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Reinlichkeitserziehung, Disziplin und Sexualität

Lloyd deMause

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Obgleich es seit der Antike Stühle gibt, unter denen ein Nachttopf angebracht ist, gibt es keine Hinweise dar­auf, daß es vor dem achtzehnten Jahrhundert in den ersten Lebensmonaten eines Säuglings bereits eine Erziehung zur Reinlichkeit gegeben hätte. Obgleich sich die Eltern, wie u.a. auch Luther, häufig beklagten, ihre Kinder »beschmutzten die Ecken«, und obgleich Ärzte Mittel verordneten (darunter Auspeitschen), die verhindern sollten, daß ein Kind »ins Bett macht« (die Kinder schliefen im allgemeinen mit ihren Eltern zusammen in einem Bett), ist der Kampf zwischen Eltern und Kindern um die Kontrolle über die Ausscheid­ung der Exkremente im Säuglingsalter eine Erfindung des 18. Jahrhunderts und das Ergebnis eines späten psycho-genetischen Stadiums.215

Man hat Kinder immer mit ihren Exkrementen identifiziert; so hat man neugeborene Kinder ecreme genannt, und das lateinische merda, Exkrement, ist der Ursprung des französischen merdeux, Dreckspatz.216

Vor dem achtzehnten Jahrhundert ist die Beziehung zum Inneren des kindlichen Körpers jedoch hauptsächlich durch Klistier und Abführmittel und nicht durch das Nachttöpfchen hergestellt worden. Den Kindern wurden — gleichgültig, ob sie krank oder gesund waren — Suppositorien, Einläufe und orale Abführmittel verabreicht. Ein Autor aus dem siebzehnten Jahrhundert war der Überzeugung, daß die Kinder vor dem Säugen erst Stuhlgang haben müßten, damit sich die Milch nicht mit den Exkrementen vermische.217

In Héroards Tagebuch wimmelt es von minutiösen Beschreibungen dessen, was in den Körper des kleinen Ludwig hinein- und was aus ihm herauskommt; ihm wurden während seiner Kindheit tausenderlei Abführ­mittel, Suppositorien und Klistierspritzen verabreicht. Häufig hat man Urin und Kot untersucht, um den inneren Zustand eines Kindes zu bestimmen. David Hunts Beschreibung dieses Verfahrens zeigt deutlich den projektiven Ursprung dessen, was ich als »Toiletten-Kind« bezeichnet habe.

Man glaubte, die Gedärme von Kinder enthielten Substanzen, die der Erwachsenenwelt unverschämt, drohend, boshaft und aufsässig gegenüberträten. Wenn die Exkremente eines Kindes unangenehm aussahen und rochen, so bedeutete das, daß das Kind tief in seinem Inneren schlecht gesonnen war. Gleichgültig, wie sanftmütig und hilfsbereit das Kind erscheinen mochte, die Exkremente, die dem Kind regelmäßig ausgewaschen wurden, wurden als die beleidigende Botschaft eines inneren Dämons betrachtet, die auf die im Kind lauernden <bösen Neigungen> hinwies.118) 

Erst im 18. Jahrhundert wurde das Klistier weitgehend durch das Töpfchen abgelöst. Die Reinlichkeits­erziehung begann nicht nur zu einem früheren Zeitpunkt — teilweise infolge des Rückgangs der Praxis des Wickelns — sondern der gesamte Prozeß der Erziehung des Kindes zur Kontrolle seiner Körperprodukte erhielt eine vorher ganz unbekannte emotionale Bedeutung. Der Kampf mit dem Willen des kleinen Kindes während seiner ersten Lebensmonate stellte ein Maß für die Stärke des Engagements der Eltern für ihre Kinder dar und bedeutete einen psychologischen Fortschritt gegenüber der Herrschaft des Klistiers."9 Im neunzehnten Jahrhundert begannen die Eltern bereits in den ersten Lebensmonaten mit der Reinlichkeitserziehung, und ihre Forderungen nach Sauberkeit wurden Ende des Jahrhunderts so streng, daß das Idealkind als eines beschrieben wurde, »das keinen Augenblick lang auch nur den geringsten Schmutz an seinem Körper oder Kleid oder in seiner Umgebung zu ertragen vermag.«220 

Auch heute beginnen die meisten Eltern in England und Deutschland bereits vor dem sechsten Lebensmonat des Kindes mit der Reinlichkeitserziehung; in den USA liegt der entsprechende Zeitpunkt meist im neunten Monat.221

Das Material, das ich über die Methoden zur Disziplinierung von Kindern gesammelt habe, veranlaßt mich zu der Überzeugung, daß ein sehr großer Prozentsatz der vor dem achtzehnten Jahrhundert geborenen Kinder — in heutiger Terminologie — »geschlagene Kinder« waren. 

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Von über zweihundert Ratschlägen zur Kindererziehung aus der Zeit vor dem achtzehnten Jahrhundert, die ich untersucht habe, billigten die meisten das schwere Schlagen von Kindern und alle das Schlagen von Kindern unter verschiedenen Umständen — ausgenommen drei: Plutarch, Palmieri und Sadoleto; diese Ratschläge richteten sich an Väter und Lehrer, Mütter wurden nicht erwähnt.222 

Von den siebzig vor dem achtzehnten Jahrhundert lebenden Kindern, über deren Leben ich Aufzeichnungen gefunden habe, sind alle geschlagen worden — mit einer Ausnahme: Montaignes Tochter. Leider sind Montaignes Essays über Kinder so voller Widersprüche, daß man nicht weiß, ob man dieser einzelnen Aussage Glauben schenken soll.

Er ist berühmt für seine Behauptung, daß sein Vater so freundlich zu ihm war, daß er einen Musiker anstellte, der ihn jeden Morgen mit Musik weckte, damit dabei sein zartes Gehirn nicht aufgeschreckt würde. Sollte das zutreffen, so könnte dieses ungewöhnliche Hausleben jedoch nur zwei oder drei Jahre gedauert haben, denn sofort nach der Geburt war er zu einer Säugamme in ein anderes Dorf geschickt worden, wo er mehrere Jahre blieb, und vom sechsten bis zum dreizehnten Lebensjahr wurde er in eine andere Stadt in die Schule geschickt, weil sein Vater ihn »schwerfällig, langsam und vergeßlich« fand.

Als er behauptete, seine Tochter sei »nun über sechs Jahre alt und wegen ihrer kindlichen Fehler niemals belehrt oder bestraft worden ... außer durch Worte«, war sie in Wirklichkeit elf Jahre alt. An einer anderen Stelle sagt er in bezug auf seine Kinder: »Es war mir nicht lieb, sie in meiner Nähe aufziehen zu lassen.«223

Bei unserem Urteil über das einzige von uns entdeckte nicht-geschlagene Kind sollten wir also vorsichtig sein. (Peiper kommt in seinem umfassenden Überblick über die Literatur über das Schlagen von Kindern zu ähnlichen Schlußfolgerungen wie ich.)224

Zu den Instrumenten, mit denen geschlagen wurde, gehörten Peitschen der verschiedensten Art, darunter Klopfpeitschen, Schaufeln, Rohrstöcke, Eisen- und Holzstangen, Rutenbündel, die »discipline« (eine Peitsche aus kleinen Ketten) und spezielle Instrumente für die Schule wie die »flapper«, die ein birnenförmiges Ende mit einem runden Loch hatte und brennende Schmerzen hervorrief. 

