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Die narzisstische Persönlichkeit der Antike

 

 

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Narzisstische Persönlichkeiten wehren ihre Gefühle über ein leeres, unzulängliches Ich durch Fusion mit dem schroff attackierenden Eltern-Alter-Ego ab und bilden ein grandioses Selbst aus, das sich mit dem omnipotenten Elternteil identifiziert. Oder sie werden zu latenten Narzissten, bewundern und hängen sich an ein grandioses Anderes, einen narzisstischen Helden, der sich gegen das destruktive Mutter-Alter-Ego stellen und es zerstören kann.116

Während schizoide Stammespersönlichkeiten versuchten, zur Vermeidung des Verschlungenwerdens eine sichere Distanz zu halten, versuchte die narzisstische Persönlichkeit in der Antike ein Gefühl ihres Selbsts zu erhalten, indem sie sich mit grandiosem Exhibitionismus wappnete. Diese lebt deshalb konstant in einem Zustand narzisstischer Zurschaustellung, wie es zum Beispiel die frühen Griechen taten, die ihre Tage damit verbrachten, im Gymnasium ihre Körper zur Schau zu stellen, und sich in der Nacht — anstatt nach Hause zu gehen und mit ihren Frauen Intimität zu riskieren — zu Männerrunden / Vergewaltigungspartys trafen. 

Die narzisstischen Persönlichkeiten der Antike waren ausbeutend, misstrauisch, skrupellos und zeigten wenig Empathie;117) sie waren voreingenommen von Fantasien der Macht und Brillanz einer Welt, die voll war mit arroganten, distanzierten narzisstischen Helden, Göttern und grandiosen politischen Führern, von denen sie abhingen, um ihr schwaches Gefühl für das Selbst aufzuwerten. Auch ihre Pädophilie war das Resultat daraus, nur Sex mit ihrem narzisstischen Double haben zu können, das in einem Alter war, da sie selbst schöne Jugendliche waren, und, wie Narziss, sich in sich selbst verliebten und Frauen wie »Geier« vermieden, die sie einfangen und verschlingen wollten.

Frühe Kulturen hatten anfangs sowohl Götter als auch Führer mit maternalen Charakteristika: Verschlingende Göttinnen waren überall verbreitet, und selbst Häuptlinge schienen Mamis zu sein — wie die Anyi meinten: »Wenn die Brüste des Königs voll mit Milch sind, ist es sein Volk, das davon trinkt.«118 


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Parin glaubte, die Anyi würden deshalb so an ihren Königen hängen, weil »ihre Angst vor Frauen größer war als die vor Männern« und wegen »ihres Bedürfnisses, einen Häuptling oder Herrn zu finden, der sich an Prestige und Macht erfreute, damit sie sich diesem unterwerfen konnten und Macht introjizierten« und somit maternales Verschlungenwerden vermieden.119 Galen sagt: »Jeder Mann taumelte fortwährend am Rande, <weibisch> zu werden«120 — z.B. in sein Mutter-Alter-Ego zu wechseln und sein Selbst zu verlieren. Die allgegenwärtige Angst, sich in eine Frau zu verwandeln, welche man in allen frühen Kulturen finden kann, erklärt, warum Religionen und Politik mit sadistischen maternalen Alter Egos gefüllte defensive Arenen waren, und warum periodische Kriege verzweifelt als Versuch der Wiederherstellung männlicher Kraft benutzt wurden.

 

Das tägliche Leben antiker narzisstischer Persönlichkeiten war voll mit projizierten Alter Egos, von bösen Geistern, Teufeln und Dybbuks, welche die Juden andauernd exorzierten, bis hin zu blutrünstigen weiblichen Geistern, Schlangen und Dämonen, die die Sumerer, Ägypter, Griechen und Römer mit verschiedenen religiösen Fetischen abzuwehren versuchten. »Hinter jeder Ecke lauerte ein böser Geist. ... Es gab auch die Gefahr zahlreicher Flüche aussprechender Hexen, an die jeder stillschweigend glaubte.«121 Selbst die angeblich so rationalen Griechen waren, wie Gouldner es ausdrückt, »tief besorgt über ihre Fähigkeit, mörderisch Amok zu laufen«.122)

 

Ägypter sprachen regelmäßig zu ihren rächenden Alter Egos, wie der »lebensmüde Mann«, der mit seinem »Double«, seinem Ba, über Selbstmord spricht, was »Selbstmord so üblich werden ließ, dass die Nilkrokodile mit den Leichen nicht mehr fertig wurden«.123 Hippokrates bestätigte, die Griechen würden häufig »Krämpfe, Ängste, Schrecken und Wahn« erleben, und von Ärzten erwartete man in der Antike, sie würden Besessenheiten, Halluzinationen, Rasereien, Lykanthropien und andere Symptome dissoziierter Persönlichkeiten behandeln (Melancholie bedeutete in Griechenland »Furor«).124 

Der durchschnittliche Grieche erkannte, dass sein emotionales Leben permanent von seinen Alter Egos kontrolliert wurde, denen Namen wie Psyche, Thumos, Menos, Kardia, Kradie, Etor, Noos, Ate usw. gegeben wurden. Dodds sagt, Homer hätte etwa Ate beschrieben als »eine vorübergehende Trübung und Verwirrung des normalen Bewusstseins ... eine partielle und temporäre Geisteskrankheit ... die einer externen <dämonischen> Stelle zugeschrieben wurde«.126 

Medea sagt, nicht sie hätte ihre Kinder umgebracht, ihr Thumos hätte sie dazu gezwungen. Jemandes Psyche sieht aus und spricht wie eine lebende Person, sagt Odysseus, aber sie fliegt dahin »wie ein Schatten oder ein Traum«.126 Manchmal waren diese Alter Egos eine Art Kobewusstsein, vielfach aber nicht, da diese das Selbst vollständig übernahmen. Adkins schrieb ein ganzes Buch darüber, wie die antiken Griechen immer wieder in ihre Unterpersönlichkeiten wechselten, und beschreibt ihren »niedrigen Grad an Einheit und Kohäsion [wie etwa] ein <kleiner Mann> (sozusagen) nach dem anderen in ihm ihn anspricht und etwas vorsagt«.127 


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Normalerweise verrieten die Geister und Dämonen der Antike ihren maternalen Ursprung — das überrascht nicht, wenn man Statements liest, wie das von Galen, der berichtet: »Meine Mutter neigte so sehr zu Wutausbrüchen, dass sie manchmal ihre Mägde biss«,128 oder das von Xenophon, der sagte, er würde »noch eher die Brutalität einer wilden Bestie ertragen als die seiner Mutter«.129

 

Einheitlich verehrten die frühesten Kulturen Vampirgöttinnen, die verschlingende maternale Alter Egos waren. Diese waren all das, was die Jungianer als »Drachenmütter«130 bezeichneten — von Lilith, Nin-Tu, Hecate und Ishtar bis Moira, Shiva, Gorgon und Erinnye. Sie wurden von ihren Anbetern normalerweise »schreckliche Mütter« genannt, besaßen meist schlangenartige Formen, und man sagte, sie wären grausam, eifersüchtig und ungerecht; »ihr Blick bringt den Tod, ihr Wille ist das Höchste«.131 Da auch zeitgenössische multiple Persönlichkeiten als Alter Ego manchmal gigantische Schlangen halluzinieren,132 muss man den Zeitzeugen von frühen Kulturen glauben, wenn sie darauf bestehen, sie hätten diese Schlangengöttinnen wirklich gesehen. Die Drachenmuttergöttinnen verkörperten genau die infantizide »unendlich bedürftige Mutter, die ihre Kinder nicht gehen lassen kann, weil sie diese für ihr eigenes psychisches Überleben braucht... und damit dem Kind den unlösbaren Auftrag erteilt, ihre grenzenlose Leere zu füllen [und] sie verschlingen sie regelrecht, um sie davon abzuhalten, ein separates Leben für sich beanspruchen zu können«.133 

 

Eine der frühesten Geiergöttinnen kann man eingemeißelt in einem Schrein der neolithischen Stadt Catal Hüyük sehen, eine blutrünstige Göttin mit Flügeln eines Geiers dargestellt, beim Fressen enthaupteter Leichen. Die Leichname von Menschen wurden tatsächlich in die nahen Felder gebracht, damit die Geier diese in opferartigen Wiedergeburtsritualen fressen konnten.134 Dass Geier maternal waren, wurde vor langer Zeit schon in Freuds Beitrag gezeigt, da die ägyptische Hieroglyphe für »Mutter« deutlich einen Geier darstellt und die Ägypter eine geierköpfige Muttergöttin verehrten.135 

Auch die frühen Hebräer verehrten eine Muttergöttin, Asherah,136 die, gemeinsam mit Lilith, der anderen in der Bibel erwähnten Vampirgöttin, »unaufhörlich das Blut [ihrer Anbeter] verschlangen«, und »durch die Welt streiften, auf der Suche nach Kindern, die sie essen, vergewaltigen und töten können«. Auch die Sphinx (sphinx bedeutet »Erdrossler«) war ein maternales Monster, das Jugendliche verschlang.137 Die meisten der männlichen Tiergötter früher Kulturen wurden als Sklaven von Göttinnen abgebildet, wie »der Himmelsstier, das wilde Monster, das mit jedem Schnauben seines Atems dreihundert Männer tötete, [den] Ishtar in ihrer Wut hinunter geschickt hat, um das Land zu verwüsten«.138 

Normalerweise aber erledigen die Muttergöttinnen ihre Abschlachtungen selbst: »Kali, die Schwarze, die Brüste gefüllt mit Milch, verziert mit den bluttriefenden Händen und Köpfen ihrer Opfer, die Eingeweide eines menschlichen Opfers verschlingend, oder aus einem menschlichen Schädel Blut trinkend.«139 Statuen dieser blutrünstigen Göttinnen wurden in Zigguraten und Tempeln überall auf der Welt aufgestellt, täglich gewaschen, gekleidet und gefüttert; man hat mit ihnen geredet und hörte sie Befehle aussprechen,140 so halluzinierend war die Macht des Alter Egos.


