1. Hintergrund
Überfluß- oder Mangelgesellschaft?
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Dänemark hat gleich anderen westlichen Industrienationen während der Nachkriegszeit einen in seiner Geschichte einzigartigen Wohlstand erlangt. Der größere Wohlstand hat nicht zu größerer sozialer und psychischer Harmonie geführt, sondern zu größerer Disharmonie.
Es ist der Punkt erreicht, wo unsere Überflußgesellschaft eine bedrohliche Form annimmt — die einer Mangelgesellschaft. Wir haben uns im Ausland derart verschuldet, daß unsere Handlungsfreiheit jetzt begrenzt ist. Das Problem der Arbeitslosigkeit, das wirtschaftliche und politische Sachkenner noch vor wenigen Jahren für abgeschafft hielten, scheint nun unlösbar. Regierung und Parlament sind dieser Probleme nicht Herr geworden, eine Tatsache, die das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des parlamentarischen Systems geschwächt hat.
Noch vor überraschend kurzer Zeit sagte und hörte man häufig: »Es geht uns gut in unserem kleinen Dänemark.« Damals, in den aus heutiger Perspektive »frohen sechziger Jahren«, war es noch möglich, das Gefühl zu haben, gute Zeiten würden noch besser. Aber je höher der Lebensstandard, desto mehr ist notwendig, um einen Fortschritt merkbar werden zu lassen. Es ist elementar befriedigend, elementare Bedürfnisse zu befriedigen; an dem, was man nicht braucht, hat man weniger Freude, darum verlangt es einen nach mehr und mehr. Wir haben uns daran gewöhnt, ständiges Wirtschaftswachstum als ein Naturgesetz anzusehen, permanenten materiellen Erfolg als ein Menschenrecht — darum haben die Rückschläge der letzten Jahre allgemein das Gefühl gefördert, benachteiligt worden zu sein.
Hiermit ist nicht gesagt, daß gerade die Unzufriedenheit das große Problem in Dänemark ist, und nicht vielmehr die Mißstände, in denen sie wurzelt. Charakteristisch für den materiellen Fortschritt der letzten zehn Jahre ist, daß das Angeschaffte viel eher veraltet, als es sich aufbraucht. Die Triebfeder der Entwicklung ist der Wettbewerb zwischen den Supermächten und den Superunternehmen, bei der Ausnutzung neuer technischer Möglichkeiten zuerst zur Stelle zu sein.
Entscheidend für diese Erneuerung — die Innovation — ist nicht, wozu die Dinge dienen sollen, sondern was man mit ihnen verdienen kann, und dies trifft für Vernichtungsmittel ebenso zu wie für die technische Ausrüstung und die Konsumgüter des Alltags. Damit sie ständig das Bedürfnis haben, neue Erzeugnisse abzunehmen, müssen die Verbraucher sich mit den alten ständig unzufrieden fühlen; es ist darum kein Zufall, daß steigender Wohlstand von steigender Unzufriedenheit begleitet wird: Unzufriedenheit mit dem Vorhandenen ist Ergebnis ebenso wie Voraussetzung einer ständig steigenden Produktion.
Noch vor wenigen Jahren war man allgemein der Ansicht, daß es möglich sei, sich aus allen Problemen der Ungleichheit und Armut herauszuproduzieren; nach wie vor nimmt man allgemein an, die Steigerung von Produktion und Verbrauch sei der einzige Weg, der aus der Arbeitslosigkeit führt. Aber ganz abgesehen davon, daß die Wohlstandssteigerung in den reichen Ländern nicht auch den armen Ländern zugute gekommen ist, erweisen sich jetzt Über- und Unterentwicklung als ein und derselbe Prozeß. Die Gefahr, daß lebenswichtige Rohstoffe knapp werden, daß die Natur, die bisher als Material für menschlichen Unternehmungsgeist betrachtet und behandelt wurde, nicht aber als Grundlage der menschlichen Existenz, zerstört wird, hat deutlich gemacht, daß unkontrolliertes Wachstum in Produktion und Verbrauch Mangelprobleme schafft und nicht löst.
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Aber es besteht keine Aussicht darauf, daß die Erkenntnis der Grenzen des Wachstums in nachhaltiges politisches Handeln umgesetzt werden kann, obwohl wir wissen, daß die Zeit bemessen ist. Im Gegenteil: die Verschärfung der Gegensätze, die der wirtschaftliche Rückschlag mit sich geführt hat, deutet daraufhin, daß wirtschaftliches Wachstum eine Bedingung dafür ist, daß die parlamentarische Demokratie funktionieren kann. Die wirtschaftliche Krise führt auch zur politischen Krise, und dies erhebt die Frage, ob es in einer verschärften Krise überhaupt möglich ist, wirksame Lenkung mit Demokratie in Einklang zu bringen.
