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5  Das Opfer wird durchgeführt 

 "Laser-Augen"  - deMause 1984

 

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Das Opfer wirklich durchzuführen, würde keine leichte Aufgabe sein. Als Ronald Reagan in seiner ersten Ansprache an die Nation behauptete, daß "die amerikanische Wirtschaft in der übelsten Lage seit einem halben Jahrhundert" wäre, da war das Bruttosozialprodukt, die Gesamtproduktion der Wirtschaft, die Zahl der Arbeitsplätze und die persönlichen Realeinkommen so hoch wie nie zuvor bei irgendeiner Nation in der Geschichte. 

Nur in einem einzigen Sinn konnte Amerika als "in der übelsten Lage seit einem halben Jahrhundert" betrachtet werden: wegen unserer überwältigenden Schuldgefühle angesichts solchen Wohlstands, für den es keine Parallele gibt. Mit der außergewöhnlichen Vitalität der amerikanischen Wirtschaft konfrontiert, war es Reagans Hauptproblem, Wege zu finden, die wachsende Prosperität für einige Jahre zu stoppen, und währenddessen Symbole unserer gierigen Wünsche zu opfern, um uns von unserer Schuld zu reinigen, — wirklich keine leichte Aufgabe.

Was Reagan am meisten dabei helfen würde, das Wirtschaftswachstum zu verlangsamen, wäre nicht die Macht der Regierung, so wichtig diese auch war. Mehr helfen würde die Hinwendung Amerikas, eines großen Teils des Landes, zu puritanischen Haltungen, die bei seinem Amtsantritt schon eingesetzt hatte. Das Wiedererwachen puritanischer Beschränktheiten gegenüber der Lust war zu Beginn der Achtziger Jahr überall festzustellen, nicht nur in der extremen Rechten der "Moral Majority"

"Neuanfang im Fernsehen: Sex ist Out. Alte Werte In" — stellte <U.S.News> zutreffend fest,1) und das stimmte auch fürs Kino, angefangen mit <Krieg der Sterne> und <Superman>, die auf dem traditionellen Heldenschema basieren. Das Ethos der Achtziger predigte Härte und sah Vergnügen als Schwäche; Haltungen, die von selber als Garantie gegen grenzenloses Geldausgeben wirken.

Um den Schwenk zum neuen Puritanismus zu stützen, mußten neue Mythen erfunden werden. So wurden "zu nachgiebige Einstellungen zur Sexualität" für eine angebliche "Epidemie an Teenager-Schwangerschaften" verantwortlich gemacht, womit die sexuellen Freiheiten der Jugendlichen überhaupt angegriffen werden sollten. Dabei gehen die Schwangerschaften junger Mädchen laut Statistik seit 1957 kontinuierlich zurück (von 96 auf 53 per 1.000 bis zum Jahr 1980), aber ebenso stetig wird das ignoriert.2)  

Selbst viele liberale Erzieher machten die Wende zum Puritanismus mit. Dr. Sol Gordon, um ein Beispiel zu nennen, Begründer der NATIONAL SEX EDUCATION WEEK, dessen Bücher entscheidend bei der Einführung eines Sexualkundeunterrichts in den Schulen mitgeholfen hatten, erklärte jetzt den "jüngsten Anstieg" von Teenager-Schwangerschaften zu einer "nationalen Sozialkatastrophe"

"Ich kann mir keinen guten Grund vorstellen, warum Teenager Sex haben sollten", erzählte er der Amerikanischen Gesellschaft für Sexualerzieher, Berater und Therapeuten, "Sex ist ein Glücksspiel mit der Gesundheit, für Jungen wie für Mädchen."3)

Der gleiche konservative Schwenk war in allen Lebens­bereichen Amerikas zu beobachten, jetzt, da die älteren Psychoklassen ihre negative Reaktion auf die Freiheiten und die wirtschaftliche Blüte der letzten zwei Jahrzehnte zum Ausdruck bringen konnten.

In dieser um sich greifenden puritanischen Stimmung und im Verlangen, daß etwas getan werden müsse, die amerikanische Prosperität zu reduzieren, waren die Menschen in Amerika Reagan in den erste Monaten seiner Amtszeit womöglich sogar voraus. Als er seinen Opfer-Haushalt im Sommer 1981 immer noch nicht verabschiedet hatte, stieg sein Negativindex bei Gallup (der Giftanzeiger) schneller als bei irgendeinem Präsidenten vor ihm. Er würde sich beeilen müssen, wenn er uns beweisen wollte, daß er tatsächlich der erfolgversprechende Führer des Opfers war.

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Reagan ging früher in die 
"Zerbröckelungsphase" über 
als Carter.

 

Wir glaubten, 
Reagan wurde langsam schwächer.

 

Im Frühsommer war Reagans Bild in den Medien aus der "starken" in die zerbröckelnde Phase (cracking) vorgerückt, Monate früher als es bei Carter der Fall gewesen war und so mußte er auf einer Pressekonferenz am 16. Juni 1981 einräumen, daß "wir jetzt die ersten Risse sehen" — er sprach zwar von der Sowjetunion, in Wahrheit aber von seinem eigenen Bild. Er mußte schnell etwas tun, um den Leuten zu versichern, er sei in der Tat entschlossen und skrupellos genug, das innere Opfer durchzuführen ...und, wenn nötig, das äußere Opfer ebenso. 

Dieses "etwas" geschah in der Form zweier sorgfältig inszenierter Aktionen, genau dazu gemacht, die Nation von seiner Fähigkeit, Opferungen abzuhalten, zu überzeugen.

Diese Aktionen waren einmal die Zerschlagung der Gewerkschaft der Fluglotsen (Professional Air Traffic Controlers Organisation = PATCO) und zum zweiten der Abschuß zweier lybischer Kampfflugzeuge.

Der Hinauswurf der PATCO-Angestellten — ein neutraler Beobachter nannte ihn einen "Hinterhalt"4) — wurde vorbereitet durch einen Brief Reagans vom 20.10.1980 an Robert Poli, den Vorsitzenden der PATCO. Reagan versprach Poli, als Dank für dessen Wahlhilfe, die PATCO-Forderungen zu unterstützen und "alle notwendigen Schritte einzuleiten... um durch eine Verbesserung der Personallage und der Arbeitszeiten ein Höchstmaß an öffentlicher Sicherheit zu garantieren."  

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In den folgenden sechs Monaten bestärkten Reagans Unterhändler die PATCO in dem Glauben, sie stünden den Forderungen der Gewerkschaft freundlich gegenüber und daß ein Streik als Bestandteil der Verhandlungsführung aufgefaßt werden würde, nur um dann alle 12.000 PATCO-Mitglieder plötzlich von Reagan entlassen zu sehen, eben weil sie streikten. Damit war die PATCO bankrott. Einem Präsidentenberater zufolge wollte Reagan "einmal seine Zähne zeigen... er wollte hart sein (tough)." 

Die Aktion wurde von den meisten Amerikanern mit Beifall aufgenommen, von den Freudenrufen der Unternehmer, daß man es "den Unions endlich einmal gezeigt" habe, bis zu der öffentlichen Zustimmung (2:1 im Gallup Poll) und dem Leitartikel in der NEW YORK TIMES, der die Entlassungen als "empfehlens­werten Präzedenzfall" nahm. Ein Präzedenzfall sollte es tatsächlich werden, nicht für die Zerschlagung von Gewerkschaften, aber für die rücksichtslose Haltung den Arbeitern gegenüber in der kommenden Rezession.

