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  Rußland, mon amour     Interview mit Maximow in Zeitschrift: Quotidien-de-Paris

 06 Dissidententum       07 Europa

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Frage: Derzeit ist in vielen intellektuellen Kreisen des Westens eine »moralische Charta« für gebildete Menschen im Gespräch. Welche Prinzipien müßten, Ihrer Ansicht nach, unbedingt in diese Charta aufgenommen werden?

Antwort: Vor allem das Prinzip der absoluten Wahrung der Rechte eines Menschen, unabhängig von seinen Überzeugungen und seiner Parteizugehörigkeit.

Frage: Eines der großen Gegenwartsthemen ist der Kampf gegen die »Internationale der Henker«. Bedeutet dies eine Wende im Kampf der Dissidenten, da dieser Kampf auch gegen westliche totalitäre Systeme geführt wird? Zum Beispiel gegen Argentinien und Brasilien, aber auch gegen die Bundesrepublik Deutschland?

Antwort: Keineswegs. Wer die Entwicklung der demokratischen Bewegung in unserem Lande aufmerksam verfolgt, der begreift, daß sie sich von allem Anfang an nicht im engen Kreis ihrer eigenen Probleme einschloß. Der im Lager gestorbene Jurij Galanskow setzte sich für die dominikanischen Revolutionäre ein; eine Gruppe von namhaften sowjetischen Bürgerrechtlern führte eine Protestdemonstration gegen die Besetzung der Tschechoslowakei im August 1968 durch, was ihnen mit Gefängnisstrafen und Irrenhauseinweisungen heimgezahlt wurde. 

Andrej Sacharow verurteilte wiederholt die Repressionen in Chile, Indonesien, im Iran und Irak. Viele von uns, darunter auch ich, die sich schon im Ausland befinden, nehmen ständig an Aktionen zum Schutz der Menschenrechte an allen Enden der Welt teil. Leider bleibt die von uns gezeitigte Solidarität häufig ohne Gegenliebe auf Seiten derer, die wir zu unterstützen trachten. Dies trifft in erster Linie auf die Vertreter der Länder Lateinamerikas zu. Deshalb kann ich ein Forum nur begrüßen, dessen Thema der Kampf gegen die »Internationale der Henker« sein wird.

Ich gestatte mir nur einen ganz kleinen, meiner Ansicht nach jedoch wesentlichen Vorbehalt: Mir scheint es unumgänglich, »Verstöße gegen die Menschenrechte« und »Verbrechen gegen die Menschenrechte« voneinander abzugrenzen. Ich bin bereit zuzustimmen, daß die in der Bundesrepublik praktizierte »Loyalitätsprüfung« unter den bekannten Bedingungen als Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten eingestuft werden kann. Doch Sie müssen zugeben, daß die administrative Prüfung der politischen Überzeugung und fünf- bis zehnjährige Haftstrafen nicht auf den gleichen Nenner zu bringen sind. Ein Gleichheitszeichen zwischen sie zu setzen hieße, das Wesen des Problems durch politische Demagogie zu ersetzen.

Frage: Die Dissidenten haben es sich zum Prinzip gemacht, alle kulturellen und wissenschaftlichen Maßnahmen der Sowjetmacht zu boykottieren. Zwei Dissidenten jedoch — Gladilin und Nekrassow, der Redaktionsmitglied von Kontinent ist — modifizierten ihre Unterstützung eines solchen Boykotts, und zwar in dem Artikel über Wosnessenskij, der in Le Monde erschienen ist. Was halten Sie von ihren Argumenten?

Antwort: Ich finde, daß Meinungsunterschiede und friedliche Koexistenz von Meinungen das Wesen der Demokratie ausmachen. Gladilin und Nekrassow äußerten ihren persönlichen Standpunkt, der in keiner Weise die Stellungnahme von Kontinent wiedergibt. Wir haben eine Redaktion und keine Kaserne; jeder hat die Freiheit, das zu sagen, was er will, doch das Credo der Zeitschrift bleibt dabei unverändert: totaler Boykott. Was ihre Argumente betrifft, so habe ich darüber bereits geschrieben: Je größer das Talent des Gastes ist, desto strengere Maßstäbe werden an ihn gelegt.