Tödliche Widersprüche
Daß eine radikale Veränderung — international und national — notwendig ist, ist rasch zu sehen; schwer zu sehen ist, wie sie möglich sein könnte. Das Konflikterfüllte in der internationalen Situation zeichnet sich als eine Anzahl tödlicher Widersprüche ab: Das Wirtschaftswachstum führt zu Mangelproblemen:
gleichzeitig hat die Entwicklung die Gegensätze in der Welt verschärft und die Abhängigkeit der Nationen voneinander vergrößert;
die großen Probleme sind nur international lösbar; es gibt keine effektiven internationalen Organe, die nationalen Regierungen können bestenfalls der Entwicklung folgen;
Maßnahmen für eine friedliche Veränderung müssen von dem reichen Teil der Erdbevölkerung kommen, der drei Viertel der globalen Ressourcen verbraucht. Aber die reichen Nationen sind überwiegend daran interessiert, die internationale Klassenteilung aufrechtzuerhalten;
die wachsende Not der Entwicklungsländer und der Rohstoffbedarf der Industrieländer vermehren die Konfliktgefahren. Die Rüstungsausgaben in der gesamten Welt sind fünfzehnmal so hoch wie die gesamte Entwicklungshilfe, sie haben einen ständig steigenden Anteil am Sozialprodukt der Entwicklungsländer;
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die Motivation, drohende Katastrophen abzuwehren, ist um so schwächer, je entfernter diese sind. Je näher die Katastrophe, desto geringer die Möglichkeit, sie abzuwehren;
je dringender die Probleme werden, desto diktatorischer werden die Maßnahmen. Der einzige Schutz gegen diktatorische Lösungen ist eine effektive Demokratie. Je kritischer die Zustände werden, desto weniger effektiv wird die Demokratie;
die Kenntnis der Probleme führt nicht von selber zum Handeln; die Kenntnis der Probleme, gegen die man sich ja doch nicht zur Wehr setzen kann, möchte man am liebsten verdrängen: Wer wacht schon gern zu einem bösen Traum auf?
Entwicklungsglauben und Vertrauenskrise
Früher war es möglich, an etwas zu glauben, was man nicht wissen konnte — jetzt scheint es nicht möglich, an das zu glauben, was wir wissen. Wir wissen durchaus, daß die Entwicklung zu Mangelproblemen führen muß, aber so ganz richtig daran glauben können wir nicht.
Glaube ist das Vertrauen in lenkende Kräfte; eine harmonische Gesellschaftsordnung ist in der Regel in einem solchen Glauben verankert. Die christliche Kirche hat, vor allem in katholischen Ländern, zum Zweck der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in der Gesellschaft mit dem Staat gemeinsame Sache gemacht, aber der Glaube daran, daß diese Ordnung in Gottes Weltordnung verankert sei, ist schon längst von der wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Entwicklung untergraben und abgelöst worden von dem Glauben an gerade diese Entwicklung. Der Entwicklungsglaube in mancherlei Spielarten ist seit der industriellen Revolution in Europa und Nordamerika vorherrschend; besonders stark war er in der Wohlstandswelle der Nachkriegszeit; in den wirtschaftlichen und ökologischen Krisen der letzten Jahre hat er einen Knacks bekommen.
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Eine Vertrauenskrise tritt ein, wenn es den Menschen zu dämmern beginnt, daß nicht eine höhere Vernunft hinter der Entwicklung steht, sondern nur die Vernunft oder Unvernunft der Menschen. Die politischen Führer, denen der Mensch mit der größten Begeisterung gefolgt ist, sind immer die gewesen, die als Werkzeug der Vorsehung oder Geschichte aufgefaßt und für im höheren Sinne unfehlbar gehalten wurden. Die Führer, denen die stärkste Skepsis entgegenschlägt, sind die vom Volk gewählten, denn es fällt schwer, sie mit irgendeiner höheren Weisheit ausgestattet zu betrachten.
Und der moderne Mensch scheint noch immer das Bedürfnis zu haben, an eine höhere Weisheit als die menschliche zu glauben — eine urtümliche Einstellung, die insoweit recht vernünftig ist, als die Weisheit des modernen Menschen nicht gerade imponierend ist. Führende Politiker werden zwar verantwortlich gemacht, wenn etwas schiefgeht, aber eine wirkliche Kontrolle der Dinge wird ihnen nicht zugetraut; die Obrigkeit ist in unpersönliche, mehr oder weniger verborgene Obrigkeiten aufgelöst. Das Vertrauen zu Experten (die zumindest ein Wissen haben, das sich gern unserem Begriffsvermögen entzieht) ist weit größer; obwohl es allmählich auch eine stärkere Tendenz gibt, die Unfehlbarkeit der Experten in Zweifel zu ziehen.
Aufruhr von Links und Rechts — und von der Mitte?
