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2. Warum eine Veränderung ? 

 

 

Es gibt eine Grenze 

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Das Neue an unserer Situation ist die Erkenntnis, daß der gemeinsame Vorrat der Menschheit an lebensnotwendigen Ressourcen bedroht ist, aufgebraucht zu werden. Die einzige Lösung für dieses Problem ist der Aufbau einer (Welt-) Gesellschaft, die sich im Gleichgewicht mit der Natur befindet. Alle Sachkundigen sind sich darüber einig, daß ein Wachstum, das auf einem ständig steigenden Verbrauch von Energie und Rohstoffen sowie einer zunehmenden Verschmutzung der Umwelt beruht, nicht weitergehen kann. 

Wenn man dennoch heiße Diskussionen über dieses Thema führt, so zeigt sich bei genauerem Hinhören, daß es nur noch um die Frage geht, wieviel Zeit der Menschheit für eine Kursänderung bleibt. Charakteristisch ist, daß häufig Wirtschaftler im Namen der Menschheit die Optimistischsten sind; viele von ihnen sind nach wie vor in dem liberalistischen Glauben befangen, daß die Dinge sich von selber regulieren. 

Wenn etwas knapp wird, findet man ein Ersatzmaterial, oder die Preise steigen in einem solchen Maße, daß der Verbrauch zurückgeht. Wenn es sich aber um lebenswichtige Rohstoffe handelt, ist es kaum eine Lösung des Problems, daß ihr Preis in dem Maße, wie sie knapper werden, ins Unermeßliche steigt. Gerechterweise muß hier jedoch gesagt werden, daß auch bedeutende liberalistische Wirtschaftler zugeben, daß der Markt- und Preismechanismus nicht geeignet ist, die langfristige Ausnutzung der Ressourcen zu regulieren.

Ohne etwas Religiöses in den Ausdruck zu legen, kann man sagen, daß eine Abkehr von den herrschenden Anschauungen eine notwendige Bedingung für eine Kursänderung ist. Notwendig ist es zu erkennen, daß die grundsätzlichen Werte des Daseins nicht die vom Menschen geschaffenen sind, sondern die von der Natur gegebenen. Wir sind immer noch vom liberalistischen Dogma geprägt, demzufolge die menschliche Arbeit die Quelle aller Werte ist, während die Natur nur das Material für den menschlichen Unternehmungsgeist darstellt. Wir sind nach wie vor von dem Glauben geprägt, daß es eine »unsichtbare Hand« gibt, die die wirtschaftliche Entwicklung lenkt, und daß es sich hier um einen »natürlichen« Ablauf handelt. 

Es verhält sich umgekehrt: die wirtschaftliche Entwicklung ist von künstlichen Eingriffen in die Natur geprägt, hinter deren ökologischem System man eine »unsichtbare Hand« vermuten könnte, die aber fühlbar und sogar sehr hart zuschlagen kann, wenn eine gewisse Grenze überschritten wird. Die fundamentale Grenze ist die klimatische: Schon einige wenige Grad mehr in der durchschnittlichen Oberflächentemperatur auf der Erde können unübersehbare Konsequenzen nach sich ziehen. Wir wissen, daß jeder Energieverbrauch zur Erwärmung der Atmosphäre führt und daß beim Verbrennen von fossilem Brennstoff (Öl, Kohle, Naturgas) große Mengen Kohlendioxyd gebildet werden, die das Abgeben von Wärme an den Weltraum bremsen und zum sogenannten Treibhauseffekt führen können. 

Was wir hingegen nicht wissen, ist, wann sich diese Wirkungen bemerkbar machen werden. Die Wechselwirkungen im Gleichgewicht des atmosphärischen Systems sind so kompliziert, daß es unmöglich ist, ein theoretisches Modell zu entwickeln, das mit Sicherheit angeben kann, wie empfindlich das System auf äußere Einwirkungen reagiert. Wenn wir nur — um ein charakteristisches Bild zu benutzen — mit dem »Bleifuß« auf dem Gaspedal weiterfahren, im Vertrauen darauf, daß wir nicht genug wissen, werden wir erst dann entdecken, wenn es bereits zu spät ist, wie groß diese Spanne war. Aber selbst in Fragen, über die wir genug wissen, ist das nicht genug, um zum Handeln zu führen. 

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Wir wissen, daß die Ozonschicht, die einen Teil der ultravioletten Sonnenstrahlen aufnimmt, von verschiedenen Stoffen abgebaut wird, die man unter anderem in Spraydosen verwendet. Schon ein unbedeutender Anstieg der ultravioletten Strahlung bringt eine steigende Anzahl Hautkrebs-Erkrankungen mit sich, ein starker Anstieg kann das Pflanzen- und Tierleben bedrohen und klimatische Veränderungen verursachen. Dennoch war es bislang nicht möglich, ein Verbot zu erlassen, das die Verwendung dieser Stoffe in Spraydosen untersagt. Das Drama der Menschheit, das vielleicht ein Untergangsdrama ist, entbehrt nicht possenhafter Züge.

Durch die Atomenergie, die unter den festgelegten normalen Betriebsverhältnissen die Atmosphäre weniger verschmutzt als fossiler Brennstoff, entstehen aufgrund des radioaktiven Abfalls und der entstehenden Bewachungsprobleme unüberschaubare Folgen, die den nächsten Generationen zu vererben leichtsinnig und verantwortungslos ist. Eine (Welt-) Gesellschaft im Gleichgewicht mit der Natur muß sich auf die dauerhaften Energiequellen stützen und nicht auf begrenzte Energievorräte. Bezeichnend aber ist, daß zugunsten der Entwicklung von Atomenergie versäumt wurde, die Nutzungsmöglichkeiten von Sonnenenergie zu untersuchen.

 

Mehr Menschen — mehr arme Menschen

 

Ein entscheidendes Hindernis bejm Abbremsen des globalen Wirtschaftswachstums ist der schnelle Anstieg der Bevölkerungszahl, der es notwendig macht, immer mehr Produkte für immer mehr Menschen zu erzeugen. Hierbei sind die reichen Länder aber in einer völlig anderen Situation als die armen. Die DDR, die Bundesrepublik und Großbritannien haben fallende Bevölkerungsziffern; in Dänemark geht der Geburtenüberschuß zurück, und wenn die gegenwärtige Tendenz sich fortsetzt, wird es Ende des Jahrhunderts weniger Dänen geben, und an der nächsten Jahrhundertwende nur noch halb so viele wie heute.

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Ausgehend von der traditionellen Wachstumsphilosophie kommt einem Stagnation katastrophal vor, weil dann die ganze Gesellschaft stagniert. Die erwähnte Tendenz weist jedoch deutlich darauf hin, daß die reichen Länder vorangehen müssen, wenn es eine Gesellschaft des Gleichgewichts zu schaffen gilt: Wohlstand ist das beste Mittel gegen Bevölkerungsüberschuß. In einigen reichen Ländern wirkt sich die Bevölkerungsdichte bereits auf die Lebensqualität aus. Norweger, Schweden und Finnen berichten von Klaustrophobiegefühlen, wenn sie einige Zeit in den Niederlanden gelebt haben; sie bekommen Sehnsucht nach einer Natur, in der man sich frei bewegen kann, ohne von Autos und Menschen umringt zu sein. Aber Millionen Kinder werden in Großstädten aufwachsen, ohne je eine unberührte Natur zu erleben, mit Seen und Quellen, aus denen man trinken kann, ohne krank zu werden, und sie werden wohl kaum erfahren, was ihnen entgangen ist.

Die armen Länder haben bei ihrem gegenwärtigen Bevölkerungszuwachs keine Möglichkeit, Wohlstand zu erreichen. Selbst dort, wo es gelingen sollte, eine wirksame Bevölkerungspolitik schon jetzt durchzuführen, wird es mehrere Generationen erfordern, den Bevölkerungszuwachs zu begrenzen, paradoxerweise gerade deswegen, weil die durchschnittliche Lebenserwartung in den armen Ländern niedrig ist. Etwa die Hälfte dieser Bevölkerungen besteht aus Kindern, und auf Jahrzehnte hinaus wird es mehr und mehr Menschen geben, die wieder Kinder in die Welt setzen. Die niedrige Lebenserwartung infolge von Hungersnöten und Krankheiten begrenzt vorläufig den Bevölkerungsüberschuß am nachhaltigsten. Beispielsweise sterben in Kolumbien, das mit seinen 24 Millionen Einwohnern (doppelt soviel wie 1955) nicht zu den ärmsten Ländern gehört, jährlich 90 000 Kinder. Vor diesem Hintergrund kann es zynisch klingen, wenn man von der Notwendigkeit einer globalen Begrenzung des materiellen Wachstums spricht; zynisch ist es aber auch, die Not in den Entwicklungsländern als Begründung für weiteres Wirtschaftswachstum — in den reichen Ländern! — heranzuziehen.

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Eine (Welt-)Gesellschaft in ökologischem Gleichgewicht läßt sich nur als globale Gesellschaft der Gleichheit verwirklichen, und das erfordert gerade in den politischen Zielen und in der Struktur der reichen Länder fundamentale Veränderungen. Es gibt keinen Grund zu der Hoffnung, daß die Entwicklungsländer »globale« Rücksichten nehmen werden, wenn die Industrieländer das nicht tun; im Gegenteil, es gibt Grund zu der Befürchtung, daß die verzweifelten Verhältnisse in vielen Entwicklungsländern rücksichtslose Regime ans Ruder bringen, die sich nicht scheuen werden, gewaltsamen Druck auf die Industrieländer auszuüben, von denen man wiederum annehmen kann, daß sie, wenn die gegenwärtige Entwicklung weitergeht, ihrerseits Macht anwenden werden, um sich die versiegenden Ressourcen zu sichern.

 

Die Medizin und die kranken Gesellschaften

 

Der Bevölkerungsüberschuß ist nicht nur ein Produkt der Armut, sondern auch der modernen Wissenschaft. Ziel der Medizin ist es, Leben zu retten und zu verlängern, ohne Rücksicht auf die gegebenen Lebensbedingungen; die Alternative ist nicht, zynisch zu unterlassen, Leben zu retten, sondern die Lebensbedingungen zu verbessern. Aber die Industrialisierung verschlechtert die Lebensbedingungen, und zwar besonders in den Schwerpunkten der Industrie, in den großen Städten. Der Löwenanteil der Entwicklungshilfe reicher Länder ist aber gerade in die großen Städte geflossen; eine große Zahl von Entwicklungsländern, deren einziger selbständiger Weg in die Zukunft über die Entwicklung der Landwirtschaft in den Dörfern führt, erhält gerade zur Zeit Kernkraftwerke, um die Industrialisierung zu beschleunigen. Der Bevölkerungsüberschuß übt einen steigenden Druck auf die ständig kleiner werdende und stärker ausgemergelte Landwirtschaftsfläche aus, und die Menschen wandern in die Städte ab. In 25 Jahren kann es schon Großstädte mit 50 Millionen Einwohnern geben, von denen weitaus die meisten unter Verhältnissen zusammengepfercht sein werden, die allen bislang bekannten Beschreibungen spotten.

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Aber auch in den reichen Ländern ist es nicht gelungen, die städtische Umwelt gesundzuhalten. Während die Medizin jene Krankheiten bekämpfen und fast ausrotten konnte, die in früheren Zeiten die meisten Todesopfer forderten, haben andere Krankheiten um sich gegriffen. Nach dem letzten UNO-Bericht vermutet man, daß 40 Prozent aller Krebserkrankungen in den Industrieländern durch Umweltfaktoren verursacht werden. Aber nicht nur einige Konservierungs-, Farb- und Kunststoffe verursachen Krankheiten, sondern auch zahlreiche Arzneien. Gerade die eindrucksvollen Ergebnisse der Medizin waren geeignet, den Entwicklungsglauben bis zu einem gewissen Punkt zu stärken. 

Ivan Illich, der in mehreren Büchern die Zweckmäßigkeit der großen Institutionen im Gesundheits- und Ausbildungswesen bezweifelt hat, spricht von zwei Wendepunkten in der Medizin. Der eine liegt um 1913, als für die Patienten die Chance einer wirksamen Behandlung auf mehr als 50 Prozent anstieg, als die Kindersterblichkeit nachließ und die durchschnittliche Lebenserwartung (die jetzt in Dänemark kulminiert) höher wurde, und der andere etwa um 1955, dem Jahr, nach dem es »Hauptaufgabe des ärztlichen Berufsstands wurde, das kranke Leben arzneiabhängiger Menschen in ungesunder Umwelt zu erhalten«.

Obwohl vielleicht diese Auffassung dem Arztstand nicht voll gerecht wird, ist es doch eine Tatsache, daß die Industrieländer weit mehr investieren, bereits eingetretene Schäden auszubessern, als sie zu vermeiden, und daß der wachsende Behandlungsapparat die Zahl der Kranken und Krankheiten nicht vermindert hat. Nach einer Berechnung des Weltgesundheitsamts werden in den Großstädten 70 Prozent aller Mittel der Gesundheitsdienste für Patienten verwendet, die innerhalb der kommenden zwölf Monate sterben werden.

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Vorbeugung gegen Umweltschäden, also eine Verbesserung der Umwelt, ist als Aufgabe von einer einzelnen Wissenschaft nicht zu bewältigen; sie setzt die organisierte Zusammenarbeit der Fachleute verschiedener Sachgebiete voraus. Aber während die gesellschaftspolitischen Probleme immer unüberschaubarer geworden sind, hat zugleich die Tendenz in Richtung auf eine größere fachliche Spezialisierung eingesetzt, und die Interessenverbände sind anscheinend von den wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder stärker in Anspruch genommen als von den Bedürfnissen der Gesellschaft.

 

Technik, destruktiv oder konstruktiv

 

Wenn man selbst von der Medizin mit ihrer humanen Zielsetzung sagen kann, sie diene dazu, krankes Leben in einer ungesunden Umwelt zu erhalten, was kann man dann wohl von den anderen Wissenschaften sagen? Seit den Appellen der Atomphysiker in den fünfziger Jahren hat es an Warnungen hervorragender Wissenschaftler vor dem Mißbrauch der Resultate wissenschaftlicher Arbeit nicht gefehlt. Aber einmal wird Wissenschaftlern stets von anderen Wissenschaftlern widersprochen, und zweitens macht das Wissen anderer auf Menschen nur einen begrenzten Eindruck. Entscheidend aber ist, daß die Staaten, die Unternehmen und die Forscher selber ständig von der Notwendigkeit angetrieben werden, den anderen zuvorzukommen.

Es ist kein Zufall, daß auf diesem Gebiet eine Art Kriegszustand herrscht. Eine Voraussetzung für das große Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg war die sogenannte zweite technische Revolution, und der Hintergrund für diese ist gerade der Zweite Weltkrieg gewesen, der die Forschung ebenso beschleunigte wie die Ausnutzung ihrer Resultate. Oder wie das Verteidigungsministerium der Bundesrepublik Deutschland es ausdrückte: »Die extremen Anforderungen, die an die Waffentechnik gestellt werden, haben zur Folge, daß Wissenschaft und Technik zu Höchstleistungen herausgefordert werden.« 

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Die großen technologischen Vorstöße sind in der Militär- und Raumforschung gemacht worden, und sie wurden dann zuweilen für »friedliche« Zwecke ausgenutzt, wie Kernkraft, Radar und Überschallflugzeuge im zivilen Luftverkehr. Für diese Technologien zeichnet sich ein bestimmtes Entwicklungsmuster ab. Staatlich finanzierte Grundlagenforschung, bei der Produktentwicklung Zusammenarbeit der öffentlichen Hand mit industriellen Hochleistungs­unternehmen, und derart hohe Investitionen, daß das Produkt nur schwer gestoppt werden kann, selbst wenn sich zeigt, daß es von geringem Nutzen ist und großen wirtschaftlichen Verlust bringt. Das Überschallflugzeug ist ein Beispiel dafür; es ist auch ein Beispiel dafür, wie groß die Bedeutung nationalistischer Motive in diesem Wettstreit ist. In Frankreich hat man die Forderung erhoben, amerikanische Maschinen in Paris nicht mehr landen zu lassen, wenn das französisch-englische Überschallflugzeug nicht in New York landen darf.

Trotz ständiger Abrüstungsverhandlungen, die nicht Rüstungsbegrenzungen zur Folge hatten und darum wie ein Versuch wirken können, den Gegner — in diesem Fall die Öffentlichkeit — hinters Licht zu führen, ist die Entwicklung neuer Waffen nach wie vor der Forschungszweig, der bei weitem die meisten Menschen beschäftigt; 400.000 Wissenschaftler und Techniker arbeiten an militärischen Forschungs- und Entwicklungsprogrammen, die 40 Prozent aller Ausgaben für Forschungsprogramme schlucken. Obgleich die Supermächte die Schlagkraft haben, einander fünfzigmal zu vernichten, sind neue Waffen, deren Vernichtungskraft alles bisher Gekannte übersteigt, im Entwicklungsstadium. Letzter Triumph der Forschung ist die Neutronenbombe, die durch Strahlung Menschen vernichtet und die materiellen Werte unbeschädigt läßt.

