3 Die Konstruktion eines furchtsamen Führers
"Wo ist der Rest von mir?"
https://www.youtube.com/watch?v=K217rguXSXI 2 min Filmausschnitt
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Als Ronald Reagan 1964 seine Autobiographie schrieb, gab er ihr den Titel: <Wo ist der Rest von mir?> (Where's the Rest of Me?), um, wie er in der Einleitung sagte, anzuzeigen, daß er den größten Teil seines Lebens mit dem Gefühl verbracht hatte, es fehle ihm etwas, ein Teil von ihm.
Der Moment, in dem er am allerdeutlichsten fühlte, daß ein Teil von ihm nicht da sei, kam 1941 bei den Dreharbeiten zu dem Film <Kings Row>. Das erste, was er in seiner Autobiographie beschreibt, ist der wachsende Schrecken, den er bei diesen Dreharbeiten verspürte.
Schauplatz meiner wichtigsten Szene war ein Bett. Die Geschichte des Films wollte es, daß ich in einen Unfall auf dem Güterbahnhof verwickelt war. Man hatte mich zu einem sadistischen Doktor gebracht — (dem gefiel es nicht, daß ich mich mit seiner Tochter traf, und so sah er seine Pflicht darin, mich zu bestrafen) — dieser Doktor hatte mir beide Beine von der Hüfte ab amputiert. Es war die Darstellung eben dieses Augenblicks des totalen Schocks, der die Szene so schwer zu spielen machte ....
Ein erstklassiger Schauspieler hätte seine Schwierigkeiten damit gehabt; für einen mäßigen war es aber fast schon mörderisch, ihr den nötigen dramatischen Ausdruck zu verleihen. Ich fühlte, daß ich weder die Erfahrung hatte, noch das Talent, das zu schaffen.
Ich mußte also irgendwie herausfinden, wie man sich da wirklich fühlt, ohne selber amputiert zu sein. Ich übte die Szene vor dem Spiegel, in den Ecken des Studios, auf der Fahrt nach Hause, in Toiletten von Restaurants, vor ausgesuchten Freunden.
Nachts wachte ich auf, starrte an die Decke und murmelte automatisch meinen Text vor mich hin, bevor ich wieder einschlief. Ich konsultierte Ärzte und Psychologen; ich sprach sogar mit Leuten, die eine derartige Behinderung hatten, alles um in meinem inneren Druckkessel die Gefühle zusammenzubrauen, die ein Mann hat, der eines schönen Morgens aufwacht, um zu entdecken, daß die Hälfte von ihm nicht mehr da ist.
Ich bekam eine Menge Antworten. Einige weitere fand ich selber. Aber keine von ihnen stimmte mit denen der anderen überein und auch ihre Antworten untereinander nicht. Ich war verwirrt. Als der Tag der Aufnahme näher kam (the day for shooting), war ich kurz vor einer Panik.
Die Nacht davor schlief ich nicht. Ich erschien völlig ausgelaugt im Studio und wußte immer noch nicht, wie ich den Text sprechen sollte. Ohne Hoffnung, mit Make-up zugeschmiert und in meinem Nachthemd ging ich rüber zur Dekoration, um mir anzusehen, wie sie aussah. Die Studioarbeiter hatten alles für eine saubere Täuschung hergerichtet. Unter der bunten Flickendecke auf dem Bett hatten sie ein Loch in die Matratze geschnitten und einen Stützkasten darunter geschoben. Ich starrte das eine Minute lang an.
Einem überwältigenden Impuls gehorchend stieg ich dann in das Gestell. Ich blieb fast eine Stunde lang steif eingespannt dort liegen, ließ meine Gedanken um meinen verstümmelten Körper kreisen und um das glatte ungewellte Oberbett, wo meine Beine hätten sein sollen. Nach und nach bekam ich ein Gefühl des Terrors. Auf eine verquere Art und Weise spürte ich, daß etwas Schreckliches mit meinem Körper passiert war. Dann wurde ich langsam gewahr, daß die Crew sich schon in aller Stille versammelt hatte, die Kamera war schon in Position und die Szene ausgeleuchtet... Jemand schrie "Licht!" und "Ruhe bitte!", ich lehnte mich zurück und schloß meine Augen, angespannt wie eine Geigensaite...
Benebelt öffnete ich langsam meine Augen, schaute umher und ließ meinen Blick langsam an mir herunterwandern. Auch jetzt noch kann ich das Gefühl nicht beschreiben, das ich hatte, als ich versuchte, dorthin zu fassen, wo meine Beine hätten sein sollen. "Randy!" schrie ich .... "Wo ist der Rest von mir?" 1)
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Daß der "sadistische" Doktor die Beine des Freundes seiner Tochter amputiert hatte, um ihn für seine sexuellen Wünsche zu bestrafen, wurde im Film deutlich gemacht,2 so daß es schon verständlich war, daß die Szene für einen Schauspieler aufregend zu spielen sein konnte. Andererseits war die Bestrafung eines jungen Mannes für seine erotischen Wünsche durch eine Vaterfigur nicht gerade das seltenste Thema auf der Leinwand.
Warum versetzte eine einzige Zeile, die er zu sagen hatte, Ronald Reagan dann in solche "Panik"? Welche persönliche Bedeutung hatte sie für ihn, daß er sie zum Titel seiner Autobiographie wählte, daß er sich in hunderten von Reden seither auf diese Zeile bezog und daß er sogar die Titelmusik von <Kings Row> bei seiner Amtseinführung gespielt zu haben wünschte. Warum fiel es ihm so schwer, sich selbst und die Filmfigur auseinanderzuhalten, die laut herausschrie: "Wo ist der Rest von mir?"
*
Folgt man der Beschreibung seiner Gefühle während des Drehens der Szene, wird deutlich, daß er aus irgendeinem persönlichen Grund die Darstellung dieser "Kastration" nicht von eigenen Ängsten zu trennen vermag, seinen Kastrationsängsten. Aber zu sagen, er hätte "unbewußte Kastrationsängste" ausagiert, ist nur eine oberflächliche Annäherung an den Grund der "Panik", die die Szene in ihm wach werden ließ.
Jeder Mann hat bis zu einem gewissen Grade Angst vor der "Kastration" und jede Frau Angst vor körperlicher Verstümmelung. Zu fragen ist, ob es etwas Besonderes in Ronald Reagans Leben bis zu jenem Zeitpunkt gibt, was ihn derart mit der Filmfigur identifiziert erscheinen lassen kann, die ihre Beine abgeschnitten bekommt. Gibt es etwas in seinem familiären Background, in seiner persönlichen Entwicklung, in den aktuellen Umständen seines Lebens 1941, das helfen könnte zu verstehen, warum diese eine Zeile für ihn mit seinem Selbstbild identifiziert blieb, von da an für den Rest seines Lebens?