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Die Statuen waren derart blutrünstige maternale Alter-Ego-Fetische, dass die Priester oft das Blut ihrer Opfer nahmen und das Gesicht des Idols damit bestrichen, damit diese davon trinken konnten.141 Göttlich motivierter Wahnsinn — wie in den dionysischen Ritualen des antiken Griechenland — löste manchmal sogar bei Frauen Besessenheit von ihren schrecklichen Mutter-Alter-Egos aus, die dann das Töten ihres Opfers ausagierten, speziell wenn sie unter Postpartum-Depressionen litten. Euripides beschreibt diese so: »Brüste, geschwollen mit Milch, frische Mütter, die ihre Babys zuhause zurückgelassen hatten ... zerrissen Kälber mit bloßer Hand [und] rissen Kinder aus ihren Häusern.«142)

 

Die fötalen Ursprünge früher Religionen waren überall evident. Echte menschliche Plazentas hat man vielfach auf Bäume gehängt, verehrt und ihnen menschliche Opfer angeboten.143 Bei Göttinnen wie Tiamat wird auf eine »giftige Gebärmutterschlange« hingewiesen, Sumerer und Babylonier verehrten »Plazentageister«, und auch der hebräische Name für Eva (Khawwa) bedeutet »die Schlangenfrau«.144 Peruaner pflegten die echten Plazentas in den Bauch ihrer religiösen Statuen zu legen,145 wie auch die meisten Nagual in den alten mesoamerikanischen Religionen echte Plazentas waren.146 

Alle »kosmischen Bäume«, die man in den frühen Religionen findet — vom Baum im Garten Eden bis zum Kreuz Jesu — waren ursprünglich plazentar, und Priester stellte man gern als Fötus dar: »Er ist zum Fötus geworden. Sein Haupt ist verschleiert und er muss seine Fäuste zusammenpressen, weil der Embryo in seinem Sack seine Fäuste geballt hat. Er geht im Heim herum, genau wie der Fötus sich in der Gebärmutter bewegt. ... Er öffnet seine Fäuste, er enthüllt sich, er ist in heiliges Dasein geboren, er ist ein Gott.«147 Karthagische und andere kindsopfernde Religionen verwendeten in ihren Ritualen sowohl Föten als auch Neugeborene,148 und selbst heute töten Kulte echte Föten in Wiedergeburtsritualen.149 Auch die Sintflut-Mythen — von Gilgamesch bis zu dem der hebräischen Bibel — besitzen viele Elemente stürzenden amniotischen Wassers vor der Geburt.

Jedes Detail der Verehrung von Muttergöttinnen hat seinen Ursprung in realen traumatischen Kinder­erziehungs­erfahrungen der Antike. Die meisten »schrecklichen Mütter« hatten göttliche Söhne, die zu Inzest mit diesen gezwungen wurden,150 ähnlich den japanischen Müttern und anderen, die im vorhergehenden Kapitel beschrieben wurden,151 mit »jeder Muttergöttin in Beziehung zu Sohn-Liebhabern, Inanna und Tammuz, Isis und Osiris, Cybele und Attis, Aphrodite und Adonis«.152 Die religiösen Rituale führten exakt die maternale Verführung wieder auf: »Die Muttergöttin liebt ihren Sohn nicht bloß wegen seines Phallus, sie kastriert diesen, nimmt Besitz von ihm, um sich selbst fruchtbar zu machen.«153 Bis vor kurzem hatten in Indien »Besucher der vielen alten Schreine symbolischen Geschlechtsverkehr mit aus Stein gehauenen weiblichen Gottheiten, indem sie ihre Finger in tiefe Löcher stießen, von Generationen abgenutzt, die an den sexuellen Zonen der Gottheiten angebracht waren«.154 


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Es ist deshalb falsch, die alten sexuellen Verführungsrituale als »heilige Hochzeiten« zu bezeichnen. Sie sind in Wahrheit »heilige maternale Inzeste«. Wenn der Inzest vollzogen und der »unersättliche Appetit« der Göttin gestillt war, kastrierte die Muttergöttin ihren Sohn155 und trug, im Falle von Ishtar, »in ihren Abbildungen ein Halsband aus Hoden. Die Große Mutter war zu Frauen freundlicher als zu Männern, die einen guten Grund hatten, die dunkle Seite der verschlingenden Mutter zu fürchten. Sie existierte nicht, um geliebt, sondern, um beschwichtigt zu werden.«156 Die Anbetenden der Magna Mater, Galli genannt, kastrierten sich selbst für sie, »und wünschten, wie ein Kind zu sein, als die bessere Art, der Göttin zu dienen«157 und »liefen mit abgetrennten Organen durch die Stadt und warfen sie in irgendein Haus«.158

Dass Opfer jeglicher Art der »Auslöschung von Bösem und Schuld« der Gemeinde dienen, ist ohne Zweifel,159 dass aber das Opfer normalerweise mit Geburt (»Geburt der Menschheit«) gleichgesetzt wird und die Opfernden innere maternale Alter Egos bedienen und oft so tun, als wären sie Mütter (»die Priester maskierten sich für die Opferung als schwangere Frauen«),160 ist weniger bekannt. Astarte »massakrierte die Menschheit, jung und alt, machte, dass Köpfe und Hände nur so flogen, band Köpfe an ihren Rücken und Hände an ihren Gürtel«.161 Zeichnungen der Göttin »zeigen ihren unersättlichen Hunger nach menschlichen Opfern«.162 Visnu bevorzugte vornehmlich das Verschlingen der Genitalien des Opfers.163 Die Opferrituale legten Wert auf die Unschuld des Opfers, wie etwa die eines Kindes. Alte Religionen hatten unzählige Alter-Ego-Vorstellungen, von denen wir heute nur mit Vorbehalt annehmen, dass sie wahr sein könnten.

Weil diese Göttinnen auch »Herrinnen der Schlacht« darstellten, sah man im Kampf gefallene Soldaten auch als Opfer ihres blutrünstigen Appetits. »Die Göttin bringt dem Feind Vernichtung; sie trinkt das Blut der Opfer, die vorher ihre Kinder waren. ... Man konnte sie nicht von der Ab-schlachtung der menschlichen Rasse abhalten.«164 Da diese Tode ihren Ursprung in Erinnerungen - wie dabei zuzusehen, wie die Mutter die kleine Schwester nach der Geburt erwürgte — haben, brauchten Kriegsgöttinnen besonders den Tod der eigenen Soldaten. So sagt eine frühe ugaritische Schrift von der Göttin Anat: »Sie ist voller Freude, als sie ihre Knie in das Blut der Helden taucht.«165 Die opfernde Person war vielfach wirklich weiblich, wie die Oberpriesterin der keltischen Mondgöttin, welche die Köpfe ihrer Opfer eigenhändig abschlug und so den maternalen Infantizid wieder aufführte.166

Doch Rituale wiederholen frühes Trauma nicht bloß: Sie führen diese wieder auf - arrangieren sie neu, um Elemente der Gewalt des Täter-Alter-Egos und der Rache des Opfer-Alter-Egos einzubeziehen. So wird die mörderische Göttin Tiamat in einer gewaltigen Schlacht von ihrem Sohn Marduk mit einem »Pfeil, der ihren Bauch und ihr Inneres durchbohrte«, getötet.167 Nur durch das Besiegen der infantiziden Mutter konnten Söhne »das Chaos überwältigen«. So heißt es bei Halpern: »Der Held ist jemand, der seine Mutter umbringt [und] eine neue Ordnung auf der Welt ins Leben ruft. ... Kultur ist die Arbeit des Helden, des Muttermörders, und repräsentiert seinen Versuch der Selbstzeugung.«168 


