich sowohl gegen den ganzen Berufsstand als auch gegen einzelne Therapeuten. Denn sie haben diesen Mythos verbreitet, obwohl sie wissen, daß er falsch ist. Sie kennen oft die Fehlleistungen ihrer Kollegen bis in alle Einzelheiten und erzählen einander häufig Horrorgeschichten vom Schlachtfeld der psychotherapeutischen Praxis.
Sie kennen auch ihre eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten gut genug, um zu wissen, daß ihre »Klienten« weniger bekommen, als sie erhofft haben oder was man ihnen versprochen hat. Ich selbst habe wirklich sehr oft Mitleid mit meinen Patienten gehabt. Aber manchmal habe ich mich auch gelangweilt, war uninteressiert, irritiert, fühlte mich hilflos, verwirrt, unwissend und verloren. Gelegentlich ist es mir auch nicht möglich gewesen, meinen Patienten zu helfen, aber ich habe ihnen dies nur selten gesagt.
Mir ist es im Leben nicht besser gegangen als meinen Patienten. Jeder Rat, den ich ihnen hätte geben können, wäre nicht besser gewesen als der eines gut unterrichteten Freundes (aber wesentlich teurer). Und ich muß annehmen, daß es nicht nur mir so gegangen ist. Alles, was ich in dieser Situation erfahren habe, müssen auch andere Therapeuten erlebt haben. Ich glaube, ich kann mein Versagen als Therapeut nur deshalb zugeben, weil ich den Entschluß gefaßt habe — und das war im Hinblick auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen kein leichter Entschluß —, mich nicht mehr für eine Tätigkeit bezahlen zu lassen, die so unnatürlich und mit so vielen Fehlern belastet ist wie die Psychotherapie.
Die Unredlichkeit, die ich in der Psychotherapie festgestellt und in diesem Buch behandelt habe, findet sich nicht nur in dieser einen Disziplin. Die Psychotherapie ist auch nicht, wie es der Berufsstand und die einzelnen Therapeuten behaupten, das Instrument, das es uns erlaubt, Unredlichkeit auf anderen Gebieten aufzudecken. Die Psychotherapie läßt sich auch nicht teilweise reformieren, weil diese Tätigkeit ihrer Natur nach schädlich ist.
Die Lügen, das Versagen, den Schaden, die Möglichkeit, Schaden anzurichten, die Unausgewogenheit der Machtverhältnisse, die Arroganz, die herablassende Haltung und die Anmaßung zu erkennen, könnte der erste Schritt sein, der schließlich zur Abschaffung der Psychotherapie führt, die, wie ich glaube, irgendwann in der Zukunft unvermeidbar und wünschenswert ist.
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