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4  Reaganomics als Opferritual   

 

"Cut, slash, chop"  

 

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Den meisten Psychotherapeuten ist die Szene geläufig: Der Patient erzählt im Erstinterview, was er für sein Hauptproblem hält: "Ich scheine kein Glück zu haben mit den Frauen. Ich war dreimal verheiratet und jedesmal hat meine Frau mich verlassen mit einem anderen Mann. Jetzt ist mir die Freundin weggelaufen. Was kann ich bloß tun, daß die Frauen aufhören, mir untreu zu sein?" So oder ähnlich hören Therapeuten es täglich. 

"Meine Freunde behandeln mich wie ein Stück Dreck." — "Immer habe ich nur Vorgesetzte, die Streit mit mir suchen." — "Jeder Beruf, den ich bis jetzt versucht habe, hat mich bloß gelangweilt." — "Keine Frau, die ich kennenlerne, will wirklich etwas mit mir zu tun haben."

Gegen solch eingefleischte Muster der Lebensdarstellung hat es der Therapeut nicht gerade leicht, den Patienten darauf zu bringen, daß sein größtes Problem auch sein größter Wunsch ist — daß sie die untreuen Frauen unbewußt wählen, ebenso wie die rücksichtslosen Freunde und die streitsüchtigen Chefs. Die Patienten wählen sie, um damit der Angst zu entgehen, die in ihnen wüchse, wenn sie sich in ihren Familien wohlfühlten, wenn sie zu viel Vergnügen hätten an ihrem Liebesleben und an ihrem Beruf.

Wie viel schwieriger, die Psyche einer Nation auf der Couch zu haben. Stellen wir ihn uns vor, Uncle Sam, da liegt er und beschreibt, was er für sein Hauptproblem hält: 

"Ich bin, glaube ich, unfähig, meine schwer erkämpften Erfolge wirklich zu genießen, egal in welcher Sache. Immer wieder gerate ich in diese Depressionsperioden, in denen ich viel von dem wieder verliere, wofür ich so schwer geschuftet habe. Allein in diesem Jahrhundert bin ich durch zwölf große Zyklen von Erfolg und Mißerfolg gegangen, Hochs und Tiefs, und bin wohl verdammt, dies Muster endlos zu wiederholen. Um dem die Krone aufzusetzen: jedesmal, wenn es wieder bergauf zu gehen scheint, werde ich in einen Krieg verwickelt, der mich weiter zurückwirft, als ich vorher war, und da lieg' ich nun mit über einer Billion Dollar Schulden. Wie kann ich diesem Teufelskreis entkommen?"

Wäre dies die Klage einer einzelnen Person, würde der Therapeut ihr eine "Erfolgsneurose" bescheinigen, eine "manisch-depressive Struktur", die der Patient unbewußt ausagiere, um durch periodische selbstzerstörerische Handlungen die Angst in Schranken zu halten, die er bekommt, weil sein Leben so gut läuft. Aber anzunehmen, unser kollektives Leben wäre womöglich eine Erweiterung unserer individuellen Leben, mit ebenso sich wiederholenden Mustern, die unseren unbewußten Wünschen folgen, ist bisher eher unüblich. 

Trotz der erstaunlichen Regelmäßigkeit von Wirtschaftszyklen (in den Industrienationen haben sie im allgemeinen einen Achtjahresrhythmus)1) und der Kriege (die meisten Länder haben durchschnittlich alle zwanzig Jahre einen)2) wurden sie niemals als Wünsche angesehen; als Wege, durch periodische selbstzerstörerische Abläufe, die wir selber sorgfältig inszenieren, die Angst zu begrenzen, die daher kommt, daß wir unser Leben genießen. Wie der Patient, der seine Probleme als Folge von "Fehlern" in seinem Leben sieht, versteht man gemeinhin ökonomische und politische Krisen als Ergebnisse kollektiver "Fehler", seien es "Fehler der Überinvestition", "Fehler in der Geldpolitik", "Fehler der Finanzierungsprogramme" oder die "Fehler von München". Ökonomische Zyklen wie auch die Abfolge der Kriege werden kaum gesehen als gewollte.

Der Grund, aus dem gesellschaftliche Probleme so oft als Folge von Fehlern dargestellt werden, liegt in der Modellannahme eines "homo oeconomicus", den die meisten Gesellschaftswissenschaften unterstellen. Dieser, er (oder sie), handelt nur nach Eigeninteresse, vermehrt den eigenen Lustgewinn, arbeitet rational und rationell und geht in jeder Hinsicht klug mit seinem (ihrem) Geld um. Um das zu glauben, muß man allerdings an der erstaunlichen Tatsache vorbeisehen, daß alle die, die man selber kennt, dem "homo oeconomicus" nur sehr entfernt, wenn überhaupt, ähneln. Die eigenen Nachbarn scheinen ihr Geld eher blindlings auszugeben, sie sparen kaum, mit der Arbeit gibt es Probleme oder sie trinken zuviel, oder sie sind eher depressiv oder zu schüchtern, zu streng, zu gelangweilt oder zu sehr geladen, um ihre Talente wirklich entfalten zu können oder ihr Familienleben zu genießen.

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In Wahrheit sind die Leute auf genau die Weise irrational menschlich, wie sie in den umlaufenden Romanen vorkommen, und ähneln viel mehr einem Typ, der sich alle Mühe gibt, seine/ihre Vergnügen und Fähigkeiten zu begrenzen als sie zu entgrenzen. Selbst jene, denen es gelingt, ihre Arbeit als fruchtbar zu erleben, enden oft darin, daß alles, was sie tun, ihnen letztlich mißfällt oder sie opfern ihre Familien, ihr Liebesleben oder ihre Gesundheit "dem Beruf". Menschen, die psychologisch gesund genug sind, sowohl Erfolg zu haben als auch Freude an ihrer Arbeit und an ihrem Besitz und an ihren Angehörigen und an ihrer Liebe, sind in Wahrheit höchst selten anzutreffen.

Wenn aber die meisten Individuen ihre Befriedigungen beschränken, ihre Fähigkeiten nicht entfalten, sowie ihre Einkünfte und ihre Vergnügungen opfern, grad so, als wollten sie keine Schuldgefühle provozieren durch zu exzessiven Lebensgenuß, dann wird das auch auf die Nationen zutreffen, die aus solchen Menschen bestehen. Eine brauchbare Theorie der Psychoökonomie muß deshalb auch untersuchen, durch welche Strategien Nationen ihren Überfluß vernichten, nicht nur, wie sie ihn erzeugen — Strategien, die periodische Blütezeiten, Zusammenbrüche und Kriege einschließen.