1964 schrieb Herbert Marcuse sein berühmtes Buch über den eindimensionalen Menschen, der keine Alternative zur bestehenden Gesellschaft kennt; wenn die Entwicklung selber Gegenstand des Glaubens ist, dann gibt es kein Motiv, sie zu ändern. Abweichende Gesichtspunkte muß man bei denen suchen, die in der Gesellschaft nicht etabliert sind, vor allem bei der Jugend, die ständig länger einflußlos gehalten, länger und länger auf die Übernahme der Verantwortung vorbereitet wird. Marcuse sagte so die Jugendrebellion voraus, die ein paar Jahre später ausbrach.
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Viele der Jugendlichen, die sonst als die Zukunft angebetet worden waren, reagierten gegen die Zukunft, die sie verwalten sollten. Jene, die nicht miterlebt hatten, daß schlechte Zeiten gut und ständig besser geworden waren, sondern die dazu erzogen und daran gewöhnt worden waren, mehr von der modernen Gesellschaft zu erwarten — sie waren die ersten bei der Rebellion gegen den Entwicklungsglauben, den die Entwicklung selber ad absurdum geführt hatte.
Der materielle Fortschritt hat den Unterschied zwischen reich und arm nicht ausgeglichen, weder national noch international; die politische Entwicklung hat auf dem Papier allen Menschen einen Anteil am Regieren zugesichert, aber in der Praxis den Abstand zu den Regierungsorganen vergrößert; der soziale Fortschritt hat dem einzelnen größere Sicherheit gegeben, ihn aber auch aus den kleineren Gemeinschaften herausgerissen; der wissenschaftliche und technische Fortschritt hat — in Form von Wettrüsten, verschmutzter Umwelt, Raubbau an den Ressourcen der Natur — Probleme eher geschaffen als gelöst; die Wohlfahrtsgesellschaft kann eine steigende Anzahl psychischer Leiden vorweisen, die von ihr selber verursacht zu sein scheinen.
Der internationale Hintergrund der Jugendrebellion war die Unruhe, die der Vietnamkrieg in der westlichen Welt hervorgerufen hatte, die bis dahin gern als »die freie Welt« bezeichnet wurde, die heute aber exakter »die kapitalistische Welt« genannt wird. Vor diesem Hintergrund bedeutete die Jugendrebellion eine starke Renaissance des Marxismus, und in Übereinstimmung mit der marxistischen Klassenkampfdoktrin trug sie auch erheblich zu einer Polarisierung der Gesellschaft bei.
Im Gefolge der Jugendrebellion tauchte in Dänemark die liberalistische Aufruhrbewegung gegen staatliche Bürokratie und steigenden Steuerdruck auf, angeführt von Mogens Glistrup. Gleichzeitig konnte ein erklärter sozialistischer Wirtschaftler wie Jörgen S. Dich in dem Buch »Die herrschende Klasse« behaupten, daß der soziale Fortschritt, der zu einem Anwachsen des öffentlichen Sektors geführt hat, einen Punkt erreicht habe, wo der Ertrag nicht mehr den Investitionen entspreche,
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und daß ein weiteres Wachstum — auf den Gebieten Sozialfürsorge, Gesundheitswesen und Ausbildungseinrichtungen — nicht sosehr im Interesse der Gesellschaft liege als vielmehr in dem des Staats, also dem der im öffentlichen Sektor Beschäftigten. Obwohl Dichs Analysen von mehreren Wirtschaftlern im öffentlichen Dienst kritisiert worden sind, entsprechen sie doch der verbreiteten Ansicht, daß man nichts für sein Geld bekommt, und der ebenso gewöhnlichen Erfahrung, daß die Einrichtungen des öffentlichen Sektors nicht in erster Linie ein Instrument sind, das den Bürgern dient, sondern ein Mittel, das sie regiert, ein selbstherrlicher Verwaltungsapparat.
Was international gilt, gilt auch national: Je größer die gemeinsamen Probleme sind, desto größer ist auch die Zwietracht. Rechtsorientierte sprechen vom Linksdrall der Gesellschaft, Linksorientierte von ihrem Rechtsdrall, und obwohl beide Partner einander zuviel Ehre erweisen, wurden im parlamentarischen und außerparlamentarischen Leben der letzten Jahre extremistische Gesichtspunkte stärker verfochten. Die extremistischen Bewegungen haben überdies Patentlösungen für die Probleme: Auflösung des bürokratischen Staats und Einschränkung des öffentlichen Sektors, alternativ Verstaatlichung der Produktionsmittel.
Ohne Zweifel fühlt die Mehrzahl der Bürger — die Wahlresultate zeigen dies nach wie vor — sich von diesen Aussichten verschreckt; die Furcht vor linksradikalen und rechtsradikalen Lösungen, die die wohlerworbenen sozialen Güter und die bürgerliche Demokratie bedrohen, werden zum Hindernis für eine Erneuerung der Gesellschaft. Die alten Parteien tendieren zur Mitte, die so zum Platz wird, wo die Kräfte sich gegenseitig neutralisieren und alles beim alten bleibt, die also nicht zum zentralen Ausgangspunkt einer wirklichen Erneuerung wird. Zwischen radikalen Aufruhrbewegungen haben sich die Parteien der Mitte in einer Verteidigung des Bestehenden festgefahren, das nicht bestehen und verteidigt werden kann, ohne erneuert zu werden: Was nötig ist, ist ein dritter Aufruhr, von der Mitte ausgelöst, ein Aufruhr aus Positionen, die sich verhärten.