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Dass das Töten die Rache des infantilen Opfer-Alter-Egos gegen die Mutter darstellt, kann an der Tatsache abgelesen werden, dass man sich mit der Muttergöttin, nachdem sie umgebracht wurde, identifizierte; die Azteken, zum Beispiel, enthaupteten Frauen, die ihre Muttergöttinnen repräsentierten, häuteten sie und setzten diese Häute auf, damit sie sich in diese verwandeln und sich deren gefährliche Mächte, ihr Mana, aneignen konnten.169

 

Der Erwerb der Mächte der schrecklichen Mutter durch einen männlichen Gott ist in der Antike nur langsam und partiell gelungen. Jahwe mag das uranfängliche weibliche Monster Leviathan, das Symbol des Chaos, erobern und den totalen Gehorsam fordern, »mit all deinem Herzen und all deiner Seele und all deiner Macht«. Er mag auch Opferanforderungen übernehmen, so wie er Abraham mitteilte, er solle zur Gründung Israels in einer blutsbrüderlichen Versammlung seinen Sohn Isaak opfern. Aber hinter dem, was Maccoby den »Heiligen Henker«170) nennt, liegt das Opfermutter-Alter-Ego; hinter jedem verehrten Adonis steht die grausame Astarte. Die Griechen mögen versucht haben, sich gegen das maternale Verschlungenwerden mit jährlichen Prozessionen, bei denen sie mit gigantischen Phalli aufmarschierten, zu schützen, aber die Illustrationen der Phalli auf den Vasen zeigen Frauen, die diese hoch in die Luft halten. Selbst mächtige Könige wie Odin oder Wotan mussten in periodischen Abständen ihrer Muttergottheit, der Welt Ash, geopfert werden, um deren Blutdurst zu stillen und die Menschen zu reinigen.171 

 

Nur durch gemeinsame Opferungen konnten Männer patrilineare Verwandtschaft und politische Macht etablieren. Selbst patrilineare Verwandtschaft in Griechenland und Rom wusste nur, dass diese Verwandtschaft bestand, weil sie zusammen opferten; Opferungen bezeichnete man als »ein Mittel dagegen, von einer Frau geboren worden zu sein«. Auch der Tod im Krieg stärkte die schwachen Bande zwischen Männern — wenn ein Azteke einen Feind gefangen nahm, nannte er ihn »mein geliebter Sohn«, und der Gefangene antwortete mit »mein geliebter Vater« und wurde dann getötet.172 Dass das Opfer das Alter Ego des »bösen Jungen« in sich trug, erkennt man am Ritualbeginn, wenn dem Opfer »Gift [der Kindheitssünde] injiziert« wird. War es ein Tier, wurde es mit Schmutz eingerieben, war es ein Mensch, gab man diesem vor dem Opfern viele Sexualpartner. Dass es die internen Alter Egos waren, die das Opfer verlangten, wurde durch den Priester deutlich, der sagte: »Die Götter haben diese Tat begangen; nicht ich habe es getan!« Oder indem, wie in Athen, nach der Opferung eine Verhandlung angesetzt wurde, in der die volle Schuld für das Schlachten dem Messer angelastet wurde, das »nach dem Schuldspruch durch Zerstörung bestraft wurde«.173

Je reicher und erfolgreicher alte Kulturen wurden, umso schuldiger fühlten diese sich, umso mehr führte sie ihre Wachstumspanik in die Abwehr ihrer rächenden maternalen Alter Egos, indem sie sich an immer mächtigere männliche Führer klammerten. So heißt es bei Earle: »Königtümer sind Geisteszustände [und] Könige regieren nicht wegen ihrer Macht, sondern wegen ihrem Platz in einer heiligen Weltordnung«174 — die Weltordnung von Alter Egos und ihren Containern. 


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Je mehr sich die Könige Macht maternaler Alter Egos aneigneten - ihr Mana -, desto öfter mussten sie jahreszeitliche Reinigungszeremonien durchlaufen, einschließlich ritueller Demütigung oder gar des »Tötens des Königs«, um für ihren arroganten Stolz bestraft zu werden.175 Bei diesen Zeremonien wurde der König rituell »ein Scheißkerl [genannt, der] gekommen ist, uns zu retten«,176 mit einem Schwert ins Gesicht geschlagen und erst dann mit Heil ausgestattet,177 seinem Anteil am maternalen Mana. Aber jeder in der Antike wusste, woher seine Macht wirklich kam: von der vaginalen maternalen Krone, welche die Könige mit »Oh rote Krone, lass da Furcht vor mir sein wie die Furcht vor dir« ansprachen; vom Thron, »Mutter« des Königs genannt; und vom Zepter, als »Zweig vom plazentaren Baum des Lebens«.178

 

Die masochistische Persönlichkeit des frühen Christentums

 

Mit der Entwicklung vom infantiziden zum verstoßenden Modus der Kindererziehung (siehe Kapitel 7 und 8) konnten frühe Christen eine Mutter internalisieren, die ihre Kinder nicht wirklich umbringt, sondern lediglich verstößt, und zwar sowohl emotional als auch durch das Weggeben zu Ammen, in Pflege, an Klöster, in die Dienerschaft bei anderen etc. Selbst schwerwiegende Vernachlässigung ist weniger verheerend, als zusehen zu müssen, wie das Geschwisterbaby erwürgt wird, daher konnten die frühen Christen zum ersten Mal in der Geschichte hoffen, von ihren Müttern/ Göttern (Erlösung) geliebt zu werden, wenn sie diesen ihre Leiden zeigten und deren Mitleid erregten. 

Dieses Hervorkehren von Leid, um die Liebe der Mutter zu bekommen, ist bekannt als masochistische Persönlichkeit, ein Borderline-Zustand unteren Levels.179 Zum ersten Mal in der Geschichte können sich die Menschen dadurch vorstellen, dass die Mutter/ der Gott Mitleid mit ihnen hat und für Erlösung, eventuelle Nähe, sorgen würde, wenn sie sich erniedrigen und selbst quälen, anstatt bloßer Hilflosigkeit und untragbarer Einsamkeit ausgesetzt zu sein.

Die Götter der Antike waren weit entfernt und unpersönlich: »Die Götter mögen sich unter Männer und Frauen mischen, aber sie scheinen ihre Zeit nicht mit der Kultivierung wechselseitiger Liebe zu verbringen.«180 Bei Aristoteles heißt es: »Wenn ein Beteiligter in weite Ferne gerückt wird, wie es bei Gott der Fall ist, entschwindet die Möglichkeit einer Freundschaft.«181 Aber der christliche Gott »liebt und kann im Gegenzug geliebt werden«.182 Wenn Kinder im Verstoßungsmodus ihre Mami/ihren Gott verehren und lieben, wenn sie ihre Schläge und die Qualen ihres Körpers erdulden, wenn sie alle persönlichen Bedürfnisse aufgeben, fasten und Sex vermeiden, wird ihnen durch ihr masochistisches Verhalten Vergebung zuteil und schließlich vielleicht sogar gestattet werden, mit der Mutter zu verschmelzen.183


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Das wichtigste leidende Opfer-Alter-Ego ist natürlich Christus, der von Gott auf die Erde entsandt wurde, um seine Wunden herzuzeigen und im Namen der Menschheit um Mitleid zu bitten. Während die narzisstische Persönlichkeit der Antike generell mit Sokrates darin übereinstimmte, »niemand [wäre] absichtlich böse«,184 stellten die masochistischen Persönlichkeiten der frühen Christen die Sünde ins Zentrum des Lebens und gründeten eine Kirche der Buße und der Beichte, die zum ersten Mal ein Verzeihen von Sünden erlaubt. 

Die Grübeleien der ersten Theologen über Christus klingen wie ein Wiederkäuen des Kindes über seine oder ihre mütterlichen Misshandlungen: »Gott verstieß ihn, er behandelte ihn wie den Abscheulichsten aller Menschen; und nach einer Unendlichkeit der Ungnade, Schande und des Leidens, ohne jegliche Rücksicht darauf, dass er sein Sohn war, veranlasste er sein Sterben in der schändlichsten und grausamsten Qual, die es je gab. ... Er übte Rache an seinem Sohn, als ob er nichts mit ihm zu tun hätte.«185 

Dann aber, wie bei Kindern des Verstoßungsmodus, sprachen die Christen mit einem simplen Trick die Mutter/Gott von jeder Schuld frei, indem sie sagten: »Mir ist für alles die Schuld zu geben. Ich verdiene die Qual. Mami/Gott wird Mitleid mit mir haben, wenn ich mir Schmerzen zufüge.« Der Trick ist einer, der bei Borderlinern im unteren Level heute regelmäßig angewendet wird, die eine hohe Anzahl an Vorkommnissen von dokumentierter Vernachlässigung in der Kindheit (92 Prozent) und physischem und sexuellem Missbrauch (59 bis 91 Prozent)186 aufweisen. Sie schneiden, verbrennen und foltern sich selbst unaufhörlich im Sinne einer Selbstbestrafung und erhalten von ihren Mutter-Alter-Egos Mitleid. Frühere Götter der Antike brachten Kinder um, quälten diese und, wie Jehova, »lachten [nur] beim Abschlachten der Verdammten.«187 Der Christengott hat einen dafür geliebt, sich selbst zu quälen und zu opfern.