Schaut man Reagans Karriere insgesamt an, kommt man nicht umhin, dem Kastrationsthema als einer Oberstimme darin zu begegnen. Oft sah er sich als "Blutender" ("bleeding") — angefangen von seiner häufig wiederholten Selbstbeschreibung als "liberaler Bluter", der für diese oder jene Sache geblutet habe bis zum regelmäßigen Gebrauch von Sätzen wie "Ich vergieße echtes Blut für die Arbeitslosen", zu "kein Kämpfer hat je so geblutet wie ich."
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Selbst das Lieblingsgedicht aus seiner Kindheit hat das Bluter-Bild in der ersten Zeile: "Ich lege mich nieder, eine Weile zu bluten" (I will lay me down for to bleed a while). Gelegentlich kommt seine Vorliebe für ihn selbst als "Blutenden" in der Verkehrung zum Ausdruck, wie nach der Fernsehdebatte mit Carter, als er einem Reporter sagte, "Ich habe mich genau untersucht, kann aber keine Wunden entdecken."3) Doch meistens ist der Bildzusammenhang der Kastration / des Geschnittenseins offen; das "Beschneiden und Abhacken" "wuchernder Haushalte" war von Anfang an im Repertoire seiner politischen Sprache.
Von seinen Zeichnungen läßt sich Ähnliches sagen. Obwohl Reagan ein exzellenter Zeichner ist, will es ihm nicht recht gelingen, Hände, Beine oder Pferdehufe in seine Bilder zu bekommen.
Und wo seine Zeichnungen ganz allgemein eine Vorliebe für "Kastriertes" zeigen, sehen seine Selbstporträts im Besonderen wie Illustrationen der "Wo ist der Rest von mir?"-Szene aus, mit oft fehlenden Beinen und Händen.4)
Und nicht nur in seinen Reden, auch in seiner Konversation gibt es diesen offenen Bezug zu Bildern der Verstümmelung, gewöhnlich in Verbindung mit dem Thema der Todesstrafe. Als er 1967 Gouverneur von Kalifornien geworden war, weigerte er sich z.B., Aaron Mitchell zu begnadigen, einen Schwarzen, der zum Tode verurteilt worden war, weil er einen Polizisten bei einem Raubüberfall erschossen hatte. Als eine Gruppe von Bürgerrechtlern von ihm wissen wollte, warum es notwendig war, Mitchell hinzurichten, verdutzte er sie mit der Beschreibung und mit gezeichneten Details "eines der makabersten Fälle in den kalifornischen Annalen... zu dem die sexuelle Verstümmelung des männlichen Opfers gehörte".5) Dieser Verstümmelungsfall hatte überhaupt nichts mit Mitchell zu tun.
Eine typische Gelegenheitszeichnung Reagans von sich selbst zeigt ihn mit fehlenden Händen und Beinen.
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Wenige Tage danach baute er in eine Rede vor der Nationalen Polizeivereinigung eine Zeichnung von der blutigen Verstümmelung eines zehnjährigen Mädchens ein, auf das "sechzig Mal eingestochen und das auf wilde und grausame Weise verstümmelt worden war", wie er den Sheriffs erzählte,6) und auch dieser Fall hatte nichts mit dem Thema seiner Rede zu tun. Der Grund, warum er die Geschichte erzählte, so erläuterte er seinen Zuhörern, sei aufzuzeigen, wie alltäglich sexuelle Verstümmelungen geworden seien und daß Verbrechen dieser Art von "umgehender und sicherer Strafe" gefolgt sein müßten.7)
Die Originalversion dieses gefürchteten sexuellen Verstümmlers, der Ronald Reagan durch sein Leben verfolgt, die Kindheitsquelle seiner so reichlich sprudelnden Kastrationsangst war sein Vater, John Edward Reagan. Diese Verbindung zeigt sich auch daran, wie Reagan in seiner Autobiographie direkt im Anschluß an die "Where's the Rest of Me"-Szene zum Verhältnis zu seinem Vater und dessen lebenslangem Alkoholismus übergeht.
Obwohl Reagan in Interviews immer zu vermeiden suchte, von seinem Vater zu sprechen — einer seiner Biographen sagt, er "rede ununterbrochen von seiner Mutter", wenn man ihn nach der Familie frage, erwähne seinen Vater aber nie 8) — erzählt er in seiner Autobiographie, wie er sich als Kind während der "wochenlangen Sauftouren" seines Vaters "schlafend stellte" und "wie es mich mit Schmerz für meinen Vater erfüllte", wenn er ihn auf der Vorderterrasse fand, "die Glieder von sich gestreckt, als wäre er gekreuzigt".9)
Der Vater, ein gewalttätiger Ire, später von seinem Sohn beschrieben als jemand, der "ein Leben in fast andauernder Wut und Frustration"10) geführt habe, pflegte den jungen Ronald "mit seinem Stiefel" zu treten und ihn und seinen Bruder des öfteren zu "verkloppen".11) Selbst aus den wenigen Erinnerungen in den verstreuten Äußerungen über seinen Vater wird deutlich, daß Ronalds Verhältnis zu ihm angefüllt war von Augenblicken des Terrors und einem Verlangen nach Nähe, Gefühle, die er mit vielen anderen seiner Generation (geb. 1911) teilt und die aus den generell erheblich gröberen Erziehungspraktiken stammen, die um 1910 herum üblich waren.12)
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Die überwältigende Angst vor seinem Vater machte aus Ronald einen "guten Jungen", einen Einzelgänger ("Loner"), der sich im Dunkeln fürchtete und während der Kindheit und später an verschiedenen Phobien und irrationalen Ängsten litt.13) Als erste davon erwähnt er in seiner Autobiographie seine Angst, "die bis zur Hysterie ging", beim Football "unter dem Knäuel sich windender und schreiender Körper" begraben zu werden.14)
Obwohl ihm die körperliche Gewalt des Football immer sehr gefallen hat — er genoß den "klaren Haß... wenn zwei Männer ihre Körper im Kampf buchstäblich ineinanderschleudern können" — geriet aber immer in Panik, so sagt er, wenn er sich in der Falle des "pileup"* gefangen sah.15) Seine Klaustrophobie, seine Furcht, auf engem Raum eingeschlossen zu werden, sei für ihn "Zeit seines Lebens ein Problem" gewesen, erzählte er einem Biographen.16) Meist war sie ein Ausdruck der Angst vor körperlicher Nähe, gewöhnlich unter Männern, so als er bei Filmaufnahmen in einem U-Boot mit anderen Schauspielern in engen Quartieren ein "Klaustrophobieproblem" hatte.17)
Andere Ängste hatte er eher zeitweise. Sie hingen von den Lebensumständen ab, wie seine Angst vorm Fliegen während der acht Jahre, in denen er Werberedner für General Electric war. Sein Vertrag enthielt eine Klausel, die ihm gestattete, mit dem Zug reisen zu dürfen.18) Auch New Yorker Restaurants wurden von ihm gemieden, weil die Tische "so eng beieinander stehen ... daß man die Schultern des Mannes vom Nachbartisch praktisch berührt."19)
In all diesen Fällen haben Reagans Phobien einen ähnlichen Zweck wie die Ängste anderer Phobiker auch; sie sollen ihm helfen, Situationen zu vermeiden, die zu einem Verlust der Kontrolle über die eigenen Gefühle führen könnten, positiv oder negativ. Diese Vermeidung ist notwendig, wenn irgendeine Situation ihn in die Versuchung bringen könnte, Liebes- oder Haßgefühle derart direkt auszudrücken, daß sie die Bestrafung durch "den Vater in seinem Kopf", sein extrem strenges Gewissen, herausfordern würden.20)
Mit anderen Phobikern teilt Reagan auch die Angst vor dem Verlust der Selbstkontrolle und die Überempfindlichkeit vor Erniedrigung, die Angst vor dem Gefühl, als wertlos betrachtet zu werden, Situationen, die einen zwingen könnten, seine wirkliche Wut zu zeigen und damit Strafe herauszufordern, symbolisiert in der Kastration.