Frage: Waren Sie mit der Boykottaktion im Beaubourg beim Auftritt von Wosnessenskij einverstanden?

Antwort: Ich möchte noch einmal wiederholen, daß ich Talent und persönliche Integrität von Andrej Wosnessenskij keineswegs in Zweifel ziehe, doch ein großer Künstler muß kraft seiner Stellung Verantwortung für sein Land tragen. Wären Thomas Mann oder Bertolt Brecht, wenn sie in Hitlerdeutschland geblieben und frei ins Ausland gereist wären, etwa frei von der Verantwortung für die Verbrechen des Regimes gewesen, nur weil sie hervorragende Schriftsteller waren? Doch eher umgekehrt.

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Frage: Nach der Belgrader Konferenz sind die Hoffnungen, die durch die Beschlüsse von Helsinki und Carters Versprechungen im Bereich der Menschenrechte geweckt wurden, wieder verblaßt, da die Großmächte den Wunsch äußerten, Sicherheitsverhandlungen zu führen und die Handelsbeziehungen zu fördern. Bedeutet das, daß sich die »Menschenrechtsstrategie« ändert?

Antwort: Die Politik der Menschenrechte selbst, die von Präsident Carter angekündigt wurde, ist ein Erfolg unseres Kampfes. Die ist sozusagen »de facto« die Anerkennung der osteuropäischen demokratischen Bewegung als eigenständige politische Kraft. Diese Politik vermag den Prozeß der rechtlichen Erneuerung in höchstem Maße zu fördern, doch seinen Lauf zu verändern, dazu ist sie nicht imstande, denn dieser Prozeß ist irreversibel. Präsident Carters Politik in diesem Bereich könnte, sofern sie konsequent bleibt, vor allem dem Westen selbst, nicht aber uns helfen. Die Destabilisierung des Systems, die Ihre Politiker und Finanzexperten so fürchten, ist ja bereits im Gange. Sie ist mit keinerlei materiellen Stimulatoren aufzuhalten, und deshalb wäre der einzig wahrhaft pragmatische Schritt von Seiten des Westens der, nunmehr alle demokratischen Kräfte in der totalitären Welt zu unterstützen, die im Falle einer Krisensituation die Lage in ihren Ländern beherrschen und die Geschehnisse in eine gesetzliche Bahn lenken würden. Eine andere Alternative gibt es nicht, so sehr sich die westlichen Politiker auch mit dem fragwürdigen Narkotikum Entspannung selber einlullen mögen.

Noch etwas zum Handel. Man wirft uns oft vor, wir seien — da wir zum Boykott aufrufen — dazu bereit, um unserer eigenen egoistischen Interessen willen das Wohlergehen unseres Volkes aufs Spiel zu setzen. Das widerwärtigste an dieser Lüge ist, daß die Herren Geschäftemacher ihren rein merkantilen Kalkulationen eine humanitäre Basis unterschieben.

Frage: Es heißt, die Dissidenten würden durch innere Konflikte gespalten. Stimmt das?

Antwort: Ich versichere Ihnen, daß sich die Lage in den russischen Intellektuellenkreisen im Ausland durch nichts von derjenigen in französischen Intellektuellenkreisen unterscheidet. So viele Menschen es gibt, so viele Standpunkte gibt es auch, manchmal sogar zwei in einem Menschen, doch in grundsätzlichen Fragen halten wir in der Regel zusammen. Sehen Sie sich einmal die Unterschriften unter dem Aufruf zur Verteidigung Alexander Ginsburgs an: Leute, die eben noch über das Boykottproblem gestritten hatten, unterschrieben einmütig dieses Grundsatzdokument.

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Frage: Haben Sie trotz der Enttäuschungen, die eingetreten sind, nachdem die Staaten Ihnen ihre Unterstützung versagt hatten, und bei den zunehmenden Repressionen in der UdSSR Grund zur Hoffnung, daß Sie in nächster Zeit irgend etwas werden ausrichten können?