 

Bis zum frühen Christentum war das masochistische Zurschaustellen von Wunden bereits eine populäre Gruppenfantasie der Antike. Gladiatorenkämpfe »zur Beschwichtigung der Geister der Toten« waren weit verbreitet, wobei sich Krieger freiwillig meldeten, in der Arena getötet zu werden oder ihre Wunden herzuzeigen und den Applaus der Menge zu bekommen.188 Völlig grundlose Kriege wurden hauptsächlich zu masochistischen Zwecken geführt; man sagte, dass »Krieger glücklich« sind »über ihre Wunden; sie freuen sich, ihr fließendes Blut zur Schau zu stellen. ... Der Mann, der unverletzt von der Schlacht zurückkommt, mag genauso gekämpft haben, aber wer verwundet wiederkehrt, wird höher geachtet.«189 Der christliche Masochismus ritualisierte das Absolutions-/Bußeritual und gab seinen Anhängern so die Gewissheit, sie könnten zu einer Kirche gehen, wenn sie sich ungeliebt fühlten, die Qualen Christi wiedererleben, ihre Sünden beichten, Buße tun und ihrer Mami/Gott versichern, sie würden sie verehren und dass es eigentlich die Schuld des Kindes/Anhängers wäre, warum Mami/Gott so unglücklich war.


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Beichte, Buße und Absolution sind endlose Alter-Ego-Versöhnungen: »Gregor brachte häufig seine Angst zum Ausdruck, dass, wegen Gottes unbekannter und unvorhersagbarer Strenge, der Mensch nie wissen konnte, ob er sich genügend Qualen auferlegt, um Gott zu versöhnen. ... Strafe sollte die Form einer konstanten, unaufhörlichen Sorge und Traurigkeit über seine Sünden annehmen ... wie ein Stachel im Fleisch.«190 Christen und Juden »wetteiferten und reflektierten neue und Zeichen setzende Praktiken von Martyrien«,191 sogar bis zum Suizid. Auch Jesus, sagt Johannes, verübte eigentlich Selbstmord, und Augustinus sprach von »der Manie der Selbstzerstörung« bei den frühen Christen.192 

Die römischen Autoritäten versuchten, die Christen möglichst zu meiden, weil sie das Volk so lange »anstachelten, schalten, erniedrigten und beleidigten, bis dieses ihren Tod forderte«.193 Ein Mann schrie einem römischen Beamten zu: »Ich möchte sterben! Ich bin ein Christ!«, was diesen zur Antwort veranlasste: »Wenn sie sich selber umbringen wollten, gäbe es dazu reichlich Klippen, von denen sie sich stürzen könnten.«194 

Aber die Christen, Tertullians Gebot folgend, dass »Martyrium von Gott gefordert« würde, erzwangen ihr eigenes Martyrium, damit sie in ekstatischer Trance sterben konnten: »Obwohl ihre Qualen grausam waren, litten die Märtyrer nicht, sie genossen ihren analgetischen Zustand.«195 Auch heute vollenden etwa 10 Prozent der masochistischen Borderliner den Suizid,196 und immer ist auch ein maternales »Versteckter Henker«-Alter-Ego dabei, um sich zu bemitleiden.

 

Der Bedarf an Suizid, Martyrium und Askese war in jedem Element christlicher Rituale und Praktiken eingebaut. Askese war eine Orgie masochistischer Buße für die Sünden der Individuation, mit Fastenzeiten, Flagellationen, Keuschheit und routinemäßigen Erfordernissen von Pilgerungen — was die Wiederaufführung der Hungerzeiten, Einwickelungen, Schläge und der Vertreibung zur Amme in der Kindheit darstellte. Dennoch, anders als bei früheren Religionen erlaubte das Christentum seinen Priestern, nach der Bestrafung zu verzeihen, zu trösten, und die Aussöhnung des Sünders/Kindes mit der Mutter/Gott. Während frühere Religionen Tiere oder andere Opfer-Alter-Egos bestraften, unterstützte das Christentum die Bestrafung des eigenen Körpers als reinigende »zweite Geburt«. Mami/Gott könnte durch das Martyrium besänftigt werden, und man könnte letztendlich seine/ihre Liebe erhalten. Okatvius beschreibt die Freude Gottes beim Anblick leidender Christen: »Was für ein angemessenes Spektakel für Gott ist zu sehen, wenn Christen im Angesicht des Schmerzes stehen.«197 So teilte auch Papst Urban den Rittern, um diese zum Ersten Kreuzzug zu bewegen, mit: »Wir geben euch einen Krieg mit der glorreichen Belohnung durch ein Martyrium«,198 mit der letzten Belohnung, der Liebe Gottes, da »nur Märtyrer vor der Zweiten Erscheinung ins Paradies eingehen werden«.199

Dass Priester Bestrafende waren, führt zur Spekulation, ob diese in Wirklichkeit nicht Konkretisierungen des Täter-Alter-Egos darstellten, das heißt Überbleibsel von Missbrauchern. Obwohl man üblicherweise die »Legionen von Dämonen und Geistern« als solche identifiziert, die Christen dazu brachten, sich als Täter selbst Wunden zuzufügen, hatte man eher die Vorstellung von Priestern als hilfreichen Figuren. 


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Immerhin stellt sich heute bei priesterlichen Alter Egos von Masochisten oft heraus, dass diese Züge von Vergewaltigern tragen.200 Psychotherapeuten, die Überlebende rituellen Missbrauchs behandeln, meinen, dass »Satan sich normalerweise als traumatisiertes Kind entpuppt«, wütend über den frühen sexuellen Missbrauch.201 Faktisch enthalten die Figuren des Alter Egos und der religiösen Fantasie Überreste sowohl von Tätern als auch von Opfern der Kindheitstraumata. 

Der Teufel mag die Wut des vergewaltigten Kindes verkörpern, aber er besitzt auch Attribute des Vergewaltigers: Er ist nackt, er hat eine lange Nase (Penis), er ist rot (Röte des erigierten Penis) und er ist behaart (Schamhaare). 

Die präzisen Details der Darstellungen von Christus am Kreuz stammen alle aus der Kindheit. Christus wird als kleines Kind (nackt, nur mit einem Lendenschurz umwickelt) gezeigt, von Mami (Gott) verstoßen, an ein hölzernes Kreuz gebunden oder genagelt (das Brett, auf das alle Kinder beim Einwickeln gebunden wurden), mit einer Dornenkrone (die schmerzvollen kopfformenden Vorrichtungen, die bei Säuglingen vor dem Einwickeln verwendet wurden) und einem blutigen Loch an der Seite (Hinweis auf Kindesvergewaltigung - vaginal oder anal). Selbst die Details aus dem Leben Christi gehen mit verbreiteten Kindheitsumständen konform. Zum Beispiel wurde Christus die seitliche Wunde deshalb zugefügt — was einen Gegenstand großer theologischer Sorge darstellt —, weil sein Vater ihn gesandt hat, um gekreuzigt zu werden — genau wie zu der Zeit viele echte Väter ihre Kinder Nachbarn zum Gebrauch als sexuelle Objekte aushändigten —, und der böse Soldat entkleidete Christus und stieß seine phallische Lanze in ihn — genau wie der böse Nachbar das Kind auszog und seinen erigierten Penis hineinstieß. 

Wenn Sexualität die Erinnerung an Vergewaltigung, die die meisten Kinder in dieser Zeit erlitten, bedeutete, ist es kein Wunder, dass das Christentum predigte, Sexualität wäre schändlich, »ein Zeichen menschlicher Knechtschaft«, und um jeden Preis zu vermeiden. Auch das Ritual der Messe — mit »dem Herrn, geopfert und auf den Altar gelegt, und der Priester stehend, und all die Leute, gerötet von seinem so kostbaren Blut« (Chrystosomos)202 — ist genauso ein »Ritus der Penetration«, eine Wiederaufführung der Kindheitsvergewaltigung, wenn der Furcht erregende Priester mit seiner schwarzen Robe den hilflosen, nackten Christen langsam umdreht. Das tiefste Gefühl in all diesen christlichen Riten waren die Einsamkeit und der Hunger des Anhängers — die Verstoßungsdepression —, und so ist es nicht verwunderlich, dass Bilder von wirklichem Hunger oftmals während der christlichen Rituale zum Vorschein kamen. Priester und Glaubensanhänger berichteten vielfach, sie würden während der Heiligen Kommunion in der Hostie »einen sehr jungen Knaben [sehen]; und wenn der Priester die Hostie brach, glaubten sie einen Engel zu sehen, der vom Himmel kam und den Jungen mit einem Messer schnitt«. Die Priester hätten ansonsten Angst gehabt, die Anhänger würden nicht in die »Kommunionshostie [beißen wollen], wenn sie sähen, dass sie eigentlich den Kopf, die Hände und die Füße eines kleinen Kindes abbeißen«.203 


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Sogar von Christus selbst, dem Opfer-Alter-Ego, dachte man, er wäre fürchterlich hungrig: »Christus ist weit über alle Maße hungrig; er verschlingt uns. ... Sein Hunger ist unstillbar.«204 Der Hunger des Kindes des Verstoßungsmodus — nach Liebe, Nahrung, Fürsorge, Unterstützung — ist unvergesslich und kann im gesamten Mittelalter im Kern eines jeden christlichen Rituals gefunden werden.

