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Vorwort zur 1. Auflage 1999

7-8

Die Ereignisse des Jahres 1989 in der damaligen DDR waren Ausdruck einer Bewegung, an der weite Teile der Bevölkerung Anteil hatten. Gewiss waren sie auch Konsequenz aus weltpolitischen Veränderungen, die vor allem die Sowjetunion unter Führung von Michael Gorbatschow und die kommunistische Bewegung betrafen. Aber dies war damals nur wenigen bewusst. Die Menschen kamen zu Tausenden in die Kirchen und wagten, was in den Jahrzehnten vorher auch den Mutigsten nicht in den Sinn gekommen war. Sie wagten zu demonstrieren ohne Genehmigung von Partei und Staat, ja sogar im ausdrücklichen Gegensatz gegen diejenigen, die die unumschränkte Macht besaßen. Das war eine echte Volksbewegung; und deshalb stellte sie sich auch überall ein wenig anders dar, so dass inzwischen da und dort diskutiert wird, wo denn nun wirklich der wichtigste Anfang war, wo die wesentlichen Einbrüche in das System der kommunistischen Diktatur geschehen sind.

In die Vielfalt der Ereignisse setzt auch der ehemalige Kreis Werdau einen besonderen Akzent. Vor den Toren der Kreisstadt - seit 1996 eingemeindet - liegt das Dorf Königswalde, Tagungsort des Königswalder Friedensseminars. Hier wurde auf halbjährlich stattfindenden Tagungen viele Jahre hindurch über die aktuellen sozialethischen Fragen referiert und vor allem diskutiert. Für mich, der ich von 1986-97 in Werdau das Amt des evangelisch-lutherischen Superintendenten innehatte, gehörte es zu den mir vom Landeskirchenamt aufgetragenen Dienstpflichten, diese Arbeit besonders auch im monatlich tagenden Vorbereitungskreis zu begleiten. Da trafen sich lauter echte Laien, die in unendlich vielen ehrenamtlichen Einsätzen nicht nur den organisatorischen Ablauf der Veranstaltungen absicherten, sondern die auch darüber hinaus die Thematik und die Gottesdienste durchdachten und vorbereiteten.

Wenn die Ereignisse der Wende im Kreis Werdau einen besonderen Akzent hatten, so war dies Wirkung jener intensiven Arbeit. Vor allen anderen vergleichbaren Aktivitäten war sie dadurch ausgezeichnet, dass die wesentlichen Mitarbeiter durch Frömmigkeit geprägt waren, deren Wurzeln im Pietismus, genauer in einer durch Erfahrungen des Kirchenkampfes politisch aktivierten pietistischen Glaubenshaltung lagen.

Für die Königswalder war die Kirche nie nur ein Dach, unter dem man aus politischen Gründen Zuflucht suchte, um in Ruhe diskutieren zu können. Für die Königswalder war die Kirche Heimat, übrigens eine ökumenisch verstandene Kirche, zu der mindestens Katholiken, in der Regel aber auch Vertreter von Freikirchen immer mit dazu gehörten. In diesem Geist haben dann auch die Ereignisse in Werdau stattgefunden. Die wenigen ganz großen Veranstaltungen begannen in der evangelischen Stadtkirche, sie wurden wie anderenorts mit einer Demonstration auf der Straße fortgesetzt, deren Ziel aber die katholische Kirche war, wo dann mit einem letzten Segenswort die Menschen entlassen wurden. Jedenfalls war in Werdau und Crimmitschau die Wende auch eine ökumenische „Hochzeit". Die Grundlagen dafür waren in Königswalde gelegt worden.

Ich jedenfalls denke an diese Dinge, wenn ich gefragt werde, was es denn in Werdau und Crimmitschau Besonderes gegeben hat.

Möge dieser Bericht recht vielen deutlich machen, dass in jenen stürmischen Monaten der Glaube und die Kirche nicht einfach Mittel zum Zweck politischer Veränderungen gewesen sind, sondern dass der Glaube für viele Kraftquelle und Richtschnur gewesen ist:

Gläubige Menschen haben aus ihrem Glauben an Jesus Christus den Mut und die Kraft erhalten, um das anzupacken, was ihnen in einer ungewöhnlichen Situation an Aufgaben vor die Füße gelegt wurde.

Dr. Friedrich Jacob


Geleitwort des Verfassers

„Die Hoffnung auf eine sichere und lebenswerte Welt ruht auf disziplinierten Nonkonformisten, die für Gerechtigkeit, Frieden und Geschwisterlichkeit eintreten."