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Eine Vorstellung von der Häufigkeit des Schlagens gewinnt man, wenn man hört, daß ein deutscher Schul­lehrer ausrechnete, daß er 911.527 Stockschläge, 124.000 Peitschenhiebe, 136.715 Schläge mit der Hand und 1.115.800 Ohrfeigen verteilt hatte.225 Die in den Quellen geschilderten Schläge waren im allgemeinen schwer, führten zu Blutergüssen und Blutungen, begannen früh und bildeten einen regelmäßigen Bestandteil des Lebens von Kindern.

Jahrhundert um Jahrhundert wuchsen geschlagene Kinder heran, die wiederum ihre eigenen Kinder schlugen, öffentlicher Protest war selten. Selbst Humanisten und Lehrer mit dem Ruf großer Güte — wie Petrarca, Ascham, Comenius und Pestalozzi — billigten das Schlagen von Kindern.226 Von Miltons Frau wissen wir, wie sie es haßte, die Schreie seiner Neffen hören zu müssen, wenn er sie schlug; Beethoven schlug und stach seine Schüler mit einer Stricknadel.227

 

Auch Kinder königlicher Abkunft entgingen nicht dem Geschlagenwerden, wie die Kindheit Ludwigs XIII. zeigt. Bei Tisch hatte sein Vater stets eine Peitsche neben sich, und bereits im Alter von siebzehn Monaten wußte der Dauphin sehr gut, daß es besser war, nicht zu schreien, wenn mit der Peitsche gedroht wurde. Nach dem fünfundzwanzigsten Monat wurde er regelmäßig jeden Morgen ausgepeitscht, oft auf die nackte Haut. Häufig hatte er deswegen Alpträume, und noch als König wachte er später nachts in Schrecken und Angst vor der morgendlichen Auspeitschung auf. Am Tag seiner Krönung, als er acht Jahre alt war, wurde er gepeitscht, und er meinte: »Ich würde auf soviel Huldigung und Ehre gern verzichten, wenn man mich statt dessen weniger peitschen würde.«228

Da Kinder, die nicht gewickelt wurden, in ganz besonderem Maße Abhärtungspraktiken unterworfen wurden, bestand eine der Funktionen des Wickelns vielleicht darin, den Hang der Eltern, ihr Kind zu mißhandeln, zu vermindern. Mir ist kein Fall bekannt, daß ein Erwachsener ein gewickeltes Kind geschlagen hätte, während das Schlagen auch noch so kleiner Kinder, wenn sie nicht in Windeln liegen, sehr häutig vorkommt — ein deutliches Anzeichen des »Schlag«-Syndroms. 

Susannah Wesley sagte von ihren Babys: »Wenn sie ein Jahr alt wurden (bei einigen war es schon vorher), wurde ihnen beigebracht, die Zuchtrute zu fürchten und leise zu weinen.« Giovanni Dominici empfahl, Babys »häufig, aber nicht zu hart zu peitschen ....«. Rousseau berichtete, daß Babys in ihren ersten Tagen oft geschlagen wurden, damit sie ruhig blieben. Eine Mutter schrieb über ihren ersten Kampf mit ihrem vier Monate alten Säugling: »Ich peitschte ihn, bis er schwarz und blau war und bis ich ihn einfach nicht mehr schlagen konnte, und er gab niemals auch nur im geringsten nach.« Die Beispiele ließen sich leicht vermehren.229)

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Eine merkwürdige Bestrafungsmethode, die im frühen Mittelalter bei Alkuin angewandt wurde, als er noch Säugling war, bestand darin, mit einem messerähnlichen Instrument, wie es Schuster benutzen, in die Fußsohlen zu stechen oder zu schneiden. Eine ähnliche Gewohnheit hatte der Bischof von Ely, der seine jungen Diener mit einem Stachelstock zu stechen pflegte, den er immer in der Hand hielt. Wenn Jane Grey ihren Eltern vorwirft, sie hätten ihr »Stiche und Stöße« versetzt und Thomas Tusser über »zerzauste Ohren, die gehetzten Bären glichen, gesprungene Lippen, Stöße und Stiche« klagt, so sind das vielleicht Erinnerungen an den Stachelstock. Sollten weitere Forschungen zeigen, daß der Stachelstock auch im Altertum zur Züchtigung von Kindern angewandt wurde, so fiele damit ein neues Licht auf Odipus' Tötung des Laios auf einem einsamen Weg, denn er wurde im wahrsten Sinne des Wortes dazu »angestachelt« — Laios fuhr »von dem Wagen mitten übers Haupt..... herab mir mit dem Doppelstachel«.230

 

Obgleich die frühesten Quellen nur spärliche Informationen über das genaue Ausmaß der Härte der Züchtigung enthalten, scheint doch einiges darauf hinzuweisen, daß in jeder Periode im Westen eine sichtbare Verbesserung stattfand. Das Altertum kennt eine Fülle von Mitteln und Praktiken, die späteren Zeiten unbekannt waren — so Bein- und Handschellen, Knebel, drei Monate »im Block« und die blutigen spartanischen Geißelungswettkämpfe, bei denen oft Jugendliche zu Tode gepeitscht wurden.231 Eine angelsächsische Sitte zeigt, auf welcher Ebene sich die Vorstellungen über Kinder in den frühesten Zeiten bewegten. Thrupp berichtet: »Es war üblich, daß, wenn ein rechtlich wirksames Zeugnis von irgendeiner Zeremonie gewünscht wurde, als Zeugen Kinder hinzugezogen wurden, die hin und wieder mit ungewöhnlicher Heftigkeit gepeitscht wurden. Man glaubte, dadurch würde jede Aussage über die Vorgänge zusätzliches Gewicht erhalten ...«232

Noch schwieriger ist es, detaillierte Hinweise auf Züchtigungsmethoden im Mittelalter zu finden. In einem Gesetz aus dem dreizehnten Jahrhunden wird das Schlagen von Kindern zu einem Gegenstand des öffentlichen Bereichs: »Wenn man ein Kind schlägt, bis es blutet, so wird es das beherzigen; wenn man es aber totschlägt, so tritt das Gesetz in Anwendung233

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Die meisten mittelalterlichen Beschreibungen des Schiagens von Kindern zeigen, daß sehr hart geschlagen wurde — wenn auch der hl. Anselm, wie in so vielen Dingen, auch in dieser Frage seiner Zeit weit voraus war, als er einem Abt befahl, Kinder nur leicht zu schlagen, denn: »Sind sie nicht Menschen? Sind sie nicht aus Fleisch und Blut wie du?«234 Aber erst in der Renaissance wurde ernstlich geraten, beim Schlagen von Kindern milde zu sein, womit allerdings im allgemeinen gleichzeitig die Aufforderung verbunden war, gerechtfertigte Züchtigungen auch weiterhin vorzunehmen. 