 

Wirtschaftswissenschaftler stoßen hin und wieder eher unfreiwillig auf die Möglichkeit selbstzerstörerischer Motivationen, aber da ihr Modell dem "homo oeconomicus" nur rational zu sein erlaubt, verwerfen sie ihre Wahrnehmung als offensichtlich zu verrückt, um sie ernsthaft in Erwägung zu ziehen. So folgt in mehreren Büchern auf den Versuch, die Wirtschaftzyklen nach rationalen Modellen zu erklären, das Eingeständnis ihres Ungenügens; die Autoren werfen die Arme in die Luft und stellen, wie Paul Samuelson, fest, fast scheine es, als ob die Menschen "absichtlich einem manisch-depressiven Muster folgten und dabei erst den ökonomischen Zyklus erzeugen",3) oder jemand ist versucht, wie Robert E. Lucas Jr., "anzunehmen, daß die Leute Depressionen mögen."4)  

Aber das sind nur Momente psychologischer Einsichten, die schnell wieder fallengelassen werden; und sie kehren zurück zu ihrem Grundlagemodell "ökonomischer Mensch" mit seinen unmotivierten "Fehlern".

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Am offenkundigsten sieht man solche Akte der Selbstzerstörung bei primitiven Völkern am Werk, die viel Zeit darauf verwenden, ihre Überschüsse den Göttern zu opfern. Tatsächlich ist genau das der Grund, aus dem manche primitive Völker bis heute auf einem technologisch niedrigeren Level verharren; sie fahren seit Jahrtausenden fort, ihre Überschüsse zu opfern, während fortgeschrittenere Völker sich seit langem erlauben, ihre Überschüsse zu akkumulieren und ökonomisches Wachstum zu produzieren.5)

Das soziale Gewissen (das Über-Ich) in primitiven Gruppen ist in der Regel so streng — als Folge einer sehr rigiden Behandlung der Kleinkinder6) — daß sie sich nur sehr selten persönlichen Besitz erlauben. Was sie produzieren, produzieren sie hauptsächlich für die Gruppe als Ganzes. Organisierter Austausch von Geschenken bildet eher die Grundlage ihres Güterverkehrs als persönlicher Besitz oder Handel. Der Überschuß, den sie im Laufe eines Jahres anhäufen, wird in jährlichen Opferritualen "für die Götter" (ihr strenges Gewissen) zerstört. Überschüssige Güter und Nahrungsmittel werden verbrannt, im Ritual aufgezehrt oder auf andere Weise vernichtet, damit sich keine Schuldgefühle anstauen können. Das jährliche Opfer dieser Güter wird zu einem Ritual der Erneuerung des Gruppenlebens; ein Weg, die Psychen von der Schuld zu reinigen, die sich durch die Überschußproduktion des vergangenen Jahres angesammelt hat.7)

 

Zum Beispiel legen die Kwakiutl-Indianer im Nordwesten an der Pazifikküste das ganze Jahr über Fleisch- und Fischvorräte an. Ende des Jahres fühlen sie sich von ihrem Überschuß derart schuldbeladen, daß sie alle ökonomischen Aktivitäten für einige Monate einstellen. Das ist die Zeit komplexer Winterzeremonien. Deren erklärtes Ziel ist es, sich darin zu übertreffen, wer die meisten Nahrungsmittel und Güter verschenken oder vernichten kann. Diejenigen, die den meisten Überschuß zerstören, ernten das größte Ansehen, denn sie haben den größten Anteil daran, den "Menschen-Esser zu zähmen"; das ist der Gott, der es liebt, "den Reichtum zu verschlingen".8)  

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Ein Tänzer stellt den Menschen-Esser dar, — der zentrale Mythos, der beim Winterfest inszeniert wird, ist die rituelle Fütterung des gefräßigen, alles verschlingenden Mundes des Gottes mit Nahrungsmitteln, Gütern aller Art und sogar Leichen.

Kwakiutl-Indianer ziehen ihre Kinder äußerst streng auf; sie binden ihre Babies die ersten drei Jahre in Windeln ein (swaddling), "um ihren Appetit zu kontrollieren", sie entwöhnen sie abrupt der

Mutterbrust und lehren sie in jeder Minute ihres Lebens ihre Wünsche als Übel zu empfinden und daß sie, sollten sie sich an irgendetwas erfreuen, es riskierten, zu Kannibalenkindern zu werden. Nicht verwunderlich, daß sie als Erwachsene Angst vor jedem ihrer Impulse haben und ihre unterdrückten Begierden in die äußere Welt übertragen, die gesehen wird als "angefüllt mit Mäulern... eine Welt voll von allgegenwärtigen Bildern, gemacht von Menschenhand, deren Münder ihre Gier verraten."9 Eben diese Welt hungriger Mäuler, monströser Appetite, — letzlich ihres eigenen Hungers nach Liebe — muß bei den jährlichen kannibalistischen Ritualen "gezähmt" werden.

Auf gleiche Weise reinigen sich andere primitive Gruppen von ihren Schuldgefühlen, durch die alljährliche Zerstörung des Überschusses der Gruppe, durch ein "Füttern der Götter", eine "Zähmung" der verschlingenden Wünsche jedes Einzelnen, während man den Überfluß vernichtet, der in erster Linie die Schuldgefühle produziert. Die einzelnen Gruppen führen dies periodische Opfer auf verschiedene Weise durch. Die Ankole in Afrika "füttern" ihre Königliche Trommel — der Container, in den sie all ihre giftigen, verschlingenden Wünsche injizieren — mit Rindern, Milch, Getreide, Bier und gar Menschen.10)

 

 

   

Primitive kannibalistische Rituale 
wurden für notwendig gehalten, 
"den Menschen-Esser zu zähmen", 
— unsere eigenen Appetite. 

(oder Gelüste -OD; Plural von "Appetit" ist im deutschen schwer verständlich.)


Die Azteken 
opferten Menschen 
der Sonne, 
um sie zu füttern 
und ihren Appetit 
zu stillen.

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Die Ashanti haben einen "Goldenen Stuhl" als Giftcontainer. Die Baganda bedienen sich einer "Plazenta des Königs" bei ihren Reinigungs­zeremonien. In Dahomey saß der König auf einer riesigen Plattform und das ganze Land reinigte sich von den bösen Geistern in seiner Mitte, indem alle "den König fütterten", und zwar mit Vieh, Nahrungsmitteln und Muschelgeld, Geschenke, die man für geeignet hielt, die giftige Verschmutzung zu transportieren (ihre eigenen Gefühle), von der allein der König sie würde reinwaschen können.11)

Wo primitive Gruppen auf entwickeltere treffen und ihre Güter sich auf dramatische Weise vermehren, steigern sie unweigerlich auch ihre Opfer­anstrengungen, um den neu erworbenen Überschuß zu zerstören und der Schuld zu entkommen, die durch den ungewohnten Reichtum entstanden ist.

Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kwakiutl-Indianer mit den Weißen in Berührung kamen und durch Handel ihren Wohlstand vervielfachten, intensivierten sie gleichermaßen ihre Winterzeremonien und verwandelten ein ursprünglich bescheidenes Güteropfer in ein riesiges Ritual, in dem Tausende von Decken und anderen wertvollen Gegenständen weggegeben, verbrannt oder in den Fluß geworfen wurden, um ihre neuerlich angefachten Wünsche im Zaum zu halten.12) 

Und: nimmt der Überschuß zu, erhöht sich auch die Zahl der Kriege mit Opfercharakter. Zum Zeitpunkt, wo eine Gruppierung sich zu einem Königtum entwickelt, wird, was bis dahin ein kleiner Raubzug war, zum organisierten Krieg der frühen Staaten mit Zehntausenden von Berufssoldaten und virtuell zum permanenten Krieg.