Antwort: Wir haben eigentlich niemals mit der Hilfe irgendwelcher westlicher Staaten gerechnet. Ich zum Beispiel bin überzeugt, daß es in jedem Cowboyfilm mehr Moral gibt als in der ganzen Politik des Westens den unterdrückten Völkern gegenüber. Meine Freunde und ich bauen vor allem auf einzelne Leute, auf ihre Solidarität, ihr Verständnis und ihren gesunden Menschenverstand. Und täglich begegnen wir mehr von ihnen. Im Endeffekt sind wir die einzige Widerstandsbewegung auf der Welt, die weder Waffen noch Geld braucht, sondern lediglich moralische und öffentliche Unterstützung. Alles übrige tun wir selbst.

 

Frage: Sie waren ein vom Sowjetregime anerkannter Schriftsteller. Wie gelang es Ihnen, »sich zu retten«, wenn man bedenkt, daß Sie ein angesehenes Mitglied des Schriftstellerverbandes waren?

Antwort: Ein »angesehenes« Mitglied des Schriftstellerverbandes war ich nie, und »gerettet« habe ich mich nur dank der moralischen Sprengkraft, welche die heilige russische Literatur mir vermittelte; sie hat sich ja von Anfang an das Ziel gesetzt, um »Gnade für die Gefallenen« zu werben und Nachsicht gegen die »Erniedrigten und Beleidigten« zu üben. Durch meine persönliche Erfahrung hat sich die Kraft dieses Sprengsatzes noch vervielfacht.

Die gleiche Evolution machten auch Leute durch, die in unserer Gesellschaft weitaus angesehener waren als ich: der Erfinder der Wasserstoffbombe Andrej Sacharow; der Frontoffizier, Stalinpreisträger und äußerst populäre Romanschriftsteller Viktor Nekrassow; der General, Wissenschaftler, Parteiangehörige und Träger vieler staatlicher Auszeichnungen Pjotr Grigorenko und schließlich sogar Stalins Tochter Swetlana Alilujewa!

In der totalitären Welt ist eine Epoche des spirituellen Erwachens angebrochen, und jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick wird ein neuer Saulus zum Paulus!

 

Frage: Sie sind gläubig und stehen, wenn ich mich nicht irre, in gewisser Weise der Mystik nahe. Wie war Ihr Weg in dieser Hinsicht, und was bedeuten Ihnen die Religion und das Geistige?

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Antwort: Es ist schwer und beinahe unmöglich, diesen sich tief im Unterbewußtsein vollziehenden Prozeß mit kurzen Worten zu erklären. Ich habe versucht, meinen religiösen Werdegang in dem Roman Abschied von Nirgendwo darzustellen. Doch der Faktor der spirituellen Wiedergeburt selbst ist in unserer Gesellschaft heute bestimmend geworden.

 

Frage: Galitsch hat gesagt, daß es für den Schriftsteller sehr schwer sei, im Exil und außerhalb des muttersprachlichen Elements zu leben. »Die Straßen, die Cafes, die Metro«, schrieb er, »sind voller Schweigen. Wir leben in einer schweigenden Welt.« Dante hat gesagt: »Welch schwerer Weg, fremde Treppen hinauf- und hinunterzusteigen.« Ist es ein Drama für Sie, daß Sie sich außerhalb der vertrauten Umgebung befinden?

Antwort: Derselbe Alexander Galitsch liebte es jedoch, den Ausspruch einer emigrierten russischen Dichterin immer wieder zu zitieren: »Wir sind nicht Verbannte, sondern Gesandte!« Die Emigration ist meiner Meinung nach kein sozialer, sondern ein psychischer Zustand. Die Emigration ist das Los des Besiegten, selbst in der Heimat kann man sich als Emigrant fühlen. Wir sind noch nicht Sieger, doch auch noch keine Besiegten, und deshalb halten wir uns nicht für Emigranten. Außerdem pulsiert zwischen uns und der Hauptstadt, im Unterschied zu den vorhergegangenen Emigrationen, eine lebendige Ader, sei es nun in Form eines persönlichen, sachbezogenen oder geistigen Kontaktes. Das Fehlen der muttersprachlichen Umwelt macht sich natürlich bemerkbar: Die Sprache verliert an Bildhaftigkeit, die lautliche Information versiegt, der Wortschatz verringert sich, wenn man die Sprache nicht ständig um sich herum gesprochen hört.