Nach der Formulierung von Bartholomeus Batty sollten Eltern »die goldene Mitte wahren«, das heißt, sie sollten »ihre Kinder nicht ins Gesicht und auf den Kopf schlagen und nicht mit Knütteln, Stöcken, Forken oder Schaufeln auf sie einschlagen, als ob sie Malzsäcke wären«, denn von solchen Schlägen könnten sie sterben. Die richtige Art bestünde darin, das Kind »mit der Rute auf die Seiten zu schlagen; davon wird es nicht sterben«.235

Im siebzehnten Jahrhundert gab es einige Versuche, das Schlagen von Kindern einzuschränken; und im achtzehnten Jahrhundert kam es dann zu einem stärkeren Rückgang des Schiagens. Die frühesten von mir entdeckten Lebensläufe von Kindern, die überhaupt nicht geschlagen wurden, datieren aus den Jahren 1690 bis I750.236 Erst im neunzehnten Jahrhundert kam das altmodische Peitschen in den meisten Teilen Europas und Amerikas allmählich aus der Mode. Am längsten hielt es sich in Deutschland, wo 80 % der deutschen Eltern noch immer das Schlagen ihrer Kinder billigen, volle 35 % das Schlagen mit Rohrstöcken.237

Als das Schlagen zurückzugehen begann, mußte ein Ersatz dafür gefunden werden. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert wurde zum Beispiel das Einsperren von Kindern im Dunkeln sehr beliebt. Die Kinder wurden in »dunkle Klosetts« eingesperrt, »wo sie manchmal stundenlang bleiben mußten«. Eine Mutter schloß ihren drei Jahre alten Jungen in eine Schublade ein. In einem anderen Fall war ein Haus zu »einer Art kleiner Festung hergerichtet worden, bei der sich auf jedem Klosett ein Missetäter befand — einige weinten und wiederholten Wörter, andere nahmen Brot und Wasser zu sich ...« 

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Manchmal blieben Kinder tagelang in Räume eingesperrt. Ein fünf Jahre alter Junge, der mit seiner Mutter auf der Suche nach einer neuen Wohnung war, sagte zu ihr: »Oh, nein, Mama ... das ist unmöglich; es gibt gar kein dunkles Klosett, auf dem du mich einsperren könntest, wenn ich ungezogen bin.«238

Hinsichtlich der Geschichte der Sexualität in der Kindheit bestehen noch größere Schwierigkeiten als gewöhnlich, an die Fakten heranzukommen, denn zu der Zurückhaltung und Unterdrückung in den Quellen selbst kommt noch hinzu, daß die meisten Bücher, Manuskripte und Artefakte, die die Grundlage für unsere Forschung bilden, gar nicht zugänglich sind. Bei den meisten Bibliothekaren ist noch immer die viktorianische Einstellung gegenüber der Sexualität vorherrschend und der Großteil der Werke, die sich auf die Sexualität in der Geschichte beziehen, bleibt überall in Europa in den Bibliotheks­lagerräumen und Museums­kellern hinter Schloß und Riegel und ist sogar dem Historiker unzugänglich. 

Trotzdem gibt es in den uns zugänglichen Quellen genügend Hinweise darauf, daß sexueller Mißbrauch von Kindern früher viel verbreiteter war als heute und daß die strenge Bestrafung von Kindern wegen ihrer sexuellen Wünsche in den letzten zweihundert Jahren das Produkt eines späten psychogenetischen Stadiums war, in dem der Erwachsene das Kind dazu benutzte, seine eigenen sexuellen Phantasien zu zügeln, statt sie auszuagieren. Das Kind war beim sexuellen Mißbrauch genauso wie bei der körperlichen Mißhandlung nur ein zufälliges Opfer, ein Teil der Rolle, die es im Abwehrsystem der Erwachsenen spielte.

 

In der Antike lebte das Kind in den ersten Jahren in einer Atmosphäre sexuellen Mißbrauchs. In Griechenland oder Rom aufzuwachsen bedeutete oft, von älteren Männern sexuell mißbraucht zu werden. Form und Häufigkeit des Mißbrauchs waren ja nach Ort und Zeit verschieden. In Kreta und Böotien waren päderastische Heiraten und Flitterwochen üblich. Bei aristokratischen Jungen in Rom waren Mißhandlungen nicht so häufig, aber die Heranziehung von Kindern zu sexuellem Gebrauch zeigt sich in der einen oder anderen Form überall.239 In jeder Stadt gab es Knabenbordelle, und in Athen konnte man sich sogar per Vertrag einen Jungen mieten. Wo homosexueller Verkehr mit freien Knaben gesetzlich verboten war, hielten sich die Männer Sklavenjungen, so daß auch freigeborene Kinder ihre Väter mit Knaben schlafen sahen.

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Manchmal wurden Kinder in ein Konkubinat verkauft. Musonius Rufus stellte die Frage, ob solch ein Knabe berechtigt sei, sich dem sexuellen Mißbrauch zu widersetzen: 

»Ich kannte einen Vater, der so verdorben war, daß er seinen Sohn, der durch seine jugendliche Schönheit auffiel, in ein Leben der Schmach verkaufte. Wenn nun dieser Junge, der von seinem Vater gegen Geld zu einem solchen Leben verdammt wurde, sich geweigert hätte zu gehen, dürften wir dann sagen, daß er ungehorsam gewesen sei? ...«240

Gegen Platons Ansicht, daß Kinder gemeinsam aufwachsen sollten, wandte Aristoteles ein, daß dann Männer, wenn sie mit Knaben schliefen, nicht wüßten, ob sie vielleicht mit ihren eigenen Söhnen verkehrten, was er für »höchst unziemlich« hielt.241 Plutarch berichtete, der Grund dafür, daß freigeborene römische Knaben, solange sie noch sehr jung waren, eine goldene Kugel um den Hals trugen, habe darin bestanden, daß Männer, wenn sie auf eine nackte Gruppe stießen, daran erkennen konnten, welche Knaben nicht zum sexuellen Gebrauch geeignet waren.242

Plutarchs Bemerkung ist nur eine unter vielen, die zeigen, daß der sexuelle Mißbrauch von Knaben sich nicht auf die über elf- oder zwölfjährigen beschränkte, wie die meisten Geisteswissenschaftler annehmen. Der sexuelle Mißbrauch kleinerer Kinder durch Pädagogen und Lehrer ist wahrscheinlich in der ganzen Antike verbreitet gewesen. Obgleich alle möglichen Gesetze verabschiedet wurden, um den sexuellen Mißbrauch von Schulkindern durch Erwachsene einzuschränken, wurden die langen und schweren Stöcke der Pädagogen und Lehrer häufig dazu benutzt, ihnen zu drohen. Quintilian warnte nach vielen Jahren der Lehrtätigkeit in Rom die Eltern vor dem häufigen sexuellen Mißbrauch durch Lehrer und gründete darauf seine Verurteilung des Schlagens in den Schulen:

Hinzu kommt, daß aus Schmerz oder Angst den Geprügelten oft häßliche Dinge passieren, die man nicht aussprechen mag und über die sie sich dann schämen; diese Scham bricht und lahmt den Mul und treibt sogar dazu, aus Verdruß das Licht des Tages zu scheuen. Wenn gar bei der Auswahl der Aufseher und Lehrer auf deren Moral zu "wenig geachtet wurde, schäme ich mich fast zu sagen, zu welchen Schandtaten solche Verbrecher ihr Prügelrecht mißbrauchen und wozu manchmal auch ändern die Angst unserer armen Kinder Gelegenheit bietet. Ich will mich hierbei nicht aufhalten: was ich andeute, ist schon zuviel.241

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Aischines zitiert einige der athenischen Gesetze, die den sexuellen Mißbrauch von Schulkindern einschränken sollten:

Nimm einmal die Lehrer ... Es ist klar, daß der Gesetzgeber ihnen mißtraut ... Er verbietet dem Lehrer, die Schule, dem Turnlehrer, die Sportschule vor Sonnenaufgang zu öffnen, und er befiehlt ihnen, die Türen vor Sonnenuntergang zu verschließen; er hegt zuviel Mißtrauen, um sie mit einem Jungen allein zu lassen, erst recht, sie im Dunkeln damit allein zu lassen.244

Aischines, der Timarchus anklagte, sich als jugendlicher Prostituierter vermietet zu haben, brachte mehrere Zeugen an, die zugaben, Timarchus für unzüchtige Handlungen bezahlt zu haben. Aischines gab zu, daß viele, auch er selbst, als Kinder sexuell mißbraucht worden seien, aber nicht gegen Geld, wodurch die Angelegenheit illegal geworden wäre.245

Die in Literatur und Kunst enthaltenen Hinweise bestätigen dieses Bild vom sexuellen Mißbrauch kleiner Kinder. Petronius liebte es. Erwachsene zu malen, die das »unreife kleine Werkzeug« von Jungen befühlen, und seine Darstellung der Vergewaltigung eines sieben Jahre alten Mädchens, bei der Frauen in einer langen Reihe um das Bett herum Beifall klatschen, zeigt, daß auch Frauen bei solchen Dingen eine Rolle spielten.246 Aristoteles meinte, Homosexualität werde oft bei denen zu einer ständigen Eigenschaft, »die von Kindheit an mißbraucht wurden«. 