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Es darf kein Zweifel darüber bestehen, daß Kompromiß und Vergleich in der Demokratie einen zentralen Platz haben, aber der Vergleich muß auch radikale Gesichtspunkte mit einbeziehen können. Ein Aufruhr der Mitte muß sich sowohl gegen eine profitgelenkte Produktionsweise wenden als auch gegen eine bürokratische Regierungsform; beide sind unvereinbar mit einer kompromißlosen Demokratie.
Die wirtschaftlichen Ideologien
Natürlich liegen der Polarisierung der Gesellschaft einander widerstreitende wirtschaftliche Interessen zugrunde. Aber wirtschaftliche Interessen werden gern mit Rücksichtnahme auf die Gesellschaft begründet (was gut für die großen Unternehmen ist, das ist gut für die Gesellschaft und ähnliches), und diese Begründung hat den Charakter einer Ideologie.
Die beiden vorherrschenden politischen Ideologien, an die sich Rechte und Linke halten, sind im Kern wirtschaftliche Entwicklungstheorien: Der Liberalismus, der im 18. Jahrhundert als Begründung der Gewerbefreiheit geprägt wurde, und im 19. Jahrhundert der Marxismus als Theorie von der Entwicklung und dem unvermeidlichen Zusammenbruch des Kapitalismus. Beide Theorien setzen voraus, daß das Verhalten des Menschen wirtschaftlich motiviert ist, seine Denkweise von wirtschaftlichen Interessen bestimmt wird — jedenfalls so lange, bis das kapitalistische System zusammenbricht. Obwohl auch die Ideologien wirtschaftlich motiviert sind, bedeutet dies jedoch nicht, daß die Gedanken und Handlungen der Menschen nicht stärker von Ideologien als von ihren realen Interessen gelenkt werden können. Ideologische Dogmen können den Weg zum Erkennen der Realitäten verstellen.
Obwohl Liberalismus einerseits und Marxismus andererseits auf wissenschaftlichen Wirtschaftstheorien aufbauen (soweit Wirtschaftstheorien wissenschaftlich sein können), sind sie als Ideologien auf unterschiedliche Weise vom Entwicklungsglauben geprägt.
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Im Bekenntnis zum »freien Spiel der Kräfte«, das von »der unsichtbaren Hand« geregelt wird, jener Hand, von der Adam Smith, der Vater des Liberalismus, sprach, kommt dieser Glaube deutlich zum Ausdruck; das gilt auch für die Lehre von Marx über die Entwicklung der Produktivkräfte bis zu dem Punkt, wo sie eine sozialistische Produktionsform verlangen, und in der Betonung der »zivilisatorischen Rolle« des Kapitalismus.
Für den dogmatischen Liberalismus ebenso wie für den dogmatischen Marxismus-Leninismus ist dauerndes Wachstum eine Bedingung für eine entweder demokratische oder sozialistische Entwicklung: »Insofern die ablehnende Haltung gegenüber der Konsumgesellschaft ... in eine allgemeine Ablehnung der Bedürfnis- und Konsumerweiterung übergeht ..., dreht sie die Schraube vom wissenschaftlichen zum utopischen Sozialismus, vom historischen Materialismus zum historischen Idealismus zurück.« (Ernest Mandel) Wenn es Grenzen für das Wachstum gibt, dann bestehen auch Grenzen für die Gültigkeit dieser Ideologien, und zwar in einer Situation, die sich radikal von der unterscheidet, in der jene entstanden.
Kritik am Liberalismus
Der Liberalismus war in seinem Ursprung eine bürgerlichdemokratische Widerstandsbewegung gegen Standesprivilegien und Handelsbeschränkungen. Die demokratischen Ideen, die in den Menschenrechtserklärungen am Ende des 18. Jahrhunderts formuliert wurden, sind von Anfang an zugleich ein Ausdruck von Wirtschaftsinteressen — das Recht aller Bürger auf freien Wettbewerb zu gleichen Bedingungen — als auch einer Forderung nach Gerechtigkeit: Die Stellung des Menschen soll nicht von Geburt und Erbe abhängig sein, sondern von persönlicher Leistung. Es besteht somit ein historischer Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Liberalismus und politischer Demokratie, aber kein logischer und unvermeidlicher Zusammenhang. Dennoch nimmt man weiterhin an, demokratische Freiheit setze wirtschaftliche Freiheit voraus, und das private Eigentumsrecht an den Produktionsmitteln sei ein zentrales demokratisches Recht.