Diese Vernichtungsmittel werden als Instrumente, Vernichtung abzuwehren, und als Verteidigungswaffen hingestellt, obwohl die Forschungsprogramme sich auf Angriffswaffen konzentrieren. Ebenso wird die Rüstungsindustrie oft als Triebfeder der wirtschaftlichen Entwicklung betrachtet, obgleich es sich von selber versteht, daß die enormen Summen, die in militärische Ausrüstung investiert werden, besser für zivile Zwecke oder dafür verwendet werden könnten, Armut und Not in der Welt zu mindern.

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Die Aufrüstung ist Triebfeder einer widersinnigen Entwicklung, die die Menschheit von einer möglichen Lösung ihrer Probleme weiter und weiter wegführt. Den Vorteil aus dieser Entwicklung hat allein die Rüstungsindustrie, die ja auch — in den USA und anderen Ländern — so eng mit dem Staat zusammenarbeitet, daß führende Politiker sie eher fördern als bremsen. Der Waffenhandel ist besonders einträglich, und die Dritte Welt ist ein besonders guter Markt. Viele Entwicklungsländer haben Militärregime oder Militär, das das Regime bedroht und deswegen mit militärischer Ausrüstung bei der Stange gehalten werden muß. Der amerikanische Waffenhandel, der sein zentrales Organ im Pentagon hat, beherrscht fast die Hälfte des Marktes, aber auch neutrale Länder wie Schweden und die Schweiz sind große Waffenexporteure und darum besonders stark in der Rüstungsforschung engagiert.

Da der Staat ohnehin schon in der Rüstungsindustrie stark mitmischt, würde eine Verstaatlichung dieser Industrie nichts wesentlich ändern. Wie wenig wohlmeinende Politiker auszurichten vermögen, geht daraus hervor, daß Präsident Eisenhower vor dem militärisch-industriellen Komplex warnte und daß Ministerpräsident Chruschtschow im Gespräch mit Eisenhower einräumte, daß er das gleiche Problem habe. Obgleich sich in der Sowjetunion die Produktions­mittel im Besitz des Staats befinden, ist es auch ihr nicht gelungen, eine andere Technologie zu entwickeln als die der kapitalistischen Länder; auch dort ist die Rüstungsindustrie die größte.

Die militärische Forschung wird oft damit gerechtfertigt, daß sie für friedliche Zwecke genutzt werden kann. Aber eine Forschung, die dadurch gerechtfertigt ist, daß sie friedlichen Zwecken dient, kann auch für andere Ziele eingespannt werden. Dies gilt besonders für die Molekularbiologie, die durch die Übertragung von Erbanlagen von einer Pflanzen- oder Tierart auf eine andere zu einer Beherrschung der Natur in bislang unbekanntem Umfang führen kann. 

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So soll es beispielsweise möglich sein, neue Getreidearten hervorzubringen, die keinen Kunstdünger brauchen, Bakterien, die Insulin produzieren, Organismen, die Öl aufsaugen können — und die man tunlichst nicht an Pipelines heranlassen sollte. Das größte Risiko besteht darin, daß die manipulierten Kolibakterien, die man bei solchen Experimenten besonders oft verwendet, neue nicht erwartete Eigenschaften haben und damit neue epidemische Erkrankungen hervorrufen können. Man hat — in Dänemark wie auch in anderen Ländern — Gremien eingesetzt, die die Entwicklung auf diesem Gebiet überwachen sollen; aber man kann mit Sicherheit sagen, daß jeder Machthaber sich aller Mittel bedienen wird und daß die Forschung die Mittel liefern wird. Entweder wird die (Welt-) Gesellschaft den Bedürfnissen des Menschen angepaßt oder der Mensch denen der Gesellschaft. Das Letztgenannte wird sich etwa durch Eingriffe in die Erbanlagen oder verborgene technologische Verhaltenssteuerung machen lassen. Wenn man glaubt, die technische Entwicklung werde alle Probleme lösen, dann sind es solche Lösungen, mit denen man rechnen muß. Aber die Probleme sind zu einem großen Teil erst von der technischen Entwicklung verursacht worden.

Das Beispiel aus der Molekularbiologie führt zu der Frage, ob die traditionelle Freiheit der Grundlagenforschung beibehalten werden kann. Diese Freiheit ist aber besonders problematisch in einem Gesellschaftssystem, in dem der Produktionssektor (unter dem Deckmantel des Rechts auf Geheimhaltung) die Resultate der Grundlagenforschung benutzt, um ausgehend von engen ökonomischen Kriterien neue Technologien zu entwickeln, und in dem es selber nur eine — überdies schwache — nachträgliche Kontrolle ausüben kann. Weniger bedenklich ist diese Freiheit, wenn die technische Entwicklung menschlichen Rücksichten untergeordnet, also unter demokratische Kontrolle gebracht wird. Nicht die Technik selber ist von Übel, sondern die Ehe zwischen »uninteressierter« Forschung (die sich um die Verwendung ihrer Erkenntnisse nicht kümmert) und wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen. Konstruktiv — anstatt destruktiv — kann die Technik nur als Mittel einer Politik werden, die in des Wortes eigentlicher Bedeutung wirtschaftlich ist, also mit den Ressourcen wirtschaftlich umgeht. 

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Die Frage ist nicht, wieviel man produzieren und wieviel man damit verdienen kann, sondern, was produziert werden und wozu es dienen soll. Aber damit diese Frage auch eine praktische Beantwortung finden kann, müssen sowohl die wirtschaftlichen als auch die politischen Systeme sich radikal wandeln.

 

Die Wirtschaft, ist nicht wirtschaftlich

 

In der modernen Industriegesellschaft ist Wirtschaft in der Theorie und in der Praxis nur auf ständig steigendes Wachstum angelegt, nicht auf eine Ökonomisierung der Mittel. Wie die Vernichtungswaffen ein entscheidender Teil der Produktion und eine wesentliche Quelle für den Profit sind, der die Entwicklung weiter in eine irrsinnige Richtung treibt, so geht die enorme Verschwendung, die die kapitalistische Produktionsweise kennzeichnet, als positiver Faktor in die Berechnungen des Bruttosozialprodukts ein. 

Verkehrsunfälle beispielsweise stehen in der volkswirtschaftlichen Bilanz auf der Plusseite, weil sie trotz der menschlichen und wirtschaftlichen Verluste »produktive« Leistungen in Form von Reparaturen, Anwachsen des Behandlungsapparats usw. verursachen. Trotz allen möglichen wissenschaftlichen und technischen Fortschritts ist die volkswirtschaftliche Bilanz nach wie vor derart primitiv, daß sie keinen genauen Aufschluß darüber gibt, wie wirtschaftlich die naturgegebenen und menschlichen Ressourcen verwendet werden. Für das einzelne Unternehmen gilt: am Kapital zehren ist schlechte Wirtschaft. Dies gilt anscheinend nicht für den Unternehmergeist der gesamten Menschheit, deren »Kapital« die natürlichen Ressourcen sind. Das rührt daher, daß die einzelnen Unternehmen, die sich nicht (wie der dänische Staat) erlauben können, jahrelang im Minus zu sein, es sich hingegen erlauben können, alle gemeinsamen Probleme dem Staat zu überlassen. Dies erfordert seitens des Staats organisierte Kontrolle und wachsende Bürokratie; wirtschaftlicher wäre es, die Zielsetzung der Unternehmen so zu ändern, daß sie mit der der Gesellschaft übereinstimmte.

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Charakteristisch für die kapitalistische Produktionsweise sind erstens die vielen privaten Entscheidungsinstanzen, die die Freiheit haben, nach eigenem Ermessen zu produzieren und über ihren Gewinn zu verfügen, und die zuallererst verpflichtet sind, Überschuß zu erwirtschaften; charakteristisch ist zweitens der Wettbewerb: jedes Unternehmen will das erste sein, nicht beim Befriedigen realer Bedürfnisse, sondern beim Ausnutzen neuer technologischer Möglichkeiten. Dies führt dazu, daß die Ressourcen in steigendem Tempo verschwendet werden. Sowohl die Produkte als auch die Produktionsmittel veralten, ehe sie verbraucht sind; die wirtschaftliche Lebensdauer ist kürzer als die technische. Darum rentiert es sich nicht, wenn man die Erzeugnisse so haltbar wie möglich macht: Verschwendung wird wirtschaftlich.

Vor diesem Hintergrund klingt es nicht überzeugend, wenn man sagt: was gut für die großen Unternehmen ist, das ist auch gut für die Gesellschaft; im Gegenteil, es ist deutlich, daß unökonomisch und irrational für die Gesellschaft sein kann, was rational und ökonomisch für das Unternehmen ist. Die Firma ist von ihrer Zielsetzung her fast verpflichtet, nicht die größtmögliche Rücksicht auf die umgebende Umwelt zu nehmen. Besonders schlimm wird das Mißverhältnis zwischen privaten und öffentlichen Interessen, wenn ein Unternehmen zwecks Kostensenkung nur unzureichende Sicherheitsmaßnahmen ergreift. Die Giftkatastrophe 1976 in Seveso ist ein besonders schwerwiegendes Beispiel, aber nicht das einzige. Die Regel ist, daß wirtschaftliche Rücksichten vor denen der Sicherheit kommen; Geheimhaltung von Produktionsmethoden unter Hinweis auf das Wettbewerbsprinzip macht es der öffentlichen Hand schwer, ausreichende Kontrolle auszuüben. Hinzu kommt, daß kommunale oder regionale Behörden oft sehr großes Entgegenkommen zeigen, um Unternehmen anzuziehen, die die wirtschaftliche Entwicklung in ihrer Region fördern können.

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Ein Wirtschaftssystem, das primär auf effektiver Produktion in hartem Wettbewerb beruht, kann nicht ebenfalls primär darauf hinarbeiten, Vollbeschäftigung zu schaffen oder das Wohl der arbeitenden Menschen zu sichern oder ihr Bedürfnis nach sinnvoller Arbeit zu befriedigen — dies beweisen mit der erforderlichen Deutlichkeit die oft aufreibenden und frustrierenden Arbeitsbedingungen in der Wohlfahrtsgesellschaft. 

Die menschliche Arbeitskraft gehört genau so wie andere Produktionsfaktoren — also Rohstoffe und Maschinenpark — zur Buchführung des Unternehmens. Das traditionelle Mittel, den Überschuß zu steigern, ist, die Lohnkosten niedrig zu halten, was aber die Stärke der Gewerkschaftsbewegung und die demokratische Gleichheitsideologie mehr und mehr erschwert haben. Der Import ausländischer Arbeitskräfte kann die Lohnkosten senken, aber der Staat zahlt für den Unterricht der Arbeiter und ihrer Familien sowie für die Lösung der sozialen Probleme, die unausweichlich auftauchen, wenn eine Gruppe Menschen in ein fremdes Land integriert werden soll. 

Der Import von Arbeitskräften in Zeiten der Hochkonjunktur hat in den meisten westeuropäischen Ländern während der darauffolgenden Niedrigkonjunktur verstärkt Probleme geschaffen, die wiederum die Tendenz verschärft haben, menschliche Arbeitskraft einzusparen. Es regt zum Nachdenken an, daß 60 bis 70 Prozent der geplanten Bruttoinvestitionen in den Industrieländern für Rationalisierung und leistungsverbessernde Technologie verwendet werden, die das Ziel hat, Arbeit durch Kapital zu ersetzen. Wenn die Unternehmen Arbeitskräfte »wegrationalisieren«, trägt wieder der Staat — in Form von Arbeitslosenunterstützung, Umschulung usw. — die wirtschaftlichen Lasten.

Natürlich ist es möglich, zumindest theoretisch, im Rahmen des Wirtschaftssystems diese Tendenzen zu bekämpfen. Moderne Managementtheorien haben dargelegt, daß die Arbeitsleistung sinkt, wenn das Arbeitsmilieu schlecht ist, und daß größerer Einfluß auf das eigene Arbeitsmilieu die Leistung steigert, aber man kann kaum sagen, daß die praktischen Folgerungen aus diesen Erkenntnissen gezogen worden sind. Der liberalistische Glaube, Eigentumsrecht motiviere zu größtmöglicher Leistung, hat sich auch nicht in Bemühungen umgesetzt, den Mitarbeitern eines Unternehmens Miteigentumsrecht zu sichern.

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Einigen jüngeren liberalistischen Wirtschaftlern zufolge ist es auch möglich, die »externen Kosten« in die Kostenrechnung der Unternehmen einzubeziehen, worum die Unternehmen sich aber selten aktiv bemüht haben. Eine Frage ist auch, wie man die Schäden an Umwelt und Gesundheit überhaupt messen kann. Wie hoch soll der Schadenersatz für erstorbenes Vogelgezwitscher sein, oder für Schäden am Fischbestand infolge Dränierung, oder für eine Hochspannungsleitung quer durch die Landschaft? Wie sollte man vernichtete Gesundheit oder den Verlust von Menschenleben (infolge »effektiver« Produktion) ökonomisch bewerten? Wie könnten finanzielle Ersatzleistungen überhaupt eine Kompensation der Verluste sein? Die technische Möglichkeit, solche externen Kosten in eine wirtschaftliche Gesamtberechnung einzubeziehen, löst kein einziges Problem.

Genauso verhält es sich mit den gemeinsamen Umweltschäden, die vom Gebrauch bestimmter Erzeugnisse herrühren. Wie soll man die richtige Berechnung des Beitrags zur Luftverschmutzung austüfteln, die auf den einzelnen Autobesitzer oder Zigarettenraucher zurückgeht? Auch dies wäre ein unmögliches und zweckloses Vorhaben, wie es auch keine Lösung wäre, den Zugang zu gesunden Reservaten zu einer ökonomischen Frage zu machen.

 

Wirtschaftliche Freiheit, Gleichheit und Eigentumsrecht

 

Es ist ein altes liberalistisches Dogma, daß in letzter Instanz der Verbraucher bestimmt, was produziert werden soll. Der Marktmechanismus sichert in der Theorie ein zweckmäßiges Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Übersteigt die Nachfrage nach einer Ware das Angebot, klettert der Preis in die Höhe, und die am wenigsten interessierten Käufer fallen weg. Übersteigt das Angebot die Nachfrage, fällt der Preis; wenn auch das noch nicht genügend Käufer anzieht, dann muß die Produktion eingeschränkt oder eingestellt werden. Es sind mithin die Verbraucherwünsche, die über den Marktmechanismus die Produktion regulieren.

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In der Praxis verhält es sich anders. Wenn die Preise steigen, fällt nicht zuerst der Käufer aus, der eine Ware am wenigsten nötig hat, sondern der, der sie sich nicht mehr leisten kann. In einem Land, das von wirtschaftlicher Ungleichheit geprägt ist, sorgt der Marktmechanismus dafür, daß dem Wohlhabenden als letztem die Güter fehlen werden, von denen es nicht genug für alle gibt. Seiner Grundidee nach, das heißt nach den Vorstellungen der ersten liberalistischen Wirtschaftler kann der Marktmechanismus gerecht nur in einem Land funktionieren, das von wirtschaftlicher Gleichheit geprägt ist.

Etwas Ähnliches gilt für das zweite lenkende Prinzip der liberalistischen Wirtschaft, für den freien Wettbewerb. In der Theorie sorgt er dafür, daß ein Land seine Ressourcen nicht an ineffektive Produktionsmethoden verschwendet, weil die effektiveren Produzenten die weniger effektiven ausstechen. Nur »gesunde« Unternehmen überleben. Wirtschaftlich sinnvoll für die Gesellschaft ist der freie Wettbewerb allerdings nur so lange, wie die Verlierer sich in anderen Produktionszweigen nützlich machen können (und nicht vom Staat unterstützt werden müssen); und frei ist der Wettbewerb nur so lange, wie die Unternehmen etwa gleich klein sind, was zur Zeit von Adam Smith der Fall war, als diese Theorie neu und epochemachend war. Der freie Wettbewerb führt zu dem bekannten Prinzip: Wer hat, dem soll gegeben werden usw. — die Konkurrenz konkurriert sozusagen die Freiheit aus.

Paradoxerweise scheint also eine gerechte Ausnutzung sowohl des freien Wettbewerbs als auch des Marktmechanismus davon abhängig zu sein, daß

1. die wirtschaftliche Handlungsfreiheit begrenzt und

2. die wirtschaftliche Gleichheit verwirklicht wird.