Die Azteken zum Beispiel opferten dem Sonnengott als ihrem "Menschen-Esser", und da sie auf Grund ihrer entwickelteren Art, die Kinder aufzuziehen, mehr Überschuß zu erwirtschaften sich erlauben konnten als ihre Vorfahren, mußte ihr Sonnengott Container für ein enormes Maß gieriger Wünsche sein.

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Sie empfanden ihn als derart gefräßig, daß man echtes Blut füttern mußte, um seinen Appetit zu stillen, und jeder Mann, jede Frau wie jedes Kind entnahm regelmäßig Blut aus Schenkeln, Armen und Genitalien, ihre Sonne zu "füttern" (ihr eigenes strenges Gewissen), damit sie nicht böse würde und die Welt in Finsternis stürze.13)

Aber selbst regelmäßige Blutopfer der Menschen stillten nicht den Appetit des Sonnengottes; so praktizierten sie rituelle Menschenopferungen riesigen Ausmaßes, in denen Gefangenen das noch schlagende Herz aus der Brust gerissen und dem Opferfeuer übergeben wurde, um die "Lebenskraft der Gruppe zu erneuern". Bei den Tempeln wurden riesige Schädelhaufen auf Gerüste getürmt, um den Göttern zu zeigen, wieviele Menschen die Gruppe in jüngster Vergangenheit geopfert hatte und nicht nur Priester ahmten den Appetit der Sonne auf Menschenfleisch nach, indem sie vom Fleisch der Geopferten aßen.14) Auch Kriege wurden geführt, um den Blutdurst der Götter zu stillen. Junge Männer, von Geburt an ausersehen, ihr Blut der Sonne zu geben, kämpften um die Ehre, sich auf dem Schlachtfeld zum Opfer bringen zu dürfen.15) Reichten die üblichen Kriege mit den Nachbarn nicht aus, den Göttern genügend Blut zuzuführen, beklagten sich die Priester bei der Armee. Freiwillige zogen dann auf ein nahes Schlachtfeld, teilten sich in gleiche Hälften und schlachteten sich gegenseitig, bis die Götter befriedigt waren.16)

Trotz dieser unaufhörlichen Opferarbeit hörte der Reichtum der Azteken nicht zu wachsen auf und ebenso ihre Schuldgefühle. Alle 52 Jahre — also etwa im Zeitraum eines Lebensalters17) — war der Sonnengott daher so angefüllt mit den vergiftenden Schuldgefühlen der Menschen, daß das Ende der Welt drohte. Die Zeit würde stehenbleiben, die Sonne würde sterben und eine neue Sonne würde geboren werden müssen, die Götter davon abzuhalten, auf die Erde herabzusteigen und sie bis auf den letzten Azteken leer zu fressen. Die Zeremonie vom Neuen Feuer, die die periodische große Schuldtilgung bewirkte, war das heiligste Ritual der Azteken. Alle wirtschaftlichen Aktivitäten wurden eingestellt zu diesem gefährlichen Moment; die Priester bestiegen einen Hügel und trugen einen hervorragenden Krieger, das Opfer. 

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Wenn die Nacht am dunkelsten war, die Sonne am tiefsten gesunken, um vielleicht nie wiederzukehren, rissen die Priester dem Opfer das Herz aus der Brust und boten es dem Feuergott dar. In die Brusthöhle des Opfers, dort wo das Herz (die alte Sonne) gewesen war, legten sie ein Stück geweihtes brennendes Holz. Ein neues Feuer wurde in der Brusthöhle entzündet, die Geburt der neuen Sonne symbolisierend. Dies Feuer diente dann dazu, geweihte Freudenfeuer im ganzen Königreich mit neuer Flamme zu entzünden, und die Menschen, die die Feuer sahen, konnten aufjauchzen, denn sie wußten, die Sonne war gestorben und wiedergeboren, durch das Menschenopfer von der Verschmutzung befreit.

Nur wenn man von einem Gesellschaftsmodell ausgeht, das auf der Gruppenphantasie von der sterbenden Sonne und dem periodischen Opfer einiger Weniger basiert, die geopfert werden, um die Gefühle der Vielen zu reinigen, können die Politiken, die Reagans Amerika ausmachen, verstanden werden.

In diesem Modell spielt Reagan die Rolle des obersten Opferpriesters — und die des Sonnengottes, des blutdürstigen Tempelidols des "Menschen-Essers" komplett mit Opferfeuer und den Knochenresten der Opfer, Paul Volcker, Chef der Bundesbank (Chairman of the Federal Reserve Bank). 

Die "Wirtschaftskrise", die mit Reaganomics geheilt werden sollte, wurde, wie die der Azteken, von uns als Zustand einer Gefühlsverschmutzung aufgefaßt, sowie als ein Blutmangel (Investitionskapital) und als Zeitspanne, in der alles "außer Kontrolle" geraten war. Man glaubte, nur eine "Zeit des Opfers" würde den Appetit der Götter (unsere eigenen Gefühle) zähmen können und unsere Wiedergeburt ermöglichen, gereinigt von der Schuld des Überflusses der letzten Jahre.

 

     

Reagan dargestellt als Oberpriester
des Volcker-Gottes, 
der nach Menschenopfern verlangt.

 

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Die Hauptaufgabe der Reaganomics war lediglich, Amerika diese "Zeit des Opfers" zu verschaffen. Dazu war eine Verlangsamung unserer Wirtschaft notwendig, ein Versickern unseres Lebensblutes, ein Aderlaß (Verringerung der Geldmenge); man mußte die Menschen erschrecken (durch Hochzinspolitik und große Haushaltsdefizite), drohende Gefahren maßlos übertreiben (die der Inflation, der Schulden, der Stärke äußerer Feinde) und es war nötig, die Sozialausgaben zu kürzen und die geplante Arbeitslosigkeit das ihre tun zu lassen, nämlich die Symbole unserer Wünsche (Frauen, Kinder, die Armen, Arbeitslose) zum Opfer freizugeben. 

Sollte unserer Opferzeit Erfolg beschieden sein, könnte der schulderzeugende Überschuß der vergangenen Jahre ausgetrocknet — werden (das verschmutzte Blut gereinigt), die aufwühlenden gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre könnten rückgängig gemacht werden (unsere sündigen Ausschweifungen gesühnt) und wir könnten eine Wiedergeburt unserer ökonomischen Sonne zulassen, Geldmenge und Kredite wieder von der Leine lassen im Vollgefühl der Freude, das Gespenst der übermäßigen Vergnügungen abgewendet und den gesamten politischen Körper von seinen Unreinheiten gesäubert zu haben. 

Die Reinigungsfunktion der Reaganomics war in der Tat so hervorstechend, daß sie sogar der Aufbau einer neuen riesigen Kriegskapazität in sich einschloß: Durch sie war sicherzustellen, daß wir, wie die Azteken, ein äußeres Opfer würden anschließen können, — einen militärischen Zusammenstoß, der uns zusätzliche Opfer liefern würde — für den Fall, daß die Opferung der Rezessionsgeschädigten im Innern nicht ausreichen würde, unser allgemeines Wohlgefühl zu erhöhen.