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Es sind alte liberalistische Dogmen, daß dem Wohl aller am besten damit gedient sei, daß alle bestmöglich im eigenen Interesse arbeiten und daß freier Wettbewerb und freie Wahl des Verbrauchs (Marktmechanismus) die effektivste Produktion sichern; was natürlich nur stimmen kann, wenn alle tatsächlich im eigenen Interesse arbeiten (und nicht ihre Arbeitskraft an andere verkaufen) und wenn die freien Konkurrenten auf dem Markt etwa gleich groß und stark sind. Der freie Wettbewerb an sich führt zu wirtschaftlicher Ungleichheit, und die wirtschaftliche Freiheit wird in Wirklichkeit zum Recht des Stärkeren, sich auf Kosten des Schwächeren auszubreiten. Politische, demokratische Freiheit ist derart weit davon entfernt, in wirtschaftlicher Freiheit verankert zu sein, daß die letztgenannte im Gegenteil ein Hindernis für die erstgenannte ist.
Wie die begrenzten Ressourcen verwendet werden sollen, diese für die gesamte Menschheit lebenswichtige Frage wird heute hauptsächlich von einer Anzahl keiner demokratischen Kontrolle unterliegender und anonymer privater Instanzen entschieden, die keine besondere Rücksicht auf die sozialen Konsequenzen ihrer Beschlüsse zu nehmen brauchen: Der Staat steht für die Folgen gerade, ohne die Initiative zu haben. Die vom Profitdenken bestimmte Produktionsform konnte beim Durchbruch des Industrialismus zweckmäßig sein, sie ist aber in einer Situation sozial unverantwortlich, in der die produktiven und die destruktiven Kräfte weit stärker entwickelt und miteinander verzahnt sind. Deswegen drängt sich heute die Frage auf, ob die Produktion vom Staat gelenkt werden sollte — dies um so mehr, als die verschärfte Konkurrenz der großen Unternehmen um Profitmöglichkeiten jene mehr und mehr von den Staaten abhängig macht.
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Sollen die demokratischen Staaten den Unternehmen oder die Unternehmen dem demokratischen Staat dienen? So gestellt, beantwortet die Frage sich von selber. Nach wie vor stehen starke Interessen hinter dem liberalistischen Glauben, daß die demokratische Freiheit von der Freiheit des Wettbewerbs bedingt sei — aber diese Interessen sind nicht die der großen Mehrheit. Dennoch identifiziert sich die große Mehrheit der Privatpersonen eher mit der privaten Initiative als mit der öffentlichen. Der Staat, für die Marxisten der »verlängerte Arm des Kapitals«, gilt bei den meisten Menschen eher als Hindernis für die Privatinitiative; sie sind gerade in der liberalistischen Ideologie befangen.
Ideologischer Krampf
Wenn man es immer noch als natürlich betrachtet, wirtschaftliche Freiheit als Bedingung für politische anzusehen, so hängt dies natürlich damit zusammen, daß die politische Freiheit in den sozialistischen Ländern stark begrenzt ist. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel hat nicht zur Lenkung durch die Gesellschaft geführt, sondern zum Dirigismus des Staats; der totalitäre Charakter der erklärten sozialistischen Staaten ist Ursache dafür, daß es anscheinend zum verwirklichten (oder also nichtverwirklichten) Sozialismus keine andere Alternative gibt als die bestehenden Demokratien; man verbindet Sozialismus mit Diktatur, Demokratie aber mit Liberalismus oder Kapitalismus.
Während des kalten Kriegs wurde dieser Gegensatz festgeschrieben und er verhinderte eine demokratische sozialistische Entwicklung sowohl im Osten als auch im Westen. Das Tauwetter, das in den sechziger Jahren erfolgte, kam gleichzeitig mit der Wohlstandswelle, die die mehr ideologischen Probleme — und somit die langfristigen — in den Hintergrund schob und den unproblematischen Entwicklungsglauben verstärkte, der dem Liberalismus und dem Marxismus gemeinsam ist. Die Krisen der letzten Jahre haben wieder das Bedürfnis nach dem Ausbau der Demokratie vergrößert, aber auch die veralteten ideologischen Grundsätze verstärkt.
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Da die wirtschaftliche Freiheit in den bürgerlichen Staaten das Recht des Stärkeren ist, sehen sich die Marxisten-Leninisten veranlaßt, Verachtung gegenüber allen »bürgerlichen« Freiheiten und gegenüber der »bürgerlichen« Demokratie überhaupt auszudrücken; dies wiederum veranlaßt die mehr Bürgerlichen, das gesamte bestehende Gesellschaftssystem als demokratisch zu verteidigen. Für den Marxismus-Leninismus ist die sozialistische Demokratie die Demokratie, die von Partei und Staat geführt wird. Mithin ist die marxistisch-leninistische Theorie (und Praxis) ein ebenso großes Hindernis für eine sozialistische Demokratie wie eine liberalistisch-kapitalistische Wirtschaft.