* dt. "Gewühl" — dieser Haufen übereinandergeschichteter Körper, der im Football beim Kampf um den Ball entsteht. (d.Ü.)
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Phobien gehören zu den am gründlichsten erforschten neurotischen Symptomen, angefangen beim Bericht einer Phobie, den Freud in der "Traumdeutung" unter den Träumen vom Tod geliebter Personen gibt; ein Fall übrigens, der eine direkte Beziehung zu Reagans Phobien aufweist und sogar einen Hinweis darauf enthält, was sich wirklich in der Schlüsselszene von "Kings Row" ereignete.
Freud schreibt:
"Ein andermal hatte ich Gelegenheit, tiefe Einblicke in das unbewußte Seelenleben eines jungen Mannes zu tun, der durch Zwangsneurose fast existenzunfähig, nicht auf die Straße gehen konnte, weil ihn die Sorge quälte, er bringe alle Leute, die an ihm vorbeigingen, um. Er verbrachte seine Tage damit, die Beweisstücke für sein Alibi in Ordnung zu halten, falls die Anklage wegen eines der in der Stadt vorgefallenen Morde gegen ihn erhoben werden sollte. Überflüssig zu bemerken, daß er ein ebenso moralischer wie feingebildeter Mensch war. Die — übrigens zur Heilung führende Analyse — deckte als die Begründung dieser peinlichen Zwangsvorstellung Mordimpulse gegen seinen etwas überstrengen Vater auf, die sich, als er sieben Jahre alt war, zu seinem Erstaunen bewußt geäußert hatten, aber natürlich aus weit früheren Kindesjahren stammten. Nach der qualvollen Krankheit und dem Tode des Vaters trat im 31. Lebensjahr der Zwangsvorwurf auf, der sich in Form jener Phobie auf Fremde übertrug. Wer imstande war, seinen eigenen Vater von einem Berggipfel in den Abgrund stoßen zu wollen, dem ist allerdings zuzutrauen, daß er auch das Leben ferner Stehender nicht schone; der tut darum recht daran, sich in seinem Zimmer einzuschließen."21)
Freuds Bericht eröffnet einen Zugang zu Reagans Phobien, wie auch zum Geheimnis seiner "Kastrationsängste" während der Amputationsszene. Ein Blick auf Reagans Lebensumstände während des Films wird das verdeutlichen. Er war seit Januar 1940 frisch verheiratet und im Januar 1941 Vater eines ersten Kindes geworden, Maureen. Beides, Heirat wie Zeugung eines Kindes waren relativ gefährliche Handlungen seinerseits. Sie zeugten von sexuellen Wünschen und forderten die Bestrafung durch den Vater heraus. Dieser aber — und das verschweigen sowohl Reagans Biographen wie auch er selber in seiner Autobiographie — war vier Monate darauf, am 18. Mai 1941, gestorben, also kurz vor den Dreharbeiten.22)
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Wie der Patient Freuds hatte auch Reagan, das vom Vater getretene und geschlagene Kind, seit früher Kindheit dessen Tod herbeigesehnt. Als sein Vater 1941 wirklich starb, muß Reagan unbewußt gefühlt haben, daß er dafür bestraft werden müßte, wie die Figur in Kings Row bestraft wird. So erfaßte ihn Panik, als er sich in der Lage sah, einen Typ darstellen zu müssen, dessen Beine abgeschnitten worden waren. Das war zu real, eine beinah perfekte Verdoppelung seiner eigenen Situation zur Drehzeit. Als er auf die glatte Bettdecke heruntersah, "wo meine Beine hätten sein sollen", kam er nicht umhin zu fühlen, "daß meinem Körper etwas Schreckliches passiert war," weil er selbst solche Kastration verdiente: wegen der Heirat, dafür, selber ein sexuelles Wesen zu sein, weil er selber ein Vater geworden war und seinen eigenen Vater zu Tode gewünscht hatte.
Nach dem Tod seines Vaters und Abschluß der Dreharbeiten von Kings Row ging er in die Armee. Als er herauskam, ließ er sein persönliches Leben verfallen. In den ersten sechs Monaten baute er nur Modellboote. Als er wieder zu filmen begann, war er so depressiv, daß er fast unentwegt im Studio herumstritt; seiner Frau, Jane Wyman, ging er aus dem Weg, indem er all seine freie Zeit auf Versammlungen der Schauspielergewerkschaft verbrauchte. Sein Bedürfnis, die Ehe zu sabotieren, wurde überstark und führte zur Scheidung. Im Scheidungsprozess sagte Jane Wyman, die Ehe wäre beendet, da er nur noch Zeit für die Gewerkschaft gefunden habe.