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zu 1.

Natürlich ist es richtig, daß man die wirtschaftliche Handlungsfreiheit seit jener Zeit begrenzt hat, als der Altliberalismus neu war. Kartellüberwachung, Arbeitsschutz, Umweltamt, Berufsorganisationen, Verbraucherrat, Verbraucher-Ombudsmann, Gesetze über Preise und Gewinnspannen sind Beispiele dieser Begrenzungen. Aber: »Fast ohne Ausnahme erstrecken sich die Kontrollmaßnahmen auf andere Sektoren als auf die eigentliche Produktion... Im großen ganzen steht es einem Unternehmen in einem kapitalistischen Land nach wie vor frei, alles Beliebige zu produzieren... die Kräfte des freien Markts sind auf fast allen Gebieten begrenzt worden — aber gerade ausgenommen das Gebiet, das man mit Fug als das wichtigste bezeichnen kann.« (Karl-Henrik Pettersson) Die Frage ist indes, ob nicht eine Begrenzung auf dem wichtigsten Gebiet viele andere Begrenzungen überflüssig machen würde. Das Problem dabei ist nur, daß die Alternative zu einer »freien« "Wirtschaft, also zur Freiheit der Unternehmer, alles Beliebige produzieren, eine vom Staat gelenkte Wirtschaft ist, und daß Kontrolle durch den Staat oft mit einer trägen und unwirtschaftlichen Bürokratie verknüpft wird.

Wenn man dem öffentlichen Sektor nachsagt, er hemme das produktive Erwerbsleben mit seiner Formularflut, so muß man einwenden, daß der öffentliche Sektor vor allem gewachsen ist, um die Wirtschaft zu fördern — und um die unökonomischen Auswirkungen des Wirtschaftssystems auszugleichen. Die grundlegende Ursache für das Anwachsen der Bürokratie sind die Interessenkonflikte, die in unser Gesellschaftssystem sozusagen eingebaut sind und deren Hauptursache wiederum die privatwirtschaftliche Handlungsfreiheit ist; ein solches System braucht ständig mehr Regeln, mehr Kontrolle, mehr Verwaltung usw.

Die Frage nach einer gesellschaftlichen Kontrolle der Produktion stellt auch das Privateigentumsrecht an den Produktionsmitteln in Frage, das in der liberalistischen Tradition zuweilen als das zentrale demokratische Recht erscheint, obwohl ein Recht, das einer kleinen Minderheit vorbehalten ist, eigentlich kaum als demokratisch bezeichnet werden kann.

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Hier genügt es schon, auf die Argumentation von E. F. Schumacher hinzuweisen:

»a Bei kleinen Unternehmen ist Privateigentum natürlich, fruchtbringend und gerecht.

b In mittleren Betrieben ist Privateigentum bereits weitgehend ohne Funktion. Die Vorstellung von >Eigentum< wird überdehnt, sie wird unfruchtbar und ungerecht. Bei nur einem Eigentümer oder einer kleinen Gruppe von Eigentümern kann und sollte das Vorrecht daraus freiwillig an die größere Gruppe derer abgetreten werden, die tatsächlich arbeiten ...

c Bei Großunternehmen ist Privateigentum ein vorgeschobener Begriff, der es funktionslosen Eigentümern ermöglichen soll, schmarotzerhaft von der Arbeit anderer zu leben. Er ist nicht nur ungerecht, sondern stellt auch ein irrationales Element dar, das alle Beziehungen innerhalb des Unternehmens verzerrt.«

Dieselbe Argumentation kann für das absurde Eigentumsrecht an den Wohnungen anderer und an den Ressourcen der Erde gelten.

Das Privateigentum wird oft mit dem Hinweis auf die Verhältnisse in den sozialistischen Ländern verteidigt, wo die Doppelbürokratie von Partei und Staat weder in der Lage gewesen ist, die Bedürfnisse der Bürger an Konsumgütern zu befriedigen, noch wirtschaftliche Gleichheit zu schaffen, ganz abgesehen von den anderen Bürgerrechten. Es ist aber ein Unterschied zwischen gesellschaftlicher Kontrolle der Produktion einerseits und staatlicher und Parteikontrolle des gesamten wirtschaftlichen und politischen Lebens andererseits. Es ist natürlich kein Zufall, daß es dort keine freie Konsumwahl gibt, wo es keine freien politischen Wahlen gibt; auch kein Zufall ist, daß die relativ dezentralisierte Betriebslenkung in Jugoslawien — erwiesenermaßen — einen relativ freien Markt voraussetzte.

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Der Marktmechanismus ist aus historischen Gründen mit der privatkapitalistischen Gesellschaft der Ungleichheit verkettet worden, funktionieren aber kann er gerecht nur in einer Gesellschaft mit wirtschaftlicher Gleichheit. Hinsichtlich der Waren und Dienstleistungen, die nicht mit Rücksicht auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen (Kranke, Behinderte usw.) erforderlich sind, bildet der Marktmechanismus ein einfaches und unbürokratisches Verteilungsprinzip ohne asoziale Wirkungen und soziale Schlagseite, wenn die Produktion in die Richtung gelenkt ist, daß sie die realen Bedürfnisse befriedigt und wenn die Bürger wirtschaftlich gleichgestellt sind. Das Letztgenannte ermöglicht es gleichzeitig, alle Steuern über den Verbrauch zu erheben, also auf die Lebenshaltung zu legen, nicht aber auf die Arbeitsleistung — und so die Einkommensteuer und damit zugleich einen großen Teil der Bürokratie abzuschaffen.

 

zu 2.

Wie man versucht hat, aus sozialen Rücksichten die Wirtschaftsfreiheit zu begrenzen, so hat man aus demokratischen Gründen versucht, die wirtschaftliche Ungleichheit zu begrenzen. Zur Förderung wirtschaftlicher Gleichheit ist ein gleiches Einkommen jedoch wirksamer als eine ungleiche Verteilung, der man durch progressive Besteuerung sowie verschiedene Zuschuß- und Absetzungsmöglichkeiten entgegenzuwirken versucht, die oft der ursprünglichen Absicht zuwiderlaufen. In den reichen sechziger Jahren erfolgte kein Ausgleich zwischen den am höchsten und den am niedrigsten Bezahlten; als mehr für alle da war, gab die Ungleichheit keinen Anlaß zu derart großer Unzufriedenheit, wie in den weniger reichen siebziger Jahren. Erst vor wenigen Jahren ist es gelungen, gleich große Teuerungszuschläge für alle Bürger einzuführen, was auf sehr lange Sicht zum Einkommensausgleich führen wird. Nach wie vor kopflastig ist in Dänemark die Vermögensverteilung: 1975 besaßen 3 Prozent der Bevölkerung mehr als ein Viertel der Privatvermögen, 11 Prozent besaßen über die Hälfte.

Es hat sich gezeigt, daß Wirtschaftswachstum nicht zum wirtschaftlichen Ausgleich führt; hingegen ist wirtschaftlicher Ausgleich eine entscheidende Bedingung für die Begrenzung des Wachstums im materiellen Verbrauch, sowohl national als auch global.

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Man hat in der liberalistischen Theorie auch die Ungleichheit zu rechtfertigen versucht. Wenn man für die wichtigsten Funktionen die höchsten Entgelte zahlt, so lockt man dadurch seltene Fähigkeiten und Qualifikationen zum Nutzen aller hervor. Dies vorausgesetzt, kann man also annehmen, daß Einschränkungen in der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit die Initiative lähmen und zu einem trägen Wirtschaftsund Gesellschaftsleben führen. Der mythische Held des Kapitalismus ist der Zeitungsjunge, Piccolo oder Schuhputzer, der seine Laufbahn als Multimillionär und Präsident eines riesigen Unternehmens abschließt. Eine nähere Analyse dieser zupackenden Männer zeigt jedoch, daß sie zuallererst clever genug waren, die gesellschaftlichen Spielregeln bis zum Äußersten (und ein wenig darüber hinaus) auszunutzen, Grundstücke und andere Immobilien zum richtigen Zeitpunkt zu kaufen, billig zu kaufen und mit Profit wieder loszuschlagen. Dies ist ganz im Sinn des Systems, aber nicht zum Nutzen der Allgemeinheit. Der Boden wäre auch ohne Bodenspekulanten genutzt und die Häuser wären auch ohne Wohnungsspekulanten gebaut worden. Freilich ist es auch denkbar, daß die riskantesten Spekulationen durch eine Begrenzung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit gebremst werden, aber dies wird der Allgemeinheit nicht zum Schaden gereichen.

In einer Gesellschaft mit hohem Ausbildungsniveau ist es nicht notwendig, mit Mikroskop und Lupe nach fachlich Qualifizierten und Führungskräften zu suchen; gerade die bahnbrechenden Forscher, Techniker und Künstler sind Beispiele für Menschen, deren Motivation nicht der Wunsch nach wirtschaftlichem Gewinn ist. Viel deutet daraufhin, daß ein starker Bereicherungsdrang eher ein Milieuschaden ist als eine ursprüngliche menschliche Triebfeder — das wird vielleicht auch in den erwähnten kapitalistischen Mythen angedeutet, in denen der Geringste der Größte wird.

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Die großen Unternehmen und die Technostruktur

 

Natürlich ist es nicht der gewöhnliche Verbraucher, der nach Überschallflugzeugen, Kernkraftwerken und Superkrankenhäusern verlangt. Oft protestieren Bürger, deren Umwelt von solchen Projekten bedroht wird, dagegen (zuweilen auch gegen den Bau einer Autobahn durch ihr Viertel, selbst wenn sie im übrigen fleißige Autobahnfahrer sind). Aber auch hinsichtlich der allgemeinen Konsumgüter ist die freie Wahl des Verbrauchers in der Wirklichkeit stärker begrenzt als in der Theorie. Die Massenproduktion der großen Unternehmen wird nicht von den Wünschen der Verbraucher gelenkt — eher werden die Wünsche der Verbraucher von der Produktion gelenkt!

Besonders J. K. Galbraith hat dies betont und mit dem Mythos vom »souveränen Verbraucher« aufgeräumt. Er unterscheidet zwei Sektoren innerhalb der Wirtschaft: das Marktsystem, das kleinere Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe umfaßt, kleine selbständige Handwerker usw., und das Planungssystem, dominiert von großen Unternehmen, die einen ständig größeren Teil des immer weniger freien Markts beherrschen. 1968 kontrollierten in den USA die 200 größten Aktiengesellschaften mit etwa 65 Prozent denselben Anteil an Aktiva in sämtlichen Betrieben wie 1941 die tausend größten.

Charakteristisch für die großen Gesellschaften ist,

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Galbraith hat den Widerspruch zwischen der liberalistischen Theorie und den tatsächlichen Verhältnissen in der Industrie nachgewiesen. In der Theorie ist »das amerikanische System der freien Initiative und Konkurrenz ein anerkanntes Gewinn- und Verlustsystem«, aber in der Praxis liegt der Verlust auf der Seite des Marktsystems, während der Staat es nicht verkraften kann, daß die großen Gesellschaften aus dem Markt konkurriert werden. Die traditionelle amerikanische Furcht davor, daß der Staat das Wirtschaftsleben beherrschen könnte, hat dazu beigetragen, daß das Wirtschaftsleben nun den Staat beherrscht: öffentliche Organe zur Kontrolle der großen Gesellschaften entwickeln sich eher zu Geiseln als zu Kontrolleuren. 

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Die Technostruktur wird ein großer, anonymer Machtfaktor, der mit seiner Fähigkeit, den Markt und die Bürokratie der öffentlichen Hand zu beeinflussen, bestimmte Entwicklungstendenzen in der modernen Gesellschaft begünstigt. Einige wenige Mitglieder der Leitung eines Konzerns können Entscheidungen fällen, die Einfluß auf Beschäftigung, Einkommen und Wohnort ungezählter Menschen haben.

Die größten Unternehmen, die wirtschaftlich größer sind als kleine Staaten wie Dänemark, können es für die Nationalstaaten schwierig machen, eine selbständige Wirtschaftspolitik zu führen. Sie können sich den Arbeitsschutzgesetzen und der Steuerpolitik der einzelnen Staaten entziehen, indem sie die Produktion oder die Gewinne in das Land transferieren, das das größte Entgegenkommen zeigt; in den Entwicklungsländern tragen sie oft zu einer Fehlentwicklung im technologischen und sozialen Bereich bei, und sie halten dort korrupte Regime an der Macht. Die großen Gesellschaften sind mithin ein wesentliches Hindernis der demokratischen Entwicklung. Nur die Technostruktur kann mit den großen Anforderungen zurechtkommen, die an Forschung und Entwicklung auf technologischem Gebiet gestellt werden und die hohe Kosten fordern; die Techniker brauchen nicht viel Zuspruch, damit sie sich an die Entwicklung neuer und aufregender Technologien machen. Die fachliche Herausforderung wird in der Regel eventuelle soziale Bedenken überwinden.

In seiner Analyse des Planungssystems der großen Unternehmen, das den Verbraucher beeinflußt, viele unnötige Waren zu kaufen, betonte Galbraith, daß es »die breite Öffentlichkeit auf den Arm nimmt« und daß größere Einsicht in die tatsächlichen wirtschaftlichen Zusammenhänge für die Unternehmen bedrohlich werden kann; aber die breite Öffentlichkeit identifiziert sich leichter mit privaten Interessen als mit öffentlichen. Es gibt jedoch Zeichen einer Änderung: Meinungsumfragen ergaben 1976 in den USA, daß nur 20 Prozent der Bevölkerung Vertrauen zu den großen Unternehmen haben. 

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Im »Spätkapitalismus«, der durch wachsende Knappheit des Kapitals und sinkende Erträge der Investitionen (was eine Ursache dafür ist, daß die großen Unternehmen sich ständig in neue Produktionsbetriebe hineindrängen) gekennzeichnet ist, sind gerade große Gesellschaften anfälliger als kleine, und ihr Expansionsbedürfnis erschwert eine Umstellung auf eine Wirtschaft, die für die Allgemeinheit nützlicher ist. Darum gibt es nicht nur demokratische Gründe, sondern auch wirtschaftliche, die Macht zu bekämpfen, die in der Technostruktur der großen Unternehmen konzentriert ist.

Trotz der vielen Machtmittel der Technostruktur hat sie auch einige sozusagen eingebaute Schwächen. Verschiedene Branchen innerhalb der Technostruktur sind normalerweise nicht gut koordiniert, und der Markt funktioniert nicht effektiv, wenn es sich um spezialisierte Nachfrage nach Rohstoffen, elektronischen Bauelementen und Arbeitskraft handelt. Hier sind dem System Verzögerungen immanent, die zu unangenehmen wirtschaftlichen Schwankungen führen können. Galbraith behauptet rundheraus, die Technostruktur sei fundamental unstabil und könne nur mit Hilfe der Unterstützung durch die öffentliche Bürokratie zurechtkommen. Das kann dazu führen, daß die Entwicklung ihre Tendenz zugunsten der kleineren Unternehmen ändert, was sich schon innerhalb gewisser Branchen abzeichnet.

In Dänemark beherrschen kleinere Unternehmen das Bild in der Industrie, und in den letzten zehn Jahren ist die Zahl der großen Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten zurückgegangen, die der mittelgroßen Unternehmen hingegen gestiegen. Bis in die siebziger Jahre hinein baute die zentrale Planung darauf, daß die Konzentrationstendenzen auf dem Wohnungssektor und in der Wirtschaft anhalten und die kleinen Kommunen entvölkert würden. Jetzt beobachtet man dagegen eine Tendenz zur Dezentralisierung, die sich auch in der Bereitschaft abzeichnet, aus den großen Städten zu ziehen, vor allem in das westliche Dänemark; vom Anstieg der Bevölkerungszahl um etwa 125.000 Menschen seit 1970 entfallen auf die Halbinsel Jütland nicht weniger als 90.000. Dänemark hat heute fast 90.000 Handwerksbetriebe, 1958 waren es 80.000. Es spricht für die Stärke der Dezentralisierungstendenzen, daß sie sich trotz der zentralen und zentralistischen Planung und Verbandsinteressen geltend gemacht haben.

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  Internationalisierung der Wirtschaft  

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Wirtschaftsintegration der westlichen Industrieländer ständig gestiegen. Dies gilt sowohl für den internationalen Handel als auch für die internationalen Investitionen. Wenn man von einzelnen Fällen internationaler Rohstoffmonopole (wie die OPEC) absieht, so gibt es kaum Zweifel daran, daß der internationale Warenaustausch die nationale Bewegungsfreiheit politisch weniger bindet als die internationalen Investitionen. Hinsichtlich der meisten Waren wird Dänemark also eine große Palette von Ein- und Ausfuhrländern zur Verfügung haben. Hingegen wird es einer selbständigen dänischen Wirtschaftspolitik Schwierigkeiten bereiten, wenn ein bedeutender Teil unseres Produktionskapitals von ausländischen Gesellschaften kontrolliert wird oder sich in deren Besitz befindet.