Die mit Bedacht inszenierte Zerstörung der PATCO beeindruckte sogar den Kreml. Richard Pipes, Reagans Berater für sowjetische Angelegenheiten: "Photos von einem Gewerkschaftsführer zu sehen, der in Ketten abgeführt wird — das überraschte sie und gab ihnen Respekt vor Reagan. Das zeigte ihnen einen Mann, der, wenn er in Wut kam, bis zum Äußersten gehen würde."5)

Zehn Jahre früher, 1970, als die Postarbeiter gestreikt hatten, waren sie wieder eingestellt worden. Das jetzt waren die Achtziger. Dieses Mal, so stand es in der NEW YORK TIMES, "sah die Mannschaft des Weißen Hauses feixend und amüsiert zu, wie Mr. Reagan um 11 Uhr Montags sein Ultimatum verkündete und alle Einwände beiseite wischte, sein erster Schritt gegenüber der PATCO sei weniger hart gewesen." - "Welche mildere Maßnahme können Sie sich vorstellen?" sagte er und ließ sein Gesicht Erstaunen ausdrücken.6)

 

      

Ghaddafi, 
Reagans Opferschwert schwingend.

 

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Der Abschuß der lybischen Düsenjäger einige Wochen später war ebenfalls inszeniert. Lybiens Führer, Muammar al-Ghaddafi, spielte eine besondere psychologische Rolle für Reagan während dieser Phase seiner Amtszeit — die von Reagans "bösem Doppelgänger" (evil double). Wenn Karikaturisten oder sonst wer Teile des verdrängten, des "außer Kontrolle geratenen" sadistischen Bildes von Reagan darstellen wollten, benutzten sie häufig eine Ghaddafi-Figur, versehen mit einem Reagan-Symbol.7) 

So zeigten sie etwa Ghaddafi, das Opferbeil schwingend — das meist benutzte Symbol für Reagan während seines ersten Amtsjahres — mit sadistischem Glühen im Gesicht und viel Blut, wobei der wirkliche Ghaddafi keine besondere Verbindung zu Schwertern hatte. Wie immer bei abgespaltenen Gefühlen war unsere Haltung Ghaddafi gegenüber durch und durch irrational. Er war nicht einfach der Führer eines kleinen Landes. Er stand unseren Herzen sehr nahe — das leibhaftige Böse, "ein Krebsgeschwür, das entfernt werden muß", wenn man Außenminister Alexander Haig folgt.8 Das Ghaddafi/Teufel-Symbol hatte eine wichtige Rolle zu spielen, wann immer Amerika eine Figur des reinen Bösen für Gruppenphantasie-Zwecke brauchte, einen Platz, unseren Sadismus drauf abzuladen.

Deshalb wurde Ghaddafi als das geeignete Ziel von Reagans erster außenpolitischer Tötung (first foreign killing) ausgewählt. Der lybische Abschuß war ebenso sorgfältig geplant wie das Feuern der PATCO-Leute. Jimmy Carter hatte es 1980 vermieden, Manöver der 6. Flotte in den umstrittenen Gewässern des Golf von Sidra nahe der lybischen Küste abzuhalten. Reagan wußte, daß er lybische Flugzeuge provozieren mußte, ihre Patrouille nahe der Küste zu fliegen, wenn er zu einem Abschuß kommen wollte. 

Die Operation wurde inszeniert wie für einen Hollywoodfilm. Zunächst wurde die Übung vom Juli, wo sie vom Verteidigungsministerium ursprünglich geplant war, auf den August verlegt, um eine Kollision in den Medien mit Reagans Haushaltssiegen zu vermeiden. Dann gab Reagan persönlich die Anweisungen, die zum Abschuß der lybischen Flugzeuge führten, da die gängigen Kampfvorschriften der Navy es erlaubten, Konfrontationen solcher Art aus dem Weg zu gehen.9)

Techniker des Weißen Hauses installierten die notwendigen technischen Einrichtungen und Telefone in Los Angeles, wo der Präsident sich zum Zeitpunkt des Abschusses aufhalten würde, um den zu erwartenden Fernschreib- und Fernsprechverkehr bewältigen zu können. Eine Woche vor der Übung ermutigte das Weiße Haus NEWSWEEK zu einem Artikel, der den bevorstehenden "Test" Ghaddafis ankündigte, um dem lybischen Präsidenten ausreichend Signale hinsichtlich der bevorstehenden Herausforderung zu übermitteln. 

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Auf ihrem Flug zur lybischen Küste dann trafen die F-14 Tomcats auf zwei lybische Maschinen vom Typ SU-22. Beide Seiten erklärten, die andere hätte das Feuer eröffnet. Die überlegenen amerikanischen Tomcats zerstörten die lybischen Flugzeuge, wie es geplant war. Zumindest einer der lybischen Piloten kam dabei ums Leben. Erfolgreicher hätte die Sache nicht verlaufen können.

Reagan war sich der Inszenierung so sicher, daß er sich nicht einmal wecken ließ, als die Flugzeuge abgeschossen wurden. Das führte zu der unerwarteten Spekulation in den Medien, er hätte den Abschuß nicht "unter Kontrolle" gehabt — während er doch tatsächlich eher dem Regisseur eines gut geprobten Stückes glich, der bloß nicht zur Premiere gekommen war. Lachend gab Reagan dann später zu, daß er, als er zu Bett ging, schon wußte, daß der Kampf stattfinden würde: "Wenn unsere Flugzeuge abgeschossen worden wären, ja, dann hätte man mich sofort geweckt. Wenn die anderen Burschen abgeschossen wurden, warum sollte man mich dann wecken?"10 

Die Inszenierung des ganzen Zwischenfalls war so offen, daß Reagan, "als er am nächsten Morgen seine engsten Mitarbeiter sah, sich wie vor der Kamera aufführte, einen gunman darstellend, der die Sechsschüssigen aus beiden Hüften abfeuert", so berichtet ein Reporter." Einmal mehr war er John Wayne. Schließlich ließ er sich, auch das war geplant, mit der Mütze eines Oberbefehlshabers "Commander-in-Chief" an Bord des Flugzeugträgers Constellation photographieren, wie er Flugzeuge beim Start beobachtete, um in den Medien den Eindruck zu erwecken, er sei beim lybischen Abschuß physisch zugegen gewesen.

Jeder in Amerika verstand die Bedeutung des Abschusses. Ed Meese formulierte: "Wir werden keinen Krieg anfangen. Wir schießen sie einfach ab."12 Zum ersten Mal schmeckten wir Blut unter Reagan — nach irgendwelchen diplomatischen Gesichtspunkten völlig unnötig, aber von größter Bedeutung als Frage an das amerikanische Volk, ob es in Zukunft erlaubt sein würde, kleinere Nationen anzugreifen, damit wir uns wohlfühlten. Die Medien antworteten mit einem überschwenglichen "Ja". TIME fand, Lybier zu töten mache Spaß: "Ein Yankee Doodle Tag: Ein Sieg in der Luft, ein Spaß auf dem Meer..."13 Die DAILY NEWS prahlte

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mit Reagan in der Schlagzeile: Ron über den lybischen Zwischenfall: Wir haben den nötigen Mumm (We've got the muscle).I4 Die NEW YORK POST sah Reagans Kritiker als Opfer des Abschusses:

Luftkampf hat Reagans Kritiker weggefegt

Die engsten Berater von Präsident Reagan sind der Meinung, der Zwischenfall vor der lybischen Küste in der letzten Woche habe die Kritiker zum Schweigen bringen sollen, die der Regierung vorwerfen, sie habe es versäumt, ein außenpolitisches Konzept zu entwickeln. "Dieser Luftkampf hat für uns mehr gebracht als 20 Reden des Präsidenten", stellte ein hoher Regierungsbeamter fest.I5

Auf der Pressekonferenz über den Abschuß sagten Außenminister Weinberger und der Chef des amerikanischen Oberkommandos, General Gast, gezwungenermaßen die Unwahrheit über die Planung des Zwischenfalls, als sie behaupteten, es seien "keine besonderen Befehle" zum Abschuß gegeben worden — aber die Freude in ihren Gesichtern war derart offenkundig, daß ein Reporter sich zu der Frage veranlaßt sah: "Sie sagten, die Mission sei äußerst zufriedenstellend ausgeführt worden. Es klingt als wären Sie geradezu stolz über die Art..." Weinberger unterbrach in unwirsch: "Ich glaube nicht, daß irgendein Grund besteht, hier den Amateurpsychoanalytiker spielen zu müssen."