Man hat immer angenommen, daß die kleinen nackten Kinder, die man auf Vasen Erwachsenen in erotischen Szenen aufwarten sieht, Diener seien, aber angesichts der weitverbreiteten Sitte, daß die Kinder angesehener Familien als Diener fungierten, ist es durchaus denkbar, daß es sich dabei um Kinder des Hauses handelt. Über die adeligen römischen Kinder sagte nämlich Quintilian bereits: »Wir freuen uns, wenn sie etwas Loses sagen: Worte, die wir nicht einmal aus dem Munde alexandrinischer Zierbengel dulden dürfen, nehmen wir mit Lachen und einem Küßchen hin ... von uns hören sie es, unsere Freundinnen und unsere Schlafzimmerfreunde sehen sie, jede Abendgesellschaft dröhnt von unanständigen Liedern, was man auch nur zu nennen sich scheut, ist da zu sehen.«247

Selbst die Juden, die die Homosexualität von Erwachsenen mit schweren Strafen auszumerzen versuchten, waren gegenüber jugendlichen Knaben nachsichtiger. Trotz Moses' ausdrücklichem Befehl, Kinder nicht zu verderben, und trotz der Hinrichtung durch Steinigen als Strafe für Sodomie mit Kindern, die über neun Jahre alt waren, wurde der Beischlaf mit Kindern unter neun Jahren nicht als Sexualakt betrachtet und nur mit Auspeitschen bestraft — »als eine Sache der öffentlichen Bestrafung«.248

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Man darf nicht vergessen, daß die weitverbreiteten sexuellen Mißhandlungen an Kindern nur da vorkommen können, wo die Eltern des Kindes zumindest unbewußte Komplizen sind. In der Vergangenheit unterstanden die Kinder der vollständigen Kontrolle ihrer Eltern, die der Übergabe der Kinder an die Personen, die sie mißbrauchten, zustimmen mußten. 

Plutarch stellt Überlegungen darüber an, wie wichtig diese Entscheidung für Väter war:

... wegen des Folgenden habe ich Zweifel und bin geteilter Meinung und neige bald zu der einen, bald zu der anderen Ansicht, ohne wie bei einer Waage nach einer der beiden Seiten ausschlagen zu können, und so zögere ich denn sehr, ob ich bei der in Frage stehenden Sache zu- oder abraten soll. Und doch: Wagen wir es und sprechen wir davon. Worum handelt es sich also? Soll man die Liebhaber der Knaben mit diesen zusammenleben und mit ihnen verkehren lassen oder soll man sie umgekehrt von ihnen absperren und fortjagen und den Umgang mit ihnen verbieten?

Denke ich an solche Väter, die eigensinnig auf sich pochen und in ihrer Gesinnung wie unreifer Wein und Sauertöpfe sind und also wegen der etwaigen Schande ihrer Kinder den Verkehr mit ihren Liebhabern untragbar finden, so hüte ich mich wohl, solches zu empfehlen und anzuraten. Wenn ich dann aber wieder an so bekannte Gestalten wie Sokrates, Platon, Xenophon, Aischines, Kebes und .den ganzen Chor jener Männer denke, die die Knabenliebe billigten und selbst Junge Männer zu Geistesbildung, Staatskunst und zum Gipfel der Sittlichkeit führten, so werde ich wieder anderer Meinung und neige dem Tun jener Männer zu.249

 

Wie die Erwachsenen in der Umgebung des kleinen Ludwig XIII., konnten auch die Griechen und Römer ihre Hände nicht von den Kindern lassen. Ich habe nur ein Beweisstück dafür zutage gefördert, daß diese Praxis — wie bei dem Mißbrauch Ludwigs XIII. — bis ins Säuglingsalter zurückreichte. Suetop verurteilte Tiberius, denn er »habe Knaben vom zartesten Alter, die er seine <Fischchen> nannte, angeleitet, ihm beim Baden an den Hüften herumzuschwimmen und zu spielen, ihn zu lecken und zu beißen; ja sogar, daß er sich von halbwüchsigen, aber noch nicht der Brust entwöhnten Kindern am Schamglied oder an der Brustwarze habe saugen lassen.« Gleichgültig, ob Sueton diese Geschichte erfunden hat oder nicht, er hatte offensichtlich Grund zu der Annahme, daß die Leser ihm glauben würden. Das gleiche gilt für Tacitus, der dieselbe Geschichte erzählte.250

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Die beliebteste sexuelle Verwendung von Kindern war aber nicht die Fellatio, sondern der Analverkehr. Martial schrieb in bezug auf den Knaben: »Laß dann unten von seinem Leib fort deine lüsterne Hand .... Die Natur hat, was männlich, geteilt. Ein Teil ist für Mädchen, einer für Männer bestimmt. Nimm also, was dir gehört!«251 

Das Masturbieren, sagte er, sei bei Jungen zu verwerfen, »machen die Finger ihn doch zeitig zum Mann und zu schnell« — eine Beobachtung, die einige Zeit vor ihm auch schon Aristoteles gemacht hatte. In allen Fällen, in denen auf Vasen mit erotischen Motiven ein vorpubertärer Junge beim sexuellen Gebrauch gezeigt wird, ist der Penis niemals erigiert.2'' Die Männer der Antike waren nämlich keine Homosexuellen im heutigen Verständnis. Sie standen auf einer niedrigeren Stufe der psychischen Entwicklung, die man vielleicht als »ambisexuell« bezeichnen sollte (sie selber gebrauchten den Ausdruck »beidhändig«).