Kritik am Marxismus-Leninismus
Die fundamentale Schrift des Marxismus-Leninismus handelt nicht vom Sozialismus oder Kommunismus, sondern vom Kapitalismus und seinem unvermeidlichen Zusammenbruch. Nach Karl Marx wird das kapitalistische System zusammenbrechen, wenn es seine zivilisatorische Aufgabe erfüllt hat und nicht länger zweckmäßig ist, also nicht länger eine effektive Ausnutzung der Produktionsmittel zuläßt: Die Zentralisierung der Produktionsmittel und der mehr und mehr gesellschaftliche Charakter der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie mit ihrer kapitalistischen Hülle unvereinbar werden: Sie wird gesprengt.
Die verschärfte Konkurrenz zwischen immer weniger und immer größeren Unternehmen führt zu einem internationalen Klassengegensatz zwischen den wenigen Besitzenden und den vielen Besitzlosen; die große Mehrheit kann dann durch eine Revolution die Produktionsmittel übernehmen und sie unter gesellschaftliche Kontrolle bringen. Die Übernahme der Produktionsmittel durch den Staat erhält den Charakter einer Diktatur des Proletariats, aber sie ist nur die erste Phase beim Übergang in die kommunistische Gesellschaft, in der jeder nach seinen Fähigkeiten arbeitet und nach seinen Bedürfnissen genießt, in der die freie Entwicklung eines jeden Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.
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Abgesehen von diesen letzten Sätzen steht bei Marx und Engels nicht viel über die kommunistische Gesellschaft. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß der Mensch besser zu seinem Recht kommt, wenn er von wirtschaftlicher Ausbeutung befreit wird, aber Recht und Bedürfnisse des Menschen hatten niemals eine zentrale Position in der marxistisch-leninistischen Ideologie und Politik. Die Diktatur, die man Diktatur des Proletariats nennt, die aber in Wirklichkeit eine der Partei oder der obersten Führungsschicht ist, hat sich nirgendwo in Demokratie aufgelöst (der Versuch in der Tschechoslowakei wurde mit Gewalt gestoppt). Dafür kann man viele Erklärungen und Pseudoerklärungen anführen; entscheidend ist, daß der Übergang zur sozialistischen Produktionsweise nicht gemäß der Theorie verlaufen ist. Er ist nicht in den industriell, wirtschaftlich und demokratisch am höchsten entwickelten Ländern vollzogen worden, sondern in weniger entwickelten, wo er schon aus diesem Grund härter sein mußte.
Daß das kapitalistische System in der westlichen Welt nicht zusammengebrochen ist, ist allerdings kein Beweis dafür, daß es nicht zusammenbrechen wird. Richtig ist nach wie vor, daß regelmäßig wiederkehrende Krisen das System prägen. Richtig ist auch, daß es nicht zweckmäßig ist; die Probleme der Arbeitslosigkeit, der Ressourcen — ganz zu schweigen von denen der Ungleichheit —, sie alle konnten im Rahmen des kapitalistischen Systems nicht gelöst werden.
Aber über den Übergang zu einem politisch-wirtschaftlichen System, das wirtschaftliche Lenkung mit politischer Demokratie verbindet, läßt sich aus der marxistisch-leninistischen Theorie — oder Praxis — nichts lernen.
Es ist schwer, irgendeine Grundlage für eine »klassische« Revolution in der modernen Welt zu finden,
denn es gibt keine sozialistische Weltbewegung, sondern zwei rivalisierende kommunistische Supermächte (und dementsprechend rivalisierende Parteien, die verschiedenen Schattierungen des Sozialismus huldigen);
denn es ist nicht zu dem revolutionären Gegensatz zwischen wenigen Kapitalisten und vielen Proletariern gekommen, weder international noch in den kapitalistischen Ländern: hingegen aber zu einem Gegensatz zwischen reichen und armen Ländern;
denn die Entwicklung der Produktions- und Zerstörungsmittel macht einen gewaltsamen Übergang zu einer friedlichen Welt höchst unwahrscheinlich. Wenn die Situation erst einmal so verfahren ist, daß sie zur Revolution motiviert, dann gibt es kaum einen Weg zurück zur Demokratie.
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Die Entrüstung über Unrecht, verbunden mit materieller Not, ist die Triebfeder der revolutionären Arbeit. In den reichen Ländern liegt keine »revolutionäre Situation« vor. Der »Kampf aller gegen alle«, der dem Liberalismus zufolge das Mittel für den wirtschaftlichen Fortschritt aller war, wurde nicht vom »Klassenkampf« zwischen Besitzenden und Besitzlosen abgelöst, der dem Marxismus zufolge den Übergang zur klassenlosen Gesellschaft darstellt. Statt dessen ist er zu einem allgemeinen Kampf zwischen Interessenorganisationen und zu einer allgemeinen Feindschaft zwischen Gruppen und Berufen geworden: die öffentlich Bediensteten, die private Wirtschaft, die Pädagogen, die Akademiker usw. — und noch die Politiker.