Wie der Hinauswurf der PATCO-Leute, war auch der Abschuß der lybischen Flugzeuge von entscheidender Bedeutung für die Ziele unserer Gruppen­phantasien. Das war ein Stück Rache der alten Psychoklasse für die in ihren Augen zu große Zurückhaltung der Amerikaner in Vietnam und im Iran und für die daraus resultierende Erniedrigung. Und sie waren ein Versprechen für die Zukunft, gegeben auf bedeutungsvolle Weise, nämlich durch eine Aktion, "besser als 20 Präsidentenreden". Die wichtigsten Medien übten keinerlei Kritik an dem Abschuß. Beide große Parteien applaudierten Reagan zu seiner "Entschlossenheit und starken Führung" und für sein schnelles Handeln, das doch sehr verschieden war von Carters zivilisierter Zurückhaltung. 

Hugh Sidey von TIME, ein Reagan-Anhänger, berichtete, wie "der Meinungsforscher Richard Wirthlin sich beeilte, mit seinen neuesten Umfra-

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geergebnissen zu Reagan nach Kalifornien zu kommen. 

Sie zeigten wachsende Unterstützung im ganzen Land — ein Gefühl davon, daß Reagans jüngste Maßnahmen, von seinem Sieg über die Fluglotsen bis hin zu dem Sieg im Luftkampf über Lybien, eindeutig als im Interesse der Nation empfunden worden waren."16 Charles Wiliam Maynes von der LOS ANGELES TIME, ein Gegner Reagans, fand es gut, kleinere Ziele anzugreifen: "Man braucht nicht mit der Gesamthaltung der Reagan Regierung in Schlüsselfragen übereinzustimmen, um ihr taktisches Vorgehen zu bewundern ... Sie handelt entschieden, wenn das Ziel klein, unpopulär und handhabbar ist. Sowohl die anhaltende Auseinandersetzung mit den Fluglotsen als auch die neue Krise mit Lybien, so unterschiedlich sie auch sonst sind, passen da ins Bild."17 

Mit sicherem Instinkt stellten die politischen Kommentatoren eine Verbindung her zwischen den PATCO-Entlassungen und dem Abschuß der lybi-schen Flugzeuge, als ob durch diese zwei symbolischen Aktionen im August 1981 etwas Wichtiges für Amerika entschieden worden wäre. Sie lagen richtig. Reagan hatte es in seinem Körper gespürt, als er die Gestalt John Waynes verkörpernd, aus den Hüften feuerte. Da in der Politik die wichtigsten Mitteilungen eher durch symbolische Handlungen ergehen als in Worten, stellten die beiden Ereignisse Fragen von Reagan an die Amerikaner dar, und unser Lob für beide Aktionen war unsere Antwort, unsere Ermächtigung für mehr desgleichen in der Zukunft. Die Vernichtung der PATCO gab die Ermächtigung für das Opfer im Inneren der Abschuß der lybischen Flugzeuge ermächtigte zum Opfer im Äußeren. Jetzt waren wir wirklich Reagans Amerika, durch unser Lob und unser Schweigen in einer Blutschuld für die kommende Opferung vereint.

 

  

U.S. NEWS & WORLD REPORT: 
Jetzt wird der Würgegriff erst richtig angesetzt. Darüber: Wo man heute sein Geld am besten investiert — und: "Im Kommen: Neue Medikamente, die Ihr Leben retten können."

Man sah Reagan als den Würger Amerikas.

 

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Ab September wurde nun mit dem Opfer im Inneren ernst gemacht. "So gut wie alle maßgeblichen Daten bestätigen, daß die wirtschaftlichen Aktivitäten im September einen Tiefpunkt erreicht haben", sagte ein Wall Street Börsenmakler, "und der Sturz ist erheblich tiefer als irgendjemand bisher angenommen hätte."18 Die hohen Zinsen, herbeigeführt durch die Verknappung der Geldmenge, hatten einen schweren Einbruch der Verkaufsraten auf dem Auto- und Wohnungsmarkt zur Folge; noch schwerer waren die Einbußen im Exportgeschäft.19 Da die Verbrauchernachfrage austrocknete und weniger Kapital investiert wurde, sank die Produktion, wuchsen die Lagerbestände und die Zahl der Arbeitslosen begann zu klettern bis zur offiziellen Rekordmarke von 10,8% — eine Zahl, die erheblich hinter der Wirklichkeit zurückbleibt, zählt man Schulabgänger ohne Abschluß, andere dropouts und die Teilzeitbeschäftigten hinzu.

Die Reaktion der Reagan-Verwaltung auf solche verheerenden Nachrichten bestand darin, den Schmerz zu vergrößern, wo immer nur möglich. "Die einzige korrektive Maßnahme, die für den Präsidenten in Betracht kam, war eine weitere Kürzung der öffentlichen Ausgaben ... Stockmans Behörde (OMB) hat eine Liste weiterer einschneidender Kürzungen (bloody new cuts) in Höhe von 32 Milliarden Dollar vorbereitet, die alles Mögliche umfaßt, von Lebensmittel­marken bis zu Vorschulprogrammen."20 

Das Bild der "bloody cuts" wurde in allen Medien wiederholt. In den Worten des Kolumnisten Joseph Kraft: "Überall ist der Fußboden bedeckt mit Blut und des Schreiens ist kein Ende"21, womit er ziemlich genau die Menschenopferungen beschrieb, die überall um ihn herum abgehalten wurden. Aber im selben Moment brachte Kraft, wie die meisten von uns, es fertig, das wirkliche Menschenopfer zu verleugnen. Sein Satz vom Blut auf dem Fußboden und den unaufhörlichen Schreien bezog sich im Kontext auf die Kämpfe über den Haushalt innerhalb der Regierung und keineswegs auf die Tötung lebender Amerikaner. Ebenso gelang es Reagan, das blutige Opfer sowohl wahrzunehmen wie im selben Moment zu verleugnen. 

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Amerikas Problem sei: "... wir haben einen schweren Blutverlust erlitten (we hemorraghed badly) und waten in einem Meer von roter Tinte", — so in der Ansprache an die Nation vom 24. Sept. 1981. Das Bild war ziemlich akkurat, sowohl was die Regierungsanleihen betraf (er mußte monatlich Darlehen von 14 Milliarden Dollar aufnehmen, um die Regierung funktionsfähig zu halten), wie auch auf die Zahl der Todesfälle bezogen, die durch Reaganomics verursacht waren (über 3.000 im Monat zu jenem Zeitpunkt.) 

 

    

Amerika sah passiv zu, wie Reagan die blutige Opferung durchführte.

 

 

Aber auch bei ihm funktionierte die Verschiebung perfekt: als er, vom Blutverlust sprach und von einem "Meer aus roter Tinte", hatte er sich auf frühere Regierungen bezogen, während es tatsächlich sein Programm war, das doppelt so viel Schulden und direkte Opfer erzeugte wie irgendeine andere Regierung vor Reagan.

Im Verlangen, daß die Nation noch mehr "Opfer" zu bringen habe in seinem "Kreuzzug", brachte Reagan immer wieder unser Bedürfnis nach menschlichen Opfern zum Ausdruck, gleichzeitig unsere Schuld an der Opferung wirkungsvoll verleugnend. Ein Mittel der Medien, diese Verleugnung zu unterstützen, war, das Bild des Opferers von dem des wirklichen Opfers abzuspalten. So konnte man Reagan mit der Axt auf der einen Seite einer Zeitschrift sehen — ohne Opfer — und auf der nächsten Seite dieselbe Axt, wie sie ein Opfer köpfte, aber Reagan selbst war nirgendwo in Sicht. Auf diese Weise konnten wir uns vor der Schuld retten, die wir empfunden hätten, wenn wir unseren Führer offen als Mörder unschuldiger Amerikaner abgebildet hätten, wir konnten aber auch die Wut verbergen, die wir gegenüber ihm als dem von uns angeheuerten Killer empfanden.