Während der Homosexuelle zu Männern geht, weil er vor Frauen flieht und weil er den Ödipuskonflikt abwehren will, hat der Ambisexuelle das Ödipusniveau noch gar nicht erreicht. Er gebraucht Jungen und Frauen fast unterschiedslos.252 Der Hauptzweck dieser Art von Perversion besteht nach den Beobachtungen der Psychoanalytikerin Joan McDougall darin zu zeigen, daß »es keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt«. Sie meint, dieses Verhalten sei ein Versuch, die sexuellen Traumata der Kindheit durch Umkehrung zu bewältigen, wobei der Erwachsene nun ein anderes Kind in eine Situation der Hilflosigkeit versetzt, und gleichzeitig ein Versuch, mit der Kastrationsangst fertigzuwerden durch den Nachweis, daß »die Kastration keine Schädigung darstellt, sondern vielmehr die Voraussetzung für die sexuelle Erweckung ist.«253 

Das ist eine treffende Beschreibung des für das Altertum typischen Mannes. Der Geschlechtsverkehr mit kastrierten Kindern wurde oft als besonders anregend bezeichnet; kastrierte Knaben waren die beliebtesten »voluptates« im Rom der Kaiserzeit, und Kinder wurden »in der Wiege« kastriert, um in Bordellen von Männern gebraucht zu werden, die die Päderastie mit jungen kastrierten Knaben liebten. Als Domitian ein Gesetz erließ, das die Kastration von Kindern für Bordelle verbot, pries Martial ihn: »Immer schon liebten dich Knaben ..... nun lieben auch Kinder dich, Caesar.«254 

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Paulus Aegineta beschrieb die Methode, die im allgemeinen bei der Kastration kleiner Knaben angewandt wurde:

Wir werden manchmal von hochgestellten Personen gezwungen, diese Operation gegen unseren Willen durchzuführen ... Sie wird durch Zusammendrücken folgendermaßen vollzogen: die Kinder, die noch in einem Alter sind, wo sie zart sind, werden in einen Topf mit heißem Wasser gesetzt, und wenn die Teile im Bad weich geworden sind, werden die Hoden mit den Fingern zusammengedrückt, bis sie verschwinden.

Die Alternative bestand, wie er schreibt, darin, die Kinder auf eine Bank zu legen und die Hoden heraus­zuschneiden. Bei vielen Ärzten des Altertums wird diese Operation erwähnt, und Juvenal sagte, sie seien oft dazu aufgefordert worden.255

Das Kind des Altertums war umgeben von Hinweisen auf die Kastration. Auf jedem Feld und in jedem Garten sah es einen Priapus, mit einem großen erigierten Penis und einer Sichel, die die Kastration symbolisierte. Wahrscheinlich waren sein Pädagoge und sein Lehrer kastriert, überall waren kastrierte Gefangene und häufig waren auch die Bediensteten seiner Eltern kastriert. Der heilige Hieronymus schrieb, manche fragten sich, ob es klug sei, junge Mädchen mit Eunuchen zusammen baden zu lassen. Obgleich Konstantin ein Gesetz gegen Kastratoren erließ, nahm die Praxis des Kastrierens unter seinen Nachfolgern so rapide zu, daß bald selbst adlige Eltern ihre Söhne verstümmelten, um dadurch deren politisches Fortkommen zu fördern. Das Kastrieren von Knaben wurde auch als »Heilmittel« gegen verschiedene Krankheiten angesehen, und Amboise Pare berichtete empört darüber, wieviele skrupellose Kastratoren, begierig, an die Hoden von Kindern zu kommen, um sie dann für magische Zwecke zu verwenden, Eltern dazu überredeten, ihre Kinder kastrieren zu lassen.256

 

Mit dem Christentum kam eine neue Vorstellung auf, nämlich die von der kindlichen Unschuld. Wenn Christus, so sagte Clemens von Alexandrien, den Menschen riet, wie die kleinen Kinder zu werden, um ins Himmelreich zu kommen, so dürfte man das »nicht falsch verstehen. Wir sind keine kleinen Kinder in dem Sinne, daß wir uns auf dem Boden rollen oder wie Schlangen auf der Erde kriechen.« Christus habe gemeint, daß die Menschen so unbefleckt werden sollten wie die Kinder — rein, ohne sexuelles Wissen.257

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Während des Mittelalters begannen die Christen immer mehr die Vorstellung zu betonen, daß Kinder im Hinblick auf jegliche Vorstellung von Lust und Schmerz völlig unschuldig seien. Ein Kind »hat noch keine sinnlichen Freuden kennengelernt und hat keine Vorstellung von männlichen Begierden; ... man wird wie ein Kind, wenn man zornig wird; und wenn man Kummer hat, ist man wie ein Kind, das manchmal gerade zu der Zeit, da sein Vater, seine Mutter oder sein Bruder gestorben ist, lacht und spielt ...«258

Unglücklicherweise dient die Vorstellung, daß Kinder unschuldig seien und nicht verdorben werden könnten, denen, die die Kinder belästigen, häufig als Argument dafür, daß ihr Mißbrauch den Kinder nicht schaden könne. Die mittelalterliche Vorstellung von der Unschuld der Kinder macht deshalb die Quellen weniger aufschlußreich und sagt nichts darüber aus, was wirklich vorging. Der Abt Guibert von Nogent sagte, die Kinder würden gepriesen, weil sie frei von sexuellen Gedanken und Fähigkeiten wären. Man fragt sich, wovon er denn spricht, wenn er bekennt, was für »Gottlosigkeiten er in seiner Kindheit beging ...«259

Am häufigsten werden die Bediensteten des Mißbrauchs von Kindern beschuldigt; selbst eine Wäscherin konnte »Schlimmes anrichten«. Die Diener »zeigten oft in Gegenwart der Kinder unzüchtige Dinge und verdarben sie dadurch in entscheidender Weise«. Die Säugammen sollten keine jungen Mädchen sein, »denn davon hätten viele verfrüht das Feuer der Leidenschaft geweckt, wie wahre Berichte zeigen und — ich wage es, das zu sagen — wie die Erfahrung beweist«.260

Giovanni Dominici versuchte in einer Schrift aus dem Jahre 1405 der so zweckdienlichen »Unschuld« der Kindheit eine Grenze zu setzen; er meinte, von einem Alter von drei Jahren an sollte es den Kindern nicht mehr erlaubt werden, nackte Erwachsene zu sehen. Denn selbst »wenn man annimmt, daß es bei einem Kind vor dem fünften Lebensjahr keine sexuellen Gedanken und keine natürliche Regung gibt, wird es sich doch, wenn man keine Vorsorge trifft und es im Angesicht von solchen Handlungen aufwächst, so daran gewöhnen, daß es später keine Scham dabei empfindet ...« 

Daß es oft die Eltern selbst sind, die das Kind belästigen, geht aus der folgenden Passage hervor:

Das Kind sollte beim Schlafen ein bis unter die Knie reichendes Nachthemd tragen und dafür sorgen, daß es nicht unbedeckt bleibt. Weder Mutter noch Vater und noch weniger eine andere Person sollen es berühren. Um bei der Erörterung dieses Problems nicht zu langweilig zu werden, will ich einfach auf die Geschichte der Alten verweisen, die diese Lehre konsequent anwandten, um gute Kinder und nicht Sklaven des Fleisches großzuziehen.261

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Daß in der Renaissance ein Wandel im sexuellen Gebrauch des Kindes eintrat, zeigt sich nicht nur an der wachsenden Zahl von Moralisten, die davor warnten (Jean Gerson, wahrscheinlich die Amme von Ludwig XIII., meinte, es sei die Pflicht des Kindes, andere davon abzuhalten, es zu belästigen), sondern auch in der Kunst der damaligen Zeit. Bilder aus der Renaissance sind nicht nur voll von nackten Putten und Cupidos, die vor nackten Frauen Augenbinden abnehmen, vielmehr werden außerdem auch immer häufiger wirkliche Kinder gezeigt, die ihrer Mutter zärtlich ans Kinn greifen oder ein Bein über ihre Beine gelegt haben — beides ikonographische Symbole für die geschlechtliche Liebe —, wobei die Mutter ihre Hand oft in der Nähe der Genitalien des Kindes hat.262

 

Die Kampagne gegen den sexuellen Gebrauch von Kindern wurde während des ganzen siebzehnten Jahrhunderts fortgesetzt; im achtzehnten Jahrhundert erhielt sie indes eine völlig neue Zielrichtung, nämlich die Bestrafung des kleinen Knaben oder Mädchens wegen der Berührung der eigenen Genitalien. Daß das, wie die Reinlichkeitserziehung, Ausdruck einer späten psychogenetischen Stufe ist, geht aus der Tatsache hervor, daß Verbote gegen die kindliche Masturbation in allen von Whiting und Child untersuchten primitiven Gesellschaften unbekannt sind.263

Welche Einstellung gegenüber der kindlichen Masturbation vor dem achtzehnten Jahrhundert üblich war, geht aus Fallopius' Rat an die Eltern hervor, »während der Kindheit darauf (zu) achten, daß der Penis des Knaben größer wird«.264 Obgleich die Masturbation bei Erwachsenen als geringfügige Sünde galt, dehnten die mittelalterlichen Bußbücher das Verbot kaum je auf die Kindheit aus. 