 

Die Borderline-Psychoklasse des späten Christentums

 

Es muss darauf hingewiesen werden, dass neue Elternschaftmodi erst mit sehr wenigen Menschen beginnen, was bedeutet, dass die Elternschaft des Ambivalenzmodus und die daraus hervorgehenden Borderline-Persönlichkeiten einer höheren Stufe — beginnend mit dem 12. Jahrhundert — in europäischen Familien für einige Zeit eine Minderheit blieben und in ihren Gesellschaften mit früheren masochistischen, narzisstischen und schizoiden Persönlichkeiten koexistierten. 

Im 12. Jahrhundert, als Westeuropa anfing, neue Wege zu gehen, waren die Reiche der Antike in einer masochistischen Orgie militärischer Selbstzerstörung kollabiert. Gegen die einer Borderline-Persönlichkeit anhaftenden Bedürfnisse — ein Symptom ihres Empfindens von Isolation, Leere und Trennungsängsten — wehrte man sich jetzt mit der Entwicklung der tiefgründigen persönlichen Bindungen des Feudalismus. »Der Borderliner«, sagt Hartocollis, »ist ein aufgebrachtes Individuum. Charakterisiert von oralem Verlangen, oft mit einem paranoiden Beigeschmack [und] einem Gefühl von Leere oder Depression ... was ihn chronisch einsam, frustriert, entfremdet macht.«206 

Diese Leere war der mittelalterlichen Psychokiasse als Acedia bekannt, von der ein Mönch im 12. Jahrhundert sagte, diese sei »ein Ekel des Herzens, eine enorme Abscheu vor sich selbst ... eine große Bitterkeit. ... Deine Seele wird in Stücke gerissen, konfus und gespalten, traurig und verbittert.«206 Ab dem 12. Jahrhundert schenkte man Acedia als »Abkehr von Gott« große Aufmerksamkeit, und wieder lag die Schuld bei der Person/dem Kind und nicht bei Gott/der Mutter. Wenn Leute gestanden, Acedia bei sich zu bemerken, und diese von ihren Gefühlen der Verzweiflung und des Selbsthasses berichteten, wurden ihnen von ihren Priestern schwere Bußen auferlegt, um die Selbstmordgedanken abzuwehren.

Das Klammern der feudalen Bindungen ist parallel zu der klammernden Bindung an Gott, an Mutter Maria und an Jesus zu sehen, der zum ersten Mal maternale Züge annimmt und Verehrern erlaubte, auch an seiner Brust und seinen Wunden zu saugen.207 Reale Mütter des Ambivalenzmodus nährten jetzt ausreichend, und man findet sogar Beschreibungen wie: »Gott als Frau stillt seine Seele an ihrer Brust, trocknet seine Tränen und seine geringfügigen Dummheiten.«208 Natürlich ist beim richtigen Borderline-Stil der Preis für ein wenig Nähe zu Gott die totale Aufopferung, und die mittelalterlichen Christen beteuerten: »An meinen Geliebten, ich werde ewig Sein Diener sein, Sein Sklave. Alles für Gott und nichts für mich.«209)


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Zeitgenössische Borderliner drücken es so aus: »Ich weiß, du wirst mich lieben und auf mich aufpassen, wenn ich mich selbst nicht aktiviere. Ich werde dir gefallen, indem ich mich an deine Wünsche hefte und sie dir erfülle, dann wirst du auf mich aufpassen und diese bösen (Verstoßungs-)Gefühle werden verschwinden.«210

Die Fortschritte von Borderline-Persönlichkeiten gegenüber jenen niedrigstufiger masochistischer Psychokiassen waren jedenfalls tiefgreifend und fingen bald an, die Errungenschaften über Westeuropa hinaus in den Rest der Welt zu tragen. Beginnend mit dem 12. Jahrhundert ist viel über »die Erfindung des Ich und Individualität« geschrieben worden. Vor dieser Periode gab es nicht einmal ein Wort für das »Selbst«, und das Wort Persönlichkeit bezeichnete die Maske des Schauspielers, die er vor sein Gesicht hält, ein »falsches Selbst« also.211 Aber »das Praktizieren von Selbstexaminierung war im Europa des 12. Jahrhunderts tiefer und weiter verbreitet als je zuvor [und] das mittelalterliche Europa wandelte sich von einer <Schamkultur> zu einer <Schuldkultur>«, als innere Motive und nicht mehr nur äußerliches Verhalten in den Fokus der Konfessionen und der Literatur rückten.212) 

 

Autobiographien vervielfachten sich, Siegel, die auf die persönliche Identität deuteten, kamen in Umlauf, und Schreiber begannen sich zu fragen, ob Gott ein einzigartiges Selbst für jede Person zulassen würde, ein Homo interior, der von einem selbst gestaltet war — »ein Abbild Gottes« natürlich, aber immerhin aus dem eigenen realen Selbst gemacht.213 Die gesellschaftlichen Resultate dieser Verbesserungen des Selbst in der Zeit vom 12. bis zum 15. Jahrhundert waren erstaunlich: eine gewaltige Expansion in der Landwirtschaft und frühe Industrien, die Anfänge von sowohl Staatenbildung als auch Kapitalismus, ein Anschwellen des Handels und der Forschung, ein riesiges Bevölkerungswachstum durch den Rückgang von Infantizid und ein enormes Wachstum von Städten und zivilen Rechten. 

Veränderung wurde zum ersten Mal in der Geschichte nicht nur möglich, sondern auch vorgezogen. Diejenigen Menschen in diesen Jahrhunderten, die immer noch masochistisch und narzisstisch waren, dekompensierten durch den ganzen Wandel, waren von Teufeln besessen, meinten, für ihre dreisten Bestrebungen in die Hölle geworfen zu werden, oder flagellierten sich für den Wunsch nach Unabhängigkeit selbst. Bald begann Wachstumspanik Ängste vor einer Jahrtausendgewalt aufkommen zu lassen, was direkt in die apokalyptischen Erwartungen und Hexenjagden der Renaissance und der Reformation einmündete.

 

Die depressive Psychoklasse der Renaissance und Reformation

 

Der neue Kindeserziehungsmodus, der um das 16. Jahrhundert entstand — der aufdringliche Modus —, war ein Sprung nach vorne, als Mütter damit aufhörten, ihre Kinder Ammen zu überlassen, sie nicht mehr hungrig in ihren Wiegen ließen, man sich den Aufgaben der Fürsorge mutig, wenn auch unsicher, stellte. Man beendete die Wickelungen, schlug die Kinder weniger und hörte auf, sie als Diener wegzugeben. 


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Wie zuvor beschrieben, verlagerten die Eltern ihre Absicht vom Versuch, das Wachsen der Kinder zu stoppen, hin zu dem Versuch, sie bloß zu kontrollieren und »folgsam« zu machen. Bei den Eltern des aufdringlichen Modus fing nun wahre Empathie an, erzeugte eine generelle Verbesserung auf der Ebene der Fürsorge und reduzierte die Sterblichkeit, was zu mehr Zuwendung für jedes Kind führte. Der Unterschied zwischen Borderline- und depressiven Persönlichkeiten, so wie er in der heutigen Zeit dokumentiert worden ist, stellt das Resultat eines weit weniger offenen sexuellen und physischen Missbrauchs in der Kindheit dar, mit weit weniger Impulsivität, niederem Selbstwert und selbstdestruktiven Handlungen bei Depressiven, trotz der Präsenz von Traurigkeit als bedeutendster Emotion.214 

Der Grund dafür ist, dass diese etwas tun, was Borderliner noch nicht können, nämlich sich ihrer Verstoßungs­depression zu stellen. Psychotherapeuten meinen, dass, nach der Behandlung von Borderlinern und der Konfrontation mit ihren Abwehrmechanismen, die Patienten über einige Zeit hinweg depressiver werden würden, weil sie sich letztendlich den Verstoßungsängsten ihrer Kindheit stellen müssten, anstatt vor ihnen in Form von klammerndem selbstdestruktiven Verhalten davonzulaufen, da »Depression Verbesserungsprozesse begleitet ... die Anfänge der Integration von Identität, die Entwicklung eines integrierten Selbst und von Objektrepräsentationen [und] bewusster Schuld und Gewissensbissen«.215

 

Seitdem Huizinga die »düstere Melancholie, die auf den Seelen der Menschen [nach dem Ende des Mittelalters] lastete«, analysierte, ist diese Periode für ihre tiefe Verzagtheit bekannt, da, wie Donne sagt, Gott »für diese Zeit eine außerordentliche Traurigkeit reserviert hat, eine vorherrschende Melancholie«.216 Von Tagebüchern aus dem 16. Jahrhundert bis zu Burtons Anatomy of Melancholy waren Bücher kaum mehr als Aufzeichnungen der Depressionen des Schreibenden und dessen Versuche, diese zu überwinden. Humanisten glorifizierten Melancholie als erhöhtes Selbstbewusstsein des Intellektuellen, als Preis für Individualität, und sie hatten Recht. 