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Zwar hatten wir den Job des Obersten Henkers an Reagan delegiert, aber es war uns nicht wohl bei dem Gedanken, daß er unsere Nachbarn tötete. Da wir ja irgendwo genau wußten, was er da für uns tat, haßten wir ihn auch dafür und lieferten im Herbst 1981 bei mehreren Gelegenheiten Beweise für unsere erneuerten Todeswünsche ihm gegenüber.

 

  

Wir spalteten Reagans Bild ab von den wirklichen Tötungen.

 

Zum ersten Mal seit dem Mordanschlag auf Reagan erschienen wieder Zeichnungen von Menschen, die seinen Tod wünschten. "Wall Street" wurde dargestellt mit dem Wunsch, er möge "Springen". Die Demokraten wurden gezeigt, wie sie ihn in einem Sarg zum Friedhof trugen. Aber solche Todeswunschdarstellungen blieben selten und waren zu wenig verkleidet, um beruhigend zu wirken. Die Todeszeichnungen verschwanden wieder, dafür kursierte an der Börse das Gerücht, Reagan habe einen Herzinfarkt gehabt.22 Offenbar ließen sich unsere Todeswünsche irgendeine Art von Öffentlichkeit nicht verwehren. Um einen Container für sie zu haben, entwickelten wir eine neue Phantasie: wir stellten uns vor, der Teufel Ghaddafi wolle Reagan töten, nicht wir.

 

Todeswünsche für Reagan tauchten kurz wieder auf.

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Der CIA, unser wichtigster Delegierter für die Erfindung paranoider Drohungen, veröffentlichte eine Liste mit Namen und Photos einer "lybischen Kommandoeinheit", angeblich losgeschickt von Ghaddafi, Reagan zu ermorden. Daß es für einen solchen Plan keine Beweise gab, machte überhaupt nichts. Daß einige der "Informanten" schon früher mit falschen Angaben aufgefallen waren, daß einige der mit Namen aufgeführten Ghaddafi-Leute in Wirklichkeit Anti-Ghaddafi Amal Schiiten waren, daß die "detaillierten Beweise", die Reagan und der CIA versprachen, niemals geliefert wurden, und daß FBI-Direktor William Webster schließlich nicht umhin konnte, zuzugeben, daß es keine Bestätigung für solch eine "Kommandoeinheit" gab und "die Information ausgestreut worden sein könne, um die amerikanischen Behörden lächerlich zu machen"23 —, all das spielte für unsere Gruppenphantasie keine Rolle. 

Der Teufel Ghaddafi und seine "Kommandoeinheit" waren jetzt der Container für unsere Todeswünsche gegenüber Reagan und gegenüber seinen/unseren Opfern. Einmal mehr waren es unsere Komiker, die das Motiv hinter dem Zwischenfall preisgaben. Als ein Fernsehkomiker zu amerikanischen Spenden für eine "lybische Kommandoeinheit" aufrief, lachten die Zuschauer und klatschten wild Beifall.24 Unsere Wünsche, Reagan tot zu sehen, waren nicht weit von der Oberfläche entfernt.

Für Reagan selbst hatte die "lybische Kommandoeinheit" die wichtige psychologische Funktion, die Todeswünsche abspalten zu können, ihrer nicht gewahr werden zu müssen. Er konnte Ghaddafi "geistesgestört... einen verrückten Hund"25 nennen, er konnte amerikanischen Bürgern befehlen, Lybien zu verlassen, und eine Zeitlang darüber beruhigt sein, daß seine paranoiden Äng-

 

Ghaddafi wurde als Skorpion dargestellt, der unsere Wut enthielt und Amerika vergiftete.

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Ghaddafi, das alter ego von Reagan, wurde als gefährlichster Mann der Welt bezeichnet.

 

 

ste vor "dem gefährlichsten Mann der Welt", wie TIME Ghaddafi nannte, weit weg von unseren Küsten isoliert waren. In einer Welt, die mit zehntausenden von Atombomben angefüllt ist, in der eine halbe Billion Dollar pro Jahr für Waffen ausgegeben werden, den Führer eines so schwachen Landes wie Lybien "den gefährlichsten Mann der Welt" zu nennen, offenbart die wachsende Irrationalität unserer kollektiven Phantasien während dieser Zeit. Je weiter wir mit der Opferung im Inneren voranschritten, desto gefährlicher empfanden wir die übrige Welt. Obwohl Terroristen während dieser Zeitspanne nicht besonders aktiv waren26, fingen wir eine öffentliche Diskussion um das "wachsende internationale Terroristennetz" an, in der es um eine gut organisierte Armee ging, die sich von Rußland über Lybien nach Kuba und Mittelamerika erstrecke, jederzeit bereit, uns zu vergiften. Als Karikaturisten versuchten, dies "terroristische Netzwerk" darzustellen, kam eine sehr merkwürdig anzusehende Figur heraus, waffenbepackt, den Globus umspannend und aus irgendeinem Grunde verdächtig weiblich in die Runde schauend. Um diese feminine Bildlichkeit zu verstehen, muß man etwas genauer die kindliche Quelle paranoider Bilder im politischen Unbewußten betrachten.

Die ersten Jahre ihres Lebens haben die meisten Menschen bei ihren Müttern bzw. Großmüttern verbracht, da sich ja erst seit dem letzten Jahrzehnt eine Reihe von Vätern an der täglichen Fürsorge um die Kinder beteiligt.27 Wenn die kleinen Kinder das Gefühl haben, etwas Unerlaubtes zu tun, dann ist es der böse Blick der Mutter, den sie am meisten fürchten und der die kommende Strafe ankündigt. Deshalb erscheint ein Zeitabschnitt nationaler Bestrafung wie der in Reagans Amerika, als wir das Gefühl hatten, we-

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gen unserer Schlechtigkeit und unserer hemmungslosen Vergnügen Stafe zu verdienen, als wie von mißbilligenden Augen überwacht. Manchmal werden solche Augen dargestellt als die Augen ausländischer Feinde, meist aber erscheinen sie einfach als über uns schwebende, fremde, unidentifizierte starrende Augen.

Genau dies Bild verfolgender Augen, die uns anstarren, die Bestrafung für uns fordern, erscheint unweigerlich während jeder "Zeit des Opfers". Diese paranoiden Augen sind dieselben wie die starrenden Augen der Wölfe im berühmten Traum des "Wolfsmannes", des Patienten Freuds, bei dem danach eine massive paranoide Psychose ausbrach.28)

 

Das "weltweite Netzwerk des Terrorismus" hatte etwas merkwürdig Mütterliches an sich.

 

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Im November 1981 brachen in allen Medien starrende Augen aus.

Starrende Augen zu Krisenzeiten findet man in jedem Land und zu jeder Zeit, von dem allmächtigen "Auge des Horus" im alten Ägypten zu den vermeintlich "hypnotischen Augen" von A. Hitler, der Deutschland zu seinen "großen Opfern" führte.29 So auch während Reagan seine "Zeit des Opfers" abhielt. 

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In einer Spanne von zwei Wochen im November 1981 erschienen in beinahe jedem Magazin diese hypnotischen Augen imaginärer strafender Eltern, die über dem Strafopfer der Nation präsidierten, wie man zu glauben schien. Das Bild vom starrenden Mutterauge wurde von vielen Zeitungen auch benutzt bei Berichten über Sandra O'Conner, die als erste Frau zur Richterin im Obersten Bundesgerichtshof gewählt worden war. Ihre Art, schrieben Reporter, sei "so streng, ihr Blick so durchdringend, daß einige junge Anwälte sie 'Laser-Auge' nennen" würden.30 Und so wurde "Laser-Auge" zur Obersten Richterin in unserer Zeit des Opfers und wir konzentrierten unser Interesse während ihrer Amtseinführungsgespräche (confirmation hearings) ganz auf die Frage nach ihrer Einstellung zum "Töten von Babies", d.h. auf ihre Ansichten zur Abtreibung, als ob dies das Einzige war, das hinsichtlich ihrer Person interessierte.