Näher am Kern der Wahrheit war aber womöglich ihre Bemerkung zu Gregory Peck nach der Verhandlung, in Wirklichkeit verlasse sie Reagan, weil sie "es nicht mehr ertragen konnte, diesen verdammten Kings Row noch ein weiteres Mal ansehen zu müssen."23 Reagan hatte augenscheinlich nicht aufgehört, von der Amputationsszene besessen zu sein und sie sich immer wieder angeschaut im Versuch, ihre persönliche Bedeutung für ihn in den Griff zu bekommen.
1947 erreichte Reagans Verzweiflung über sein Leben ihren Höhepunkt. Er begann mit geladenem Revolver herumzulaufen — als Schutz, wie er sagte, gegen Verstümmelungsdrohungen24), aber auch als eine Rückkehr zur früheren Gewohnheit, denn als Jugendlicher und in seinen Zwanzigern hatte er Waffen besessen.25)
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Sein Körper, den er verfallen ließ, reagierte mit einer Lungenentzündung; er ging in die Klinik und wurde sich bewußt, daß er sterben wollte. Während er da in seinem Bett lag, halluzinierte er, Humphrey Bogart wäre mit ihm im selben Raum — (B. war so etwas wie eine Vaterfigur für ihn zu jener Zeit).
Reagan beschreibt diese Halluzination in seiner Lebensaufzeichnung:
Humphrey Bogart erschien und wir spielten eine endlos lange Szene, in der wir unendlich viele Trenchcoats trugen und austauschten und dabei versuchten, irgendeinen Text zueinander zu sagen, immer ein Anflug von Gefahr aus dem Dunkel um uns herum in der Luft. Jemand anders soll sich die Zähne dran ausbeißen, was dieses Freudsche Delirium bedeutete. Dies war ganz sicher die Nacht — "Großer Auftritt im Casino. Alles auf eine Karte oder es stecken." - "...für mich kam heraus, daß es das einfachste wäre, nicht mehr zu atmen."26)
Reagan war so depressiv geworden, daß er sich danach fühlte, "mit Bogart Trenchcoats tauschen" zu wollen — aus seiner Haut hinaus zu wollen, ein anderer sein zu wollen, aber Bogarts Trenchcoat paßt ihm nicht, dann vielleicht das Totenhemd seines Vaters? Sein Schuldgefühl, den Vater zu überleben, und seine Überzeugung, den Vater durch seine Tötungswünsche wirklich umgebracht zu haben, waren so angewachsen, daß nur noch die äußerste Strafe, sein eigener Tod, zur Sühne ausreichen würde.
In jenem Moment auf dem Krankenhausbett wurde er in seine Kindheit zurückgeworfen, in der er manchmal so depressiv zu sein pflegte, daß er sich selber tot wünschte; einmal hatte er ein Gedicht geschrieben, in dem er den Tod als die Erlösung aus dem "Jammertal des Lebens" beschwor.27 Wenn eine hingebungsvolle Krankenschwester ihn nicht dazu bewegt hätte, weiter zu atmen, so sagt er, hätte er sein Leben damals und dort aufgegeben.28 Etwas in ihm würde sich zu verändern haben, wenn er mit diesem Schuldgefühl weiterleben wollte.
Was Reagan veränderte, war sein Lebensziel selbst. Nach der Lungenentzündungsperiode beschloß er plötzlich, Anti-Kommunist zu werden. Wie für so viele Amerikaner bot der Antikommunismus auch für Reagan eine ideale Lösung seiner Vatermordwünsche.
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Das Problem seiner Schuld am Tod seines Vaters konnte er lösen, indem er seine zerstörerischen Wünsche in die Kommunisten verlegte. Ohne sich recht bewußt zu werden warum, fand Reagan seine neuen antikommunistischen Aktivitäten erleichternd und im Stillen konnte er sich sagen: es ist ja nicht ich, der Daddy umbringen will. Es sind die Kommies, die alle Autorität zerstören wollen. Wenn ich also sie bekämpfe, werde ich in der Lage sein, meine eigenen Wünsche in ihnen unter Kontrolle zu halten.29)
Diese Konversion von einem Berufsschauspieler zu einem antikommunistischen Berufspolitiker war, nach Reagans Worten so, als hätte er "the rest of me" endlich gefunden; er fühlte sich wie aus "dem Kloster" ins Leben der Tat zurückgekehrt.30 Anstelle des Selbstbildes eines passiven Jungen, der schuldig geworden ist am Tod seines Vaters konnte er jetzt in die aktive Rolle eines Kämpfers schlüpfen, gegen jene, die alle Autorität töten wollen. Anstatt zu Hause zu sitzen und sich immer wieder auf der Leinwand zu betrachten, ohne Beine, konnte er, wie Franklin D. Roosevelt, ein anderer Mann, der den Verlust seiner Beine durch die Politik besiegte, zur Aktion übergehen gegen die Verkörperer seiner gefährlichsten Wünsche.
Im Augenblick, in dem aus dem liberalen Demokraten der antikommunistische Kreuzzügler geschlüpft war, hatte er nicht nur seine fehlenden Teile gefunden*, auch das Schuldproblem in seinem Leben war gelöst, indem alles, was ihn sich hätte schuldig fühlen lassen können, für immer auf einen "Feind" transportiert worden war. Im Alter von 36 Jahren hatte Ronald Reagan schließlich entdeckt, wie man ohne verkrüppelnde Angst alt werden könne.
Sein neuer Abwehrmechanismus ermöglichte ihm, erneut zu heiraten; diesmal aber richtig. Mit Nancy Davis spielte er die Verstümmelungsszene aus King's Row noch einmal — nur wollte er diesmal als Sieger aus der Kulisse kommen. Wie der sadistische Vater im Film war auch der Vater von Nancy Davis Chirurg und Reagan achtete genau darauf, das Filmszenario so exakt wie möglich zu wiederholen, indem er zu seinem ersten Rendezvous auf Krücken erschien, wozu er sich beim Baseball pünktlich das Bein gebrochen hatte.31)
* im blackout des Lungenfiebers waren sie ihm zugewachsen und eine weiße Krankenschwester hatte ihn zum zweiten Male mit dem zum Atmen nötigen Klaps versehen. (d.Ü.)