Die internationalen Handelszahlen sind in der Regel leicht zugänglich, während es ungleich schwerer ist, Informationen über die Investitionen zu bekommen. Die offizielle Begründung dafür ist unter anderem die Geheimhaltung industrieller Daten; sie könnten von Konkurrenten mißbraucht werden. Die Grundlagen für wissenschaftliche Forschung sind darum auf diesem Sektor dünn gesät. Die meisten Analysen konzentrieren sich auf die wirtschaftlichen Konsequenzen einer stärkeren internationalen Arbeitsteilung; die politischen Konsequenzen sind nicht Gegenstand der gleichen Aufmerksamkeit gewesen.

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Die ersten liberalistischen Theorien zur internationalen Arbeitsteilung und zum internationalen Handel gingen von geographischen Unterschieden hinsichtlich Klima, Bodenschätze, Bevölkerungsstruktur usw. aus. Die spätere Entwicklung hat diesen Gesichtspunkt jedoch nicht bestätigt. Es ist auffällig, daß ein Großteil des internationalen Handels heute zwischen Industrieländern mit einer etwa gleichartigen Struktur abgewickelt wird. Entsprechendes gilt für die internationalen Investitionen. Man muß also nach anderen Ursachen als den bereits genannten suchen. Speziell was die kleinen Länder betrifft, kann man die Notwendigkeit nennen, mit spezialisierten Produkten einer hochentwickelten Technologie über den Binnenmarkt hinauszugreifen. 

Beispiele für Dänemark sind die akustischen Meßinstrumente von Brüel & Kjär sowie die Produktion von Siliziumkristallen für elektronische Bauelemente bei Topsil. In beiden Fällen nimmt der Export mehr als 95 Prozent der Produktion ein. Der größte Teil unserer hochentwickelten Industrieproduktion könnte sich in Dänemark ohne den internationalen Handel nicht halten. Dänemark trägt mithin zur internationalen Arbeitsteilung bei, aber man kann nicht so einfach eine Erklärung finden, warum Dänemark sich gerade auf den eben erwähnten (und anderen) Sektoren Geltung verschafft hat; anscheinend liegt die Ursache in einem Zusammentreffen von Zufällen. 

In den letzten Jahrzehnten ist es mehr und mehr üblich geworden, den traditionellen Außenhandel durch die Errichtung von Produktionsstätten im Ausland zu ersetzen. Dabei ergibt sich die Möglichkeit, Zollbestimmungen zu umgehen, die Transportausgaben zu senken, billige Arbeitskraft auszunutzen, das Risiko zu verteilen, sich die Rohstoffversorgung zu sichern sowie technisches Know-how und Marktkenntnisse durch Aufkaufen ausländischer Unternehmen zu sichern. Schließlich können politische Motive mit dem Wunsch verbunden sein, das kapitalistische System zu verbreiten, nicht zuletzt in den Entwicklungsländern. Produktion im Ausland kann mithin ein Vorteil für das einzelne Unternehmen sein; ob man auch unter dem Gesichtspunkt globaler Ressourcen realen Nutzen erreicht, kann man genausowenig durchschauen wie die Folgen für das einzelne Land. Viel deutet jedoch darauf hin, daß die Auslandsinvestitionen den (großen) reichen Ländern die größten Vorteile eingebracht haben.

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1976 wurde von Svante Iger ein Bericht über die Internationalisierung der schwedischen Wirtschaft veröffentlicht. Er zeigte, daß die ausländischen Investitionen in Schweden sich auf das Aufkaufen von Unternehmen auf den technologisch hochentwickelten Sektoren konzentriert haben, auf die sogenannten zukunftsorientierten Produktionsbereiche (Chemie, Elektrotechnik und Maschinenbau). Es ist schwer, über die dänischen Verhältnisse einen klaren Überblick zu bekommen, aber die Tendenz scheint die gleiche zu sein, soweit man dies aus veröffentlichten Mitteilungen über ausländische Investitionen in dänischen Unternehmen in den letzten 20 Jahren beurteilen kann.

Charakteristisch für die Entwicklung in Schweden ist, daß die Internationalisierung und die finanzielle Konzentration Hand in Hand gegangen sind. Die zehn größten ausländischen Unternehmen in Schweden sind durchweg internationale Großkonzerne (Philips, ITT, IBM, Siemens, Unilever usw.). Der Einfluß und die Finanzkonzentration der großen Unternehmen sind jedoch stark selektiv und produktabhängig. Als Beispiel dafür kann die Tatsache gelten, daß in Schweden die vier größten einschlägigen Firmen 98 Prozent der gesamten Margarineproduktion beherrschen; auf anderen Gebieten der Lebensmittelindustrie (Senf, Speiseeis, Suppen u. ä.) liegen die entsprechenden Prozentzahlen zwischen 90 und 100; bei Reinigungsmitteln haben die vier Größten 79 Prozent und bei Autoreifen 100 Prozent Marktanteil.

Trotz dieser Entwicklung betrug 1972 der Anteil der ausländischen Tochtergesellschaften am Gesamtverkaufswert schwedischer Industrieprodukte nur 6,5 Prozent, und 1974 waren bei schwedischen Tochtergesellschaften dreimal soviel Menschen beschäftigt wie bei ausländischen Tochtergesellschaften in Schweden. Von 1200 ausländischen Tochtergesellschaften in Schweden waren nur ein Viertel Industrieunternehmen, die änderen drei Viertel waren Dienstleistungsbetriebe.

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Wie das schwedische Beispiel zeigt, wächst der Außenhandel bedeutend schneller als die Investitionen. Der Umfang der schwedischen Im- und Exporte entsprach 1974 etwa einem Drittel des Bruttosozialprodukts; die neun größten Exportunternehmen bestreiten ein Drittel des schwedischen Exports - und die 22 größten die Hälfte.

Es ist also für ein kleines Land wie Schweden möglich gewesen, einen Lebensstandard zu erreichen, der zu den höchsten der Welt gehört, indem es aktiv am Welthandel teilnahm, ohne beim einheimischen Produktionsapparat in größerem Umfang auf ausländisches Kapital zu bauen. Es ist jedoch nicht sicher, ob Schweden das auf längere Sicht durchhalten kann. Die Notwendigkeit ständig steigender Investitionen für Forschung und Produktentwicklung kann Länder wie Schweden (und Dänemark) dazu zwingen, ihr Streben nach selbständigen Leistungen in einigen technologisch hochentwickelten Bereichen aufzugeben.

Schon jetzt ist fraglich, ob die Schweden aus eigener Kraft die B3LA entwickeln und bauen können, die in den achtziger Jahren das Flugzeug Viggen als Abfangjäger ersetzen soll.

 

Behindern internationale Verpflichtungen Dänemarks Bewegungsfreiheit?

Auch der dänische Außenhandel macht heute etwa ein Drittel des Bruttosozialprodukts aus, und der Außenhandel ist von entscheidender Bedeutung für die dänische Wirtschaft. Welche Einwirkung hat dies auf unsere politische Handlungsfreiheit? Könnte Dänemark beispielsweise unabhängig von seinen EG-Partnern als Einzelstaat auf einen niedrigen Energieverbrauch hinsteuern oder in den dänischen Unternehmen das Miteigentumsrecht der Mitarbeiter einführen? Unsere Antworten fallen positiver aus, als man unmittelbar erwarten sollte.

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Je mehr die EG-Zusammenarbeit ausgebaut wird, desto schwieriger wird es natürlich werden, eine Politik zu betreiben, die nicht mit der der anderen Länder im Einklang steht. Andererseits besteht eine Neigung, diese Bindungen zu übertreiben, vielleicht eine sehr bewußte Tendenz; wer Wirtschaftsintegration als Selbstzweck ansieht, wird sich auch auf die Notwendigkeit einer gleichgeschalteten politischen Entwicklung berufen.

Kapitalflucht ist eins der Gespenster, die beschworen werden, wenn das Gespräch auf die Änderung der Eigentumsverhältnisse und der Entscheidungs­struktur im Wirtschaftsleben kommt. Es ist wohl nicht unwahrscheinlich, daß einige Kapitaleigentümer versuchen werden, ihre Geldmittel ins Ausland zu bringen, wenn sie der Meinung sind, daß Dänemark einem weniger »kapitalistenfreundlichen« Kurs folgt als andere westliche Industrienationen. In der Praxis aber ist diese Kapitalüberführung nur schwer zu handhaben, einerseits muß man zunächst das Unternehmen verkaufen, andererseits braucht man für die Überführung größerer Summen ins Ausland die Genehmigung der Nationalbank; der Staat hat bereits das notwendige Instrumentarium, diese Entwicklung zu regulieren. Illegale Geldausfuhr wird stets in einem gewissen Umfang erfolgen, aber sie wird kaum das wirtschaftliche Gleichgewicht stören können; gegebenenfalls wird die Gesellschaft auch die Gegenmaßnahmen ergreifen können, die eine solche Form der Wirtschaftssabotage herausfordern würde.

Wie das schwedische Beispiel zeigt, ist es für den materiellen Lebensstandard nicht entscheidend, daß man eine größere Anzahl ausländischer Gesellschaften ins Land holt. Das Entscheidende ist eine Industrie, die auf dem Weltmarkt ebenso in Wettbewerb treten kann wie auf dem Binnenmarkt mit den Importerzeugnissen. In einem solchen Fall wird ein Land ein zuverlässiger Handelspartner und Kreditnehmer sein, ziemlich unabhängig vom politischen Kurs.

Welche Möglichkeiten der Anpassung an die internationale Entwicklung haben die dänischen Wirtschaftsunternehmen? Wie schon angedeutet wurde, müssen selbst relativ starke Industrieländer wie Schweden in einigen Bereichen technologischer Hochleistungen infolge ihrer begrenzten Größe Schwierigkeiten voraussehen. 

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Anstatt sich als Minikopie der großen Industrieländer zu versuchen, sollten die kleinen Länder eher eine alternative Wirtschaftspolitik führen. Eine entsprechende Neigung besteht bereits in der dänischen Industrie. Sie hat es mehr oder weniger freiwillig aufgegeben, sich an der Herstellung von Flugzeugen, Kernkraftwerken, großen Datenverarbeitungsanlagen und sogar Kraftfahrzeugen zu beteiligen. Gemessen am Weltmaßstab sind die dänischen Unternehmen sehr klein, und zu einer Massenproduktion in großem Umfang sind sie normalerweise gar nicht in der Lage. Mit einem gewissen Recht sind wir Dänen einer zu großen Liebe zum Kleinen und Bescheidenen geziehen worden. Aber diese läßt sich positiv bei den Bemühungen ausnutzen, quali-tätsbezogene Spezialausrüstung und hochentwickelte »Zwischentechnologie« zu bauen, die in kleineren Einheiten auf den Markt kommt; auf vielen Sektoren sind kleinere Unternehmen anpassungsfähiger als die großen Gesellschaften.

Ein anderes Gebiet, das sich für eine selbständigere dänische Politik anbietet, ist die Landwirtschaft. Seit Anfang der sechziger Jahre der große Wohlstandsanstieg begann, stagniert die Lebensmittelproduktion in Dänemark, während sie in anderen europäischen Ländern — von Portugal abgesehen - gestiegen ist. Die landwirtschaftliche Nutzfläche wird ständig zugunsten von Luxus-, Sommerhaus- und Hotelbauten, Straßen, Parkplätzen usw. geringer; zugleich ist der Preis für Grund und Boden sowie für landwirtschaftliche Anwesen derart gestiegen, daß die nachfolgende Generation es unzumutbar schwer hat, wenn sie Betriebe übernimmt, und unzumutbar hart arbeiten muß, um sie rentabel zu halten. Die Landwirtschaft hat durchaus Vorteile aus dem Anschluß an die EG gezogen, aber die Subventionspolitik hat sich nicht als wirkungsvolles Lenkungsmittel erwiesen. Im Sommer 1977 konnten die Bauern zum Beispiel Zuschüsse zur Abschaffung ihres Milchviehbestandes erhalten; sie konnten auch Zuschüsse zum Bau neuer Viehställe bekommen. Ein Gutachten über die Landwirtschaft vom Frühjahr 1977 strebte eine jährliche Vermehrung der tierischen Produktion von 3 Prozent an. 

Im Hinblick auf den globalen Lebensmittelmangel und

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besonders auf den Mangel an Proteinen ist es zweifelhaft, ob man gerade bei der tierischen Produktion ansetzen sollte. Es erfordert mehr Protein, ein Kilo Rindfleisch zu erzeugen, als dieses Kilo selber Proteine enthält, weswegen umfangreiche Produktion und Ausfuhr von tierischen Lebensmitteln nicht eindeutig zur Vermehrung der Lebensmittelmenge in der Welt beitragen. Gleichzeitig ist der Bedarf an gesunden Lebensmitteln gestiegen, ohne daß die Forschung auf dem Sektor der ökologischen Landwirtschaft, die weniger abhängig von künstlichem Dünger und Pflanzenschutzmitteln ist und zugleich weniger Energie verbraucht, systematisch in Gang gekommen wäre. Hier könnte das Agrarland Dänemark neue Wege gehen und das Hauptgewicht auf die Herstellung gesunder pflanzlicher Produkte legen.

Vieles deutet darauf hin, daß eine weit vorangetriebene internationale Arbeitsteilung dazu beiträgt, das globale System aus dem Gleichgewicht zu bringen; Mißerfolge und Schwierigkeiten an einer Stelle des Systems wirken sich auf alle abhängigen Sektoren aus. Konjunkturschwankungen greifen mit unerbittlicher Sicherheit auf alle industrialisierten Länder über. Wenn die einzelnen Regionen sich in höherem Maße selber versorgen könnten, dann wäre dies gewiß ein Vorteil für die Gesamtheit. Besonders wichtig ist es, bei den zum Leben notwendigen Gütern (Lebensmittel, Heizung usw.) Selbstversorgung zu erreichen. Dies kann für eine einzelne Nation schwierig sein; es müßte sich aber von benachbarten Nationen mit enger kultureller und politischer Bindung verwirklichen lassen. Die nordischen Länder könnten ein Beispiel sein.

Nicht nur in Dänemark erheben sich Zweifel an der Zweckmäßigkeit des traditionellen Wirtschaftssystems. Wenn wir versuchten, unseren Einfluß dahingehend geltend zu machen, daß die Entwicklung auf eine Gesellschaft des Gleichgewichts hingelenkt würde, so ist anzunehmen, daß dies im Einvernehmen mit unseren Partnern erfolgen könnte. Es ist schon bei früheren Entwicklungen so gewesen - beispielsweise bei der des sogenannten Wohlfahrtsstaats -, daß kleine Nationen die Vorreiter waren.

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Die nationale Wirtschaft 

Dänemark ist infolge seines Mangels an Rohstoffen internationalen Konjunkturen gegenüber besonders empfindlich. Aber nicht schlechte Konjunkturen haben uns gezwungen, im Laufe vieler Jahre mehr zu verbrauchen als wir produzieren und die negative Handelsbilanz durch Anleihen im Ausland zu decken. Das bedeutet in der Praxis, daß Dänemark keinen Beitrag zur Linderung der Not in der Welt leistet, was besonders beschämend ist, weil nur geringe Entbehrungen nötig wären, diese Situation zu ändern. Diesen Schritt verhindern die Interessengegensätze, die von der Wohlstandssteigerung der sechziger Jahre verdeckt wurden, die aber durch den wirtschaftlichen Rückschlag in den siebziger Jahren deutlicher zutage getreten sind.

Überhöhter Verbrauch bedeutet, daß die Importe die Exporte' übersteigen. Als einfache Lösung bietet sich die Begrenzung der Importe und die Steigerung der Exporte an -wobei gerade das Letztgenannte bei einer hohen Arbeitslosenquote naheliegend zu sein scheint. Aber Dänemark kann sich infolge seiner Mitgliedschaft in der EG und in anderen internationalen Organisationen keine Importbegrenzungen leisten; Handelsbeschränkungen führen überdies zu entsprechenden Maßnahmen in anderen Ländern und zu einer Verschärfung der Krise. (Es gibt bereits Anzeichen einer solchen Entwicklung. Die EG hat den Textilimport aus einigen Entwicklungsländern eingeschränkt, die USA ihren Schuhimport aus Taiwan und Südkorea usw.; es gibt Grenzen für den Liberalismus der großen Länder, wenn die eigene Industrie nicht ausreichend wettbewerbsfähig ist. Der französische Präsident spricht von »organisierter Freiheit des Handels«.)