Wo die Oberste Richterin in unserer Strafaktion häufig symbolisch als gestrenge Mutter gesehen wurde, da erschienen die Bestraften symbolisch als Kinder, in Übereinstimmung mit dem grundlegenden Familiendrama in unserem Unbewußten. Das wurde sichtbar in der Wahl der politischen Symbole, etwa wenn die Opfer der Haushaltskürzungen als Kinder dargestellt wurden oder wenn die Regierung als jemand erschien, der unschuldige Tierbabies nicht etwa schützte sondern tötete — siehe Bambis Kopf als Trophäe an der Wand des Büros von Innenminister James Watt, der angeblich besonders dafür angestellt worden war, das Jungwild zu schützen. Selbst wenn das Wirtschaftsopfer in allgemeinen Symbolen dargestellt werden sollte, wurden für die Geopferten überwiegend winzige Figuren eingesetzt, als handele es sich symbolisch um Babies.

 

 

Die Regierung erschien nicht als Beschützer, sondern als Mörder der Jungen.

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Aber auch hier gab es für das Bild in den Medien eine reale Entsprechung, den Tod wirklicher Kinder. Als Reagan Kürzungen der Sozialhilfe für die Alten vorschlug, war der nationale Aufschrei so groß, daß er die Finger davon lassen mußte. Aber als er die Kürzungen der Unterstützung für Familien mit Adoptivkindern vorschlug, Kürzungen bei der Schulspeise, den Essensprogrammen der Kinderhorte und bei Lebensmittelmarken, bei den Hilfsprogrammen für mißhandelte Kinder und einigen Dutzend anderer Programme, die bisher von der Regierung gefördert wurden und die direkt das Wohlergehen und das Leben von Kindern betrafen, gab es nur geringen Widerstand und die Wenigen, die öffentlich widersprachen, waren verwirrt von der Wirkungslosigkeit ihres Aufschreis. Und es handelte sich nicht bloß darum, wie ein Kommentator es hinstellte, daß "Kinder keine Möglichkeit haben, öffentlich zu protestieren", daß "mißhandelte Kinder nicht wählen."31 Eltern wählen ja, und wenn das Verletzen und Töten von Kindern nicht entscheidender Bestandteil unserer "Zeit des Opfers" gewesen wäre, hätte der Aufschrei der Eltern die Hinrichtung der Unschuldigen ebenso leicht gestoppt wie die vorgeschlagenen Kürzungen bei der Altenhilfe.

So aber erschien im Winter 1981/82 Artikel auf Artikel über die steigende Kindersterblichkeit in sozialen Bereichen, die am härtesten von den Kürzungen und der Arbeitslosigkeit betroffen waren, Artikel über die Kinder auf den Armenlisten (poverty rolls), mehr als eine Million waren hinzugekommen, über die sechs Millionen Kinder, die wegen der Arbeitslosigkeit ihrer Eltern die Krankenversicherung verloren hatten, über die halbe Million Kinder, denen die Krankenversorgung entzogen war durch die Schließung von 239 Gesundheitszentren (community health centers) seitens der Regierung und über die Hunderte von Kindern, die zu Tode geprügelt werden würden, weil Reagan fast alle Mittel für das sehr erfolgreich arbeitende Zentrum für mißhandelte und vernachlässigte Kinder (National

  

U.S. NEWS: Wird das soziale Sicherheitssystem bald in die Brüche gehen? 
Exklusiv Interview. — Die Schraube wird angezogen.

Die Geopferten wurden gern als klein wie Kinder dargestellt.

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Center on Child Abuse and Neglect) gestrichen hatte — man kommt auf über 20 Millionen Kinder, die unnötig Schmerzen und Hunger leiden mußten oder sogar sterben, aber kaum jemand war zu sehen, der um sie getrauert hätte.32) 

Während jener kalten Winternächte saßen wir alle vor dem Fernseher und sahen, Abend für Abend, Szenen von Kindern, die im Schnee unter Brücken schliefen, weil ihre Eltern Arbeit und Wohnung verloren hatten und Bilder von Neugeborenen, die vor der Kamera aus Schwäche starben, weil der Regierung die Gelder "fehlten" zur weiteren Finanzierung der Zusatzdiät für mittellose schwangere Frauen und stillende Mütter. Aber wirklich schuldig am Tod und am Leiden der Kinder, deren Bilder an unseren Augen vorbeizogen, fühlten wir uns nicht. 

"Reagans Netz sozialer Sicherheit ist ein Mythos", kommentierte Bill Moyers im Fernsehen. "Menschen sterben infolge dieser Kürzungen".33 Aber es rührte uns nicht. Vom Abgeordneten Bolling dafür angegriffen, "menschliches Leiden" verursacht zu haben, gab Reagan zurück: "Meine Programme haben niemand in den Schnee oder in den Tod getrieben."34 Die Verleugnung war total. Was war mit unserer Schuld geschehen?

Gewöhnlich werden zur Beantwortung dieser Frage die verschiedenen Rationalisierungen ins Feld geführt, mit deren Hilfe wir Schuldgefühle vermeiden oder jemand anderem die Schuld zuschieben oder sie auf den "nicht faßbaren Mächten des ökonomischen Systems" abladen und ähnliches mehr. Aber Rationalisierungen von solcher Durchsichtigkeit hätten nicht mehr ausgereicht, unser Gewissen zu beruhigen, als wir Dinge passieren sahen, die sie für jeden hinfällig machten.

So verteilte die Regierung in der Weihnachtswoche des Jahres 1981, zum Beweis, daß Reagan ein sorgender Präsident sei, 30 Millionen Pfund Käse an hungernde Amerikaner, von denen bis dahin behauptet worden war, es gäbe sie gar nicht. Als Millionen Menschen sich aufreihten, um ihre fünf Pfund Käse in Empfang zu nehmen, wurde unangenehm deutlich, daß die Regierung durchaus die Mittel besaß, den Hunger während der Rezession abzustellen, indem sie nämlich einen Großteil der 2,4 Milliarden Pfund an überschüssiger Butter, Käse und Milch, die sie gekauft und gehortet hatte, um die Preise für Molkereiprodukte "stabil" zu halten, an die Hungernden verschenkt hätte. 

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In der Tat wäre das für die Regierung billiger gewesen, bzw. die Vorräte zu einem niedrigen Preis zu verkaufen, denn die Lagerung kostete, wie sich herausstellte, über 1 Million Dollar pro Tag. Dieser gigantische Vorrat, der täglich um Produkte im Wert von 6 Millionen Dollar wuchs und der sich während der Rezession um zwei Drittel seines Umfangs vergrößerte, — den zu lagern mehr kostete als er einbringen würde und der schließlich zum Verrotten bestimmt war — dieser riesige Vorrat an Eßbarem, von dem wir nur einen winzigen Teil unter die Leute brachten, macht deutlich, daß wir wollten, daß Menschen hungern. Es war ein ebenso offensichtlicher Akt der Grausamkeit wie der Befehl Präsident Roosevelts während der Great Depression, Jungschweine unterpflügen zu lassen (wieder, um die Preise auf ihrem Niveau zu halten), statt das Fleisch hungrigen Amerikanern zu essen zu geben. Ein Kongreßabgeordneter klagte, er könne nicht verstehen, "warum Nahrungsmittel zurückgehalten und vernichtet werden, wo doch Menschen hungern"; ein anderer, der dafür gestimmt hatte, die Verteilung zu begrenzen, antwortete, die Tatsache, daß man Menschen absichtlich hungern lassen müsse, sei "vielleicht das größte Paradox, dem wir uns heute in diesem Lande gegenübersehen."35)