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Diesmal konnte er die Tochter des Doktors heiraten, weil er die Schuld für seine sexuellen Wünsche nach außen setzen und in die Kommunisten projizieren konnte, den "schlimmsten Feind, den die Menschheit gekannt hat seit ihrem langen Aufstieg aus dem Sumpf."32)
Denn Reagan sah Kommunisten nicht nur als Vatermörder, er hielt sie auch für sexuell extrem aktiv — in völligem Gegensatz zum tatsächlichen sexuellen Code der meisten kommunistischen Länder. Als er sich um das Amt des Gouverneurs von Kalifornien bewarb, war eines seiner zentralen Wahlkampfthemen "das Chaos in Berkeley". Dort würden, sagte er, Sexualorgien abgehalten "von solcher Scheußlichkeit, daß ich sie Ihnen nicht beschreiben kann" und er versprach im Falle seiner Wahl, "die kommunistischen Umtriebe und die ungehemmten sexuellen Ausschweifungen auf dem Berkeley Campus" offiziell zu untersuchen.33) Sein Wahlsieg war zu einem guten Teil darauf zurückzuführen — so sah es einer seiner Biographen — daß "viele Eltern im Herzen die geheime Furcht hegten, auch ihre Kinder könnten eines Tages fortgehen aufs College, sich Bärte wachsen lassen und gegen ihre Autorität demonstrieren."34)
Für solche Wähler erhob Reagan die Berkeley Studenten zum ersten Ziel seiner künftigen Regierungspolitik, "diese Advokaten von sexueller Ausschweifung, Drogengenuß und unflätiger Sprache", die nichts im Sinn hätten als "die akademische Gemeinschaft zu ruinieren" und die deswegen unverzüglich unter Kontrolle gebracht werden müßten.35
Im April 1966 erklärte er vor einer Frauenvereinigung zur Situation in Berkeley, daß "die Kluft zwischen deren Moral und unserer (morality gap) so eklatant geworden sei, daß man sie nicht länger ignorieren könne". Er habe Beweise in der Hand, daß der Bezirksanwalt von Alameda County eine Untersuchung eingeleitet habe wegen eines studentischen Fests, das zu einer "Orgie" geworden sei, bei der auf einer riesigen Leinwand "Bilder von Männern und Frauen, nackt, in erregenden Posen, die sich provozierend streichelten" gezeigt worden wären.36
Da Reagan tatsächlich während seiner Rede mit einem Stück Papier gewedelt hatte (das Untersuchungsergebnis des Staatsanwalts "in meiner Hand"), baten neugierige Reporter später den Distriktsanwalt um eine Kopie, um zu erfahren, daß "mein Büro keine Untersuchungen über Universitätsfeste eingeleitet hat".37
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Ein nicht nur für Reagan typischer Vorfall, der sehr schön zeigt, wie die Politik benutzt wird zur Lösung eigener innerer Probleme des Politikers. Für diejenigen, die ihre eigenen Ängste externalisieren (sie nicht mehr als Teil ihrer selbst wahrnehmen), hat das politische Handeln mehr die Funktion, laufende persönliche Schwierigkeiten zu beheben, als sich mit realen Situationen der äußeren Welt zu befassen. Wenn ihre eigenen Gefühle außer Kontrolle zu geraten drohen, steigt die "kommunistische Gefahr", während gleichzeitig wirkliche Gefahren der äußeren Welt vollkommen ignoriert werden können.
Studentische "Orgien" auf Uni-Feten 1966 stellten wahrscheinlich kaum eine Hauptgefahr für den kalifornischen Staat dar. Aber Reagans politische Aktionen speisen sich vorwiegend aus dem Pegelstand seiner inneren Bedrohungen; zu group fantasies können sie werden, weil er sie mit den meisten Amerikanern teilt. Auch sie übersehen mit Vorliebe die Veränderungen der Wirklichkeit, die es wahrzunehmen gälte zugunsten von Situationen, in denen sich eigene problematische Wünsche und Gefühle darstellen und ausagieren lassen.
Wenn Reagan seine Wünsche auf andere abladen muß, führt dies oft zu Handlungen, die seinen eigenen bewußten Vorstellungen von Fairness zuwiderlaufen. Einen Monat nach seiner Wahl zum Gouverneur beispielsweise erhielt Reagan ein 2 Millionen Dollar-Geschenk von der Twentieth-Century-Fox, verkleidet als Zahlung für ein Stück Land, das sie ihm abkauften — das ihn wenig gekostet hatte und so "öde und brach" war, wie es der Artikel im WALL STREET JOURNAL sagte, in dem die Affäre aufgedeckt wurde, daß der zuständige Grundstücks- und Immobiliengutachter feststellte, der Verkauf sei gewiß nicht "marktgerecht" vor sich gegangen.
Der Präsident der Grundstücksabteilung von Twentieth-Century-Fox zu einem Reporter, der ihn später nach der Angelegenheit fragte: "Warum sollten wir diese schmutzige Wäsche ans Licht ziehen (air those dirty linens). Das würde nur den Namen der Fox beschmutzen. Wahrscheinlich hat die Geschäftsleitung beschlossen, sie schulde Reagan einen Gefallen. Wer weiß? Wen kümmert das?"38)
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Was immer die Motive für diese 2 Millionen-Gabe und ihre Verbindung zu den Leuten im Grundstücksgeschäft waren, die Reagan aufgefordert hatten, sich für den Gouverneurposten zu bewerben — dies Geld machte Reagan zum ersten Mal in seinem Leben zu einem reichen Mann.
Aber durch die Befriedigung solch geheimer Wünsche fühlte er sich offenbar schuldig. Irgendjemand würde für so viel Gier bestraft werden müssen. Als Teil dieses "Jemand" stellten sich bedürftige und behinderte Kinder heraus. An genau dem Tag, an dem er die 2 Millionen von Fox bekam, stellte er einen Haushaltsplan auf, in dem sein eigenes Gehalt und das anderer Staatsbeamter erhöht wurde, aber die Zuschüsse zu den Schulmahlzeiten bedürftiger Kinder fast gänzlich gestrichen wurden und ebenso die 79 Cent pro Tag, die bisher für die Mahlzeit behinderter Kinder in den staatlichen Anstalten zugeschossen wurden. Die von der Kürzung betroffene Mahlzeit bestand aus "...wässrigen Marinebohnen, Krautsalat, einer dünnen Scheibe an den Rändern vertrockneter Salami, einer Scheibe Brot und einer Tasse Milch."39 Daß Reagan sich dabei schlecht fühlte, den Zuschuß zur Streichung vorzuschlagen, ging aus seiner Begründung hervor, in der er behauptete, sie würde das Essen der behinderten Kinder in Wirklichkeit "verbessern".40
Nun war Ronald Reagan in seinem Privatleben sicher nicht persönlich grausam zu Kindern. Er hielt zwar seine eigenen Kinder auf Distanz, indem er sie auf Internatsschulen schickte, aber mißhandelt hat er sie sicher nicht. Er spendete auch jedes Jahr für die Armen an private Wohlfahrtsverbände. Wie konnte er dann die tägliche 79 Cent-Unterstützung für behinderte Kinder streichen?