Die Probleme der Arbeitslosigkeit und der negativen Handelsbilanz lassen sich gewiß nicht auf einmal lösen, und Bestrebungen zur Verringerung des einen Problems führen zur Verschärfung des anderen. Das traditionelle politische Mittel zur Verbesserung des Arbeitsmarkts ist die Steigerung des Verbrauchs auf dem begrenzten Binnenmarkt. 

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Aber die Verbraucher unterscheiden nicht so genau zwischen dänischen und ausländischen Erzeugnissen, sie sehen mehr auf den Preis. Gesteigerter Verbrauch führt zu verhältnismäßig größerem Verbrauch an ausländischen Waren - zu mehr Beschäftigung im Ausland und zu größerem Defizit. Das traditionelle Mittel zur Verringerung des Defizits ist die Begrenzung des Verbrauchs durch Erhöhung der Abgaben. In Dänemark erfolgte 1975 em parlamentarischer Vergleich der großen Parteien zur Steigerung des Verbrauchs und im August 1976 einer zur Verbrauchsbegrenzung - der eine half sowenig wie der andere.

Auf längere Sicht - die eigentlich nicht mehr so lang ist - sind die großen Probleme der überhöhte Verbrauch und die unkontrollierte Produktion. Zu einem Zeitpunkt, wo das Wirtschaftswachstum bereits durch ein Konjunkturtief gebremst ist, sollte eigentlich Hochkonjunktur sein für eine Politik, die einsieht, daß dem Wachstum Grenzen gesetzt werden müssen. Der Zeitpunkt sollte gekommen sein, wo man anerkennt, daß größtmögliche Nachfrage und größtmögliches Angebot keine Werte an sich darstellen. Von einer ressourcen- und gesellschaftswirtschaftlichen Betrachtung her ist es besser, daß halb so viele Menschen damit beschäftigt sind, gesunde Erzeugnisse und Güter mit langer Lebensdauer herzustellen, als daß doppelt so viele damit beschäftigt sind, doppelt so viele Erzeugnisse herzustellen, die nur halb so gut sind. Dieser Gesichtspunkt wird jedoch angesichts der internationalen Arbeitslosigkeit vernachlässigt, die man überall mit kurzfristigen und traditionellen Mitteln zu lösen versucht - wobei die Resultate gleich negativ sind. Gerade in Krisenzeiten werden die langfristigen Maßnahmen bis zum Herannahen besserer Zeiten ausgesetzt, obwohl man erfahrungsgemäß in guten Zeiten nicht das geringste Motiv hat, auch nur das Geringste zu ändern, und obwohl wir mit den kurzfristigen Maßnahmen die Probleme nur weiter vor uns herschieben - also langfristige Maßnahmen noch stärker erschweren.

Mehrere Volkswirtschaftler haben erkannt, daß wir uns

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nicht aus der Arbeitslosigkeit herausproduzieren können. Wenn die Produktion schneller wächst als der Absatzmarkt, wird es schiefgehen, und wenn Politiker der altliberalistischen Schule ihre Forderung erfüllt bekämen, den Beschäftigungsstand auf dem Sektor der öffentlichen Dienstleistungen zu beschneiden, würde es noch früher schiefgehen. Das im Grundgesetz verankerte Recht auf Arbeit ist im Augenblick eine symbolische Absichtserklärung, die nur verwirklicht werden kann, wenn eine durchgreifende Änderung der Beschäftigungsprinzipien auf dem Arbeitsmarkt und eine bessere Verteilung der gesellschaftlich nützlichen Arbeit erfolgt. Das Arbeitslosenproblem ist mit traditionellen Mitteln nicht lösbar und zu einem großen Teil gerade von der Entwicklung verursacht, die geändert werden muß. Um der Vollständigkeit willen soll nur erwähnt werden, daß ein Zusammenhang zwischen Wachstum und Inflation besteht. Deren Wirkungen, daß Verbrauch sich jetzt bezahlt macht und Sparen sich nicht bezahlt machen kann, werden in Dänemark zusätzlich durch eine Steuerpolitik verstärkt, die Verschuldung belohnt und zur Kreditaufnahme ermuntert. Dies verstärkt den Druck in Richtung auf höhere Löhne und schwächt das Vertrauen in die Wirtschaftspolitik.

Obwohl die Marxisten wissen, daß der verschärfte Wettbewerb im Spätkapitalismus mit der fallenden Profitrate zusammenhängt, scheinen sie dennoch die fetten Profite der Kapitalisten als ihren eigentlichen Angriffspunkt zu betrachten. Tatsache ist, daß die Löhne in Dänemark einige Jahre lang stärker als in den meisten anderen Ländern stiegen (und auch der Lohnkostenanteil der Unternehmen), während die Gewinne zurückgingen (wobei große Überschüsse in einigen Unternehmen am Gesamtbild nichts ändern). Der Anteil der Löhne kann nicht viel höher geschraubt werden, ohne daß es mit noch mehr Unternehmen bergab geht.

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Die Lohnspirale verstärkt die Tendenz, Arbeitskräfte vom Arbeitsplatz fortzurationalisieren, die Furcht vor Arbeitslosigkeit kann als Druckmittel benutzt werden, um eine effektivere Arbeitsleistung durchzusetzen, die zusätzlich den Bedarf an Arbeitskräften senkt; Lohnsysteme, die zu erhöhter Produktivität führen, werden von den Gewerkschaften akzeptiert, weil sie auf kurze Sicht vorteilhaft sind für die, die Arbeit haben, selbst wenn sie die Arbeiter schneller verschleißen und den Bedarf an Arbeitskräften vermindern.

Die Krise um das Kopenhagener Verlagshaus Berlingske im Spätwinter 1977 wies mehrere für die Krise des Kapitalismus charakteristische Züge auf. Ein Unternehmen zahlt höhere Löhne, nicht nur zur Erhöhung der Arbeitsleistung, sondern auch als Instrument im Wettbewerb mit anderen Unternehmen; die Kosten steigen stärker als die Einnahmen; arbeitseinsparende Maschinen werden eingesetzt; Arbeiter werden entlassen; die Arbeiter kämpfen mehr um die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze als um die Erhaltung des Betriebs; ein führender Gewerkschafter sagt, der Betrieb solle ruhig absaufen, wenn man den Forderungen nicht entgegenkomme, obwohl dies Arbeitslosigkeit für mehrere hundert Menschen bedeutet, die allerdings Mitglieder anderer Gewerkschaften sind. Beteuert wurde, daß es »sich nicht um Kronen und Öre dreht«, was jedoch nicht gleichbedeutend damit ist, daß irgendeine Gruppe bereit wäre, auf auch nur eine Krone oder eine Öre zu verzichten, damit andere zu einer Arbeit kommen. Die einzelnen Gruppen verteidigen die eigenen Interessen auf Kosten anderer, zuweilen sogar so kurzsichtig, daß die Maßnahmen auch im Widerstreit zu ihren eigenen Interessen stehen.

Der Streik der Tankwagenfahrer, der Dänemark im Herbst 1976 nahezu lahmlegte, unterstrich das Sinnlose, das in der Tatsache liegt, daß die für die Allgemeinheit notwendigsten Arbeiten zu den Leichtlohngruppen gehören. Aber die Streikwaffe ist nicht nur eine Waffe der Leichtlohngruppen in ihrem Kampf gegen das Kapital, sie ist zu einem konventionellen Druckmittel gegen die Gesellschaft geworden, ausgeübt von allen starken Interessenverbänden, deren Mitglieder nicht gerade am Hungertuch nagen und deren Gruppenegoismus ein Hindernis dafür bildet, daß die Gesellschaft gelenkt, die wirtschaftlichen Probleme gelöst werden können.

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Die sozialdemokratische Parole am 1. Mai 1977 lautete: »Auf zum Kampf gegen den Egoismus.« Dessen ungeachtet sagte der Vorsitzende des dänischen Gewerkschaftsbundes im selben Jahr: »Von ihm leben wir alle, und wenn wir es nicht schaffen, ihn zu hätscheln und dafür zu sorgen, daß die Menschen aufgrund ihres Egoismus Entfaltungsmöglichkeiten bekommen, dann läuft das Ganze sich fest.« Dies ist ein Bekenntnis zum guten alten liberalistischen Glauben an den Eigennutz als die treibende Kraft der Gesellschaft, obwohl die moderne Gesellschaft Anschauungsunterricht für die asozialen Wirkungen des Eigennutzes liefert. Der Gewerkschaftsvorsitzende äußerte im bereits erwähnten Interview, die sogenannte Wirtschaftsdemokratie (eine Mitbestimmungskonzeption der Sozialdemokratischen Partei Dänemarks) gebe den Arbeitern Miteigentumsrecht und Gewinnanteil und zementiere mithin das privatkapitalistische System, mit dem sich gut leben lasse. (Wirtschaftsdemokratie bedeutet nach den Vorstellungen des Gewerkschaftsbundes, der vorschlägt, einen großen Teil der Gewinne in einen zentralen Fonds einzubringen, keinen Bruch in der Entwicklung und somit für die Arbeiter gerade keine größere Mitbestimmung.)

Es kann durchaus notwendig sein, die Einstellung, die anderen nicht mehr gönnt als man selber bekommt, also den Neid, in der modernen Gesellschaft als eine solide sozialpsychologische Realität zu betrachten. Der Egoismus kann nicht durch moralische*Appelle beseitigt werden, sondern nur dadurch, daß man sein Fundament abbaut: die wirtschaftliche Ungleichheit. Dies ist die erste Bedingung, wenn man die Lohnspirale anhalten und strategisch plazierte Gruppen daran hindern möchte, daß sie das Land mit Streiks lähmen -unter Hinweis auf die höheren Löhne anderer Gruppen.

Die stufenweise Einführung der Lohngleichheit wird nach und nach die Gewerkschaften des Rechts berauben,, über die Lohneinstufung ihrer Mitglieder zu verhandeln, und somit ihren tatsächlichen außerparlamentarischen Einfluß auf die Wirtschaft beseitigen. Im Prinzip muß es Sache von Regierung und Parlament sein, das Lohnniveau festzulegen; das

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freie Verhandlungsrecht hat sich in den letzten Jahren als illusorisch erwiesen, aber die Macht der Tarifpartner ist nach wie vor groß genug, auch die Macht der Regierung über die Wirtschaft illusorisch werden zu lassen.

Zweifelhaft ist jedoch, ob der Gewerkschaftsvorsitzende damit recht hat, daß man mit dem bisherigen privatkapitalistischen System leben kann. Diskutiert soll hier nicht werden, ob das kapitalistische System unausweichlich zusammenbrechen wird. Tatsache ist, daß es regelmäßig wiederkehrende Krisen nicht vermeiden konnte und daß die großen Probleme nicht im Rahmen dieses Systems gelöst werden können - und daß die Handlungsfreiheit um so kleiner wird, je ernster die Krisen werden. Sich ständig verschärfende Gegensätze werden zu einem Zusammenbruch führen, der derart diktatorische Maßnahmen fordern wird, daß die Demokratie kaum überleben dürfte. In einer reichen Gesellschaft ist es keine gute progressive Politik, auf Polarisierung und Konfrontation hinzuarbeiten. Klüger ist es, sich vor Augen zu halten, daß auf einem gewissen Niveau die Frage der Verfügungsmacht über die Produktionsmittel wichtiger wird als die Frage der Verteilung des Nationaleinkommens, also nicht die Frage des Mehrverdienens, sondern die des Mehr-zu-sagen-Habens.

Ein wesentlicher Einwand gegen Kursänderungen ist, daß ein Land keine sozialen und wirtschaftlichen Experimente einleiten könnte, ohne seine Kreditwürdigkeit zu riskieren; unser Defizit hemmt unsere Handlungsfreiheit. Dies spricht gegen jähe Veränderungen, die im Ausland Reaktionen hervorrufen würden, und für eine langfristige Reformpolitik, in die der Abbau der dänischen Auslandsverschuldung als wichtiges Glied eingeht.

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Die Interessenverbände

Eine Politik, die auf eine Begrenzung des »Egoismus« zielt, also darauf, die wirtschaftlichen Motive als Triebkräfte der Gesellschaft abzuschaffen, wird beim organisierten Gruppenegoismus auf Widerstand stoßen.

Es gibt keine Zweifel daran, daß die größten Gewerkschaften und andere Interessenverbände in ihrer Eigenschaft als Lobbies auf die dänische Wirtschaft mehr Einfluß ausüben als selbst große politische Parteien, und im Unterschied zu den politischen Parteien haben sie auf ihrem Gebiet meist eine Monopolstellung inne. Die meisten Staatsbürger gehören einer oder mehreren Organisationen an, die ihre wirtschaftlichen Interessen wahrnehmen; die wenigsten sind Mitglieder politischer Parteien, die ja heute nicht so ausgeprägt das Profil von Interessenparteien haben wie zur Zeit ihrer Gründung. Die Verbindung zwischen bestimmten Interessenverbänden und Parteien ist auch nicht mehr so eng wie früher, weil die Organisationen gerade die Handlungsfähigkeit der Parteien einengen. Die Verbandsvertreter können bei Verhandlungen eine weit stärkere Position einnehmen als die Politiker und Beamten, mit denen sie verhandeln, und dies gerade deswegen, weil sie sich auf die Interessen ihrer Mitglieder konzentrieren können und keine gesamtwirtschaftlichen Rücksichten nehmen müssen: Hierin unterscheiden die Interessenverbände sich nicht von den privaten Unternehmen. Sie repräsentieren auf ihrem Gebiet Sachkenntnis, wobei sachliche Rücksichten und wirtschaftliche Interessen eine Verbindung miteinander einsehen, die für den Verhandlungspartner- gar nicht zu sprechen von der Öffentlichkeit - schwer durchschaubar sein kann. Die Interessenverbände sind daran beteiligt, Gesetze sowohl vorzubereiten als auch durchzuführen; dadurch vermeiden Regierung und Verwaltung Konfliktmöglichkeiten, die in politischen Beschlüssen liegen, die im Gegensatz zu den Interessenverbänden stehen.

Die Gewerkschaftsführung ist zur Sicherung ihrer Position gezwungen, Erfolge zu erzielen, die ihr bei ihren Mitgliedern Prestige verschaffen. Die wirtschaftliche Stärke und der autoritäre Aufbau der Gewerkschaften führen oft zu konservativen Arbeitsformen und Gesichtspunkten; man wacht über das, was man hat, und versucht auf der gleichen Linie mehr zu

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erreichen, vor allem natürlich höhere Löhne. Eine übliche Methode ist es, die beruflichen Qualifikationen der Mitglieder möglichst zu verbessern, indem man die Ausbildungszeit verlängert, was automatisch zu höheren Lohnforderungen führt. Wohlgemerkt: nicht die Allgemeinheit, die Verbraucher oder Politiker fordern längere Ausbildungszeiten für Sozialarbeiter, Krankenschwestern, Pädagogen usw., sondern die entsprechenden Verbände wissen stets am besten, womit die anderen am besten bedient sind - und sie selber am besten verdienen. In der Regel sind gerade auch die Verbände Gegner der Teilzeitarbeit, die mehr Menschen Arbeit geben würde; vor allem aber sind sie Gegner des Gedankens, daß Arbeit von Menschen ausgeführt werden darf, die dafür nicht ausgebildet, sondern nur qualifiziert sind. Nicht die Benutzer der kleinen Krankenhäuser, nicht die Eltern der Kinder in kleinen Schulen fordern deren Schließung, auch die dort Beschäftigten fordern sie nicht, sondern Behörden und Verwaltung im Einverständnis mit den Interessenverbänden. Ebenfalls haben die Stimmen der Interessenverbände großes Gewicht, wenn Männer (und gelegentlich Frauen) in Stellungen mit öffentlicher Verantwortung gewählt werden sollen. Verbandsvertreter in Verkleidung nehmen oft die Interessen der Öffentlichkeit gegenüber den Interessenverbänden wahr.

Die Interessenverbände haben mithin großen Einfluß auf die Bereiche des sozialen Lebens, an deren Entwicklung sie wirtschaftliches Interesse haben, und gleichzeitig auf die eigenen Lohnverhältnisse. Besonders problematisch sind die Verhandlungen der Akademikergewerkschaften mit dem Staat. Hier sitzen Mitglieder derselben Gewerkschaft zu beiden Seiten des Verhandlungstischs, ohne den Interessengegensatz, der zwischen dem Gewerkschaftsbund und dem Arbeitgeberverband doch wenigstens teilweise besteht, und ohne das persönliche Motiv zur Bremsung der Lohnausgaben, das die privaten Arbeitgeber haben. Das ist wahrscheinlich eine Ursache dafür, daß es den Akademikern gelang, ihre Einkünfte im Verhältnis zu anderen Lohnempfängern zu erhöhen, was diese wiederum ermunterte, auch die ihren hoch-

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zudrücken (Einkommensunterschiede zwischen dem öffentlichen und dem privaten Sektor spielen bei der Lohnentwicklung eine wichtige Rolle).