Wo — wie so oft in solchen Augenblicken — die Klarheit der Absichten die Durchsichtigkeit unserer ökonomischen Rationalisierungen enthüllt, bleibt um so mehr die Frage: was passiert mit unserer Schuld? Warum fühlen wir so gut wie nie irgendeine Schuld am Tod unschuldiger Menschen, die wir durch unsere Politik verletzen oder töten? Die Antwort auf diese Frage ist, wir verschieben unsere Schuld auf Kriminelle. Jede Epoche in der Geschichte, in der wir durch wirtschaftliche Maßnahmen die Zahl der Toten unseres Opferfestes erhöhen, zeigt einen gleichzeitigen Anstieg unserer Bemühungen, Verbrecher zu bestrafen. Reagans Zeit des Opfers war darin keine Ausnahme. Die Gesamtzahl der Morde im Jahre 1981 erhöhte sich nicht36, aber Reagan und die Medien erfanden ihre "Verbrechensepidemie", die das Land angeblich überschwemmte. Reagan selber führte die Nation in diese group fantasy. In denselben Reden, in denen er das amerikanische Volk zu "größeren Opfern" aufrief, beklagte er auch die neue "Epidemie des Verbrechens in Amerika", in der der Verbrecher sogar "bei Mord buchstäblich mit Freispruch davonkomme".37 

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Sprachliche Wendungen wie diese bieten die einzige Evidenz, daß Reagan vage bemerkt haben könnte, daß er selbst es ja war, der "bei Mord buchstäblich mit Freispruch davonkam", — für sein ökonomisches Programm. Zusammengenommen mit seiner Behauptung, daß an Reaganomics "keiner stürbe", enthüllt sein eindringlich und wiederholt vorgebrachter Satz, "die Menschen der Gesellschaft leiden ernstlich" unter der Verbrechenswelle, die Verschiebung von ihm selbst (und von uns) auf "Verbrecher".

Wenn Reagan Verbrecher brauchte, um seine eigenen Schuldgefühle dort zu deponieren, dann macht es Sinn, daß er zugleich mit der Forderung "Krieg dem Verbrechen" die Mittel für die Polizei kürzte. Denn würde man tatsächlich die Kriminalität erfolgreich reduzieren, würde die Schuld erneut in ihm selbst erscheinen. Folglich mußten die Gelder für die Polizei und die Justiz gekürzt werden, um die Verbrechensrate hoch zu halten. Nur solch irrationale Beweggründe lassen die Haltung der Öffentlichkeit gegenüber "dem Verbrechen" verständlich erscheinen; eine Haltung, die in ihrer Sucht nach Verbrechen und in ihrer Faszination durch Kriminelle ihre tief irrationale Grundlage in Gruppenphantasien deutlich macht. 

Da das Bestrafen von Verbrechern das Ziel unserer Gesetze ist und nicht etwa die Verhinderung von Verbrechen, können Untersuchungen, die zeigen, daß Therapie und soziale Hijfe wirksamer sind und weniger kosten als Bestrafung und Einsperrung, einfach ignoriert werden. Zum Beispiel erwogen einige Bundesstaaten während der Amtszeit von Reagan neue Gesetze, die eine 10jährige Gefängnisstrafe für Leute vorsahen, die betrunken Auto fahren und dabei jemanden töten oder verletzen. Es wäre jedoch völlig unmöglich gewesen, jemanden für den Vorschlag zu interessieren, solchen Leuten eine gründliche Therapie und Beratung zukommen zu lassen, obwohl das nur einen Bruchteil der 100.000 Dollar kosten würde, die die Gefängnisse jährlich pro Person verschlingen und obwohl eine solche Behandlung viel eher zur Folge hätte, daß die Verurteilten zukünftig nicht mehr betrunken ihr Auto bestiegen, als eine Bestrafung und Einsperrung das je erwarten ließen. Aber statt wirklich etwas für die Reduzierung der Kriminalität zu unternehmen, verbrachten wir die meiste Zeit in Reagans Amerika mit der Diskussion so emotionsgeladener Themen wie der Wiedereinführung der Todesstrafe, alles mit dem Ziel, den "Kriminellen in uns selbst" zu bestrafen.

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Je mehr Kinder Reagan wirklich opferte, desto mehr fuhren örtliche Zeitungen auf Gruppenphantasien ab wie die von "Kindesmißhandlungen, die sich epidemisch in der Stadt ausbreiten".38 Als die offiziellen Arbeitslosenzahlen Anfang 1982 die 9 %-Marke überschreiten, frohlockt Wall Street über die Gefügigkeit der Arbeiter. "Wir sind begeistert" ("we are thrilled"), sagte Peter Grace, Aufsichtsratvorsitzender von W.R. Grace & Co. "Endlich haben wir die Wende in diesem Land geschafft."39 "Ich bin wirklich hoch erfreut", sagte WJ. Sanders III, Boß des Aufsichtsrats von Micro Devices Inc. "Wir setzen das wahre Talent diese Landes frei und entlarven die Unfähigen."40 Unter die "Unfähigen" fielen auch Behinderte, von Anfang an eines der bevorzugten Angriffsziele Reagans. Dabei verfügte die Sozialversicherung für Behinderte über sehr viel Geld auf Grund der gesetzlichen Behindertenbeiträge der Arbeiter.41 

Aber mehr als 500.000 Fälle von Behinderung wurden in Reagans erstem Amtsjahr erneut zur Untersuchung gerufen, mit der erstaunlichen Folge, daß 45 % von ihnen auf Grund kaum haltbarer Vorwände kein Geld mehr bekamen, "obwohl beide, Hausarzt wie Vertrauensarzt der Versicherung übereinstimmend attestiert hatten, daß die Betroffenen oft nicht einmal in der Lage seien, die notwendigen alltäglichen Lebensverrichtungen allein auszuführen"; — so die LOS ANGELES TIMES in einem Bericht über die verschärfte Überprüfung.42 Weitere "Unfähige": — schwarze Jugendliche, deren Arbeitslosenquote bei 50 % lag, einige Millionen Menschen, die entmutigt die Suche nach Arbeit aufgegeben hatten und einige weitere Millionen Menschen ohne Arbeitslosenunterstützung — das führte z.B. in Detroit dazu, daß viele Arbeitslose absichtlich derart tranken oder andere Drogen nahmen, daß sie in Entziehungsanstalten eingewiesen werden konnten, die weiterhin gesetzlich verpflichet waren, sie aufzunehmen und zu ernähren. Sie, wie viele andere hilflose und machtlose Menschen, wurden symbolisch zu "Unfähigen" — Kinder, die bestraft werden mußten.

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Wer nicht zu den "Unfähigen" gehörte, das waren die Reichen. Sie allein profitierten von dem über fünf Jahre verteilten dreiviertel Billionen Dollar-Steuernachlaß, dem großen Steuergeschenk der Geschichte, "sehr wahrscheinlich geeignet, als unverantwortlichste einzelne Finanzhandlung der neueren Zeit in die Annalen einzugehen" — so der frühere Budgetdirektor James Schlesinger.43 Das Resultat war ein vorhersehbarer Rekordanstieg der Spitzengehälter (um 12 % im Rezessionsjahr 1981), Ansteigen des Absatzes von Rolls Royce, Cadillac und Mercedes, ein Boom bei teuren Privathallenbädern und Spitzenpreise für Eigentumswohnungen in Manhattan, wobei meist bar gezahlt wurde.44 "Es sieht so aus, als ob die wirklich Reichen momentan mehr Geld ausgeben als gewöhnlich", schrieb NEWSWEEK lakonisch. U.S. NEWS unverhohlener auf der Titelseite: "Prunk und Reichtum: Wieder in Mode" (FLAUNTING WEALTH: IT'S BACK IN STYLE)45. Und in Stockmans Worten aus der politischen Tierzucht: "Die Schweine haben sich ordentlich rangehalten bei der Mast. Die Gier-Ebene, die Ebene des reinen Opportunismus, war einfach außer Kontrolle geraten."46