Hauptgegenstand der vorneuzeitlichen sexuellen Regulierung war die Erwachsenen-Homosexualität, nicht die Masturbation. Noch im fünfzehnten Jahrhundert klagt Gerson darüber, daß Erwachsene ihm erzählten, sie hätten nie davon gehört, daß Masturbation eine Sünde sei, und er weist die Beichtväter an, Erwachsene direkt zu fragen: »Mein Freund, berührst oder reibst du deine Rute, wie es Kinder zu tun pflegen?«265

 

Aber erst zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts — einem Höhepunkt in dem Bemühen, den Mißbrauch von Kindern unter Kontrolle zu bringen — begannen Eltern ihre Kinder ernsthaft wegen ihres Masturbierens zu strafen und begannen Ärzte den Mythos zu verbreiten, daß Masturbation Wahnsinn, Epilepsie, Blindheit und Tod hervorrufe. 

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Im neunzehnten Jahrhundert wurde diese Kampagne mit einer unglaublichen Besessenheit betrieben. Manchmal traten mit Messern und Scheren bewaffnete Ärzte und Eltern vor die Kinder und drohten, ihnen die Genitalien abzuschneiden; Beschneidung, Klitoridektomie und Infibulation wurden manchmal als Mittel der Bestrafung verwendet; ferner wurden, um das Masturbieren zu verhindern, die verschiedenartigsten Vorrichtungen, unter anderem Gipsverbände und mit Eisenspitzen versehene Käfige, von den Ärzten verschrieben. Besonders beliebt wurde die Beschneidung. Wie ein amerikanischer Kinderpsychologe gesagt hat: wenn ein zweijähriges Kind sich die Nase reibt und keinen Augenblick ruhig sein kann, hilft nur die Beschneidung. Ein anderer Arzt, dessen Buch im neunzehnten Jahrhundert die Bibel vieler amerikanischer Haushalte war, empfahl, kleine Knaben scharf auf Anzeichen für Masturbation hin zu beobachten und gegebenenfalls zu ihm zu bringen; er beschnitt die Knaben ohne Betäubung, was, wie er behauptete, sie mit Sicherheit heile. 

Spitz' auf der Untersuchung von 559 Werken basierende Schaubilder zu den verschiedenen Ratschlägen hinsichtlich der Masturbation zeigen für die Jahre 1850 bis 1879 einen Höhepunkt für chirurgische Eingriffe und für 1880 bis 1904 einen Höhepunkt im Hinblick auf einschränkende Maßnahmen. 1925 haben diese Methoden fast vollständig aufgehört — nach einer zwei Jahrhunderte dauernden brutalen und völlig überflüssigen Attacke auf die kindlichen Genitalien.266

Unterdessen war der sexuelle Gebrauch von Kindern nach dem achtzehnten Jahrhundert unter Dienern und anderen Erwachsenen und Heranwachsenden weitaus stärker verbreitet als unter Eltern, obgleich, wenn man liest, wieviele Eltern ihre Kinder weiterhin mit Bediensteten schlafen ließen, nachdem sie bei früheren Bediensteten sexuellen Mißbrauch der Kinder festgestellt hatten, es offensichtlich so ist, daß die Voraussetzungen für den Kindesmißbrauch weiterhin in den Händen der Eltern lagen. 

Kardinal Bernis, der sich daran erinnert, wie er als Kind belästigt wurde, warnte die Eltern, daß....

»nichts für die Moral und vielleicht die Gesundheit so gefährlich ist, wie die Kinder zu lange in der Obhut von Zimmermädchen oder selbst von in Schlössern aufgezogenen jungen Damen zu lassen. Ich möchte hinzufügen, daß die besten unter ihnen nicht immer die ungefährlichsten sind. Sie wagen mit einem Kind, was bei einem jungen Mann zu tun sie sich schämen würden.«267

Ein deutscher Arzt sagte, Kindermädchen und Bedienstete vollzögen »zu ihrem Vergnügen« an Kindern »alle möglichen Arten von sexuellen Handlungen«. 

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Auch Freud berichtet, er sei als Zweijähriger von seiner Amme verführt worden, und Ferenczi und andere Analytiker nach ihm hielten Freuds Entscheidung aus dem Jahre 1897, die meisten Berichte von Patienten über frühe sexuelle Verführungen seien als bloße Phantasie anzusehen, für falsch. Noch nie ist jemand, wie es der Psychoanalytiker Robert Fleiss ausdrückte, allein durch seine Phantasien krank geworden, und viele Patienten, die sich der Psychoanalyse unterziehen, berichten auch heute noch, daß sie Kinder als Sexualpartner gebrauchen, obgleich allein Fleiss diese Tatsache in seiner psychoanalytischen Theorie berücksichtigt hat. Wenn man hört, daß noch im Jahre 1900 manche glaubten, Geschlechtskrankheiten könnten »durch Geschlechtsverkehr mit Kindern« geheilt werden, beginnt man die wirklichen Dimensionen des Problems deutlicher zu erkennen.268

 

Natürlich waren die Wirkungen so schwerer körperlicher und sexueller Mißhandlungen, wie ich sie beschrieben habe, auf das Kind der Vergangenheit ganz gewaltig. Ich möchte hier nur auf zwei Wirkungen auf das heranwachsende Kind hinweisen, wobei die eine psychologischer, die andere körperlicher Art ist. Die erste besteht in den zahllosen Alpträumen und Halluzinationen von Kindern, von denen in dem Quellenmaterial die Rede ist. Obgleich von Erwachsenen verfaßte Berichte, die überhaupt etwas über das Gefühlsleben des Kindes aussagen, außerordentlich selten sind, so geben sie doch, soweit sie entdeckt wurden, Kunde von immer wiederkehrenden Alpträumen und regelrechten Halluzinationen. Seit der Antike gibt es in der pädiatrischen Literatur immer auch Abschnitte darüber, wie die Kinder von ihren »schrecklichen Träumen« zu heilen seien. Manchmal wurden Kinder geschlagen, weil sie Alpträume hatten. Kinder lagen oft nächtelang wach, weil sie von eingebildeten Geistern und Dämonen erschreckt wurden - von »einer Hexe auf dem Kopfkissen«, »einem großen schwarzen Hund unter dem Bett« oder »einem gekrümmten Finger, der durch das Zimmer kriecht«.269

In der Geschichte der Hexerei in der westlichen Welt wimmelt es von Berichten über bei Kindern auftretende konvulsivische Anfälle, Verlust des Gehörs oder der Sprache, Verlust des Gedächtnisses, Halluzinationen, in denen Teufel auftauchen, Geständnisse, Verkehr mit Teufeln gehabt zu haben, und Anklagen, die Erwachsenen, einschließlich den eigenen Eltern, Hexerei vorwerfen.