Jörgen Dich meinte in seinem Buch nachweisen zu können, daß die Institutionen im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie in der Fürsorge über den Punkt hinausgewachsen sind, wo höhere Investitionen einen größeren Gewinn abwerfen, so daß der Staatsbürger mehr bezahlt, als er erhält; das will besagen, daß ein weiteres Anwachsen der Institutionen nicht so sehr im Interesse der Allgemeinheit liegt als in dem der von Staat und Gemeinden Beschäftigten. Die Notwendigkeit weiteren Wachstums wird indessen mit der Rücksicht auf die Schwachen in der Gesellschaft begründet, also mit einem Argument der Wohlfahrt, gegen das man schwerlich Einwände vorbringen kann. Alle Bürger sind interessiert an Leistungen der öffentlichen Hand, die ihnen selber zugute kommen, weniger hingegen sind sie daran interessiert, an deren Finanzierung teilzunehmen. Der Bevölkerung ist durchaus nicht völlig klar - nicht einmal dem Parlament —, wie das Verhältnis zwischen den Leistungen der öffentlichen Hand und dem Steueraufkommen ist. Diese Unklarheit besteht nicht zuletzt deswegen, weil die Fachleute der Gewerkschaften und Verbände, die in den gesetzvorbereitenden Kommissionen viel zu sagen haben, nicht gerade Fachleute im Nutzen für die Gesellschaft sind.

Die Sache wird dadurch nicht besser, daß der Ressortminister sich oft zum Sprecher der Sonderinteressen machen will, die an sein Ministerium herangetragen werden. Es gibt Zeugnisse genug über Ministersitzungen, wo um Sparmaßnahmen gekämpft wurde- auf den Sektoren anderer Minister. Was im Interesse aller liegt, aber nicht von einer Interessengruppe verfochten wird, das wird zugunsten von' Sonderinteressen versäumt.

Jörgen Dichs Instrument zur Bekämpfung der Verbandsund Expertenherrschaft sind Experten für gesellschaftlichen Nutzen, also Wirtschaftler, die Gesetzesvorlagen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Konsequenzen für die gesamte Gesell-

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Schaft analysieren und kritisieren. Dagegen läßt sich folgendes sagen: Erstens sind die wirtschaftlichen Konsequenzen nicht die einzigen, zweitens kann man nicht annehmen, daß Spezialisten beim Untersuchen wirtschaftlicher Konsequenzen weniger Sinn für die wirtschaftlichen Konsequenzen haben werden, die sie selber angehen. Die Lösung liegt in einer Trennung von wirtschaftlichen Interessen der Fachleute und der fachlichen Gutachtertätigkeit; erst ein Ausgleich der Lohnunterschiede wird die Schlagseite der gesellschaftlichen Entwicklung mindern können, die durch die wirtschaftlichen Sonderinteressen entstanden ist.

Das wird Interessenkonflikte jedoch nicht beseitigen. Jeder wünscht die Entwicklung auf seinem Gebiet maximal gefördert zu sehen - sei es nun ein Fachbereich oder ein geographischer - oder in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, in denen man sich besonders engagiert hat. Darum müssen alle diese Bereiche im politischen Entscheidungsprozeß repräsentiert sein, nicht hinter den Kulissen, sondern direkt auf der politischen Szene.

Verglichen mit den technisch-wirtschaftlichen Werten haben die moralischen in der politischen Debatte einen bescheidenen Stellenwert. Die Ingenieure, Juristen und Wirtschaftler sind im heutigen Dänemark die Experten in Schlüsselstellungen. Obwohl diese Gruppen vom Umfang her bescheiden sind, haben sie unbescheiden den Politikern einen Teil ihrer realen Entscheidungsfreiheit genommen, woran die Politiker jedoch nicht ohne Schuld sind.

Der Experte ist von seiner beruflichen Umwelt und deren besonderer Interessenlage geprägt; gleich anderen Interessengruppen wünscht er mehr Einfluß, bessere Arbeitsverhältnisse und wirtschaftlichen Erfolg. Die Erkenntnis, daß »der unpolitische Experte« nicht existiert, kann den Weg für eine vernünftige Arbeitsteilung zwischen Experten und Politikern bahnen. Politiker wie Bevölkerung benötigen klare und leichtverständliche Informationen über technische und wirtschaftliche Probleme; insbesondere ist es für sie wichtig zu wissen, wo die technischen Untersuchungen in Auslegungen

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und breitere gesellschaftspolitische Bewertungen übergehen. Politiker und Bevölkerung müssen wissen, welche Fakten unterdrückt oder zur Seite gewischt werden, damit die politische Entscheidung nicht infolge entsprechender Problemaufbereitung durch die Experten praktisch schon im voraus gefallen ist.

Das kann nur dadurch erreicht werden, daß für alle Phasen der Expertenarbeit das Prinzip der Öffentlichkeit gilt, von der Artikulierung des Problems bis hin zur abschließenden Berichterstattung, und indem die Probleme von Fachleuten mit unterschiedlicher politischer Einstellung beleuchtet werden. Auf Landesebene könnte diese Arbeit von einem Fachthing (analog zu Folketinget, dem dänischen Parlament) verwaltet werden, das für allseitige Diskussion der wichtigen Fragen sorgt und der politischen Opposition die Unterstützung der Experten ebenso leicht zugänglich macht wie der Regierung.

 

Das Parteiensystem und die repräsentative Demokratie

Die Regierungsprobleme in der modernen Gesellschaft beruhen nicht nur darauf, daß es ständig mehr Probleme gibt und daß sie größer geworden sind, sondern auch darauf, daß der eigentliche Lenkungsapparat sich nicht besonders weiter entwickelt hat. Die Zahl der Gesetze wächst dauernd, ohne daß das Regieren dadurch effektiver wird. Die Parlamente sind so emsig damit beschäftigt, der Entwicklung zu folgen, daß sie keine Zeit haben, sie zu ändern.

Weniger als zehn Prozent der Erdbevölkerung leben unter Regierungsformen, die man als parlamentarisch-demokratisch bezeichnen kann. Wenn die parlamentarische Demokratie sich in diesem begrenzten Teil der Welt als nicht leistungsfähig erweist, bleibt wenig Hoffnung auf eine demokratisch verwaltete Welt. Überall spricht man von einer Krise des Parlaments, und die wachsenden Probleme dieser Regierungsform rufen Mißtrauen gegenüber der parlamentarischen Demokratie selber hervor, obgleich die Krise vielleicht vor allem aus dem Umstand herzuleiten ist, daß die überlieferten parlamentarischen Systeme, die in einer überwundenen historischen Situation wurzeln, nicht ausreichend demokratisch sind.

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Entscheidend für die repräsentative Demokratie ist die Art, wie die Repräsentanten gewählt werden - und deren Kontakt mit den Wählern. In einer Diktatur werden die Kandidaten für die Legislative von oben ernannt, von der Regierung oder der Partei, das Volk darf möglicherweise diese Entscheidung durch eine »Wahl« bestätigen. In einer Demokratie erfolgt die Auswahl von unten; zur Wahl qualifizieren sollten nicht Gehorsam gegenüber der Partei, politischer Ehrgeiz, Verbandsinteressen oder ähnliches, sondern persönliche und sachliche Qualitäten, die den Wählern bekannt sind; andernfalls haben sie keine Möglichkeit, eine persönliche Entscheidung zu fällen. Die Demokratie muß auf dem Vertrauen zum Meistqualifizierten aufbauen, und man kann zu den Kandidaten nur ein begrenztes Vertrauen haben, die man nicht selber kennt und nicht selber aufstellt.

Damit taucht schon ein Fragezeichen auf: Ist es angebracht, daß nur die Parteien Kandidaten aufstellen? Ein weiteres Fragezeichen kann man auch hinter das bestehende Parteiensystem setzen; es ist durch die große Zahl der neuen Parteien im dänischen Parlament schon aktualisiert worden. Sie sind ein Beweis für die Unzulänglichkeit der hergebrachten Parteien als Organe unterschiedlicher Interessen, aber sie sind auch ein Beweis dafür, daß die Lösung nicht in der Bildung von immer neuen Parteien liegt, denn dadurch wird das Regieren nur zusätzlich erschwert.

Das dänische Grundgesetz kennt keine politischen Parteien. Sein Artikel 56 lautet; »Die Folketingmitglieder sind einzig und allein ihrer Überzeugung verpflichtet, nicht aber durch irgendwelche Vorschriften seitens ihrer Wähler.« Es ist nichts davon gesagt, dafLsie nicht an Vorschriften seitens ihrer Partei gebunden sind (was sie tatsächlich sind), und daß die Parteien durch ihre Rücksichtnahme auf die Wähler faktisch gebunden sind, nicht zuletzt an die Wähler, die nicht par-

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teigebunden sind und deren Stimmen gerade deswegen eine entscheidende Bedeutung für die Verteilung der Macht unter den Parteien haben. Wenn die Parteien um die Regierungs-macht kämpfen, so kämpfen sie vor allem um die ungebundenen Stimmen. Die Konsequenz aus dieser eigentümlichen Tatsache, daß gerade den Wählern, die nicht an eine Partei gebunden sind, im Mehrparteiensystem besondere Bedeutung zukommt, wäre, die Bedeutung der Parteien zu beschränken.

Ursprünglich war die Wahl zum Folketing eine Mehrheitswahl zwischen Personen, die von örtlichen Gruppen aufgestellt wurden. Sie repräsentierten ihre Wähler und ihren Wahlkreis direkt; die örtlichen Wahlversammlungen und die örtliche Presse spielten in der politischen Aufklärungsarbeit die Hauptrolle. Aus der ersten Zeit des Folketings gibt es Beispiele dafür, daß der Präsident Redner gerügt hat, die den Ausdruck benutzten, »Ich und meine Freunde« - jeder könne nur für sich selber sprechen.

Nach dem »SystemWechsel« im Jahr 1901, der die Regierung von der Mehrheit im Folketing - und nicht mehr vom Willen des Monarchen - abhängig machte, konsolidierte sich das Parteiensystem, und 1920 wurde die Mehrheitswahl in Wahlkreisen mit einzelnen Kandidaten durch die Verhältniswahl ersetzt, die den Vorteil hat, daß die Stimmen für einen Kandidaten, der in der Direktwahl durchgefallen ist, nicht verloren sind, sondern an die Partei gehen - was jedoch mit sich bringt, daß die Wahl der Partei entscheidend wird, die der Person aber sekundär.

Die eigentliche lokale Wahl erfolgt heute in den lokalen Wählervereinen der Parteien, die nur wenig Mitglieder haben, und in der Regel nimmt von den Mitgliedern nur ein bescheidener Teil an den Wahlsitzungen teil. Oft haben die aufgestellten Kandidaten überhaupt keine Beziehung zu dem Kreis, in dem sie aufgestellt werden; in den »sicheren« Kreisen sind sie vom Wähler praktisch dadurch »gewählt«, daß sie von der Partei aufgestellt werden. Man stimmt eher für Parteien als für Personen (die bei den Bürgern ja doch nicht bekannt sind), und die Kandidaten, die die meisten direkten

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Stimmen bekommen, sind stets Spitzen- und vielleicht auch Pop-Politiker, die weit und breit durch das Fernsehen bekannt sind. Wahlsendungen im Fernsehen spielen eine weit größere Rolle als die lokalen Wahlversammlungen, die nur Zugkraft haben, wenn ein Spitzenpolitiker angekündigt ist. Die Aufmerksamkeit der Wähler konzentriert sich auf einige wenige Spitzenpolitiker mit einem Gespür für Fernsehwirkung; der Wahlkampf wird in stärkerem Maße zu einem Wettbewerb zwischen den Parteichefs als zu einer Debatte über die einzelnen Parteiprogramme. Die Bedeutung der Führerfigur für das Wahlresultat zementiert die Autorität des Betreffenden, bis zu dem Tag, da er vom Fernsehen verschlissen ist und die Partei eilig einen Nachfolger finden muß. Einiges deutet darauf hin, daß diese Verschleißzeit ständig kürzer wird. Gute Gründe sprechen dafür, daß die politische Aufklärungsarbeit im Fernsehen konstruktiver verwendet werden sollte; die großen praktischen Möglichkeiten sind nicht ausgenutzt worden.

Charakteristisch für das Parteiensystem ist, daß

- wenige Personen (fast immer Männer) das Profil der Partei prägen; die autoritären Führungsformen machen es der unabhängigen Persönlichkeit schwer, zur Geltung zu kommen. Die politische Karriere ist von der Loyalität gegenüber der Parteiführung abhängig;

- das Wohl der Partei vor dem Wohl des Landes rangiert; Rücksichtnahme auf die Partei wiegt schwerer als sachliche Überzeugungen, Rücksichtnahme auf die Wähler zeigt sich am deutlichsten als Furcht vor Stimmenverlusten. Die Hauptaufgabe der Partei ist die Sicherung oder Vergrößerung ihres Stimmenanteils, aber weil alle Versuche, etwas zu ändern, bei großen Wählergruppen unpopulär sind, führt dies zur Ohnmacht gegenüber den größten Problemen. »Darum ist es gefährlich, Probleme lösen zu wollen. Es ist leichter, sie ungelöst zu lassen«, schreibt der ehemalige Finanzminister Poul Möller und nennt als Beispiel das Recht der Eigenheimbesitzer, fällige Hypothekenzinsen von der Steuer abzusetzen

- was »mit dazu beitrug, die Wirtschaft des Landes zu unter-

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graben... Es schraubte die Preise für Immobilien zum Nachteil aller hoch und war darum eine Garantie dafür, daß die Inflation sich verstärken würde«;

_ die entscheidenden Verhandlungen nicht im Folketing erfolgen, sondern in den Parteihauptquartieren oder speziell im Büro des Ministerpräsidenten (oder auf dem etwas entlegenen Landschloß Marienborg) und daß die entscheidenden Beschlüsse real nicht vom Folketing getroffen werden, sondern von den Führungsgruppen der Parteien;

- das Folketing ein Forum für Debatten wird, die Eindruck auf den Wähler machen sollen, wenn sie im Fernsehen ausgestrahlt werden, die aber in der Regel keinen Einfluß auf das Abstimmungsergebnis haben, das im voraus festliegt. Weil die Wähler dies natürlich wissen, machen die Debatten keinen großen Eindruck, sondern sie schwächen eher das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Politiker;

- das Folketing, das formell die gesetzgebende Instanz ist, sich damit begnügen muß, an Gesetzesvorlagen, die fast immer von der Regierung kommen, wenn aus den Vorlagen Gesetze werden sollen, Änderungen vorzunehmen. Von der zentralen Verwaltung ausgearbeitete Vorlagen sind in der Regel zusätzlich stark von Interessenverbänden oder öffentlichen Institutionen geprägt;

- das gewöhnliche Mitglied des Folketings nur geringe Möglichkeiten hat, auf die Gesetzgebung Einfluß zu nehmen oder sie auch nur zu überschauen. Pro Sitzungsjahr muß das dänische Parlament bis zu 300 Vorlagen behandeln; erst kürzlich wurden Regeln für feste Ausschüsse mit Sondergebieten (Verkehr, Unterricht, Forschung usw.) eingeführt, wobei die Ausschüsse in ihrer Arbeit recht unabhängig voneinander sind. Sie können also Probleme auf ihrem Gebiet mit viel Schwung in Angriff nehmen, ohne sie im Zusammenhang mit anderen Problemen zu sehen. Nur die Regierung, die über die Beamten der zentralen Verwaltung verfügt, hat die erforderliche Unterstützung durch Fachleute; die Ausschußmitglieder müssen selber eine Art Experten werden, was leicht mit sich bringt, daß sie, gleich dem Ressortminister, um die größt-

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möglichen Mittel für den eigenen Bereich kämpfen, ohne die Konsequenzen für die anderen Bereiche überschauen zu können. Das verstärkt die Tendenz zum Berufspolitiker mit Spe-zialwissen. Sie repräsentieren nicht die unterschiedlichen Gruppierungen im Land; die Mitglieder des Folketings rekrutieren sich insbesondere aus Angestellten und Beamten des öffentlichen Dienstes.