Man musste der Melancholie als etwas gegenüberstehen, was Pico einen Menschen nannte, »von keinen engen Banden zurückgehalten, seinem eigenen freien Willen in ihm entsprechend sein eigener Macher und Former, sich selbst, in welcher Manier auch immer, und wie man es am besten will, gestaltend.«217 Sowohl Jaques (in As You Like It) als auch Hamlet wurden von Shakespeare stolz als »melancholische Philosophen« präsentiert, trugen mit Stolz Schwarz, »verurteilten Missbräuche, aber verurteilten nie die weltliche Existenz«.218 

Der Renaissancegelehrte Marcilio Ficino spekulierte darüber, »warum Melancholiker intelligent sind«, und notierte, die fortschrittlichsten, gebildetsten Menschen, die er kenne, wären immer melancholisch.219 Philosophen erteilten den exzellenten Rat, dass Freundschaft das beste Mittel gegen »Melancholie, dem Unbehagen des Zeitalters«, sei.220 Elisabethaner dachten, Melancholie wäre »sowohl ein sehr elender als auch sehr glücklicher Zustand ... [und] Melancholie ist als großes Glück oft gelobt und gesucht worden«, als ein Zeichen eines Intellektuellen, der sich »über die belanglosen Sorgen eines gewöhnlichen Menschen erhoben hat und mit Gedanken von Wert und Würde beschäftigt war«,221 Gedanken von persönlicher Bedeutung und Selbsterhöhung.


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Obwohl man aus der Sicht der depressiven Persönlichkeit der Reformation Mamis/Gottes Gunst nur nach »heiliger Verzweiflung« erlangte, obwohl ihre Vergebung noch immer »unvorhersehbar, unbekannt und unvorstellbar« war, konnte sie/er, wenn man ihrem Diktat folgte, ein vergebender Gott sein, der sich um einen sorgt.222 Luther konnte jetzt hoffen, dass Gott ihn wirklich lieben würde, weil Er manchmal liebenswürdig war! Diese Hoffnung erlaubte plötzlich eine Erweiterung des realen Selbst und der Welt, und deren Aktivitäten wurden plötzlich mit neuer Energie versorgt. 

Für die neue depressive Psychoklasse wurde man von Mami/Gott nicht sexuell gefordert, deshalb war Ehelosigkeit nicht notwendig. Die Mutter konnte vergeben, weshalb man ihr trauen und einen Blick auf ihre Güte werfen konnte. Sie zeigte Aufmerksamkeit für das Verlangen nach Nahrung, weshalb man nicht das ganze Leben lang fasten musste. Sie hörte wirklich zu, weshalb man sein Selbst über das Klammern an religiöse oder politische Autoritäten hinaus individualisieren konnte. Dissoziation und Spaltung gingen bei diesen Depressiven zurück - und man erreichte zum ersten Mal das, was Melanie Klein »die depressive Position« nannte, welche die Verschmelzung der Spaltung gute Brust/böse Brust erlaubte. So teilte man Frauen nicht mehr in Jungfrauen und Huren (Maria und Eva) ein, sondern diese wurden zum ersten Mal als menschliche Wesen mit guten und schlechten Eigenschaften betrachtet. Heirat wurde zum ersten Mal in der Geschichte als erstrebenswertes Ziel angesehen, anstatt ein Mittel zur Legitimation von Unzucht zu sein.

 

Im 16. und 17. Jahrhundert hatte der neue Modus der aufdringlichen Kindeserziehung Westeuropa weit über frühere Psychoklassen der restlichen Welt hinaus katapultiert und gab seiner Minderheit von Depressiven ein neues Gefühl von Selbstwert und das Ideal von kumulativem, notwendigem Fortschritt, der in die moderne Welt, wie wir sie heute kennen, führte. Das Wachstum an Wissen, die Erfindung des Buchdrucks, das neue Hinterfragen von Autorität, die Erforschung neuer Länder und Ideen, all dies waren Hinweise darauf, dass »europäische Menschen sich in grundlegender Weise geändert hatten«223 — eine Veränderung in ihrer Psyche, nicht in ihrer Umwelt. 

Zum ersten Mal in der Geschichte wurde Mami/Gott »in einen vagen und unergründlichen Himmel verbannt, irgendwo oben in den Lüften. Der Mensch, und nur der Mensch allein, war der Standard, an dem alle Dinge gemessen wurden.«224 Wissenschaft begann ihren spektakulären Sprung in das Unbekannte. Politische Systeme ohne göttliche Zustimmung und Ökonomien, die auf echtem Vertrauen basierten, wurden zu Zielen der Gesellschaft. Vergnügen im Leben musste nicht etwas Sündiges sein, Hoffnung war erlaubt, und Freiheit zur Selbsterforschung musste nicht Ungehorsam gegenüber Mami/Gott bedeuten. Diese Lektionen — zuerst in der Familie gelernt, vorgelebt von innovativen Müttern — brachten bald neue Institutionen als Ausdruck dieser neuen Freiheiten hervor, speziell in Frankreich und England, wo die Kindererziehung am fortschrittlichsten war.


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Leider waren die Depressiven immer noch eine Minderheit, als diese in jenen Jahrhunderten damit anfingen, ihre neuen Freiheiten auszuleben. Die früheren Psychoklassen erlebten die neuen Freiheiten dieses Zeitalters als schrecklich gefährlich und waren sicher, den Zorn Mamis/Gottes auf sich zu ziehen. Diese Jahrhunderte des Fortschritts waren daher auch Jahrhunderte apokalyptischer Ängste und Kriege, da die Menschen sicher waren, dass so viel Veränderung Satan und dessen Schwärm von dämonischen Alter Egos entfesseln würde und die Welt mit Sicherheit bald untergehen würde. Apokalyptische Prophezeiungen, Kulte und Religionskriege nahmen während der Reformation in Europa stark zu, speziell in Gebieten wie Deutschland, wo sich die Erziehung am wenigsten weiterentwickelt hatte.225 

 

Was Trevor und Roper »die allgemeine Krise des 17. Jahrhunderts«226) nannten, war eigentlich ein Psychoklassenkonflikt, und die Dämonen, Hexen und Antichristen, die zu dieser Zeit durch Europa zogen, waren in Wirklichkeit Verfolgungs-Alter-Egos, die den Schizoiden, Narzissten, Masochisten und Borderlinern innewohnten, die noch immer die Mehrheit in Europa ausmachten. Diese früheren Psychoklassen antworteten mit Gewalt auf den großen Fortschritt der Periode, »agierten mit heftiger Gewalt eine kollektive [Milleniums-] Phantasie aus, die, obwohl wahnhaft, diesen dennoch eine solch intensive emotionale Erleichterung verschaffte, dass sie ... willens waren, dafür zu töten und zu sterben«.227 Von den neuen Gottesdiensten der Reformation meinte man, sie wären »voll von wüder Freiheit«, und »bestienartige fleischliche Freiheit« wäre bei einem anabaptistischen Gebetstreffen zu sehen gewesen, wo die Gottesdienste, so sagte man, nackt abgehalten worden wären.228 

All die Individuation würde mit Sicherheit die Bestrafung der Menschheit nach sich ziehen — es wurden Pamphlete in Umlauf gebracht, die beschrieben, wie es aus den Wolken Blut regnen würde und Vogelschwärme sich »als Vorboten einer bevorstehenden Katastrophe« am Himmel kosmische Schlachten liefern würden.229 Man halluzinierte ein »vielköpfiges Monster«, das Europa anfallen und den Jüngsten Tag vollziehen würde, weil »heutzutage siebenjährige Kinder mehr Gemeinheiten an den Tag legen, als dies zuvor nur bei bösen alten Männern der Fall war. ... Die Welt ist so niederträchtig geworden, dass es kaum schlechter werden kann.«230 Überall in Europa brachen Religionskriege aus, da »Gott es nicht länger aushielt und sich dazu entschied, seine Kirche in einer großen Heimsuchung zu säubern«.231

 

Historiker waren lange verwundert darüber, dass in den fortschrittlichsten Jahrhunderten eine Epidemie der Hexerei ausbrach; wenn man aber die Manie als Reaktion auf Wachstumspanik betrachtet, wird dies nachvollziehbar. Zehntausende Frauen reagierten auf ihre neuen Freiheiten, indem ihre Alter Egos von ihnen Besitz nahmen und sie in Trance fielen: »Beobachter sprachen von den Besessenen als <würgend>, <Tausenden von grauenhaften Kniffen> ausgesetzt, <[von] unzähligen Nadeln gestochen> und <mit Messern geschnitten und von Hieben getroffen, die sie nicht aushalten konnten>«,232) als diese die Erinnerungen an die Stecknadeln beim Wickeln, elterliche Hiebe und andere Kindheitstraumata wieder aufführten. 