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Und schließlich stoßen wir in noch weiter zurückliegenden Perioden des Mittelalters auf von einer Tanzmanie besessene Kinder, auf Kinderkreuzzüge und Kinderwallfahrten — Themen, die hier zu diskutieren nicht ausreichend Platz ist.270

Einen letzten Punkt möchte ich nur kurz erwähnen: Kinder sind in der Vergangenheit möglicherweise darum körperlich zurückgeblieben, weil unzureichend für sie gesorgt wurde. Obgleich das Wickeln von Säuglingen als solches im allgemeinen nicht die körperliche Entwicklung beeinflußt, scheint die Kombination von festem Wickeln, Vernachlässigung und allgemeiner Mißhandlung von Kindern in der Vergangenheit oft genau das hervorgebracht zu haben, was wir heute als zurückgebliebene Kinder bezeichnen. Ein Indiz für diese Retardation ist der Zeitpunkt, zu dem die Kinder selbständig zu laufen beginnen. Heute liegt dieser Zeitpunkt bei den meisten Kindern zwischen dem zehnten und zwölften Monat; in der Vergangenheit hat er im allgemeinen später gelegen. 

Tabelle 2 enthält alle Angaben über das Alter, in dem Kinder zu laufen beginnen, die ich bisher in den Quellen gefunden habe.

Tabelle 2 
Alter beim Beginn des Laufens

Quelle271

Alter beim Beginn des Laufens in Monaten

Ungefähres Datum

Nationalität

Macrobius

28

400 v. Chr.

römisch

Federico d'Este

14

1501

italienisch

James VI.

60

1571

schottisch

Anne von Dänemark

108

1575

dänisch

Anne Cliffords Kind

34

1617

englisch

John Hamilton

14

1793

amerikanisch

Augustus Hare

17

1834

englisch

Marianne Gaskell

22

1836

englisch

'H. Taines Sohn

16

1860

französisch

Tricksy du Mauner

12

186$

englisch

W. Preyers Sohn

15

1880

deutsch

Franklin Roosevelt

15

1884

amerikanisch

G. Dearborns Tochter

15

1900

amerikanisch

Amer. Inst. Child Lire

12-17

1913

amerikanisch

Univ. v. Minn. - 23 Babys

15

1931

amerikanisch

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Periodisierung 

der Formen der Eltern-Kind-Beziehungen

Da auch heute Kinder getötet, geschlagen und sexuell mißbraucht werden, muß jeder Versuch einer Periodisierung der Formen der Kinderaufzucht berücksichtigen, daß die psychogenetische Evolution in verschiedenen Familienbahnen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit voranschreitet und daß viele Eltern anscheinend in früheren historischen Formen »steckengeblieben« sind. Außerdem gibt es wesentliche Klassen- und Gebietsunterschiede, besonders seit der Neuzeit, als die oberen Klassen ihre Säuglinge nicht mehr zu Säugammen schickten, sondern ihre Kinder selbst aufzuziehen begannen.

Die folgende Periodisierung ist als eine Charakterisierung jener Formen der Eltern-Kind-Beziehungen aufzufassen, die sich bei dem psychogenetisch jeweils fortgeschrittensten Teil der Bevölkerung in den fortgeschrittensten Ländern finden; die dabei angegebenen Daten beziehen sich auf den frühesten Zeitpunkt, für den ich in den Quellen Beispiele der betreffenden Beziehungsform fand. Die Reihe von sechs Formen stellt eine kontinuierliche Abfolge zunehmend engerer Beziehungen zwischen Eltern und Kindern dar, die dadurch zustande kommt, daß jede neue Elterngeneration ihre Ängste allmählich überwindet und die Fähigkeit entwickelt, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erkennen und zu befriedigen. Außerdem stellt diese Reihe der Formen der Eltern-Kind-Beziehungen, wie mir scheint, eine interessante Klassifikation zeitgenössischer Formen der Kindererziehung dar.

 

1. Form: Kindesmord (Antike bis viertes Jahrhundert n. Chr.): In der Antike schwebt das Bild der Medea über der Kindheit, denn der Mythos spiegelt hier nur die Realität. Einige Tatsachen sind bedeutsamer als andere, und wenn Eltern sich von ihren Ängsten hinsichtlich der Fürsorge für die Kinder regelmäßig dadurch befreiten, daß sie sie töteten, so hatte das entscheidenden Einfluß ,auf die überlebenden Kinder. Für die, die heranwachsen durften, war die projektive Reaktion von überwältigender Bedeutung, und die Konkretheit der Umkehr-Reaktion zeigte sich in dem weitverbreiteten sexuellen Gebrauch von Kindern.

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2. Form: Weggabe (viertes bis dreizehntes Jahrhundert n. Chr.): Sobald die Eltern anerkannt hatten, daß Kinder eine Seele haben, bestand für sie die einzige Möglichkeit, den Gefahren ihrer eigenen Projektionen zu entrinnen, darin, die Kinder wegzugeben zu einer Säugamme, ins Kloster, zu Pflegeeltern, als Diener oder Geisel zu anderen hochgestellten Familien, oder auch darin, sie einfach zu Hause der völligen emotionalen Vereinsamung zu überlassen. Als die symbolische Verkörperung dieser Form könnte man vielleicht Griselda ansehen, die so bereitwillig ihre Kinder weggab, um ihre Liebe zu ihrem Gatten unter Beweis zu stellen, oder auch eines jener bis zum dreizehnten Jahrhundert so populären Bilder, auf denen eine strenge Maria zu sehen ist, die steif das Jesuskind hält. Die Projektion war nach wie vor sehr stark, denn das Kind war noch immer voll des Bösen und mußte noch immer geschlagen werden; der Rückgang des sexuellen Gebrauchs von Kindern zeigt jedoch, daß die Umkehr-Reaktionen sich beträchtlich vermindert hatten.

3. Form: Ambivalenz (vierzehntes bis siebzehntes Jahrhundert): Weil das Kind, als es in das emotionale Leben der Eltern eintreten durfte, immer noch ein Abladeplatz für gefährliche Projektionen war, bestand die Aufgabe der Eltern jetzt darin, es in die rechte Form zu bringen. Von Dominici bis Locke war die Vorstellung von der körperlichen Formung des Kindes sehr weit verbreitet; man stellte sich vor, das Kind sei wie aus Wachs, Gips oder Lehm und müsse erst in eine Form gebracht werden. Dieser Modus der .Eltern-Kind-Beziehung ist durch eine außerordentlich starke Ambivalenz gekennzeichnet. Die Periode, in der er vorherrscht, beginnt etwa im vierzehnten Jahrhundert, in dem ein Anwachsen der Zahl der Anleitungen für die Kindererziehung, die Expansion des Marien- und Jesuskind-Kults und die Ausbreitung des Bildes von der »innigen Mutter« in der Kunst zu beobachten sind.

4. Form: Intrusion (Eindringen) (achtzehntes Jahrhundert): Ein enormer Rückgang der Projektion und das Aufhören der Umkehr-Reaktion kennzeichnen den großen Wandel in den Eltern-Kind-Beziehungen, der im achtzehnten Jahrhundert eintrat. Das Kind wurde nicht mehr als voll von gefährlichen Projektionen angesehen, und statt bloß sein Inneres mit einem Klistier zu prüfen, rückten die Eltern ihm jetzt noch näher zuleibe und versuchten, in seinen Geist einzudringen, um sein Inneres, seinen Zorn, seine Bedürfnisse, seine Masturbation, ja selbst seinen Willen unter Kontrolle zu bekommen.