Wie in allen Fällen, in denen öffentliches Handeln so deutlich von der privaten Moral abweicht, liegt die Antwort auf dieses ständig wiederkehrende Rätsel darin, daß, wenn erstmal ein persönliches Abwehrsystem errichtet ist, das auf der Verschiebung verwerflicher Gefühle in "politische Objekte" basiert, es für die so Handelnden keine bewußte Wahl mehr gibt. Nicht wirklichen Kindern wurde ein Schmerz zugefügt, sondern der Unart "gierigen" Wünschens wurde eine Abfuhr erteilt, ein symbolischer Akt.
Das reale Leiden der Kinder mußte verneint werden, weil die Kinder jene Teile von Reagan enthielten, die er verleugnen mußte. Seine sonstigen persönlichen Gefühle gegenüber Kindern waren dabei zweitrangig. Der 79 Cent-Zuschuß mußte gestrichen werden, um das "gierige Kind" in ihm selber zu bestrafen dafür, daß es reich geworden war. Nur indem er einen passenden Sündenbock bestrafte, konnte er sich erleichtert fühlen. Und die behinderten Kinder standen — u.a. — als passend zur Verfügung.
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Genau dieser Mechanismus liegt all seiner Budget-Beschneiderei zugrunde. Daß er an einer echten Kürzung der Gesamtausgaben des Staates Kalifornien wenig interessiert war, liegt auf der Hand, der Staatshaushalt stieg während seiner Amtszeit auf mehr als das Doppelte an. Echte Budgetkontrolle ist eine mühsame und anspruchsvolle Aufgabe, die wirkliches politisches Verständnis verlangt — etwas, was Reagan sich nie bemüht hat, erwerben zu wollen. Aber da er selbst ein reicher und mächtiger Mann geworden war, mußte er sich — wie so viele Reiche und Mächtige — als Regierender eine Rhetorik der Askese zulegen, um nicht ständig mit Schuldgefühlen über sein privates Leben herumzulaufen.
Daß er hauptsächlich die Ausgaben für Arme und Hilflose kürzte — symbolisch bei Kindern, den Symbolen seiner eigenen kindlichen Wünsche — beeinträchtigte sein öffentliches Image als effektiver Budgetbeschneider überhaupt nicht. Hinter dem Oberflächenbild lag sogar offen zu Tage, daß er sehr ausgabenfreudig war; jemand, auf den aber immer Verlaß war, wenn es galt, irgendwen aus dem Heer der Armen und Hilflosen in magischen schuldreduzierenden Gesten zu opfern.
Das Regierungsamt selbst wird von Reagan — wie von vielen seiner Anhänger — nicht als etwas "Erwachsenes" gesehen, als Platz von dem aus man als Erwachsener handelt, der je nach Lage helfend oder auch verletzend auftreten muß. Die "Regierung" ist eher ein Ort, wo man seine kindlichen Wünsche deponieren kann, um dann zu versuchen, sie unter Kontrolle zu halten. "Die Regierung ist wie ein Baby", sagte er einmal, "ein Fütterungskanal, am einen Ende hungrig, am anderen verantwortungslos. Wenn man das unentwegt füttert, stecken wir bald bis zum Hals in ... oh ja, Schulden."41
Die Regierung ist der Platz, an dem wir unsere "gierigen Babywünsche" abladen, und sollten wir sie füttern, ertrinken wir... Die Regierung, wie die Kommunisten, ist "der Feind", und es ist falsch zu glauben, sie wäre dazu da, Menschen zu helfen. "Für uns ist die Zeit gekommen, aufzuhören, der Ernährer unseres Bruders sein zu wollen", so lautete es in Reagans Wahlkampagne.42 Selbst wenn man zur Regierung wird, muß man dies verneinen: "Wir gehören hier nur so lange her, wie wir uns auf <die Regierung> als <die da> (<they>) beziehen und nicht von ihr denken in der Form des <Wir>", erklärte er gegenüber seinen Mitarbeitern beim Amtsantritt.43)
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Hat man erst einmal, wie Reagan, seine bedrohlichen Gefühle in der politischen Arena abgeladen, wird es zum Zentralproblem, alles unter Kontrolle zu bringen, was außer Kontrolle zu geraten droht und sei es die "Regierung", der man selber vorsteht. Er fühlt sich sicher darin, daß die Leute, die ihn unterstützen, mit seinem tiefsten Gefühl übereinstimmen, es läge "eine panische Angst in der Luft, die zum Teil aus einem Gefühl der Hilflosigkeit stammt, dem Gefühl, daß die Regierung eine separate Kraft geworden sei, außerhalb unserer Kontrolle..."44)
Je mehr es Reagan gelang, seine verwirrenden Gefühle in die politische Szenerie zu injizieren, desto besser fühlte er sich — auch in Situationen, die für außenstehende Beobachter nicht dazu einluden, sich besonders angenehm zu fühlen. Studenten waren zum Beispiel in den Sechzigern leicht zu provozieren und damit ausgezeichnete Container für Reagans Wut. Deshalb, so sein Biograph Bill Boyarski, "genoß Reagan als Gouverneur die Auseinandersetzung mit den Studenten".45 Je "chaotischer" die Situation auf kalifornischen Campuses, desto glücklicher schien Reagan sich zu fühlen.
Als während der Studentenunruhen von 1969 Reagan sein berühmtes Statement ausstieß: "Wenn's ein Blutbad sein muß, dann gleich", wurde sein typischer Arbeitstag wie folgt beschrieben:
Dann bereitete er ein Statement vor, berief eine Pressekonferenz einen Tag früher ein als vorgesehen und erklärte vor eilig herbeigerufenen Journalisten, er werde jetzt den Notstand ausrufen und die kalifornische Highway-Polizei einsetzen zum Schutz vor "kriminellen Anarchisten" und "campusfremden Revolutionären". "Studenten, die die Vorlesungen besuchen wollten, wurden angegriffen und geschlagen", sagte Reagan. "Straßen und Bürgersteige, die zur Universität führen, wurden abgesperrt. Lehrveranstaltungen wurden gestört. Brände wurden gelegt, Brandbomben sind geworfen worden, Universitätseigentum wurde zerstört." Reagan war glücklich über sein Vorgehen und sagte seinem Pressesekretär Paul Beck auf dem Weg zurück in sein Büro: "Heute nacht werde ich gut schlafen."46)
Anders als in der Nacht vor den King's Row Aufnahmen, als er kein Auge zutat, als sich das ganze Chaos in ihm abspielte, während es hier schön außen lag.