In Dänemark ist das Bewußtsein jedes einzelnen von seinen demokratischen Rechten stärker entwickelt als die Demokratie selber. Es erscheint ungerechtfertigt, daß einige mehr als andere verdienen; eher Respekt vor der eigenen Person als Not ist es, was alle veranlaßt, höheren Lohn zu fordern. Auf diese Art tragen wir nicht gerade dazu bei, der Not in der Welt Abhilfe zu schaffen. Und die marxistische Vorstellung, daß wir mit unseren nationalen Konflikten, die unsere internationale Handlungsfreiheit einschränken, zum internationalen Klassenkampf beitragen, muß als Wahnvorstellung bezeichnet werden.
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Revisionismus
Man kann marxistische ökonomische Analysen der »inneren Widersprüche des Kapitalismus« zutreffend finden, ohne deswegen die marxistisch-leninistische Ideologie gutzuheißen. Für Marxisten-Leninisten ist es »Revisionismus«, wenn man von dem autorisierten Lehrgebäude abweicht, und Revisionismus gilt als gefährliche Verirrung. Im übrigen wird die Theorie als so dynamisch betrachtet, daß es nicht möglich ist, vorauszusagen, wie der Mensch in der kommunistischen Gesellschaft sein wird; hingegen ist die Entwicklung des Kapitalismus ein für allemal vorausgesagt und hat sich nach dieser Voraussage zu richten.
Als revisionistisch bezeichnet man besonders die sozialdemokratische Reformpolitik, der auch ein Teil der Ehre für den materiellen Fortschritt gebührt, der die Verarmung der Arbeiterklasse verhindert hat. Ein sozialdemokratischer Kompromiß zwischen liberalistischer und sozialistischer Wirtschaft war der »Staatsinterventionismus«, zu dessen Fürsprecher sich in der Krise der dreißiger Jahre der englische Wirtschaftler J. M. Keynes machte. Das Mittel zur Wiederherstellung der Vollbeschäftigung war die Steigerung von Produktion und Konsum mit Hilfe öffentlicher Investitionen.
Der öffentliche Sektor ist ja gerade nicht gewachsen, weil er am Wirtschaftsleben schmarotzte, sondern vielmehr, weil er als Hilfsmotor notwendig wurde; auch übernahm er Aufgaben, die für private Unternehmen nicht »rentabel« sind, wohl aber notwendig für deren Rentabilität. Die Mischwirtschaft, die den Wohlfahrtsstaat geschaffen hat, ist mithin »systemerhaltend« gewesen. Sozialdemokratische Politiker werden häufig als Handlanger des Kapitalismus und ähnliches angegriffen. Richtig ist, daß sozialdemokratische Regierungen größeres Gewicht darauf gelegt haben, die Demokratie zu bewahren, als darauf, dem Sozialismus den Weg zu bereiten. Dies nicht ohne Grund: Es ist leichter, die Demokratie zu demontieren als das kapitalistische System, und die Spuren solcher Demontage haben Schrecken hervorgerufen.
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Haben aber die Sozialdemokraten schon nicht am »dialektischen Materialismus« festgehalten, so doch wenigstens am Materialismus. Ständiges Wachstum war sowohl das Ziel als auch die Voraussetzung der sozialdemokratischen Reformpolitik. Die Kursänderung in Richtung auf andere Werte, die die Gesellschaft sich auf einem hohen Wohlstandsniveau leisten kann — und die nicht vorzunehmen sie sich nicht leisten kann —, muß auch die Sozialdemokratie dazu bringen, ihre Politik zu revidieren.
Bedürfnis nach einer demokratischen Ideologie
Nun stellen sich nicht allein die wirtschaftlich motivierten Ideologien und ihr Antikommunismus beziehungsweise Antiliberalismus einem sozialen Liberalismus oder liberalen Sozialismus in den Weg. Aber zugleich sind auch die Macht dieser Ideologien über die Gedanken der Menschen und der Mangel an einer zeitgemäßen demokratischen Ideologie mitwirkende Ursachen für den Mangel an demokratischem Handlungsvermögen.
Die wirtschaftlichen Probleme sind nur eine Seite der allgemeinen sozialen Krise. Eine andere Seite, der die Politiker weniger Aufmerksamkeit widmen, obwohl sie beispielsweise im übermäßigen Verbrauch der Wohlstandsgesellschaft an beruhigenden, anregenden und schmerzstillenden Mitteln zum Ausdruck kommt, ist die psychologische: das Gefühl der Ratlosigkeit, der Sinnlosigkeit und überhaupt der Luxusverbrauch, der ein deutlicher Ersatz für die Befriedigung echter Bedürfnisse ist. Eine demokratische Ideologie muß ihren Ausgangspunkt in den Bedürfnissen des Menschen nehmen — und nicht, wie die marxistisch-leninistische, die Bedürfnisse als Folge der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung auffassen (was beinhaltet, daß der Mensch den Bedürfnissen des Staats angepaßt werden kann und soll).