 

Frage: In Ihrem autobiographischen Roman Abschied von Nirgendwo sind Sie sehr weit gegangen. Glauben Sie, wie Rousseau, daß man alles sagen muß?

Antwort: Das hängt vom Gefühl des Maßes ab. In der Autobiographie schlägt die vollständige Offenheit leicht in Koketterie mit der Offenheit um, woran meiner Ansicht nach Rousseau etwas krankt. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, mich im Rahmen dieses Maßes zu halten, doch vieles in Abschied von Nirgendwo scheint mir jetzt überflüssig.

 

Frage: Welche literarischen oder filmischen Projekte verfolgen Sie zur Zeit?«

Antwort: Derzeit beende ich den Roman Eine Arche für die nicht Geladenen, in dem ich noch einmal, wieder aus einem neuen Gesichtswinkel, die Geschichte und das Schicksal Rußlands beleuchten will. In dem Roman werden alle wesentlichen Vertreter unserer Gesellschaft dargestellt, von Stalin bis hin zum kleinen Bauern. Daneben habe ich das Drehbuch für eine amerikanische Firma über den Stoff meiner frühen Erzählung Die Ballade von Sawwa abgeschlossen.

 

Frage: Am Schluß Ihrer Sage von Sawwa schreiben Sie, daß es »für Sawwa Guljajew keine geliebte und ersehnte Erde mehr gab. Nirgends mehr.« Ist die russische Erde sehr wichtig für Sie?

Antwort: Wenn ich den Titel eines berühmten Filmes abwandle, so kann ich sagen: Rußland, mon amour. Und dem habe ich nichts hinzuzufügen.

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Zum Dissidententum im allgemeinen   

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Ich erlaube mir, das heutige Thema in einzelne Fragen aufzugliedern und sie so kurz und bündig wie möglich zu beantworten. Ich möchte sie dabei nicht nur für den Zuhörer beantworten, sondern vielleicht auch für mich selbst.

1.

Historisch gesehen wurzelt das gegenwärtige russische Dissidententum, oder wie es bei uns noch heißt: die demokratische Bewegung, in einer langen Tradition der gebildeten Schichten unseres Vaterlandes, nämlich der Tradition des moralischen Widerstandes gegen jedwede Gewalt und Lüge

Dieses fundamentale »Glaubenssymbol« liegt russischer Literatur und russischem Gesellschaftsdenken auf höchster Ebene zugrunde — von Puschkin, Gogol, Tolstoj und Dostojewskij bis hin zu Solowjow, Vater Sergej Bulgakow, Losskij und Bachtin.

Leider zog ein gewisser Teil der Intelligenz des alten Rußlands, genauer, seines intellektuellen Lumpengesindels, aus den traditionellen Prämissen radikale Schlußfolgerungen, die diesen Prämissen genau entgegengesetzt waren, was im Endeffekt nicht nur zur Zerstörung der überlebten Staatsstruktur führte, sondern auch zur nihilistischen Absage an die menschlichen Grundwerte von Wahrheit, Moral und Barmherzigkeit. Das Ergebnis ist nachgerade bekannt: GULag, Abermillionen Opfer, geistige und materielle Verelendung auf der ganzen Linie.

Die Urheber dieses tragischen Prozesses verkündeten, daß man dem Menschen zuerst Brot geben müsse und danach Kultur, doch die Ironie des Schicksals wollte es, daß das Volk nach ihrer Machtübernahme nun weder das eine noch das andere besitzt: Die Kultur wurde auf Propaganda reduziert, und das Brot liefert der »verrottete kapitalistische Westen«.

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2.