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Das von intrusiven Eltern großgezogene Kind wurde von der Mutter gestillt, wurde nicht gewickelt, erhielt keine regelmäßigen Einläufe, wurde früh zur Reinlichkeit erzogen, betete mit den anderen statt mit ihnen zu spielen, wurde geschlagen, aber nicht mehr regelmäßig gepeitscht, wurde wegen Masturbation bestraft und wurde mit Drohungen und der Erzeugung von Schuldgefühlen ebenso wie mit anderen Methoden der Bestrafung zu promptem Gehorsam erzogen. Das Kind wurde jetzt sehr viel weniger als Bedrohung empfunden, so daß echte Empathie möglich wurde, und es entstand die Kinderheilkunde, die zusammen mit der allgemeinen Verbesserung der elterlichen Fürsorge zu einem Rückgang der Kindersterblichkeit führte und die Grundlage für den demographischen Wandel im achtzehnten Jahrhundert schuf.

5. Form: Sozialisation (neunzehntes Jahrhundert bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts): In dem Maße, in dem die Projektionen der Eltern sich weiter verminderten, bestand die Erziehung eines Kindes immer weniger in der Unterwerfung seines Willens, sondern vielmehr darin, es auszubilden, es auf den rechten Weg zu bringen, es anzupassen, es zu sozialisieren. Die meisten halten die Beziehungsform Sozialisation noch immer für das einzige Modell, in dessen Rahmen die Diskussion über die Fürsorge für Kinder weitergeführt werden kann. Es ist der Ursprung aller psychologischen Modelle des zwanzigsten Jahrhunderts, von Freuds »Triebeinschränkung« bis zu Skinners Behaviorismus. Insbesondere stellt es das Modell des soziologischen Funktionalismus dar. Im neunzehnten Jahrhundert beginnt der Vater zudem zum ersten Mal, mehr als nur ein gelegentliches Interesse an seinem Kind zu zeigen, es zu erziehen und manchmal sogar der Mutter bei der das Kind betreffenden Hausarbeit zu helfen.

6. Form: Unterstützung (ab Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts): Die Beziehungsform Unterstützung beruht auf der Auffassung, daß das Kind besser als seine Eltern weiß, was es in jedem Stadium seines Lebens braucht. Sie bezieht beide Eltern in das Leben des Kindes ein; die Eltern versuchen, sich in die sich erweiternden und besonderen Bedürfnisse des Kindes einzufühlen und sie zu erfüllen. Bei dieser Beziehungsform fehlt jeglicher Versuch der Disziplinierung oder der Formung von »Gewohnheiten«. Die Kinder werden weder geschlagen noch gescholten, und man entschuldigt sich bei ihnen, wenn sie einmal unter großem Streß angeschrien werden. 

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Diese Form verlangt von beiden Eltern außerordentlich viel Zeit, Energie und Diskussionsbereitschaft, insbesondere während der ersten sechs Jahre, denn einem kleinen Kind dabei zu helfen, seine täglichen Ziele zu erreichen, bedeutet, ständig auf es einzugehen, mit ihm zu spielen, seine Regressionen zu tolerieren, ihm zu dienen, statt sich von ihm bedienen zu lassen, seine emotionalen Konflikte zu interpretieren und ihm die für seine sich entwickelnden Interessen erforderlichen Gegenstände zur Verfügung zu stellen. Bisher haben nur wenige Eltern konsequent versucht, in dieser Form für ihre Kinder zu sorgen. Doch aus den vier Büchern, die Kinder beschreiben, die im Rahmen der Beziehungsform Unterstützung aufgewachsen sind,272 geht klar hervor, daß sich in diesem Rahmen Kinder entwickeln, die freundlich und aufrichtig und nicht depressiv sind, die nicht dauernd andere nachahmen oder ausschließlich gruppenorientiert sind, die einen starken Willen haben und sich durch keine Autorität einschüchtern lassen.

*

Tabelle 3:   Die Evolution der Formen der Eltern-Kind-Beziehungen

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Die psychogenetische Theorie: 
ein neues Paradigma 
für die Geschichtswissenschaft  

 

Die psychogenetische Theorie könnte, so glaube ich, ein wirklich neues Paradigma für das Studium der Geschichte liefern.273 Sie kehrt das übliche »Geist als tabula rasa« um und betrachtet statt dessen die »Welt als tabula rasa«. Jede Generation wird in eine Welt bedeutungsloser Objekte hineingeboren; diesen Objekten wird nur dann Bedeutung verliehen, wenn das Kind eine bestimmte Art der Fürsorge erhält.274 

Sobald die Form der Fürsorge sich für eine genügend große Zahl von Kindern geändert hat, werden alle Bücher und Artefakte in der Welt als für die Ziele der neuen Generation irrelevant beiseite geschoben und die Gesellschaft beginnt, sich in unvorhersehbare Richtungen zu bewegen. Wie der historische Wandel mit dem Wandel in den Formen der Kindererziehung im einzelnen zusammenhängt, muß noch herausgearbeitet werden. In diesem Buch haben wir auf eine Diskussion dieses Problems verzichtet; doch in Zukunft werden wir nicht mehr so enthaltsam sein. 

Die meisten von uns haben bereits mit der Arbeit an Aufsätzen begonnen, die unsere Funde bezüglich der Kindheit auf den weiteren Bereich der Psychohistorie ausdehnen. Außerdem haben wir eine neue wissenschaftliche Zeitschrift ins Leben gerufen: History of Childhood Quarterly: The Journal of Psychohistory, in der unsere künftigen Untersuchungen veröffentlicht werden sollen.

Wenn der Maßstab für die Lebensfähigkeit einer Theorie in ihrer Fähigkeit besteht, interessante Probleme zu erzeugen, dann müßten die Geschichte der Kindheit und die psychogenetische Theorie eine großartige Zukunft haben. 

Es ist noch viel darüber zu lernen, was das Erwachsenwerden in der Vergangenheit wirklich bedeutet hat. Eine unserer wichtigsten Aufgaben wird sein zu untersuchen, warum die Evolution der Kindheit in den verschiedenen Ländern, Klassen und Familien in unterschiedlicher Geschwindigkeit vonstatten geht. Wir wissen jedoch bereits genug, um zum erstenmal einige wichtige Fragen über den Wandel von Wertvorstellungen und Verhaltensweisen in der Geschichte der westlichen Welt beantworten zu können. Von der psychogenetischen Theorie werden vor allem die Geschichte der Hexerei, der Magie, der religiösen Bewegungen und anderer irrationaler Massenphänomene profitieren. 

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Darüber hinaus könnte die psychogenetische Theorie zu unserem Verständnis der Frage beitragen, warum die soziale Organisation, die politischen Formen und die Technologie sich in bestimmten Zeiten und Richtungen ändern und in anderen nicht. Vielleicht könnte die Einführung des Kindheit-Parameters in die Geschichtswissenschaft sogar die seit Durkheim währende Flucht der Historiker vor der Psychologie beenden und uns ermutigen, wieder an die Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Geschichte der menschlichen Natur heranzugehen, eine Aufgabe, die John Stuart Mill einst als eine »Theorie der Ursachen, die den zu einem Volk oder einem Zeitalter gehörenden Charaktertyp bestimmen«,275 umrissen hat.

 

 

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