Man soll nicht denken, Sätze wie die von den "Opfern der Reaganomics" seien bloß metaphorisch zu nehmen. Ein wirksames Opfer verlangt einen wirklichen Menschenschlucker und echte Tote. 

 

    

Die Bundesbank braucht das Blut aller Amerikaner.

 

Blutmangel. 
"Doktor! Das Blut reicht nur noch für einen Patienten ... wen sollen wir retten?" 

In den Betten: 
Hochzinspolitik der Bundesbank (links)
US-Wirtschaft (rechts)

 

 

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Es ist nicht einmal sehr schwer, die ungefähre Zahl der Tode anzugeben, die auf das Konto von Reagans Opferungszeit gehen. Der durchschnittliche Anstieg der Sterblichkeitsrate in Rezessionen wird sorgfältig statistisch aufgezeichnet und analysiert vom Gemeinsamen Wirtschaftsausschuss des Kongresses (Congressional Joint Economic Committee), insbesondere für Selbstmord, Mord, Herztode und andere, die mit der ökonomischen Lage in Verbindung gebracht werden können. Ausgedehnt bis zum jetzigen Zeitpunkt können demnach annähernd 150.000 zusätzliche Tode den Effekten der Reaganomics zugeschrieben werden.18) 

Dazu kommen die Todesfälle, die man mit Reagans Haushaltskürzungen in Beziehungen setzen darf — die vor allem auf die Millionen von Frauen und Kindern zielten, die auf die Unterstützung durch die Regierungsprogramme angewiesen sind —, sowie die Tode, die durch Kürzung von Kinderernährungsprogrammen verursacht wurden, durch Kürzung der Hilfe für Familien mit mehreren Kindern in Schule oder Ausbildung, der Lebensmittelhilfe für schwangere Frauen mit niedrigem Einkommen, der staatlichen Schulspeiseprogramme, der Unterstützung für behinderte Kinder und Erwachsene usw. Die abrupte Kürzung solcher Hilfsprogramme läßt den Todeszoll für Reaganomics die Zahl von 150.000 weit übersteigen.19) 

Schließlich umfaßt diese Zahl noch nicht einmal die weniger augenfälligen Opfer von Kürzungen wie der beim Umweltschutz, bei der Unterstützung von Wohlfahrtsorganisationen wie der UNICEF, den Wegfall der Krankenversicherung bei Millionen von Arbeitslosen, Tode in den unterentwickelten Ländern als Folge der Reagan-Rezession und eine Reihe ähnlicher todbringender Aktivitäten.

 

    

Die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums.

 

Für die Dauer des Opfers 
mußte "Reaganomics" 
die wirtschaftliche Sonne 
hinter den Horizont tauchen.

 

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Unbestritten wußte der Kongress, der das Reagan-Programm so bereitwillig während der ersten Monate seiner Präsidentschaft verabschiedete, sehr genau, daß die mindestens 150.000 toten Männer, Frauen und Kinder auf dem Altar der Wirtschaft zum Opfer gebracht wurden. Wie der Republikaner Phil Gramm, Mitträger von Reagans Haushaltsgesetz, es zum Zeitpunkt der Verabschiedung formulierte: "Wir schießen mit scharfer Munition."20) 

Auch wir wußten auf irgendeine Weise über die tödlichen Folgen der Reaganomics Bescheid. Wir haben gelacht, wie der Komiker David Frye als Reagan sagte, er hätte "herausgefunden, wie man die Überbevölkerung abbaut, und das ohne Abtreibung: wir erhöhen einfach die Selbstmordrate" —; denn in unseren Herzen wußten wir, wir hatten die Priester selbst angeheuert, die uns durch die Zeit der Opferung führen sollten. 

Wenn 1981 nach Meinungsumfragen 70 % der Amerikaner Reagans Wirtschaftsprogramm für "fair und ausgewogen" hielten, dann brachten wir damit unsere Zustimmung zum Opfer der 150.000 zum Ausdruck. Obwohl das schwer zu glauben sein mag: Selbst viele Opfer der Reaganomics stimmten der Opferung zu. Eine Umfrage der Washington Post 1983 unter Reaganomics-Geschädigten faßte die Gefühle von Arbeitslosen, die krank waren und nicht behandelt werden konnten, weil sie keine Krankenversicherung mehr hatten, deren Leben durch die Reagan-Rezession zerstört worden war, derart zusammen:

 

    

Auf dem Opfermesser steht: Geplante neue Haushaltskürzungen.

Frauen und Kinder erschienen als brauchbare Opferlämmer.

 

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Wir geben dir (Reagan) keine Schuld an der Rezession. Wir waren zu fett geworden, zu bequem, zu faul zum Konkurrieren. Unsere Standards sind nicht mehr so hoch, wie sie es immer waren und man ist viel zu schnell bei der Hand, jemandem die Schuld zuzuschieben... Aber wir glauben noch an die alten puritanischen Werte, von denen Sie sprechen. Vielleicht mußten wir leiden, um uns zu reinigen von unserem ausschweifenden Leben.21)

 

    

TIME:
 Kein freies Essen mehr. 
Die hohen  Kosten der Sozialprogramme.

 

Das Ende der Schulspeisung für  3 Millionen Kinder.

 

Alle modernen Nationen gehen durch eine ähnliche Zeit des Opfers, alle acht Jahre etwa, in einem ebenso unerbittlichen Drama wie es die periodischen Opferriten der Azteken waren. Die Phasen des ökonomischen Zyklus selber sind den Ökonomen natürlich bestens bekannt. Nur mit der Angabe von Gründen tun sie sich schwer. In jedem Zyklus gibt es drei Hauptphasen, die von der verschiedenen Einstellung der Menschen zur Arbeit und zur Freizeit, zum Vergnügen abhängen. Diese sind die Zeit der Arbeit, die Zeit der Fehler und die Zeit des Opfers. 

Die Zeit der Arbeit beginnt, wenn die Reinigung von Schuld in einer vorangegangenen Rezessionsphase vollvollzogen worden ist: Die Menschen leben jetzt eine Zeitlang in dem Gefühl, erneuern, investieren, arbeiten, Geld ausgeben zu dürfen. Sie dürfen sich sogar an den Früchten ihres Tuns erfreuen. Die Erneuerung wird von einer Minderheit innerhalb der Nation angeführt, einer neuen, zuversichtlicheren "Psychoklasse"* — Menschen, die mit etwas mehr Liebe aufgewachsen sind als der Rest der Nation, die daher etwas weniger Angst vor ihren Impulsen haben.

 

* Zu welcher Psychoklasse jemand gehört, ist abhängig von der Art der Behandlung, die er/sie als Kleinkind erfährt; der Begriff ist eingeführt und erläutert in de Mause's Buch "Foundations of Psychohistory", New York 1982, das deutsch als "Grundlagen der Psychohistorie" bei suhrkamp seit längerem angekündigt ist. (d.Ü.)