Nur, genau das hatten wir erreichen wollen — die Oberen füttern und die Unteren bestrafen. Sonst hätte es wenigstens einen Scheinkampf der Demokraten gegen Reaganomics gegeben. Stattdessen "tuschelte man in Washington über das magische Verschwinden der Demokratischen Partei"47. Anfänglich gaben demokratische Parteiführer ihr Schweigen als rein taktisch aus. "Demokraten wissen den Weg: Sich zurücklehnen, entspannen, genießen", eine Schlagzeile der NEW YORK TIMES. Sie zitierten einen "strahlenden" Tip O'Neill, Fraktionsvorsitzender der Demokraten, der gesagt hatte "Ich glaube, ich ruhe mich mal eine Weile an der Seitenlinie aus."48

Dort würde er auf ewig sitzen müssen, wenn er glaubte, all das Unglück würde das Land gegen Reagan aufbringen. Alle waren sich einig, daß Reagans Image durch seine Opfer-Taten gewonnen hatte und nicht verblaßt war. In ihrer Verwirrung schrieben die meisten Kommentatoren dies nicht der Wirksamkeit des Opfers zu, sondern irgendwelchen unerklärlichen Eigenschaften in Reagans Persönlichkeit. "Eigentlich kommt es gar nicht drauf an, was geschieht", sagte die Zeitschrift NEW YORK, "die Leute mögen Ronald Reagan einfach".49 Und das Echo dazu von Haynes Johnson in der WASHINGTON POST: "Zum ersten Mal seit Jahren hat Washington wieder einen Präsidenten, den es wirklich mag, jemanden, der seine Rolle phantastisch spielt und sie obendrein genießt".50

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"Der Präsident kommt sehr gut weg in den Polls", sagte ein anderer Reporter, "weil er gehandelt hat im Lande."51 "Fast jeder hier glaubt, Reagan könne auf dem Wasser wandeln", fand ein republikanischer Politiker in Indiana.52 Und eine demokratische Politikerin in Houston, die Reagan gewählt hatte, hielt seine "Entschlossenheit" für wichtiger als alles andere. Mit der Stimme einer Frau, die den Mann liebt, der sie schlägt, erzählte sie Journalisten: "Er macht uns groß oder er macht uns kaputt (He'll either make us or break us). Er ist der Führertyp und ich hatte es satt, ohne Führer zu leben."53 Eine andere Frau aus North Carolina erzählte der Washington Post, auch wenn es den Leuten in der Rezession noch so schlecht ginge, sie selbst fühle sich "psychisch besser".54

Die Medien hatten zu diesem Zeitpunkt nichts als Lob für die heilsamen Auswirkungen der Strafaktion. "Das Lob der Rezession" sang William Safire in der NEW YORK TIMES: "Wir dürfen nicht aufgeben jetzt, wo der Sieg greifbar nah ist."55 Wenn es etwas für die politischen Kommentatoren auszusetzen gab an Reagan, dann daß er nicht grausam genug sei für die Aufgabe, die wir ihm anvertraut hatten. "Irgendwo ist er zu nett, um ein guter Präsident zu sein", sagte der oberste Experte der Nation in solchen Dingen, Richard Nixon.56 Haynes Johnson nickte: "Ein Wort sticht hervor, um ihn zu beschreiben: Nett (nice)."57 

Die Wenigen, die nicht zustimmten, wurden als Rote bezeichnet. Als 10.000 Menschen in New York gegen die Verleihung des Preises für Menschlichkeit (humanitarian award) an Reagan demonstrierten — er hatte ihn bekommen für "mutige Führung in Fragen der Humanität" — da bestand diese typische Mittelklassen-Demonstration für TV-Ansager Gabe Pressman "ganz klar aus militanten Radikalen".58 Nichts, keine kritische Anmerkung, nicht die Spur eines Schuldgefühls darf uns von der Reinigung der Nation in unserer mystischen Wiedergeburt durch das Opfer abhalten.

 

Wir bewegten uns in die "Zusammenbruchsphase".

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Reagan betete für unsere Wiedergeburt via Reaganomics.

Nachdem Reagan in seine dritte, die "Zusammenbruchsphase" übergegangen war, begannen offene Geburtsbilder in den Medien zu erscheinen. Die Reaganomics wurden zum Riesenei, an dem Reagan betete für eine baldige Geburt. Je schlimmer die Rezession

würde, je mehr Schmerzen und Tod den Opfern zugefügt würden, desto wunderbarer würde sie werden, die Wiedergeburt Amerikas. "Wir sind am Anfang einer Genesung, die beispiellos ist für dieses Land", sagte ein Staatssekretär des Finanzministeriums.59 BUSINESS WEEK war auch dieser Meinung mit der Titelseitenschlagzeile: "Jetzt kommt die Genesung!" Viele Amerikaner glaubten sogar, ihre Wünsche wären schon wahr geworden und Reagan hätte die Wiedergeburt vollbracht. So staunten die Meinungsforscher (pollsters), daß zwei von fünf Amerikanern glaubten, Reagan hätte den Haushalt wie versprochen ins Gleichgewicht gebracht, obwohl die Regierung bei der Rekordanleihe von 16 Milliarden Dollar monatlich angekommen war, um ihre Außenstände zu begleichen.60 Und Reagan selber: "Dieses Land erlebt eine geistige Auferstehung." Wie alle Auferstehungsbewegungen zielte auch diese ab auf eine Wiedergeburt durch Reinigung von unseren sündhaften Exzessen. Jene, die verwirrt waren vom "Triumph des Glaubens über die Tatsachen"61, — so nannte der Ökonom Lester Thurow die Phantasien, daß Reaganomics funktionieren könnten — verstanden nicht, wie sehr Reagans Amerika im Kern eine religiöse Bewegung war, ausersehen, ein besonderes Produkt hervorzubringen: das durch Opfer wiedergeborene Amerika ("America Reborn").

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Natürlich funkte hin und wieder die übrige Wirklichkeit dazwischen. Dann tadelten Reagan und seine Mitstreiter die Industrie und Wall Street dafür, die wunderbare Wiedergeburt noch nicht produziert zu haben. "Wir haben ihnen doch mehr gegeben, als sie sich je erträumt hatten", beschwerte sich der Republikaner Robert Michel, "da möchte man doch meinen, die Gegenleistung könnte höher ausfallen." - "Unser Beitrag ist ergangen", so Finanzminister Donald Regan. "Aber wo ist die Antwort des Business? Wo sind die neuen Forschungs- und Entwicklungsinitiativen? Wo sind die neuen Werke? Wo sind die Pläne für die wirtschaftliche Expansion?" 62) 

Daß die Wirtschaft keinen einsehbaren Grund hatte, die Produktion auszuweiten, da die Nachfrage rückläufig war und die Produktionskapazitäten künstlich auf 61 % reduziert, schien diesen ökonomischen Experten zu entgehen. Sit glaubten wirklich an die durch Schmerzen erzeugten Wunder. "Reaganomen: Macht weiter trotz der Schmerzen" — Schlagzeile des MIAMI HERALD.63) Man mußte Reagan einfach blind folgen, oder wir würden ihn als immer noch Kastrierten sehen. "Es wäre keine so gute Idee, ihm in diesem Moment die Beine abzusägen", befand Senator Pressler.64) 

Und so häuften sich im Frühjahr 1982 Bilder der nationalen Phantasie unserer Wiedergeburt in den Medien, bis sie untergründig den Gefühlston angaben, der das Alltagsleben der meisten Amerikaner beherrschte, obwohl das den meisten Menschen nicht bewußt wurde. Eine neue Baby-Blüte wurde ausgerufen, ein neuer Baby-Boom — trotz rückläufiger Geburtenrate.65) Photos von schwangeren Frauen erschienen auf den Titelseiten der Magazine und zeigten an, was sich ereignete. Alles schien in jenem Frühling schwanger zu werden, von den Reaganomics bis zur Atombombe. 

Eine Babyschwemme wurde phantasiert.