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Jene, die Hexen verfolgten, nahmen offensichtlich Rache an ihren Müttern; tatsächlich waren die meisten Hexen entweder selbst Mütter oder Ammen.233 Bei einer Hexe war dies deutlich zu erkennen, da sie auf einem maternalen Besen ritt, spezielle Zitzen besaß, an denen »Kobolde« saugten, Babys in ihren Krippen erstickte und ungefragt in dein Schlafzimmer kam und dich verführte.234 So schreibt Roper: »Beziehungen zwischen Müttern und denjenigen, die maternale Rollen und die Kinder übernahmen, formten den Stoff, aus dem die meisten Anschuldigungen wegen Hexerei gemacht waren.«235 »Immer und immer wieder werden in den Aufzeichnungen der Verhandlungen die angeklagten Frauen als <Mutter> angesprochen. ... Die Hexe ist eine monströse Mutter.«236

 

Die Vergewaltigung von Kindern bildete den zentralen Fokus von Gruppenfantasien über Hexerei. Beschreibungen von Orgien, die an Sabbaten abgehalten wurden, geben den Blick auf deren Ursprünge in Kindheits­vergewaltigungs­attacken frei, und junge Mädchen, die vor Gericht »krampfartige Anfälle« bekamen, wenn »der Teufel in sie einfuhr«,237 führten jedes Detail ihrer früheren Vergewaltigung vor ihrem erschrockenen Publikum wieder auf. Besonders Nonnen wurden von dämonischen Besessenheiten heimgesucht, fielen in Trance und beschuldigten Priester, sie verführt zu haben, was diese oft auch wirklich getan hatten.238 Die extreme Jugend der Vergewaltigten kann man an ihrer Klage erkennen, dass »die Genitalien ihres Dämons so groß und so übermäßig steif waren, dass sie nicht ohne größte Schmerzen aufgenommen werden können«.239 Ganze Dörfer versetzten sich manchmal gemeinsam in Trance, nannten sich »Benandanti« und bekämpften zusammen Teufel, alle in voller Dissoziation, »als ob ich schliefe und auch nicht schliefe«.240 Als schließlich am Anfang des 18. Jahrhunderts die Hexenmanie verschwunden war, war eine Million unschuldiger Menschen in einer Orgie der Alter-Ego-Verfolgung, verursacht durch zu großen Fortschritt während der Reformation, getötet worden.

 

Die neurotische Psychoklasse der Moderne

 

Der im 18. Jahrhundert beginnende sozialisierende Modus der Kindererziehung, der bis heute das Ideal der meisten Nationen darstellt, ersetzte den absoluten Gehorsam der aufdringlichen Psychoklasse durch elterliche Manipulation und psychologische Bestrafungen, um das Kind als Replik des jeweiligen Elternteils in die Welt einzufügen.241 Individuation wurde immer noch begrenzt, da die Bedürfnisse und Ziele der Eltern jene des Kindes ersetzten, wenn das Kind den Versuch einer Trennung wagte, doch stand den Eltern nun Empathie zu Verfügung, was die Versorgung mit grundlegender Pflege garantierte. Es war die sozialisierende Psychoklasse, welche die moderne Welt erschuf, mit ihren Idealen eines kompetenten Selbst und der Suche nach dem wahren Selbst als lebenslanger existentieller Suche.242 


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Masterson drückt dies so aus: »Die psychoneurotische Persönlichkeit ... besitzt die Fähigkeit für ganze Selbst- und ganze Objektbeziehungen; und Repression hat Spaltung ersetzt. Aus der Perspektive der Persönlichkeitsstörung ist es eine Leistung, psychoneurotisch zu sein.«243

Anstatt in völlige Besessenheitstrancen und dämonische Alter Egos zu wechseln, nimmt die neurotische Psychoklasse ihre soziale Alter-Ego-Rolle an (siehe Kapitel 4), wie sie eher von den Gruppenfantasien von Nationen als von religiösen Gruppen hervorgebracht wird. Opfer für die Mutternation — Sterben für das Mutterland — ersetzten das Sterben für Christus: »Wir müssen sterben, damit das Mutterland leben kann; denn solange wir leben, stirbt das Mutterland. ... Eine Nation kann sich nur in einem Bad von Blut regenerieren.«244 Es war die Nation als Hauptgruppenfantasie, die sowohl das neue Vertrauen in den Fortschritt als auch ihre Opferkriege organisierte und aufbewahrte, und diese in periodischen Zyklen in innovativen, depressiven, manischen und kriegerischen Phasen ausagierte (siehe Kapitel 6). 

In jeder Phase folgen Nationen einem anderen Psychoklassenstil. In der innovativen Phase sorgt die neurotische Psychoklasse für neue soziale, politische und ökonomische Entwicklungen; in der depressiven Phase folgt man der depressiven Psychoklasse in die ökonomische Depression; in der manischen Phase übernehmen die Narzissten mit ihren grandiosen Projekten; und in der Kriegsphase folgen Nationen selbstdestruktiven Masochisten und paranoiden Schizoiden in den Kampf. Frühere Psychoklassen — psychologische Fossile — als Führer zu wählen, ist in modernen Nationen zur wiederkehrenden Praxis geworden, lediglich maskiert durch die in ihr soziales Alter Ego gewechselte, idealisierende Öffentlichkeit. Zu realisieren, dass wir willentlich einer Handvoll von Männern, die in tiefer Trance im Oval Office sitzen, die Macht delegieren, den Großteil der Welt in die Luft zu jagen, abhängig davon, ob diese glauben, sich gedemütigt zu fühlen — wie bei der Kubakrise —, heißt, das bizarre Ausmaß der Dissoziation zwischen Fantasie und Realität zu realisieren, das weiterhin unsere modernen Psychen erfüllt.

 

Alle anderen Aspekte moderner industrialisierter Gesellschaften sind gleichermaßen Resultate der neuen sozialisierenden Psychoklassenkindererziehung und bewirkten in den letzten beiden Jahrhunderten einen größeren Zuwachs materieller Prosperität als im Rest der Menschheitsgeschichte. Der Grund für diesen erstaunlichen Fortschritt liegt darin, dass Wissenschaft, Technologie und wirtschaftliche Entwicklung mehr von Investitionen in Elternschaft als von Investitionen in Ausrüstungsgegenstände abhängen, da diese ein »erforschendes Selbst«, das bereits in der Kindheit gebildet wird, benötigen. Einige wenige Ökonomen realisieren, dass der Reichtum der Nationen mehr in der Entwicklung von Psychen als in der Investition von Kapital begründet liegt. Everett Hagan und Lawrence Harrison haben zum Beispiel gezeigt, dass jene Nationen, die in ihrer ökonomischen Entwicklung am weitesten hinten sind, unter schweren Unterinvestitionen in Familien und Kinder leiden und nicht unter zu wenig Ausstattung mit Kapital.245 


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Historische Aufzeichnungen zeigen deutlich: Frühe Pioniere der Wissenschaft und der Technologie mussten zuerst ihre Alter-Ego-Projektionen überwinden, bevor sie entdecken konnten, wie die Welt funktioniert. Wie es Keith Thomas ausdrückt: »Es war das Aufgeben der Magie, was den Aufschwung der Technologie möglich machte, und nicht umgekehrt.«246 Newton musste damit aufhören, fallende Objekte zu sehen, die »sehnsüchtig zu Mutter Erde zurückkehrten«, bevor er eine Gravitationskraft postulieren konnte. Chemiker mussten »alchimistische Visionen von Mutterleibschlachten zwischen Gott und dem Teufel« in ihren Glaskolben aufgeben, bevor sie die wahren Hintergründe für chemische Prozesse studieren konnten.247 

Landwirte mussten sich in ihre Pferde hineinversetzen können, um das Pferdegeschirr erfinden zu können, das den Druck von ihren Kehlen auf die Flanken verlagerte, damit sie bei Steigerung der Zuglast nicht gewürgt wurden.248 Landwirte mussten auch damit aufhören, vom Pflügen zu denken, es sei »das Zerreißen der Brust von Mutter Erde«, um den tiefen Pflug erfinden zu können und damit das Bild der europäischen Landwirtschaft zu verändern. Menschen mussten damit anfangen, ihre Familien zu schätzen, um Holzböden in ihre Heime legen zu können, statt als Lehmböden zu belassen, wie es jahrtausendelang üblich war.249 Jede Erfindung hat ihren Ursprung in der Evolution der Psyche; jede Erforschung der Natur war eine Dimension der Erforschung des Selbst.