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Zu den psychischen Bedürfnissen gehört jedoch auch das Bedürfnis nach Sinn, nach Glauben, das von den Religionen und den politischen Ideologien befriedigt wurde. Glaube ist Vertrauen in die Kräfte, die die Entwicklung lenken, das Gefühl, an etwas mitzuarbeiten, was für einen arbeitet. Ist es in einer Situation, in der wir wissen, daß die Entwicklung zu Katastrophen führen kann, noch möglich zu glauben — an etwas anderes als die souveränen Experten oder den »starken Mann«, der zu einem bestimmten Zeitpunkt kommt und befiehlt, und von dem man meint, er stehe mit höheren Mächten im Bunde? Ist es möglich, ganz einfach an den Menschen oder die Demokratie zu glauben?
Angebrachter ist da die Frage: Ist es möglich, an eine Gesellschaftsordnung und eine Weltordnung zu glauben, die nicht in Übereinstimmung mit der Natur ist und in der den natürlichen Bedürfnissen des Menschen keine Gerechtigkeit widerfährt? Wir wissen, daß die permanente Ausbeutung der Natur unsere Existenz untergräbt und daß die fortdauernde Unterdrückung von Menschen diese Existenz sinnlos macht. Wenn wir an eine Zukunft für die Menschheit glauben wollen, müssen wir an die Möglichkeiten eines Gemeinwesens glauben, das sich im Gleichgewicht mit der uns umgebenden Natur befindet, und in dem der Mensch nicht ein passiver Gegenstand von Beschlüssen und Beeinflussungen ist, sondern ein aktives, selbständiges Wesen, dessen freie Entwicklung eine Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Man muß nicht einmal glauben, daß es möglich ist, eine solche Gesellschaft — die Gesellschaft des humanen Gleichgewichts — zu schaffen, um es für richtig zu halten, für sie zu arbeiten.
In Dänemark befinden wir uns mit unserem Luxuskonsum, unserem Gruppenegoismus und unserer mangelnden nationalen und internationalen Solidarität auf dem entgegengesetzten Weg. Es ist beschämend, daß ein reiches Land seine wirtschaftlichen Probleme nicht lösen kann und praktisch bei den armen Ländern nassauert. Wir können uns damit entschuldigen, daß wir die globalen Probleme nicht lösen können; dies ist aber keine Entschuldigung dafür, daß wir die nationalen nicht lösen können. Der Mensch ist nicht nur ein Produkt der Gesellschaft, und die Nation ist etwas anderes und mehr als ein bestimmtes gesellschaftliches System; man arbeitet nicht gegen den internationalen Kapitalismus, indem man die Wirtschaft des eigenen Landes schwächt — und sie damit abhängiger vom internationalen Kapital macht. Die eigenen Probleme lösen und Handlungsfreiheit nach innen wie nach außen gewinnen, das ist der einzige Weg aus der psychischen Not heraus, die die Gesellschaft prägt.
Wir haben gesehen, daß die internationalen Probleme nicht »zentral« von oben gelöst werden können, daß die Ausgangspunkte realer internationaler Zusammenarbeit die einzelnen Nationen sein müssen. Die kleinen Nationen sind trotz ihrer geringen politischen Macht, oder gerade deswegen, weniger unbeweglich und weniger belastet als die Großmächte. Wenn ein kleines Land mit einer homogenen Bevölkerung sich nicht selber regieren kann, so ist die Hoffnung auf eine Welt mit sich selber regierenden und miteinander arbeitenden Ländern gering. Die Arbeit an der Lösung der gemeinsamen großen Probleme vereinigt; die kleinen Probleme spalten, die Gesellschaft ebenso wie den Menschen.
Trotz des globalen Charakters der gemeinsamen Probleme ist es darum nicht provinziell, von den »Luxusproblemen« Dänemarks auszugehen und sie in Angriff zu nehmen — Probleme, die vom Umfang her durchaus lösbar sind. In der gegenwärtigen Situation kann man nicht nur Symptome des Zusammenbruchs erkennen, sondern auch Zeichen zum Aufbruch.
Wir wollen versuchen, zu einem Aufbruch, einem Aufruhr der Mitte beizutragen, indem wir
darlegen, daß die Lösung der Probleme einen Bruch mit den herrschenden Entwicklungstendenzen fordert (Kapitel 2),
soziale und politische Ziele aus den natürlichen Bedürfnissen des Menschen ableiten (Kapitel 3),
eine Gesellschaft skizzieren, in der diese Bedürfnisse zu ihrem Recht kommen (Kapitel 4),
mögliche Wege zu diesem Ziel aufzeigen (Kapitel 5).
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Aufruhr der Mitte (1978) Modell einer künftigen Gesellschaftsordnung