Martin Luther King

9-11

Ein Missstand muss erst untragbar und offenbar werden, bevor eine Änderung gegen den Willen der jeweils Mächtigen möglich ist. „Wunde Punkte" können also erst zu „Wendepunkten" werden, wenn die Wunde nicht mehr heilbar ist. Als im Mai 1989 in der DDR die Wahlfälschungen öffentlich gemacht wurden, trat die Unheilbarkeit eines erstarrten Systems zu Tage. Insofern kann man die vom Vorbereitungskreis des Christlichen Friedensseminars im Januar 1989 direkt und über die Kirche an die Bürger herangetragene Aufforderung, im Mai endlich einmal bewusst zu wählen und die Wahlergebnisse zu kontrollieren, als eine Zäsur in der politischen Entwicklung ansehen, mit der die „Vorwende" eingeleitet wurde.

Ohne dass es eine Vernetzung der Friedens- und Bürgerrechtsgruppen gab, wurde diese Wahlkontrolle DDR-weit vielerorts durchgeführt und deckte Wahlfälschungen auf. Damit unterschied sich das Jahr 1989 schon zu Beginn von allen früheren Jahren der DDR. Diese Wunde war nicht mehr heilbar. Der letzte Rest an Grundvertrauen in Partei und Staat schwand dahin. Die Botschaftsflüchtlinge des Sommers und die Massendemonstrationen des Herbstes waren konsequente Folge dessen.

Wenn in dieser Publikation anhand von Dokumenten und Zeitzeugenberichten die Vorwende- und Wendeereignisse im damaligen Kreis Werdau nachgezeichnet werden, so ist damit folgendes Anliegen verbunden: Es soll daran erinnert und bewusst gemacht werden,

  • dass die Friedliche Revolution nicht allein auf dem Ring in Leipzig und auf dem Alexanderplatz Berlin stattgefunden hat. Die Ereignisse und Aktionen in der DDR-Provinz hatten ebenso viel Substanz und Wirkung. Der Unterschied besteht im Wesentlichen darin, dass sie sich nicht vor den Kameras von ARD und ZDF abgespielt haben, also weniger bekannt wurden.

  • dass es im Raum Werdau/Crimmitschau Ereignisse und Aktionen gab, die DDR-erstmalig oder DDR-einmalig waren. Der Runde Tisch des Kreises Werdau tagte schon vor dem Zentralen Runden Tisch Berlin. Mit dem „Werdau-Crimmitschauer Wochenblatt" erschien die erste SED-unabhängige Zeitung in Sachsen. Eine Bürgerrats-Wahl wie in Werdau im Januar 1990 hat es an keinem anderen Ort der DDR gegeben.

  • dass es eine nonkonformistische Minderheit war, die sich aktiv für Veränderungen in der DDR eingesetzt und als Minderheit viel erreicht hat. Eine Minderheit war es selbst dann noch, als sich in Werdau 4.000 oder in Leipzig 120.000 Demonstranten versammelten.

Man sollte nicht jede seiner Handlungen von Nützlichkeitserwägungen und Erfolgschancen abhängig machen. Umso besser, wie es während der Friedlichen Revolution geschah, wenn sich infolge einer Handlung aus Überzeugung auch Nutzen und Erfolg einstellen.

Insbesondere im Martin-Luther-King-Zentrum für Gewaltfreiheit und Zivilcourage e.V. - Archiv Bürgerbewegung Südwestsachsen - sowie von Dr. Matthias Kluge wurden die politischen Ereignisse der Jahre 1989/1990 im damaligen Kreis Werdau erforscht. Darüber hinaus flössen eigene Erlebnisse und Aktivitäten sowie die von vielen damaligen Akteuren und Zeitzeugen in die Arbeit ein. Niemand hat damals Tagebuch geführt, so dass manches auf Erinnerungen beruht, die subjektiv sind und in der Rückschau ungenau sein können.

Da es jedoch viele Zeitzeugen gibt, die sich gegenseitig ergänzen und korrigieren konnten und zahlreiche Dokumente erhalten sind, sind die Berichte fast vollständig belegbar, wenn auch subjektive Wertungen eingeflossen sein können. Es wird nicht der Anspruch erhoben, im Rahmen des begrenzten Raumes in dieser Veröffentlichung alle gesellschaftlichen Ereignisse aus dieser Zeit im Raum Crimmitschau/Werdau vollständig nachzeichnen zu können.

Dass couragierte einfache Menschen allein oder als Minderheit sehr viel bewirken können, ist eine Erfahrung aus der Friedlichen Revolution, die nicht verloren gehen darf. Dies halte ich auch in dieser Zeit, in der der „aufrechte Gang" aus Angst vor dem Arbeitgeber oder durch das Delegieren von politischen Entscheidungen an demokratisch gewählte „Stellvertreter" des Volkes wieder selten geworden ist, für wichtig.

So wünsche ich diesem Buch, dass von ihm durch Erinnern und Bewusstmachen ein Stück Ermutigung für Zivilcourage und zur politischen „Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten" und für gewaltfreie Konfliktlösungen in Gegenwart und Zukunft ausgeht.

Georg Meusel, Werdau, im November 2014

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