 

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Mit Geburtsgefühlen verbundene Sätze wurden immer häufiger benutzt, etwa "Es ist, als warte man auf die Geburt eines Babys"66, oder "Der Druck nahm zu von allen Seiten"67 oder "Die Regierung glaubt, das Leben beginne mit der Empfängnis und ende bei der Geburt"68. Die Diskussionen um die Abtreibung vervielfachten sich. Reagan unterstützte sogar persönlich einen grotesken Plan von Abtreibungsgegnern in Kalifornien, ein Fötus-Begräbnis für 17.000 abgetriebene Föten abzuhalten, die die Leute gesammelt hatten.69 

 

Alles schien schwanger zu werden im Frühjahr 1982.

 

Auch neue Gesetze schienen in jenem Frühjahr im Geburtskanal festzustecken. Der Cartoonist der WASHINGTON POST zeichnete Reagan, als würde er Tip O'Neill beim Gebären eines Gesetzes helfen und im daneben stehenden Text wurde Reagan zitiert mit den Worten "Sie können mich vielleicht dazu bringen, eine Ananas zu scheißen, aber einen Kaktus, das schaffen Sie nicht", als ob Reagan selbst es wäre, der sich als Gebärender fühlte.70

Wie Reagan der Nation sagte, würde Amerika "aus dem dunklen Tunnel der Rezession bald wieder auftauchen" — aus demselben dunklen Tunnel, "an dessen Ende man endlich Licht" zu sehen gehofft hatte schon während des Vietnamkrieges. Alles schien im Frühjahr diesen dunklen Geburtskanal hinunterzugehen: das Weiße Haus, die Wirtschaft, ganz Washington, Reagan selber und das amerikanische Volk. Die Welt verwandelte sich in ein gigantisches Loch und wir drohten da hineinzufallen, so wie wir vor langer Zeit bei unserer Geburt gefühlt hatten, daß wir da hineinfallen würden.71

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Wir fühlten uns, als würden wir einen dunklen Geburtskanal hinuntergehen.

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Im April kündigte Reagan an, wir würden uns nun dem Stadium nähern, wo es drauf an käme (climactic stage) — ein Zustand, in dem er anfing, "ein Trommelschlagen" zu hören — angeblich den Trommelschlag der Kritik, aber eher den lauten Herzschlag der Mutter bei den Preßwehen. Die Wiederbelebung und die Reindustrialisierung Amerikas wurden als der Lohn am Ende des Geburtstunnels phantasiert und wurden tatsächlich auch dargestellt in Form eines Fötus im Schoß, der seine Geburt erwartet.

 

Die Reindustrialisierung wurde als Fötus im Mutterleib gesehen.

 

Auch Uncle Sam wurde wie in einem dunklen Schoß im Wasser stehend dargestellt, mit dem Streichholz eine Zeichnung unseres Standortes beleuchtend. Die Zeichnung zeigte uns im Bauch eines Wales, bereit, mit den Mühen der Geburt zu beginnen. Sie würde fürchterlich schmerzhaft sein, aber unvermeidbar, und je schneller wir sie hinter uns bringen würden, desto besser.

Mit dem Einsetzen der Geburt, mit dem steigenden Wehendruck, schien "Mutter Natur durchzudrehen", wie es auf einem Titelblatt von U.S. NEWS hieß. In unserem Glau-Wir fühlten uns wie im Schoß, die ben, die Wirtschaft würde zuGeburt erwartend, sammenbrechen, wie es dem Schoß unserer Mutter damals passiert war, phantasierten wir die Geburt als Ende der Welt, wie sich unsere Geburt als Ende der

 

Wir fühlten uns wie im Schoß, die Geburt erwartend.

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Jumpin' Jupiter! The End of the World !
Der tanzende Jupiter! Das Ende der Welt !

Wir fürchteten, die Geburt würde sich wie das Ende der Welt anfühlen.

 

Welt angefühlt hatte, als die Preßwehen und der Sauerstoffmangel uns fürchten ließen, wir würden sterben. Und eben deshalb fingen Zeitungen im ganzen Land mit diesen "Angst vor dem Ende der Welt"-Artikeln an, besonders im Zusammenhang mit der Stellung der Planeten, die sich zufällig in jenem Frühjahr auf einer Linie befanden (so ähnlich hatten sie im Vorjahr auch schon gestanden, aber da hatte niemand Notiz davon genommen).72

In der Tat hielten wir unsere apokalyptischen Phantasien binnen kurzem für derart real, daß wir uns erneut um die Möglichkeiten eines atomaren Holocausts sorgten, der das Ende der Welt bringen würde. Warum gerade jetzt diese plötzliche Sorge um einen atomaren Vernichtungskrieg, fragten einige Beobachter erstaunt. "Warum" — so die NEW YORK TIMES — "im 37. Jahr des Atomzeitalters diese plötzliche Betroffenheit? Ist die europäische Friedensbewegung aus dem vorigen Jahr schon über den Atlantik gesprungen? Ist eine neue Generation herangewachsen, die Dr. Strangelove nicht kennt? Waren die bisherigen Generationen völlig unfähig, die Risiken richtig einzuschätzen?"73)

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TIME: Das Undenkbare denkend: Wachsende Ängste vor dem Atomkrieg.

Zu unseren apokalyptischen Phantasien gehörte das neuerwachte Interesse am Atomkrieg.

 

Die plötzliche und überaus flüchtige Hinwendung zur drohenden atomaren Apokalypse — den Höhepunkt bildete die große Totstelldemonstration vom 12. Juni in New York — bliebe unerklärlich, würde man nicht die Geburtsphantasie darin erkennen. Genau wie Carters Amerika in seiner "Kollaps"-Phase voll von Zusammenbruchs- und Fallgefühlen war, so fühlte auch Reagans Amerika, es könne nur durch irgendeinen apokalyptischen Aufruhr gereinigt werden, durch irgendein Ausagieren unserer übermächtigen kollektiven Phantasien in der Wirklichkeit.

Aber in der Wirklichkeit schien nichts richtig greifbar, was wir verwenden konnten, um mit unserer Geburtsphantasie voranzukommen. Kein fremdes Land bedrohte uns, und keins schien bereit, in naher Zukunft auf unsere Herausforderung anbeißen und unsere bösen Gefühle nach außen ableiten zu wollen. Alles schien unser Gefühl zu verstärken, als Ungeborene in der Falle festzusitzen. Unsere Wirtschaft war immer noch in ihrer Abwärtsbewegung. Auf dem Gebiet würde eine wunderbare Wiedergeburt so schnell nicht zu bekommen sein. Einen Krieg aus dem Nichts heraus zu führen, dafür waren wir emotionell nicht genügend vorbereitet. Die Lage schien zunehmend hoffnungslos. Wie das Baby das Gefühl hat, der Geburtsschmerz dauere ewig, so saßen auch wir, eingeschlossen, ohne Hoffnung, weit weg vom befreienden Aufatmen, auf immer fest im Geburtskanal.

 

Wir schienen über die Geburtsklippe zu gehen.

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Wir saßen in der Falle, unfähig, geboren zu werden.

 

Wir hatten das Gefühl, im Geburtskanal festzustecken.

 

Wir fühlten uns "totgeboren" — im Wasser abgenagt.

 

Diese Bildlichkeit — im Geburtskanal festzustecken — beherrschte die Cartoons im ganzen Land in jenem April und die politische Sprache gab jene Phantasie wieder. "Finanzminister Donald T. Regan erklärte gestern, die nationale Wirtschaft sei ein tot im Wasser treibender Kadaver", berichteten die Zeitungen.74) Wir wären in der Tat "tief im Dreck" ("in a deep trough"), bestätigte der Pressesprecher des Weißen Hauses.75)  

Es schien, als müßten wir "tot im Wasser" für immer im Mutterleib liegen bleiben. Wie konnte die Geburt beschleunigt werden? Wo gab es eine Hilfe zu entdecken? Die Lösung für unser Dilemma kam aus dem Südatlantik, wo die Ereignisse in eben dem Moment einem Höhepunkt zutrieben.

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