Ziel unseres Dissidententums ist nicht die Erringung der politischen Macht, sondern die Veränderung der moralischen Atmosphäre innerhalb der Gesellschaft, was, wenn wir Erfolg haben, natürlich von sich aus zu einer Veränderung ihrer politischen Struktur führen kann. Und darin besteht meines Erachtens der grundlegende Unterschied zwischen unserem Widerstand und der linken und rechten Opposition im Westen.

Der tragische Fehler der extremen linken und der extremen rechten Opposition im Westen besteht, wie wir meinen, darin, daß sowohl die eine als auch die andere glaubt, man könne die Gesellschaft mit Gewalt zum Besseren verändern. 

Doch ihre eigene Erfahrung der allerjüngsten Zeit hat gelehrt, daß dies ein selbstmörderischer Irrtum ist. Heute scharen sich diejenigen um uns, um unser Programm, um die Gruppe Kontinent, die noch vor kurzem mit der Waffe in der Hand an der Errichtung sogenannter fortschrittlicher Diktaturen in ihren Ländern mitgemacht haben: ehemalige vietnamesische und kambodschanische Angehörige des »Maquis«, kubanische Revolutionäre, unlängst noch überzeugte Maoisten aus China. Sie alle teilen heute Solschenizyns Lehrspruch: »Um die Hunde zu verjagen, ruf nicht die Wölfe zu Hilfe! Die Wölfe werden zuerst die Hunde fressen und sich dann über dich hermachen!«

Nehmen Sie nur einmal das jüngste Beispiel: Wir alle konnten die Motive für den Kampf der iranischen Demokratie gegen das Schahregime nachfühlen; doch Sie werden zugeben müssen, daß wir nun zu Recht fragen, wodurch sich der »Revolutionär« Chomeini von seinem gekrönten Vorgänger unterscheidet, wenn er seine Regierungstätigkeit mit standrechtlichen Erschießungen beginnt. Wenn die Ereignisse im Iran sich so weiterentwickeln, möchte ich die Behauptung wagen, daß Chomeini selbst im Laufe von ein, zwei Jahren von seinen Jüngern, die ihm soeben noch huldigten, hingerichtet werden wird. Das Schicksal seiner afghanischen Nachbarn Daud und Taraki möge ihm zur Lehre gereichen.

 

   3. 

Der überwiegende Teil unserer demokratischen Bewegung (wenn nicht die ganze!) besteht aus Kindern und Enkeln derer, die — zu unserem Leidwesen — eigenhändig die russische Revolution vorbereitet oder danach am Oktoberumsturz teilgenommen haben. Deshalb gelten unsere Sympathien im Westen natürlich immer den Unterdrückten und den Werktätigen in ihrem Kampf um die Menschenrechte.

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Doch ich und meine Freunde aus Rußland, die zum Großteil aus Arbeiterschichten stammen, stellen mit bitterer Beschämung fest, daß die hiesigen Werktätigen im Kampf für ihre Rechte die Sowjetunion, China und Kuba als Muster für Freiheit und soziale Gerechtigkeit hinstellen.

Es ist nur natürlich, daß die Arbeiterklasse in Rußland und Osteuropa eine derartige Demagogie für Klassenverrat hält und diesen Verrat niemals verzeihen wird.

In der gesellschaftlichen und politischen Sphäre kann man eine andere gefährliche Tendenz beobachten.

Einige, teils überaus einflußreiche Kreise im Westen neigen dazu, die osteuropäischen und russischen Dissidenten für ihre engbegrenzten, egoistischen Interessen auszunützen, indem sie deren aktuelles Potential taktisch ausbeuten und sie, was das bedauerlichste daran ist, vorsätzlich miteinander konfrontieren.

Im Zusammenhang damit möchte ich unsere Freunde vor der heimtückischen Versuchung warnen, die quälenden Probleme und tragischen Widersprüche des heutigen Rußland im Namen ihrer eigenen Parteiinteressen auszunutzen. Leider müssen wir im Westen oft lesen oder hören, wie sich westliche Intellektuelle in der Hitze der politischen Diskussion mit den Argumenten russischer Exilschriftsteller wappnen und dabei einzelne Stellen aus deren Vorträgen und Büchern ohne Rücksicht auf den Kontext herausgreifen, um die Argumente des Gegners um jeden Preis zu widerlegen.