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Diese neue Psychoklasse kann die nationale Produktion durch neue Produkte und Produktionsprozesse erweitern, von denen die älteren, unterdrückteren Psychoklassen nicht einmal träumen konnten. Die Zeit der Arbeit, etwa die New Era Prosperity der 20er Jahre oder die New Frontier und Great Society der 60er, nutzt die Fähigkeiten der Nation weitgehend aus, steigert die Produktion, ohne eine Inflation zu schaffen und läßt auch ärmere Gesellschaftsschichten stärker am Wohlstand teilhaben.

Innerhalb weniger Jahre steuert die wachsende Schuld einer Mehrheit der Nation (vor allem der älteren Psychoklassen) über die umfassende Prosperität auf eine Zeit der Fehler zu, in der nichts mehr zu klappen scheint. Diese Phase leitet einen zweistufigen manisch-depressiven Zyklus ein; genau wie ein manisch-depressives Individuum versuchen Nationen zuerst, Schuldgefühle über zu großen Erfolg durch "manische" Aktivitäten abzuwehren. Dazu gehören, in der Maske von Fehlern, übertriebene Ausgaben, unkluge Investitionen, inflationäre Lohnforderungen und Preispolitiken, Überhöhung der Geldmenge und der Kreditvolumen, Erzeugung übervoller Lagerhallen, Immobilienwahn, absehbar verrückte Auslandskredite und ein ganzes Bündel weiterer Möglichkeiten, den mit Schuld behafteten Überfluß loszuwerden. 

Und immer von Neuem staunen Wirtschaftshistoriker beim Studium dieser Phase des Wirtschaftszyklus, wie es zugehen kann, daß so viele Teile der Wirtschaft mit einem Mal so viele Fehler produzieren. In Ländern, in denen die meisten Menschen äußerst streng erzogen wurden, kann das manische Drucken von Geld zu einer derart heftigen Überinflation führen, daß alles Geld darin wertlos wird. Die Wirtschaft kommt knirschend zum Stillstand und beseitigt die Schuld. Die Regierung kann nun ihre "Fehler korrigieren", indem sie die Überstundenproduktion in den Tausenden von Gelddruckerpressen einstellen läßt.23)

Die dritte Phase des Wirtschaftszyklus, die Zeit des Opfers, wird gewöhnlich als die Umkehrung der manischen oder inflationären Phase dargestellt, ist aber tatsächlich vielmehr eine Fortsetzung des Schuldverminderungsprozesses, nur daß jetzt alle wirtschaftlichen Aktivitäten die "Talsohle" erreichen, statt wie wild angekurbelt zu werden. Die Gruppenphantasie dieser Phase lautet, die Dinge wären "außer Kontrolle geraten".

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Die Nation wird als riesenhafter Körper phantasiert, mit einem Ober- und einem Unterteil: Das Oberteil muß gefüttert, das Unterteil muß bestraft werden. Die Rolle des Oberteils des Körpers wird von den Reichen übernommen; verbunden damit ist die bekannte "Sickertheorie" (trickle-down theory), nach der, wenn man die Reichen füttert, irgendwie auch etwas bei den Armen ankommen wird. Dieselbe Phantasie wird vom afrikanischen Volk der Anyi ausgedrückt, wenn sie in schwierigen Zeiten ihrem König und seinem Gefolge Geschenke überbrachten: Sie sagten dann: "Wenn die Brüste des Königs mit Milch gefüllt sind, ist es sein Volk, das trinkt."24 * Jede derartige Ankurbelungsökonomie ("supply-side economics) basiert auf dieser magischen Vorstellung, ob vertreten durch David Stockman in den 80er oder Andrew Mellon in den 20er Jahren. Wir wollten, daß "die Schweine gemästet würden", wie Stockman es formulierte25, um die Reichen noch fetter zu machen, verfangen in dem Wahn, wir alle seien Kinder, die zum Leben der Mutterbrust bedürfen.

Daß die Ankurbelungsthese (man müsse die Reichen füttern) — angeblich ein Weg zur Erhöhung der Investitionen — aber ganz und gar irrational war, ergaben sowohl Untersuchungen der Bundesbank wie der Zeitschrift BUSINESS WEEK und anderer Institutionen,26) die übereinstimmend zeigten, daß die Investitionsrate zum Zeitpunkt der "Ankurbelung" die höchste in Amerika seit Jahrzehnten war, daß eine "Rekordgeldmenge von 80 Milliarden Dollar für Investitionen bereit stand", wann immer danach verlangt wurde, und daß eine weitere Verschiebung des Geldes zu dem reicheren Teil der Nation auf Kosten der Übrigen nur zu einem weiteren Austrocknen der Nachfrage führen würde und damit eher zu sinkenden als zu steigenden Investitionen. 

So überraschte es kaum jemanden, daß die Investitionen, als die Reagan-Planung wirksam wurde, sanken und eben nicht stiegen. Steuervergünstigungen für die Unternehmer und die Finanzkräftigen hatten nur das richtige Gefühl erzeugt, nicht aber zu beweisbar richtigen Maßnahmen geführt. Senator Howard Baker sprach das bei Verabschiedung des Programms offen aus: "Was wir hier machen, ist tatsächlich ein River-Boat-Poker... wir haben darauf gesetzt, daß die neue Wirtschaftspolitik greifen wird."27)

 

* So wie es natürlich den Arbeitslosen zugutekommt, wenn man in der Rezession den Unternehmern Investitionsbeihilfen und Steuererleichterungen verschafft. (d.U.)

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Die andere Aufgabe der "Zeit des Opfers", die der "Bestrafung der unteren Hälfte", ist mit einer ähnlich wahnhaften Gruppenphantasie verbunden, die der größte Teil der Nation teilt — daß wir uns versündigt haben im Genuß so großer Prosperität und daß ein Teil von uns für unsere Schlechtigkeit würde leiden müssen. Grad so, wie uns, als wir noch Kinder waren, das Hinterteil (bot-tom) versohlt werden mußte, würde jetzt die untere Hälfte des politischen Körpers (bottom half) versohlt werden müssen — die Armen, die Arbeitslosen, die Frauen und Kinder, die von der Wohlfahrt leben — bestraft für unser genußvolles Leben. Zunächst einmal mußte unser wirtschaftlicher Blutstrom abgewürgt werden, die Geldmenge verringert. Wir "entdeckten" den Monetarismus dafür, plötzlich, und kehrten das Wachstum unserer Geldmenge ins Gegenteil, um unseren Wirtschaftskörper auszubluten, genauso wie frühere Ärzte ihre Patienten zur Ader zu lassen pflegten, um das "verschmutzte" Blut aus dem Blutkreislauf zu entfernen — verschmutzt worden war es, davon waren sie überzeugt, durch "Überzufuhr von Nahrung und Sexualität".28 

Es war natürlich nicht einfach ein "Fehler" der Bundesbank, in den 70er Jahren zuviel Geld in Umlauf gebracht zu haben und jetzt den Geldhahn derart zuzudrehen, daß die Zinsen auf 20 % anstiegen und niemand mehr Autos oder Häuser kaufen konnte. Es war viel eher die Absicht der Bank, diese riesigen Sprünge in der Geldmenge zu erzeugen, nach Maßgabe der Erfordernisse des manisch-depressiven Zyklus. Hätte die Bundesbank nicht so agiert, wäre unsere "Zeit des Opfers" ausgefallen; ständiges Wachstum der Produktivität würde aber schon im Verlauf einiger Jahrzehnte zu einem solchen Überschuß führen, daß so gut wie jeder Amerikaner in einigermaßen wohlhabenden Verhältnissen leben könnte: das hieße, wir würden die Armen abschaffen, die wir so nötig brauchen, um sie für die Schuld, die wir auf uns laden, leiden zu lassen.