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Unglücklicherweise ist dies Verfahren, innere Probleme in der politischen Arena abzuladen, nur dann effektiv, wenn die Leute um den Führer irgendwie seine Wahnvorstellungen teilen, und ihm dabei helfen, seine Gefühle "zu kontrollieren". Mit den Worten Otto Fenichels, Personen, die Angst haben, schaffen eine Atmosphäre von Angst um sich. Sie fühlen sich besser, wenn diese Angst außerhalb von ihnen ist. Das kann aber auch umschlagen: Wenn ihnen die Verlagerung der Angst zu gut gelingt und sie entdecken, daß jeder um sie herum wirklich große Angst hat, können sie das Gefühl bekommen, ihren potentiellen Schutz zerstört zu haben und Vergeltung fürchten zu müssen. Plötzlich empfinden sie selbst große Angst.47
Die Formel "Äußerer Aufruhr bedeutet Frieden im Innern" hat daher ihre Grenze, für Reagan wie für andere, denen die Politik ebenfalls zur Lösung innerer Probleme dient. Wenn sie schließlich erfolgreich jeden um sich herum derart in Schrecken versetzt haben, daß die Außenwelt es nicht länger schafft, den Container für die verleugneten Gefühle abzugeben, ist alles verwandelt und die Welt erscheint als extrem bedrohlich. Der "Feind", jetzt plötzlich out of control, muß mit Gewalt vernichtet werden, damit die innere Balance wieder aufgerichtet werden kann.
Genau an diesem Punkt verschlingt sich die "persönliche" Psychologie des Führers mit den group fantasies der Menschen einer Nation. Wenn die Nation sich "stark" fühlt während der Honey-moon-Schonzeit des Präsidenten zu Beginn seiner Amtszeit, idealisieren ihn die Leute und versichern ihm, wie wunderbar seine Programme greifen werden. Er ist überzeugt, daß er das Böse in der Nation (und seine eigenen bösen/gefährlichen Wünsche) "under control" wird halten können und zwar durch seine Fähigkeit (und Entschlossenheit), Gruppen wie die "Wohlfahrtsbetrüger" und andere, die sich eignen als Container der schlechten, "gierigen" Wünsche der Nation zu dienen, auf öffentlichen Altären zum Opfer zu bringen.
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Aber wenn diese (kleineren) Opfer sich als Fehlschlag herausstellen, wenn der Leader schwach zu werden und die Nation zusammenzubrechen scheint, empfindet er das in der Form, daß er selber mit seinen Verschiebungstalenten außer Kontrolle zu geraten droht. Ein größerer "Feind" muß dann in die Bresche springen, gewöhnlich ein ausländischer, der "auf dem Vormarsch" ist. Was bedrohlich bleibt ist das Innere, es erscheint nur äußerlich.
Daß der gefährliche "Feind" in der Tat unsere Gefühle sind, ist die von uns am tiefsten verleugnete Wahrheit. Sie wird aber unübersehbar anhand der unbeachteten Tatsache, daß wir niemals im ersten Jahr einer Präsidentschaft in einen Krieg gegangen sind, sondern erst, wenn die Autorität unseres Leaders zusammenzubrechen scheint.48 Dieses Kollaps-Stadium steht nicht wirklich in Beziehung zur politischen Lage, es ist ein Produkt von Stadien der laufenden group fantasies.
Die meisten der "gefährlichen" Perioden in unserer Geschichte gründen in solchen Phantasien. Das gilt ganz besonders für unsere antikommunistischen Ängste, beginnend mit der Truman-Doktrin, die 1947 vom Stapel lief, als Amerika eine atomare Monopolstellung genoß und die Sowjetunion vom Zweiten Weltkrieg ausgelaugt am Boden lag, was Dean Acheson nicht daran hindern konnte, genau diesen Moment zu dem der größten Bedrohung Amerikas in seiner ganzen Geschichte zu ernennen.49
Collapse-Ängste führten bald darauf zum blutigen und langwierigen Koreakrieg gegen den Kommunismus. Dann folgten die im Großen und Ganzen friedlichen und weniger schreckgepeinigten Eisenhower-Jahre, als wir uns aus internen Gründen weniger bedroht fühlten, obwohl Rußland gerade in diesem Zeitraum enorm an militärischer Stärke gewann und in der Entwicklung atomarer Raketen aufholte — dennoch fühlten wir uns weniger bedroht. Aber unsere coUapse feelings während der turbulenten Sechziger, die zum Vietnamkrieg führten, hatten wiederum ihre Wurzel mehr in unseren inneren Zuständen als in irgendetwas, das in Asien passiert wäre oder hätte passieren können.50
Es gibt Zeiten des Wachstums und der Stabilität, wo die psychische Entwicklung eines Volkes mit der wirtschaftlichen Schritt hält, wo die Nation eine Person wie Eisenhower wählen kann (und aushält), der auf dem Höhepunkt von "Krisen" auf dem Rasen des Weißen Hauses den Golfball einzuputten versuchte und den unvermeidlichen Reportern mitteilte,
"daß die bloße Tatsache, daß irgendein kleiner Zwischenfall entsteht, mich nicht beunruhigen kann. Immer waren es die Experten, die mir, ob im Krieg oder im Frieden, Angst eingejagt haben, und jetzt habe ich keine Angst."51
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Zu anderen Zeiten werden dagegen als Reaktion auf rapides wirtschaftliches Wachstum und wichtige persönliche und gesellschaftliche Veränderungen Leute wie Truman oder Johnson gewählt, die beide mit Reagan das Bedürfnis teilten, ihre persönlichen Wünsche in äußere "Feinde" zu injizieren, um sie dort anzugreifen und unter Kontrolle zu haben.52
Dies erklärt auch, daß Reagans erste Kandidatur 1975 kaum Beachtung fand bei einer Nation, die damit beschäftigt war, ihre Ökonomie wiederzubeleben, ihre Wohlfahrtsprogramme zu erweitern und Familien- und Arbeitsbedingungen zu verändern durch bedeutende Verbesserung der Rechte der Frauen und Veränderungen in den sexuellen Gewohnheiten. Beim zweiten Mal, 1979, war die Stimmung der Nation als Reaktion auf die enormen Veränderungen der vorangegangenen vier Jahre, mit denen viele Leute nicht mitkamen, eine ganz andere. Als Reagan diesmal seine Kandidatur ankündigte, kam sie ihm eher entgegen, trotz der Besorgnis eines Beobachters, daß "ein 70jähriger es nicht leicht haben wird, eine neue Rede zu erfinden, wenn er 20 Jahre lang 200 Abende im Jahr immer dieselbe Rede gehalten hat."53)
Diesmal waren wir scharf auf jemanden, der unsere Ängste wegen der persönlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen widerspiegelte, die unser Leben tief beeinflußt hatten. Diesmal brauchten wir Reagan.