Ich möchte behaupten, daß dies — ganz zu schweigen davon, daß eine derartige Verfahrensweise den Exilschriftstellern gegenüber zumindest taktlos ist — der realen Lage der Dinge nicht gerecht wird.

Zum Beispiel darf man — ich wähle das mir nächstliegende Gebiet, die Literatur — nicht dem großen Prosaisten und Dichter Alexander Solschenizyn den Satiriker und Philosophen Alexander Sinowjew gegenüberstellen und diesem wiederum nicht den Romancier Viktor Nekrassow usw., usf. Ein jeder von ihnen hat seine eigene Partitur im Orchester der Hoffnung, welches heute die prophetische Symphonie vom geistig-religiösen Widerstand in ihrem Lande aufführt. Bildlich gesprochen, es ist unstatthaft, dem Dirigenten den Geiger gegenüberzustellen, dem Geiger den Pianisten, den Pianisten aber dem ganzen Musikerensemble.

Wir betreiben alle das gleiche, jeder auf seine Weise, je nach Talent und Kraft.

Zum Abschluß möchte ich noch unterstreichen, daß der Kampf für die Menschenrechte zum Kampf für die Umstrukturierung der zeitgenössischen Gesellschaft auf einer gerechteren Basis werden kann und muß — zum Kampf, der alle wahrhaft demokratischen Kräfte in der Welt vereint. Der russische Widerstand ist stets zu solch einer Zusammenarbeit mit westlichen Gleichgesinnten bereit, jedoch nur unter der einen kategorischen Bedingung: daß nämlich das menschliche Leben — unabhängig von seinem sozialen Inhalt — zum höchsten Gut wird, um das es in diesem Kampf geht, der grundsätzlich keine Gewaltanwendung zur Durchsetzung seines Ziels erlaubt. Denn jedwede Gewalt, und verziere sie sich mit noch so edlen Parolen, erzeugt nur Gegengewalt, die zudem noch umfassender und noch verwerflicher ist.

Wir, die Träger der Menschenrechtsbewegung der ganzen Welt, können und müssen grundsätzlich neue Wege für die Durchsetzung unserer Ziele auf globaler Ebene finden. Und man kann nicht umhin, dem bedeutenden französischen Dichter Pierre Emmanuel zuzustimmen, der kürzlich im <Figaro> erklärte:

»Ja, gemeinsam denken. Bestandsaufnahme machen und das Fazit ziehen. Eine neue Politikidee entwerfen, die sich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, der Kultur und der Philosophie bewußt jenseits des Marxismus angesiedelt sieht. Dann wird die Welt sehr rasch erkennen, daß das Leninmausoleum nur eine erstarrte Mumie enthält, vor welcher die Präsidenten der Welt, die man die freie nennt, auf rituelle Erniedrigungen verzichten können!«

In der Tat, so ist es.

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Untergang oder Aufstieg Europas    

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Schon der große Dostojewskij bemerkte, wie teuer dem Herzen jedes denkenden Russen die »heiligen Steine Europas« sind. Hier, in Europa, entstanden unter blutigen Martern die segensreichen Grundsätze der Demokratie. Hier, in der gewaltigen Feuerprobe zweier Weltkriege, behauptete sich diese Demokratie — zwar mit riesigen politischen und territorialen Einbußen — gegen den Ansturm erst des braunen, dann des roten Totalitarismus. Hier, auf dem winzigen Flecken des europäischen Festlandes, entscheidet sich derzeit die schicksalhafte Frage der heutigen Welt nach dem Sein oder Nichtsein der demokratischen Zivilisation.