Erst wenn man diesen opferhaften "reinigenden" Charakter der Reaganomics in den Blick bekommt, verlieren ihre einzelnen Teile ihre Widersprüchlichkeit und fügen sich zu einem Ganzen. Es ist mehrfach nachgewiesen worden, daß die zwei Seiten der Reaganomics — Monetarismus und Steuervergünstigungen als Investitionshilfe — zusammengenommen keinen Sinn ergeben. 

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Der Ökonom James Tobin stellte klar:

Die Vorstellung, daß man Geld- und Preispolitik losgelöst der Zentralbank überlassen kann, während der Kongress und die Exekutive unabhängig davon sich um den Haushalt, die Steuern, die Beschäftigung und die Produktion kümmern, das ist die Art von Trugschluß, mit der man Anfänger der Wirtschaftswissenschaften in Zulassungstests aufs Glatteis führt; ein Trugschluß, der jetzt allerdings zur Regierungsdoktrin befördert wurde. Wenn man an beiden Ende eines Zuges je eine Maschine ankoppelte und den Lautsprecher verkünden ließe, der Zug würde gleichzeitig nach New York und nach Boston fahren, würden die meisten Menschen skeptisch werden. Reagan befestigt eine Volcker-Lok am einen Ende und eine Stockman-Kemp-Lokomotive am anderen und erzählt uns, der ökonomische Zug fährt uns jetzt zur Vollbeschäftigung und zur Senkung der Inflation gleichzeitig. 29) 

Es ist Tobin aber nicht aufgefallen, daß man planmäßig ein Zugunglück herbeiführen wird, wenn man zwei Maschinen am selben Zug in entgegengesetzter Richtung ziehen läßt, daß es also beabsichtigt war, Überschuß zu reduzieren, Produktionskapazitäten zu opfern und auch Opfer des Unglücks vorweisen zu können. Stockmans Steuersenkungen zur "Ankurbelung" waren die "Füttert-die-Reichen"-Phantasie, Volckers Monetarismus die des "Bestraft-die-Armen". Reagan wandte beide gleichzeitig an, um auf diese Weise die Opferung einer Minderheit zur Erleichterung des Gewissens der Mehrheit sicherzustellen. Blieb nur — wie Stockman gegenüber einem Reporter sagte — die Frage des Ausmaßes: "Wieviel Schmerz würde der Präsident willens sein, zuzufügen."30) 

Als Stockman seinen Computer mit den Haushaltszahlen fütterte und zur Antwort erhielt, daß Reagans Handlungen ein Defizit von über 100 Milliarden Dollar produzieren würden, und das sogar, wenn man die günstigsten Bedingungen unterstellte, nannte er diese Zahl einem Reporter des ATLANTIC MONTHLY gegenüber "furchterregend — <absolut schockierend>, im Vertrauen gesagt — er schien aber auf merkwürdige Weise freudig erregt von seiner schlechten Neuigkeit."31) Warum "freudig erregt"? Weil er wußte, wir hatten ihn dafür angeheuert, schlechte Nachrichten zu produzieren und eine Zeit des Opfers abzuhalten mit den dazugehörigen 150.000 Opfern.

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Ebenso war das riesige Anwachsen der Verteidigungsausgaben — 1,6 Billionen $ in 5 Jahren — eher eine Ergänzung von Reagans übrigem Programm und weniger ein Widerspruch: Auch hiermit wurde Überschuß vernichtet, der uns auf andere Weise womöglich geholfen hätte, das Leben zu verbessern. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges sind Militärausgaben dazu ausersehen, ein Hauptproblem der Ökonomie etlicher Länder zu lösen. 

Da die Behandlung der Kleinkinder, die ganze Art, mit Kindern umzugehen, sich seit dem 2. Weltkrieg im Schnitt verbessert hat, haben die Nationen des Westens ihre Großen Kriege und Großen Depressionen durch kleine Kriege und begrenzte Repressionen ersetzt. Als Folge davon ist das Bruttosozialprodukt in Amerika in jedem Jahrzehnt um mehr als 30 % gestiegen; ein nie dagewesener Wohlstand, der, hätte er unvermindert angehalten, die Armut schon sehr bald so gut wie abgeschafft haben könnte. 

Einer der Wege, dies zu verhindern, war, 2 Billionen Dollar seit dem Weltkrieg ins Militär zu schütten; der dabei verbrauchte Überschuß, wäre er für neue Technologien ausgegeben worden, hätte Amerika eine Produktivitätsrate beschert, die sogar die japanische weit hinter sich gelassen hätte (Japan verwirklichte sein "Wunder der Modernisierung" ganz simpel, indem es sehr wenig Geld für das Militär ausgab).32

 

     

David Stockman erhielt die Aufgabe 
des Chefhenkers, 
der die Opfer niedermetzeln würde: 

"Cut! Slash! Chop!"

 

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Diese Strategie der geringen Investitionen (disinvestment), die eine geringe Produktivitätsrate sichert, indem die Ressourcen ins Militär fließen, wird darüber hinaus in Amerika von einer Phantasie gestützt, die die meisten Amerikaner teilen: daß der Menschenfresser — die Schlange des Internationalen Kommunismus; Verkörperung unserer eigenen projizierten Gefühle in Wirklichkeit — wieder kräftig gewachsen sei und uns jeden Augenblick zu verschlingen drohe.

 

Das "Zähmen des Menschenfressers" mittels Budgetkürzungen und Erhöhung der Militärausgaben wurde als Reagans Aufgabe gesehen.

 

 

Zur Zeit der Wahl Reagans, nach der Prosperität der 70er, fanden volle 71 % der Amerikaner, wir müßten unsere Militärausgaben erhöhen.33 Daß das einen enormen Anstieg der Ausgaben für nutzloses und höchst gefährliches Militärgerät einschließt — nahezu eine Milliarde Dollar pro Tag, jeder Dollar davon unseren gegenwärtigen und zukünftigen Freuden abgezogen — ist nicht etwa ein Hindernis dabei. Eben das ist die unbewußte Absicht. Eine Milliarde Dollar zusätzlich pro Tag zum Verjubeln, das hielte unser puritanisches Gewissen im Kopf nicht aus.