Die Stimmung vieler Leute nach den angsterzeugenden Veränderungen der Siebziger Jahre — gesteigert durch Carters Weigerung, unseren Ängsten/unserer Wut durch eine großangelegte Invasion im Iran das Reinigungsbad zu verschaffen — faßte Henry Kissinger in der fantasy language seiner Grundsatzrede auf dem Kongress der Republikanischen Partei 1980 zusammen:
Schwäche... impotent... Aufstände... Unglück... schmerzhaft ... Angst... rutschte... geschockt... Chaos... schwach... Angst ... Aufruhr... Lähmung... Demütigung... Unglück... abgleiten ... Schwäche... Zusammenbruch... Ängste... zersägt... enträtseln ... Impotenz ... Chaos ... Verzweiflung ... zerbrechen ... Unruhe/Aufstand... verloren... Unglück... Krieg... Impotenz ... Krieg... Krieg... Ängste... dunkle Mächte
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Zwischen der Sprache des "Unglücks" und der "Demütigung" auf diesem und den hoffnungsvollen Gefühlen auf dem Nominierungskongress der Demokraten 1976, der Jimmy Carter auf den Schild hob, ist ein größerer Gegensatz kaum denkbar. Die Mehrheit hielt nun nach einer ganz anderen Art von Person Ausschau, jemand, der ihre Gefühle von "Impotenz" und "Chaos" teilte, jemand, dessen persönliche Probleme ihn zwingen würden, mit der Nation "Aufruhr" und "dunkle Mächte" dort zu sehen, wo keine waren. Im Wahlkampf wurde Carters zurückhaltender persönlicher Stil einfach überwältigt durch Reagans Flut von Kastrationswörtern, mit der Betonung von "blutigen Einschnitten" (bloody cuts), "Verzweiflung" und "Beschmutzung".
Der Kontrast ist sehr gut zu sehen in ihren jeweiligen Antworten auf die (gleichen) Fragen, die ihnen während ihrer gemeinsamen Fernseherscheinung am 28. Okt. 1980 gestellt wurden.
Carter-Reagan-Fernsehdebatte
am 28. Okt. 1980
Fantasy WordsFrage: Krieg? Lähmung? Einschnitte?
R.: Herz... fällt... Krieg... Krieg ... Kriege ... bluten ... blutig ... cuts... cuts ... cuts... cut... cutting ... Krieg... cut
C: InjektionFrage: Schocks? Schock? Cutting? Cut?
R.: Seuche ... cut ... lecken ... zerreiben ... überfluten ... cutting ... ausradieren ... cuts
C: CutFrage: Verfall?
R.: Ausgebombt ...große hagere Skelette ... zermalmt ... Verzweiflung ... niedergewalzt ... Verschmutzung einschüchtern ... tot ... Hexenmeister ... brennen ... sauber ... ... Verschmutzung ... den Boden unter den Füßen verlieren ... Angst einjagen ... zerstören... das Dach fällt ein
C: Verzweiflung ... Verfall ... Sex ... Reinheit ... Eier ...VerschmutzungF.: Schwäche?
R.: Elend ... Elend ... Herz ... einsam ... vom Hals haben ... von der Leine lassenC.: Krieg ... Krieg ... Schwäche ... Krieg ... einsam
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Obwohl er sich mühte, so gut er konnte, gelang es Carter nicht, mit Reagans tiefen Gefühlen von Tod, Verzweiflung und Zerstörung Schritt zu halten. Nach einer ABC-Umfrage gewann Reagan die "Debatte" in einem 2:1 Verhältnis.54)
Wir hatten jemanden gefunden, der auch der Meinung war, die Veränderungen der letzten zehn Jahre hätten alles "out of control" geraten lassen, jemand, der eine Finanzpolitik versprach, die uns Opfer bescheren würde, die wir für unsere Wünsche bestrafen könnten.
Denn Reagans tatsächliche Fähigkeiten kümmerten uns wenig — daß auf Grund seiner emotionalen Probleme seine Wahrnehmung der Realität so gestört ist, daß er nur ein schlechter Regierungschef sein kann, daß er fast nichts von Ökonomie versteht, daß seine gewohnheitsmäßige Arbeitsangst so groß war, daß ihm nur Ein-Seiten-Zusammenfassungen von schwierigen Problemen zugemutet werden konnten und er bei wichtigen Arbeitssitzungen einschlief, wenn er sich durch die Unausweichlichkeit der Problematik in der Falle gefangen sah — es war uns gerade recht.55 Es waren auch nicht sein durchaus beträchtlicher Charme und sein telegenes Auftreten, die seinen "Erdrutsch"-Wahlsieg bewirkten.
Es waren zwei Versprechen, die er Amerika gegeben hatte:
1. daß er das wirtschaftliche Wachstum und die verwirrenden Änderungen der Siebziger Jahre stoppen würde durch die Herbeiführung einer Rezession, in der Menschen geopfert werden könnten, die geeignet wären, Symbole unserer Habgier abzugeben, und
2. daß er, sollte es nicht gelingen, unsere Gefühle durch dies interne Opfer zu entlasten, er, anders als Carter, der Mann sei, uns eine ausländische Opferstelle zu geben und eine militärische Aktion, die uns endlich ein Objekt für unsere Wut bieten würde und unsere "Feinde" (Kommunisten, die Freunde unserer gefährlichen Wünsche), ausradieren würde.56
Mit diesen entscheidenden unbewußten Versprechen im Sinn konnte Reagans Amerika die historischen Aufgaben der frühen achtziger Jahre angehen: was mit der Angst zu tun sei, die durch ein neues Verständnis des persönlichen wie des öffentlichen Lebens sich in den sechziger und siebziger Jahren in den Vereinigten Staaten entwickelt hat.
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