Doch die Rolle Europas in der christlichen Geschichte ist nicht auf das eigene Territorium beschränkt. Wenn man die Vergangenheit betrachtet, so kann man sich unschwer von dem gewaltigen Einfluß überzeugen, den die europäische Kultur auf die zeitgenössische Welt insgesamt und auf Rußland im besonderen ausgeübt hat. Dieser Einfluß erstreckte sich im Laufe der Jahrhunderte auf das gesamte russische Leben: auf die Politik, den Aufbau des Staates, die Kultur, das religiöse und philosophische Denken. Unsere Musik, unsere Literatur und unsere Kunst sind ein Produkt europäischen Geistes und gründen sich allesamt auf europäischen Traditionen. Dieses offenkundige Phänomen der Geschichte kann kein noch so nörglerischer Russenfeind oder westlicher Isolationist leugnen.

So gehört Rußland, das mit seinem größeren Teil in Asien liegt, geistig zu Europa, und daran ist meines Erachtens seine Rolle und Bedeutung für unseren Kontinent im ganzen zu sehen. In seiner Individualität die Erscheinungs­formen zweier entgegengesetzter Zivilisationen symbolisch vereinend, wurde das russische Volk durch den Willen der Geschichte zum Gegenstand des Kampfes zwischen ihnen, und davon, welche der beiden Erscheinungsformen obsiegt, hängt die Zukunft des gegenwärtigen Europa ab.

Uns ist die Kehrtwende vieler westlicher Politiker verständlich, die eine Annäherung an Asien suchen, weil es ihrer Meinung nach das einzige Gegengewicht zu der tödlichen Bedrohung bilden kann, der sich die westlichen Demokratien durch den östlichen Totalitarismus ausgesetzt fühlen. Doch wenn sie wirklich Realisten sind, müssen sie sich unbedingt klar darüber werden, daß der Zusammenstoß dieser beiden Zivilisationen früher oder später, wenn auch vielleicht in allerfernster Zukunft, unausweichlich ist. In diesem schicksalsträchtigen Ringen wird es vom Willen und von der Stärke des zwischen ihnen stehenden Rußland abhängen, wohin die Waagschale sich senken wird.

Wie paradox es auch klingen mag, indem die Europäer das gegenwärtige Rußland politisch und psychologisch auf den asiatischen Kontinent zurückwerfen, rücken sie eben damit die Grenzen Asiens an das Elbufer, also unmittelbar an ihre eigene Tür heran; und umgekehrt: Indem sie es als einen Teil Europas anerkennen, schieben sie den europäischen Raum bis zum Stillen Ozean vor.

Natürlich wird dieser Prozeß wechselseitig sein. Bevor das gegenwärtige Rußland ein Teil Europas wird, muß es sich sowohl politisch als auch geistig regenerieren. Das russische Volk seinerseits muß sich, solange es noch nicht zu spät ist, bewußt machen, daß nur im engen Verband mit den westlichen Nachbarn seine nationale und staatliche Existenz und seine echte politische Unabhängigkeit in Zukunft gewährleistet sind, und daß dieser Verband die Grundlage für seine kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung bildet.

In der Evolution zu diesem Zustand unserer Gesellschaft sehe ich den Sinn und die Bedeutung unserer demokratischen Bewegung.

Die Anstrengungen ihrer besten Männer — von Alexander Solschenizyn und Andrej Sacharow bis zu Wladimir Bukowskij und Pjotr Grigorenko — zielen darauf ab, in unserem Land zunächst einmal die Voraussetzungen für seine Befreiung vom ideologischen Joch zu schaffen, denn erst wenn es die Ketten der totalitären Psychologie abgeschüttelt hat, wird Rußland gleichberechtigt in die europäische Völkerfamilie eintreten können.

Doch der Mensch denkt und Gott lenkt, wie es so schön heißt. Man kann schwer, wenn überhaupt, voraussagen, wie sich die Ereignisse der nächsten Zeit entwickeln werden, doch eines kann man mit Sicherheit behaupten: Allein vom Grad der Einigkeit aller freiheitlichen Kräfte auf unserem Kontinent hängt heute ab, was uns bevorsteht — der Untergang Europas oder der Aufstieg eines neuen Europa von Marseille bis Wladiwostok.

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