 

Die gegenwärtige Arbeitsform des dänischen Parlaments macht es den Politikern schwer, sich zum einen den erforderlichen Überblick zu verschaffen und ihn zum anderen der Bevölkerung weiterzuvermitteln. Wie die Wahlbeteiligung bei Folketingswahlen zeigt, ist das politische Interesse groß, aber in der Zeit zwischen den Wahlen hat der Wähler nur eine Zuschauerrolle. Hier ist das konkrete Problem, wie der Begriff der repräsentativen Demokratie interpretiert wird. Einige Politiker meinen, der Bürger habe ihnen die volle Verantwortung überlassen, bis sie bei der nächsten Wahl wieder der Entscheidung des Wählers gegenüberstehen. Während der eigentlichen Legislaturperiode sei es Sache des Abgeordneten zu entscheiden, wieviel Kontakt er mit seinen Wählern haben will. Es gibt Politiker, nach deren Ansicht das Volk nicht stärker als unbedingt notwendig mit schwierigen Problemen belastet werden sollte und die die Initiativen der Bürger, Einfluß auf die Politiker zu nehmen, für unvereinbar mit den Grundgedanken der repräsentativen Demokratie und für zerstörerisch in Hinsicht auf deren Leistungsfähigkeit halten. Auf der anderen Seite haben viele Staatsbürger das Gefühl, unmündig gemacht zu werden, das Gefühl, die Politiker repräsentierten eher das »System« als die Bürger. Es mag richtig sein, daß die Staatsbürger zuwenig Voraussetzungen haben, um stärker in die politischen Entscheidungen, etwa durch Volksabstimmungen, einbezogen zu werden, aber die wichtigste Ursache dafür - und für die »Vertrauenskluft« zwischen Folketing und Volk - ist die unzureichende Information über politische Probleme. Der Respekt vor den Politikern ist nicht besonders ausgeprägt; auf der Hand liegt jedoch, daß Regierung durch das Volk Respekt vor den Volksvertretern voraussetzt - und wiederum deren Respekt vor dem Volk, das etwas anderes und mehr ist als nur eine Anzahl von Wählern.

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Zentralisierung und Dezentralisierung, Bürokratie oder (Nah-) Demokratie

 

Die Wahlen zum Gemeinderat erfolgen im Prinzip nicht anders als die zum Folketing: auch hier sind es die Parteien, die Kandidaten aufstellen. Jedoch sind die Parteilisten oft durch überparteiliche Bürgerlisten usw. ergänzt. Charakteristisch ist, daß die Wahlbeteiligung erheblich niedriger ist als bei der Wahl zum Folketing und daß mehr persönliche Stimmen abgegeben werden. Das hängt damit zusammen, daß die Arbeit im Gemeinderat weniger parteipolitisch ist als die im Folketing.

Die Wähler sind mithin aktiver, was das Aufstellen eigener Programme und Kandidaten angeht - und passiver bei der Stimmenabgabe. Man kann hierin beide Tendenzen erblik-ken: Man interessiert sich mehr, aber auch weniger für die lokalen als für die landespolitischen Probleme. Das Letztgenannte kann auf dem Gefühl beruhen, daß letztlich die zentralen Beschlüsse entscheidend sind, auch für die Gemeinden; das Erstgenannte läßt sich als Ausdruck für ein Gefühl sehen, daß es so nicht sein sollte. In unserer heutigen Gesellschaft gibt es einen deutlichen Widerstreit zwischen einer Tendenz zur Zentralisierung, die die Lenkungsprobleme fordern, und zu einer Dezentralisierung, die die Demokratie fordert - und die notwendig scheint, wenn die Bürger sich für die Lösung der Probleme mitverantwortlich fühlen sollen, was vielleicht eine Bedingung für deren Lösung ist.

Die beiden Tendenzen wurden in den Gemeindereformen der letzten Jahrzehnte deutlich. 1958 gab es 1387 Gemeinden, jetzt sind es 275. Die Zusammenlegung der kleinen Gemeinden hat den Abstand zu den lokalen Behörden, die früher ein natürlicher Teil der Dorfgemeinschaft waren, vergrößert -

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andererseits haben die größeren Gemeinden die Möglichkeit verstärkt, ein höheres Maß an kommunaler Unabhängigkeit vom Staat zu erreichen. In die gleiche Richtung deutet, daß die staatlichen Subventionen umgelegt wurden; aus den laufenden Zuschüssen zu den einzelnen kommunalen Initiativen sind jetzt Pauschalzuschüsse geworden, über die die Gemeinden selber verfügen können. Aber die Gemeinden sind immer noch zu klein, wenn man ernsthaft größere Möglichkeiten zu selbständigen Entscheidungen ausnutzen möchte. Ein anderes Problem ist der Konflikt zwischen dem Verlangen nach lokaler Selbstbestimmung und dem Bedürfnis nach Gleichheit. Wirkliche kommunale Freiheit muß sich unausweichlich in Unterschieden von Gebiet zu Gebiet niederschlagen.

Bislang ist die Zentralisierungstendenz weitaus die stärkere gewesen. Sie wird gerade durch die technische und wirtschaftliche Entwicklung verstärkt, die auf allen Gebieten das Große auf Kosten des Kleineren begünstigt: Landwirtschaftliche Großbetriebe, Ladenketten im Einzelhandel, Aufkauf kleinerer Unternehmen durch große, Schließung kleiner Institutionen, Bevölkerungsanstieg in den Städten, Entvölkerung der Provinz, nicht zuletzt der kleinen Inseln: »Auf vielen der kleinsten Inseln muß man damit rechnen, daß die Bewohner aufgeben, und mithin wird eine Anzahl interessanter Einheiten entstehen, die Reservaten gleichen.« (Ministerielle Notiz 1973)

Diese Entwicklung ist unheilvoll für die (Nah-)Demokra-tie, weil sie auf allen Gebieten den Abstand zu den wirtschaftlichen und politischen Machthabern vergrößert. Daß sie auch ökologisch unheilvoll und daß das Kleine schmuck ist (Small is beautiful), das ist eine Erkenntnis, die nach dem wirtschaftlichen Rückschlag allgemeiner geworden ist. In den letzten Jahren hat sich die gegenteilige Tendenz verstärkt. Bürgerinitiativen, Gremien für Häuserblocks und Stadtviertel, Umweltschutzbewegungen sind der Ausdruck dieser Tendenz.

Die politische Konsequenz muß eine Stärkung der lokalen Selbstbestimmung sein, eine engere Verbindung zwischen

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den Wählern und den Gewählten, damit die Bevölkerung sich von den politischen Organen, die man heute gern als Organe des »Staates« und der »Gemeinden« betrachtet, wirklich repräsentiert fühlt.

Natürlich ist es möglich, die Arbeitsformen des dänischen Parlaments zu reformieren; die Arbeitsbedingungen der Mitglieder zu verbessern, das Folketing in ein Forum für wirkliche Entscheidungen und nicht nur für Abstimmungen zu verwandeln, die Gesetze in Hauptgebiete zusammenzufassen und ihre Konsequenzen für die Gesamtheit schon vor ihrer Verabschiedung zu analysieren (die EDV-Technik und bessere Expertisen sollten dies möglich machen), die Kommunikation zwischen Folketing und Volk zu verstärken, Volksabstimmungen und öffentliche Anhörungen von Fachleuten besser auszunutzen u.a. All dies reicht aber nicht aus, um die Dominanz der Parteien und Interessenverbände zu brechen. 

Das erforderte eine Änderung des Wahlsystems, damit die Parteiwahlen durch lokale Personenwahlen ergänzt würden. Eine effektive lokale Selbstverwaltung setzt natürlich voraus, daß die Gemeinden Bevölkerungsgrößen haben, die eigene Institutionen wie Krankenhäuser, Unterrichtsund Forschungszentren auch rentabel machen. Die richtige Zusammenarbeit zwischen Gemeinde und Staat läßt sich am besten dadurch sichern, daß die Gemeinden direkt im Folketing repräsentiert sind. Das politische Interesse wird nur angeregt werden, wenn man Gemeinde- und Folketingwahlen so kombiniert, daß die Mehrheitswahl lokaler Repräsentanten durch die Verhältniswahl der Parteirepräsentanten ergänzt wird; im Folketing sollten die lokal Gewählten in der Mehrheit sein.

Nahdemokratie ist ein neues Wort, ein Schlagwort, das an sich schon einen Protest gegen die Tendenzen ausdrückt, daß die parlamentarische Demokratie in einem zentralisierten und bürokratischen Gesellschaftssystem in der Ferne verschwindet. Aber das Wort bedeutet nichts anderes als Demokratie, wie es ja auch nichts gibt, was Ferndemokratie heißt, undVje ja auch »demokratischer Zentralismus« (von dem in der neuen

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UdSSR-Verfassung die Rede ist) ein Widerspruch in sich selber ist. Auch in einem demokratischen Staat geht von der zentralen Verwaltung eine starke Zentralisierungstendenz aus. Darum ist es eine Lebensbedingung für die (Nah-)Demokra-tie, daß die Macht der (Fern-)Bürokratie begrenzt wird. Ausgangspunkt sollte hier ein generelles »Nähekriterium« sein: Jede gesellschaftliche Aufgabe sollte sachlich so dicht am Staatsbürger wie nur möglich behandelt werden. Die Beweislast fällt dem zu, der stärkere Zentralisierung wünscht.

 

Das Lenkungsinstrumentarium

 

Das Folketing macht die Gesetze, und das Kabinett regiert nach ihnen, aber formuliert worden sind sie von juristischen Experten in der zentralen Verwaltung (und speziell im Gesetzesreferat des Justizministeriums); verschiedene öffentliche Instanzen wenden die Gesetze an, schließlich passen Rechtswesen, Polizei und Gerichte auf, daß die Gesetze eingehalten werden.

Es versteht sich von selber, daß ein Staat um so besser funktioniert, je weniger Polizei und Gerichte er nötig hat. »Polizeistaat« ist die Bezeichnung für einen Staat, in dem die Lenkung total ist und nur wenig den Staatsbürgern zur Selbstbestimmung überlassen wird; gibt es kein Parlament, das aus freien Wahlen hervorgegangen ist, und keine Presse, die nicht von der Regierung kontrolliert wird, dann ist der Polizeistaat schon Wirklichkeit. Der Polizeistaat ist in der Regel erkennbar an einer großen Bürokratie und einer pedantischen Gesetzgebung, es sei denn, es handele sich um einen noch immer durch primitive Herrscherwillkür regierten.

Einerseits schützen Recht und Gesetz den Staatsbürger gegenüber den Machthabern, und der Rechtsstaat ist historisch aus den Bestrebungen entstanden, die Herrscherwillkür einzuschränken. Andererseits sind Recht und Gesetz nach wie vor ein Lenkungs- und Machtapparat, der die Gesellschaftsordnung vor der Eigenmächtigkeit der Bürger schützt,

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und Gesetze, die asoziale Initiativen hemmen sollen, können am Ende auch die sozialen hemmen. Auf diesem Gebiet wie auf anderem kann die Quantität (von Gesetzen und Verordnungen) sich zum Nachteil der Qualität (der Gesetzgebung) auswirken.

Der Respekt vor Recht und Gesetz ist wichtiger als die Gerichte und die Gesetze; je größer der Respekt ist, desto weniger Gesetze sind erforderlich. In einer kontaktreichen Gesellschaft ist die Mißbilligung anderer oft schon Strafe genug für unerwünschtes Verhalten; die Menschen regieren sich selber und einander nach ungeschriebenen Gesetzen. An sich liegt ein Widerspruch darin, daß Demokratie Selbstregierung durch das Volk bedeutet und daß andererseits die Demokratie mit dem Rechtssystem entsteht, das ein Mittel zum Regieren des Volkes ist, und der Widerspruch drückt sich als Konflikt zwischen zwei Tendenzen aus. Gleichheit vor dem Gesetz ist ein zentrales demokratisches Prinzip, aber ein Rechtsapparat, der alle Menschen gleich behandelt, also auf individuelle, lokale, soziale und wirtschaftliche Unterschiede keine Rücksicht nimmt, wird leicht den Charakter einer unpersönlichen und vielleicht gar unmenschlichen Maschinerie bekommen, und er wird, indem er diese Unterschiede nicht berücksichtigt, nicht gleiche Behandlung bieten, sondern die Schwächsten am härtesten anfassen.

Die europäische liberalistische Demokratie war das Resultat einer Auflehnung gegen einen Staat, der Unterschiede zwischen den Menschen danach machte, welchem Stand sie angehörten. Die Auflehnung war jedoch nicht nur gegen diesen Ständestaat gerichtet, sondern überhaupt gegen das Recht des Staates, in das Leben der Bürger einzugreifen. Eigentümlicherweise sind sich die Liberalisten und die Marxisten im Prinzip darüber einig, daß die Macht des Staates so klein wie möglich sein sollte und die Selbstbestimmung des Bürgers so groß wie möglich. Für die Marxisten ist der Staat ein Instrument der Klassenherrschaft, die der klassenlosen Gesellschaft weichen soll, und zwar im Laufe einer Übergangsphase, in der der Staat das Instrument der bis dahin unterdrückten Mehrheit ist (Diktatur des Proletariats). 

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Aber es gibt kein Anzeichen dafür, daß der Staat in den kommunistischen Ländern »am Absterben ist«, im - Gegenteil, die Bürokratie wurde mächtiger; wo die Menschen keine Möglichkeit haben, sich selber zu regieren, muß der Kontrollapparat um so größer werden. Die Bürokratie ist jedoch auch in den westlichen Ländern gewachsen, in denen es Sache des Staates ist, den wirtschaftlichen Interessengegensätzen entgegenzuarbeiten. Es ist ein schweres liberalistisches Erbe, daß wirtschaftliche Freiheit als Voraussetzung demokratischer Freiheit betrachtet wird und daß demokratische Gleichheit nicht als wirtschaftliche Gleichheit verwirklicht worden ist, sondern als »Gleichheit vor dem Gesetz«, worin eine Tendenz zu bürokratischer Gleichschaltung liegt.

Mithin besteht auch eine deutliche Verbindung zwischen wirtschaftlicher Ungleichheit und Bürokratie, obwohl es für die altliberalistische Reaktion, manifestiert in der dänischen Fortschrittspartei (Mogens Glistrup), so aussieht, als sei der staatliche Apparat nur ein Hindernis für die wirtschaftliche Freiheit und nicht ihre Folge. Richtig ist jedoch, daß die zen-tralistische Gleichschaltung ein ebenso großes Hindernis für die demokratische Selbstverwaltung ist wie die wirtschaftliche Ungleichheit. Es ist darum kein Zufall, daß »die öffentliche Hand« in den letzten Jahren ein ebenso beliebter Angriffspunkt geworden ist wie »das Kapital«.

Die Angriffe waren teils gesellschaftlich-wirtschaftlich fundiert, wie die von Jörgen Dich und - in primitiverer Ausgabe - die der Fortschrittspartei, teils waren sie gegen eine Tendenz zu staatlicher Bevormundung gerichtet, die den Menschen - und nicht zuletzt dem Kleingewerbe - das Leben erschwert. Gesetze, die gleich dem Umweltschutzgesetz und dem Lebensmittelgesetz den besten Zwecken dienen, können mit ihren pedantischen Anordnungen zu Hindernissen für den natürlichen menschlichen Unternehmungsgeist werden (wenn ein Kaufmann keine Milch verkaufen darf, weil die Ladendecke 5 cm zu niedrig ist, wenn er keine Bierkisten auf den Boden stellen darf, weil Lebensmittel nicht auf dem Boden stehen dürfen, usw.).

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Die Kritik richtet sich ebenfalls gegen die Trägheit des Apparats, gegen die vielen Instanzen, die eine Klage oder ein Antrag durchlaufen muß (ein Antrag auf Verlegung eines schulfreien Tags geht zum Schulausschuß, zur Schulkommission, zu Behörden der Gemeinde und des Amtsbezirks und dann den gleichen Weg zurück; oft trifft die Genehmigung erst ein, nachdem der schulfreie Tag schon längst verlegt worden ist); schließlich richtet sich die Kritik gegen das Verhalten der Behördenangestellten gegenüber dem Bürger. 

Das vorherrschende Gefühl beim Bürger ist, daß ihm jeder Zweifel an der Auslegung von Gesetzen und Bestimmungen zum Schaden gereicht, daß die Angestellten sich mehr anstrengen, ihn auf versäumte Pflichten hinzuweisen, als auf Rechte, die er nicht ausgenutzt oder von denen er vielleicht nichts gewußt hat. Die EDV-Automatisierung hat die Tendenz vergrößert, die Verwaltung als unpersönliche Maschinerie aufzufassen; hierzu trägt die traditionelle Form des behördlichen Briefverkehrs bei, die stets mit der autoritären Formel daherkommt »Aus gegebenem Anlaß wird mitgeteilt ...«, die aber selten in einer allgemein verständlichen Sprache Fragen beantwortet oder Entscheidungen begründet. 