Es kann gar nicht oft genug betont werden, daß es der Hauptfeind "Vergnügen" war (pleasure), den zu besiegen die Reaganomics angetreten waren. Es ist kein Zufall, daß die Bibel der Reaganomics, George Gilders Reichtum und Armut, von einem Mann verfaßt wurde, der berühmt geworden ist durch anti-feministische Bücher, als Feind der sexuellen Revolution, in denen er Sachen sagt wie: die Männer seien "gehörnt worden durch einen duldsamen Staat", der in einem Maße die sexuelle und berufliche Unabhängigkeit der Frauen ermutigt habe, daß ein Mann sich "nicht mal mehr im eigenen Hause als Mann fühlen" könne.34)

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Die enorme Angst der Männer der älteren Psychoklasse vor der sexuellen Freiheit der Frauen ist nicht zu unterschätzen. Anfang des Jahrhunderts hatten Amerikanerinnen kaum je einen Orgasmus und wollten Sex durchschnittlich ein- bis zweimal im Monat.35) Heute findet die Liebe nicht nur viel häufiger statt, Frauen können auch öffentlich zeigen, daß sie Freude daran haben, wie jene jungen Mädchen, auf deren T-shirts steht "Mein Gott, tut das gut" (God, it feels good) — eine Haltung dem Genuß gegenüber, die bei der älteren Psychoklasse einfach Angst auslösen muß.

 

    

Die "Reagan Revolution" 
dargestellt als Widerpart des Vergnügens.
36)

Die Reagan Revolution. 

Steuersenkungen: 
Wie du am besten wegkommst. 

Haushaltskürzungen: Wer am härtesten getroffen wird. 

Extra Teil: Unsere endlose Suche nach dem Glück.

 

 

Der puritanische Gegenangriff der Reaganmannschaft gegen die sexuelle Revolution geht Hand in Hand mit dem ökonomischen Opfer-Programm des "Füttert die Reichen" und "Bestraft die Armen". Als Gilder in einem Interview gefragt wurde, ob es nicht stimme, daß "die Ankurbelung durch Reaganomics jetzt nur die Reichen belohne" während die Arbeiterklasse, die Menschen mit geringem Einkommen, die Sozialhilfeempfänger bestraft würden", war die Antwort, mit einem Lächeln: "Das ist das Leben, Leute." (That's life, folks.)37) 

Und als sein Ankurbelungsmitstreiter Jude Wanniski sein Reaganomics Team "die wilden Kerle" nannte, die gegen die "Mächte der Finsternis" kämpften,38) waren es die dunklen Mächte der sexuellen Freude ebenso wie die des Vergnügens am Geld ausgeben, die hier bekämpft wurden. 

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Eine überwältigende Dankbarkeit ergriff die meisten Amerikaner gegenüber dem Mann, der angetreten war, die dunklen Mächte unseres Vergnügens unter Kontrolle zu bringen. 

So etwas wie den 8-Millionen-Dollar-Ball zum Amtsantritt hatte Washington noch nicht gesehen — begleitet von "Satellitenbällen" im ganzen Land, an denen 40.000 Leute teilnahmen. Das NEW YORK TIMES MAGAZINE bedachte Reagan auf seiner Titelseite mit folgender Instruktion für seine königliche Aufgabe. 

Schlagzeile: Memo: An den Präsidenten. "Was dieses Land jetzt will und braucht ist kein Aufsichtsratvorsitzender, ist nicht ein passiver Präsident, sondern ein starker, sogar — ja sogar — ein solcher, der in die Nähe der alten, wenn auch beschmutzten Institution <Imperiale Präsidentschaft> gehört."39) 

Jene, die sich fragten, ob das Zurschaustellen der 10.000-$-Kleider und der 1.000-$-Teller des neuen Tafelservice nicht vielleicht unangebracht seien, um die Haushalts­kürzungen für die Armen einzuleiten, verstanden nicht die beiden Seiten des Prinzips "Oben füttern — Unten strafen". Reaganomics brauchte beides: die goldenen Teller des Präsidenten und die Kürzungen der Sozialhilfe, um ihre tragende Phantasie zu inszenieren.

Die Huldigungen des Landes für Reagans Person waren schlicht grenzenlos während seines ersten Jahres. TIME machte ihn zum "Mann des Jahres". Die NEW YORK TIMES fand ihn einfach strahlend: "Mr. Reagan ist der erste Präsident seit Jahren, der sich in der Öffentlichkeit wohlfühlt. Und er strahlt Charme aus, Anstand — und Sachverstand."40) THE NEW REPUBLIC fand ihn ebenfalls glänzend von Kopf bis Fuß: "Reagan ist direkt, einfach und ernsthaft — Offenheit strahlt aus seiner ganzen Person."41) 

Fernsehreporter sahen ihn als Messias, fähig, unsere unglückliche Vergangenheit umzukehren, so wie Jimmy Carter es zwar versprochen, aber nicht gehalten hatte: "Nach 20 Jahren des Pessimismus, Mordanschlägen, nach Vietnam und Watergate, wurde endlich die Last von uns genommen. Es war die Wiedergeburt Amerikas, ein neues Amerika, Amerika durch und durch!"42)

Umspült von den Huldigungen der Nation konnte das Reagan Team mit der Opferung der 150.000 umgehend beginnen. David Stockman bekam nun heraus, "wieviel Schmerz der Präsident willens sein würde, zuzufügen", einfach indem er die zur Streichung oder drastischen Kürzung in Frage kommenden Programme auflistete und mit einem Kästchen versah, in das Reagan sein Kreuz machen konnte — nicht unähnlich dem römischen Verfahren bei Christenopferungen im Colosseum.

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Mit jedem gemachten Kreuz würden die Opfer eine Stufe auf der Opferleiter hinaufsteigen. Ein Beobachter der Kabinettsitzung erzählt, mit welcher Leichtigkeit die Opferung vollzogen wurde: 

"Reagan warf einen Blick auf das Papier mit den Vorschlägen, schaute am Kabinettstisch in die Runde und sagte: <Also, gibt es irgendwelche Einwände hierzu? Nein?.... OK, erledigt. Weiter bitte mit der nächsten Seite.>" 43)

Jeder Federstrich versetzte — wie die Axt des Scharfrichters — den Verkörperungen unserer Ausschweifungen einen Hieb: 

Es war so einfach wie die Kürzung der 79 Cent staatlicher Unterstützung für die Schulspeise damals in Sacramento. Tatsächlich war es für Reagan persönlich jetzt sogar noch wichtiger, staatliche Programme für Kinder zu beschneiden. Bei seiner Wahl zum Gouverneur war er gerade Millionär geworden, und er hatte die Bedürfnisse einiger tausend Kinder stellvertretend für seine "gierigen" Wünsche geopfert. Als er Präsident wurde, hatte er seinen Vorgänger (eine Vaterfigur) abgesetzt, war zum mächtigsten Mann der Welt geworden und aß nun von 1.000 Dollar Tellern. Millionen von Kindern würden diese Hybris zu büßen haben.