 

Auch das ökonomische Leben entwickelte sich nur, als die Kindererziehung und die Psyche sich entwickelten. Stammeskulturen in der Vergangenheit wie in der Gegenwart können nicht vertrauen, wenn die Eltern nicht vertrauenswürdig waren, weshalb diese keinen großen Reichtum oder Überschuss zulassen konnten, aus welchen sie einen ökonomischen Fortschritt hätten schaffen können. Von Eigentum meinte man, es sei gefährliche Selbstsucht, würde Neid grassieren lassen, und Ehrgeiz war gefürchtet: »Die Anthropologen mögen Leute sehen, die sich großzügig verhalten, aber das ist das Resultat von Angst.«260

Von jenen, die sich zuviel aneigneten, erwartete man, sie würden sich entweder auf den Austausch von Geschenken251 oder auf andere umverteilende Rituale252 einlassen oder ansonsten ihren Überschuss immer wieder im Rahmen von reinigenden Opferzeremonien vernichten.253 Selbst die Erfindung des Geldes stammt von den heiligen Objekten, die man Gottheiten zu opfern pflegte.254 »Geld ist kondensiertes Vermögen; kondensiertes Vermögen ist kondensierte Schuld. ... Geld ist schmutzig, denn es bleibt Schuld.«255

Was die ökonomische Entwicklung so viele Jahrtausende lang zurückgehalten hat, war die missbräuchliche Erziehung früher Zivilisationen, in der diese die meiste Energie darauf verwendeten, »Geister aus dem Kinderzimmer« zu jagen — die dominierenden religiösen, politischen und ökonomischen Gruppenfantasien —, statt sich zusammenzutun und die realen Aufgaben des Lebens zu lösen. Die erschreckende Armut der meisten Menschen in der Geschichte ist einfach eine Ausdehnung der emotionalen Armut der historischen Familie gewesen, was reale Kooperation in der Gesellschaft unmöglich machte. 


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Zum Beispiel war die Sklaverei eines der verschwenderischsten, unökonomischsten Systeme, die je erfunden wurden, da einfach die Produktivität und der Erfindungsgeist sowohl des Sklaven als auch des Sklavenbesitzers verschwendet werden, wenn dem Arbeitskollegen die Autonomie verweigert wird. Die Welt wie ein Gefängnis zu führen, in dem die eine Hälfte damit beschäftigt ist, die andere zu bewachen, war schon immer sehr rückschrittlich. Dass unfreie Arbeit immer auch unproduktive Arbeit ist, wird von Ökonomen schon lange anerkannt.256 

Sklaven wurden »als Ausdruck von Status und Prestige ihrer Besitzer«257 gehalten, auch wenn sie wegen ihrer Ketten kaum in der Lage waren, Trauben zu lesen. Sklaven zu besitzen, konnte sehr gefährlich für jemanden und dessen Familie sein; oft rannten sie auch davon. Trotzdem wollte jeder Sklaven, um diese für die Wiederaufführung der Folterungen aus der eigenen Kindheit zu gebrauchen: »Galen stellte fest, wie normal es für Sklaven war, mit Fäusten geboxt oder mit Füssen getreten zu werden, dass man ihnen die Augen herausriss und dass seine eigene Mutter die Gewohnheit hatte, ihre Magd zu beißen.«258 Werkzeuge für die Folterung von Sklaven waren weit verbreitet, einschließlich Peitschen und Gestelle für Auspeitschungen, spezielle Messer für Verstümmelungen des Gesichts und für Kastration sowie Metallplatten und lodernde Fackeln für Verbrennungen. »Es gab sogar einen Folter- und Exekutionsservice, betrieben von einem Bestattungsunternehmen. ... Auspeitschungen und Kreuzigungen standen als Standardoption dem Kunden günstig zur Auswahl.«259

 

Mit einem Bevölkerungsanteil von einem Drittel oder mehr an Sklaven war in den alten Gesellschaften eine unendliche Versorgung mit Körpern zum Auspeitschen gewährleistet, auch wenn das bedeutete, in der Scheiße von Ökonomien mit niedriger Produktivität stecken zu bleiben.260 Während der gesamten klassischen römischen Periode, so Finley, waren Verbesserungen ökonomischer Techniken »marginal, [weil] die Formen des Landbaus und des Ackerbaus unverändert blieben«.261 Es war wichtiger, frühe traumatische Verprügelungen und Herrschaftsfantasien wieder aufzuführen, als die miserablen Verhältnisse, in denen fast jeder lebte, zu verbessern. 

Trotz des Verschwindens der Sklaverei während des Mittelalters — was der Mittelalterspezialist Marc Bloch »eine der tiefgreifendsten Transformationen, die die Menschheit je gesehen hat«,262 nannte —, hielten die Leibeigenschaft und Knechtschaft, welche sie ersetzten, Europa für Jahrhunderte bei einer nur geringfügigen Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens von nur einem Prozent pro Jahr fest.263 Erst in der Periode der frühen Moderne, als das Bedürfnis nach Wiederaufführung der Familiensklaverei zurückging, fing Vertrauen an, Herrschaft zu ersetzen, und die Startphase der Ökonomie konnte beginnen. »Die ultimative Erklärung für die ökonomische Entwicklung liegt nicht rein an ökonomischen Faktoren wie Land, Arbeit und Kapital. ... Diese werden [sich dann einstellen], wenn Menschen lernen, dass es eine gute Sache ist, wenn man gerecht ist und auf den Nachbarn Rücksicht nimmt, Streitigkeiten friedlich löst [und] für die effiziente Verwendung von Ressourcen verantwortlich gemacht wird.«264 Rein ökonomische Theorien, die psychogene Faktoren nicht begreifen, sind auf Statements reduziert wie: »Niemand hat den Fortschritt als solchen geplant. Er brach einfach aus.«265


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Zusätzlich zum Ansteigen des ökonomischen Fortschritts fing die moderne psychoneurotische Persönlichkeit an, Stufen der Intimität zwischen Männern und Frauen zu erklimmen, die vorhergehenden Psychoklassen schlicht unbekannt waren. Wenn Mütter inzestuös waren, überraschte es nicht, dass Frauen von Männern als sexuell unersättlich gefürchtet wurden und man Päderastie und Vergewaltigung dem intimen Eheleben vorzog. Für alle Frauen bestand die Gefahr, sich in dominante Mütter zu verwandeln, wofür sie geschlagen werden mussten; Homers Begriff für »Gattin«, Damar, heißt: »in die Aufgabe gezwungen«. 

Dazu kommt, dass Frauen so lange Zeit in der Geschichte beschuldigt wurden, nicht in der Lage zu sein, ihren sexuellen Appetit zu beherrschen; dies war nicht bloß ein patriarchalischer Mythos — es war vielmehr das Resultat der weit verbreiteten, später im Leben wiederaufgeführten Vergewaltigung von jungen Mädchen, genau wie heute so viele vergewaltigte Mädchen aufwachsen, um erlittene sexuelle Übergriffe später in Form von Prostitution oder Ehebruch zu wiederholen. Dass die menschliche Sexualität während der Antike in Herrschaft und Gewalt eingeflochten war und das Christentum die antisexuellste Religion war, die die Menschheit gekannt hat, wird nur verständlich, wenn man dies als normale Reaktionen auf schwerwiegende Verführungen in der Kindheit sieht, und nicht als unerklärliche religiöse Lehre.

 

Dass in der Antike die »eheliche Liebe zwischen Mann und Frau als lächerlich und unmöglich betrachtet wurde«,266 versteht man besser als Konsequenz des Verlangens der narzisstischen Persönlichkeit nach Perfektion im Partner, weil diese sich davor fürchtete, die Bindung an jemanden zu riskieren, der nicht perfekt war und den man verlieren würde, wie man früher Mütter und Väter verloren hatte. Nur durch effektive Polygamie — entweder formal oder durch Konkubinen und Sklaven als Alternative zu Frauen — konnte die Abhängigkeit von einer Frau vermieden werden. Jedenfalls stellten sich die eifersüchtigen Mütter der Gynarchien der Vergangenheit oft zwischen ihre Söhne und deren Frauen, um diese weiterhin an sich zu binden — wie es zum Beispiel die Mutter des Augustus tat, als sie ihn zwang, eine Konkubine zu entlassen, die über Jahre treu bei ihm lebte. Auch christliche Ehen waren angeblich leidenschaftslos. 

Gott stand für die Großmutter und forderte, dass alle Liebe und Leidenschaft für Ihn reserviert sein sollten. Es passierte nicht wirklich viel bis zum 16. Jahrhundert, als sich schließlich die depressive Psychoklasse ihrer Verstoßungsdepression stellte, Erasmus seine Leser mit der Ansicht erstaunen konnte, Ehe wäre besser als Jungfräulichkeit, und puritanische Frauen ihren Männern leidenschaftliche Liebesgedichte schrieben.267 Und erst durch die sozialisierende Psychoklasse des 18. Jahrhunderts wurde es möglich, dass »man Männer und Frauen, die füreinander Gefühle hegten, höchst schätzte, [zumal] eheliche Liebe nicht Sarkasmus anlockte, sondern glühendste Verehrung, und so entspann sich ein Wettbewerb darum, wer seinen geliebten Partner am meisten liebte, wer der Welt am besten das unerschütterliche Glücksgefühl, das man für seinen Lebenspartner hegte, beweisen konnte«.268)

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