Trotz der vermeintlichen Unabhängigkeit der Bundesbank war es für Reagan ähnlich leicht, das Anwachsen der nationalen Geldmenge zu stoppen. "Es bedurfte nur eines einzigen Besuches Ende April 1981, als Reagan Volcker schließlich ins Weiße Haus bestellte und ihn unmißverständlich fragte, ob er nicht beabsichtige, das Geld in Amerika unter Kontrolle zu bringen ... die Bank fror den Geldzuwachs für 6 Monate bis Oktober 1981 ein und beschleunigte so die Rezession." — Damit nicht genug fügte der Reporter hinzu: "Der Präsident hätte Volcker schon vor dem April 1981 die Ohren langziehen sollen."44)

 

    

Reagan wurde gesehen
als Chef der 
Regierungsguillotine.

 

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Daß Reagan seine Opfererrolle so mühelos spielen konnte, während er weiterhin als "charmant" und "nett" galt, ist eher ein Beleg für unseren Wunsch, ihm die unangenehme Opfererrolle zu übertragen als für irgendeinen tatsächlichen Charme, der von ihm ausginge — der übrigens bei Widerspruch arg stachelig zu werden pflegt. Während der Verabschiedung des Haushalts sagte Parlamentssprecher O'Neill über Reagan: "Er schneidet dem Amerikanischen Traum, ein Haus zu besitzen und einen guten Job zu haben, das Herz heraus und hört nicht auf, beliebt zu sein."45)

Etwas genauer hätte er sagen können: "Weil er das Herz herausschneidet, ist er beliebt." Mit unserer euphorischen Idealisierung seiner Opfererrolle im Rücken war es für Reagan ein Leichtes, sein Programm durchzuführen. Trotz der treffenden Feststellung der WASHINGTON POST, Reaganomics seien "niemals besonders ernst genommen worden in Wirtschaftskreisen"46, nahm die Öffentlichkeit sie tatsächlich sehr ernst.46)

Sobald der Kongreß Reagans Programm verabschiedet hatte, fielen die Kurse am Aktienmarkt. Unbeeindruckt von Reagans magischer Inszenierung der Wiederbelebung Amerikas, die das Resultat der Reinigung des politischen Körpers im Opfer sein sollte, wußte Wall Street doch sehr genau, wie hart die Zeit des Opfers wirklich sein würde. Trotz der 143 Milliarden Steuernachlaß für wacklige Unternehmen47 und trotz einer drastischen Senkung der Körperschaftssteuer, sah man dort richtig, daß die Profite scharf abfallen würden in der Zeit, in der Reagan die Wirtschaft auf eine Nutzrate von weniger als 70 % drücken würde, um einen Teil des Überschusses der vergangenen Jahre zu vernichten.

Die Geschäftsleute würden zwar nicht ihr Leben verlieren wie die 150.000 Menschenopfer der Reagonomics, aber wohl ihren Beitrag leisten zur Zeit des Opfers, indem sie eine Zeitlang geringere Profite machten.

 

Eins nach dem anderen bestiegen die Opfer der Reaganomics die Opferleiter.

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Beide Parteien verlangten von Reagan, Köpfe rollen zu lassen.

 

Auch die Demokratische Partei widersetzte sich dem Opferschlachtfest nicht. Die wenigen, die bemerkten, daß das Werk von Jahrzehnten zunichte gemacht werden sollte, blieben ohnmächtig innerhalb der Partei.

"Es bricht einem das Herz", sagte einer. "Wir haben Jahre gebraucht, diese Programme zum Laufen zu bringen und sie haben funktioniert. Und jetzt wird alles kaputt gemacht."48 - "Die Leute müssen zusehen, wie Programme, für die sie sich voll eingesetzt haben, an denen ihr Herz hing, gekürzt oder abgeschafft werden", ein anderer. "Sie laufen herum wie vor den Kopf geschlagen."49) 

Aber Demokraten wirkten entscheidend mit an der Verabschiedung aller Teile des Reaganprogramms. "Ohne sie hätten wir die Sache nicht siegreich hinter uns gebracht", räumte ein Republikaner ein.50) Dementsprechend figurierten sie als "Mehlmotten" oder "Saatfresserkäfer" in der Presse; Symbole der verschlingenden beißenden Mäuler des Menschen-Essers, dem ihre Opfer gewidmet waren. 

Wie es in einem Leitartikel der NEW YORK TIMES von den Opfern hieß: "nicht so sehr von einem Republikanischen Man Eater wurden sie dieses Mal geopfert als vielmehr von demokratischen boll weevils (Insekten/Käfer, die das Saatgut auffressen)."51) 

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Wie die Welt der Kwakiutl schien Reagans Amerika angefüllt von beißenden Mäulern, "Republikanischen Menschenverschlingern", "Mehlmotten", "Saatfresserkäfern" und mit den Millionen hungriger Mäuler in den Pac-Man Video Games, die zur gleichen Zeit die Nation überschwemmten.

Das zweite Symbol, das in jenen Monaten regelmäßig gebraucht wurde, kam direkt aus Reagans Autobiographie "Where's the Rest of Me?"" Da Reagans Hauptangst die vor Kastration ist, Angst vor dem Verlust seiner Beine, konnte er mit jedem Hieb der Budget-Axt beweisen, daß er in der Lage war, an anderen vollziehen zu lassen, was er von seinem Vater für sich selbst befürchtet hatte. 

Alle Leute seiner Umgebung folgten ihm im Gebrauch der Kastrationsbildlichkeit während des Verlaufs der Haushaltsbeschneidungen. Der Republikaner O'Neill gab der Hoffnung Ausdruck, die Kürzungen für die Bedürftigen würden so gemäßigt ausfallen, "daß sie nicht an der Hüfte amputiert würden, sondern nur vom Knie abwärts."52) Reagan selber gebrauchte regelmäßig den Satz: "Stimmen Sie gegen mich, und sie amputieren mich an den Knien."53) 

 

  

Reagan stellt 
seinen mächtigen
Phallus zur Schau
nach der Unterzeichnung
des Opfer-Gesetzes.

 

 

Als Reagan dann das Budget auf seiner kalifornischen Ranch unterzeichnete, bat ihn ein Reporter, sein Bein in die Luft zu heben, offenbar, seine neuen Stiefel sehen zu lassen. Das Photo davon, Reagan lachend, das Bein hoch in der Luft, erschien in fast allen amerikanischen Tageszeitungen und Wochenblättern. Er hatte tatsächlich einen mächtigen Phallus. Und er zeigte ihn uns. Die Opfer des Gesetzes, das er gerade unterzeichnet hatte, das waren die Kastrierten, nicht er selber. 

Das Szenario von "Where's the Rest of Me?" war bei dieser Unterzeichnungszeremonie jedem gegenwärtig. Als die Audienz vorbei war und Reagan sein Bein gezeigt hatte, konnte sich auf die Frage, was Reagan als nächstes zu tun gedenke, dieser Dialog abspielen:

Der Kastrierte war zum Kastrator geworden. Das Kind, einst der Wut seines Vater geopfert, war zum Opferer geworden. Diesmal hatte Amerika den Führer gewählt, den es brauchte. Nachdem man sich so lange "außer Kontrolle" gefühlt hatte, war es ein gutes Gefühl, wieder unter Kontrolle zu sein.

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