Die Verwaltung, die bei Licht besehen ein Dienstleistungsapparat für den Staatsbürger sein sollte, wird als Lenkungsapparat empfunden; es ist charakteristisch, daß der Bürger im Streit mit den Behörden die Unterstützung von Fachleuten braucht: Steuerberater, Anwälte, Sozialfürsorger. Charakteristisch ist vielleicht auch, daß sich die Einsparungen der öffentlichen Hand in personellen Einschränkungen bei den eigentlichen Dienstleistungen niederschlagen: Post, Staatsbahn und Kindergärten.

Die größte Quelle von Ärgernissen ist natürlich das Ansteigen der Steuern und Abgaben sowie der Eifer der Finanzverwaltung: Die Zahl der Steuerbeschwerden steigt gemeinsam mit den Steuern, und ihre Bearbeitung kann mehrere Jahre dauern. In diesem Punkt wird besonders deutlich, daß der Respekt vor Recht und Gesetz seine Grenzen hat; viele Menschen werden größeren Respekt vor dem haben, der es ver-

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steht, die Regeln des Steuerspiels auszunutzen oder zu umgehen, und viele Menschen werden sich weniger über einen Steuerhinterzieher ärgern, der einen Teil des gemeinsamen Kuchens allein ißt, als über einen armseligen Dieb, der das private Eigentumsrecht verletzt. 

Entsprechend wird der Letztgenannte in der Regel relativ härter bestraft. Das leitet zu den Sanktionen über, die die Gesellschaft Gesetzesübertretern gegenüber anwendet.

Eine »armselige Diebin« kann als Beispiel für die unterschiedliche Behandlung herangezogen werden, zu der das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz in Wirklichkeit führt. Eine alleinstehende Mutter von drei Kindern, 'die in den Nachtstunden in einer Porzellanfabrik saubermachte, ließ sich verlocken, für einen Hehler eine Porzellanfigur zu stehlen. Das war der Beginn einer Serie kleiner Diebstähle, die sich über zwei bis drei Jahre erstreckten. Sie wurde zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein und erreichte eine Verschärfung des Strafmaßes auf drei Jahre. Sie saß neun Monate in Untersuchungshaft, ohne Genehmigung, ihre Kinder zu sehen. Über ihre Vorgeschichte heißt es: »Zweitältestes von sechs Kindern in einer Arbeiterfamilie. Fabrikarbeit mit 14 Jahren. Schwanger mit 17 und wieder mit 19. Schlechte Wohnverhältnisse. Nachtarbeit als Garderobenfrau und Raumpflegerin.«

Eine Frau, die aus Not einige Gegenstände stiehlt, wovon niemand den geringsten unmittelbaren Schaden hat, wird nicht nur wegen ihres Diebstahls bestraft, sondern tatsächlich vor allem wegen ihrer Not. Die Gesellschaft greift ein, nicht um der Not abzuhelfen, sondern um weitere Diebstähle zu verhindern, sie beschützt die Porzellanfabrik vor der Frau. Man nimmt keine Rücksicht auf die Frau und schon gar nicht auf ihre Kinder. Es scheint ungerechtfertigt, einen Menschen nicht zu bestrafen, nur weil er in einer schwierigen Situation ist; sie kann höchstens als mildernder Umstand die Strafe verkürzen, was dem Gericht anscheinend nicht angezeigt schien. Wenn Not einen Diebstahl nicht entschuldigen kann, so kann wirtschaftlicher Wohlstand andererseits kein strafverschärfender Umstand sein; alle Bürger werden im Prinzip für das gleiche Delikt gleich hart bestraft, selbst wenn ihre Tatmotive sich sehr unterscheiden.

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Daß Gleichheit vor dem Gesetz nicht den Kleinen in der Gesellschaft zugute kommt, ist insofern nicht erstaunlich, als Recht und Gesetz ein Schutz für die bestehende Ordnung sind, die zu bewahren natürlich die Größten in der Gesellschaft am meisten interessiert sind. Die rechtsprechenden Beamten gehören fast immer den oberen Schichten an und kennen aus eigener Erfahrung nicht die sozialen Verhältnisse, die am häufigsten den Hintergrund für Kriminalität bilden. In der Regel sind es die Wohlhabenden, die die Armen verurteilen, die Gutausgebildeten, die die Schlechtausgebildeten verurteilen. Die juristischen Fachleute haben nicht gerade fleißig daran mitgearbeitet, die sozialen Ursachen der Kriminalität zu beseitigen; die Mediziner, die zuweilen vor Gericht als Gutachter auftreten und eine Umwandlung der Strafe in Krankenbehandlung erreichen, wenn ihrer Ansicht nach der Kriminelle unzurechnungsfähig war, können danach selten etwas anderes tun, als ihn oder sie den gleichen schlechten Lebensbedingungen anzupassen.

Wenn es das Ziel der Strafe ist, eine Wiederholung der Tat zu vermeiden, so läßt sich das am besten erreichen, wenn man die Lebensbedingungen des Betreffenden verbessert, am wenigsten aber, wenn man ihn von der Gesellschaft absondert und zwischen andere »Kriminelle« steckt, die Anpassung an das Leben in der Gesellschaft wird dadurch um so schwieriger. Strafe dient in einem Fall wie dem berichteten nur dazu, die Repräsentanten der Gesellschaft in dem Gedanken zu bestärken, die Gesellschaft sei gut genug so, wie sie ist, und daß mit dem etwas nicht in Ordnung sein muß, der sich in ihr nicht zurechtfindet. Institutionsgewahrsam, heute die einzige Alternative zur Strafe, erhält oft den Charakter einer zeitlich unbegrenzten Strafe und ist nur berechtigt, wenn der Betreffende wirklich eine Gefahr für sich selber oder seine Umgebung bildet.

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Die humane Alternative ist nicht, dem Menschen die Verantwortung für seine Handlungen abzunehmen, sondern den Hintergrund der Handlungen zu berücksichtigen, was nur der tun kann, der den Hintergrund kennt. Gesetzesübertretungen sollten im Prinzip eine Auseinandersetzung zwischen dem Täter und dem Tatbetroffenen sein, und wenn diese nicht zu einer Einigung kommen können, darf die große, unpersönliche Rechtsmaschinerie nicht anlaufen und Menschenschicksale völlig plattwalzen. 

Wenn es das Ideal ist, daß die Menschen sich selber - und untereinander - lenken kraft ihres Verhaltens, durch Mißbilligung und Anerkennung, und wenn als leitendes Prinzip anerkannt wird, daß einer, der sich vergangen hat, die Möglichkeit haben muß, in die Gesellschaft zurückzukehren, so muß das Vergehen in dem Bereich der Gesellschaft beurteilt werden, wo es begangen wurde, also nicht von Fachleuten, sondern von gewöhnlichen Menschen, die sich für den weiteren Verlauf mitverantwortlich fühlen. 

Auf diesem sozialen Sektor wie auf anderen Sektoren sollten Fachleute beraten, nicht beschließen. Der norwegische Kriminologe Nils Christie hat folgendermaßen für eine Reform der Rechtspflege argumentiert: »Wenn wir es ernst damit meinen, daß die Menschen sich selber regieren sollten, dann müssen wir Entscheidungsmodelle schaffen, die von gewöhnlichen Menschen angewandt werden können.« Das gängige Argument gegen Laienrichter und für Fachrichter ist, daß die Menschen im allgemeinen rachedurstiger sind als die Sachexperten. Das ist jedoch nur der Fall, wenn sie nicht den Hintergrund kennen und eine Stimmung hochgepeitscht worden ist, besonders von den Massenmedien: »Der Haß und die harten Forderungen erklären sich in großem Umfang gerade aus dem Mangel an Information, aus dem Mangel an Nähe zur Tat und zum Täter.« (Christie) Größere lokale Mitverantwortung für den, der ausgerutscht ist, gibt zum einen dem Ausgerutschten weit bessere Möglichkeiten, in die Gesellschaft zurückzukehren, und ist zum anderen die beste Art der Vorbeugung. Die Dezentralisierung der Rechtspflege ist ein wesentlicher Teil der Demokratisierung der Gesellschaft.

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Ein ebenso wesentliches Moment ist die Dezentralisierung des Verwaltungsapparats. Im Konflikt zwischen dem Wunsch nach Gleichheit (vor dem Gesetz) und dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung muß die Gleichheit nachgeben, die tatsächlich nicht Gerechtigkeit ist, sondern Gleichschaltung. Im Bereich der Wirtschaft muß die demokratische Gleichheit verwirklicht werden, nicht in dem des Rechtswesens.

Eine weitere Ursache für das Wuchern des Verwaltungsdschungels ist, daß die gesetzlichen Bestimmungen und Regeln auf verschiedenen Gebieten nicht koordiniert sind und oft im Widerspruch zueinander stehen. Eine andere Ursache ist die, daß man kleine Probleme oft auf hoher Ebene zu lösen sucht und nicht auf der lokalen, auf der man noch mit ihnen fertig werden könnte. Landesplanung muß darauf beschränkt werden, sich mit landespolitischen Problemen zu beschäftigen; Hauptziel muß es sein, daß man sich nicht an zentraler Stelle mit Planung beschäftigt, die auf einem bürgernäheren Niveau durchgeführt werden könnte. Es gibt jedoch Unterschiede zwischen jenen Ursachen des Anwachsens der Bürokratie, die auf schlechter Koordinierung beruhen und im Rahmen des bestehenden Systems beseitigt werden können, und jenen, die auf systemimmanenten Interessenkonflikten beruhen; die letztgenannten lassen sich nur durch radikale Änderung des Gesellschaftssystems beseitigen.

Im großen zentralistischen Apparat drückt sich ein Mißtrauen gegenüber der Fähigkeit der Menschen aus, sich selber zu regieren. Die vielen Strafbestimmungen der Gesetzgebung, die vielen Beschwerderegeln und Klage-Instanzen bauen offenbar auf einer Vorstellung auf, die das Leben in der Gesellschaft als eine Art Kriegszustand betrachtet und den Bürger als suspektes Individuum, das nicht jenes Verantwortungsgefühl hat, auf dem eine Regierung durch das Volk aufbauen muß. Der Respekt vor Recht und Gesetz wächst nicht mit der Zahl der gesetzlichen Bestimmungen, Mißtrauen wird mit Mißtrauen beantwortet. Ausdrücke wie Papierwurschtler und Schalterpäpste deuten an, daß der Respekt vor dem Verwaltungsapparat im heutigen Dänemark nicht übermäßig groß ist.

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Aber Mißtrauen, Egoismus und Mißgunst bilden keine gute sozialpsychologische Grundlage für eine Veränderung zum Besseren. Wenn die Tendenz zur Selbsthilfe sich verstärkt, dann wird die Forderung nach law and order auch stärker. Nicht jede Aktion gegen das Bestehende ist ein Kampf für eine bessere Gesellschaft, nicht jeder, der das Recht in seine Hände nimmt, kämpft für das Recht, sondern arbeitet vielleicht der Reaktion in die Hände und macht damit den ersten Schritt auf dem Wege zum Polizeistaat. Mißtrauen gegenüber Autoritäten kann nur bis zu dem Punkt begründet sein, wo es jede Obrigkeit in Zweifel zu ziehen beginnt, Kritik am Lenkungsinstrumentarium kann nur bis zu dem Punkt berechtigt sein, wo sie jede Regierungsform zu untergraben beginnt, auch die Fähigkeit, sich selber zu regieren.

Eine Dezentralisierung des politischen und des Verwaltungs-Systems wird größere Anforderungen an die Staatsbürger stellen, aber auch an die Politiker, die heute nur geringe Möglichkeiten zu persönlichen Kontakten mit ihren Wählern haben und die kaum immer über den erforderlichen Einblick in die sozialen Zusammenhänge verfügen. Gerade ein direkteres Verhältnis zwischen den Politikern und den von ihnen Repräsentierten dürfte beide Seiten veranlassen, ihr Bestes zu geben.

 

Das Bildungssystem

 

Eine ausgebaute Demokratie, die voraussetzt und danach strebt, daß der einzelne sich stärker beteiligt, verlangt eine Änderung des Verhaltens. Diese aber setzt wiederum einen Prozeß sozialer Veränderungen voraus, die Rückwirkungen auf den Menschen haben. Reformen des Bildungssystems haben natürlich besondere Bedeutung, wenn es sich darum handelt, neue Generationen auf veränderte Verhältnisse vorzubereiten. Aber hierin liegt der Zwiespalt des Bildungssystems:

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Traditionell dienen Erziehung und Ausbildung dazu, die jungen Menschen in die Wertvorstellungen der bestehenden Gesellschaft einzuführen und sie dazu zu befähigen, mit den von ihr gestellten Aufgaben fertig zu werden. Erziehung und Ausbildung sind mithin konservative Gesellschaftsfunktionen, und auch das Bildungssystem ist in seinen Strukturen konservativ. Seine Bereiche haben sich ziemlich unabhängig voneinander entwickelt; und hat ein Bildungssektor sich erst einmal abgegrenzt, so tauchen Interessengruppen auf, die ihn isolieren und darum bemüht sind, seinen Stellenwert zu verbessern. Der vorhandene Zusammenhang wird vor allem dadurch gebildet, daß die weiterführenden Bildungswege Forderungen an die anderen stellen. Dies wirkt einer Erneuerung von unten entgegen, und dies ist der Grund dafür, daß in Dänemark eine Volksschulreform mit stärkerem Gewicht auf den praktischen Fächern sich als nur schwer durchführbar erwiesen hat.

Tiefer liegend ist, daß sich die Uneinigkeit über Entwicklung und Zielsetzung der Gesellschaft in Uneinigkeit über das Ziel der Bildung widerspiegelt, und daß der Zweifel an den überlieferten Werten sowie die Minderung des Respekts vor den Autoritäten auch zu einer Autoritätskrise in den Schulen führt und noch deutlicher an den Universitäten. Die Einbeziehung aller Mitarbeitergruppen in die Leitung der Hochschulen — wobei Kompetenz im fachlichen Bereich nicht ausschlaggebend ist - sowie die Versuche mit neuen, weniger fachlich differenzierten und weniger individuell betonten Basisausbildungen sind Beispiele für eine Demokratisierung des Bildungssystems. Die Demokratisierung ist jedoch bis zu einem gewissen Grad eine Politisierung geworden, was zu Gegenforderungen nach Verschärfung des Hochschulgesetzes, der Schließung der umstrittenen »Kaderschmiede« in Roskil-de, strengeren Examensanforderungen usw. geführt hat. Demokratisierungsbestrebungen dürfen jedoch nicht dadurch gebremst werden, daß sie in einer Übergangsperiode von Machtgruppen mißbraucht werden können. Wenn größtmögliche Selbstbestimmung ein demokratisches Ziel ist,

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dann wäre es ein Widerspruch in sich, gerade die Ausbildungsstätten ihrer Selbstbestimmung zu berauben. Andererseits ist die repräsentative Demokratie weder in Institutionen noch in anderen Bereichen der Gesellschaft mit Verbandsdirigismus zu vereinbaren.

Die Fehlentwicklung darf auch nicht die Tatsache überschatten, daß die Jugend- und Studentenrebellion dazu beigetragen hat, eine Entwicklung in Richtung auf eine Annäherung von Schülern und Lehrern, der verschiedenen Fächer untereinander sowie von Schule und Gesellschaft einzuleiten. Alles in allem hat dies .jedoch mehr die Debatte über die Bildung geprägt als das Bildungssystem selber".

Die allgemeine Zentralisierungstendenz hat sich auf dem Unterrichtssektor in der Schließung kleiner Schulen niedergeschlagen, im Wunsch, das klassische Lehrlingssystem ganz abzuschaffen, in strengeren Aufnahme- und Prüfungsbestimmungen, während zugleich die »Nahdemokratie« und Selbstbestimmung allgemeine Schlagworte wurden. Man transportiert Schüler von ihren Wohnorten zu Zentralschulen, obwohl sie eher einen Teil ihres Unterrichts dort erleben sollten. Auch die theoretische Ausbildung würde auf fruchtbareren Boden fallen, wenn die Schüler während der Schulzeit mit mehr Bereichen des Gesellschaftslebens in Berührung kämen und eigene Erfahrungen machten. Dies würde die Schuljahre der meisten bereichern, vor allem jener, die Schwierigkeiten haben, den formalen Anforderungen zu entsprechen. Diese Erkenntnis schlägt sich im Volksschulgesetz in den Regeln über Arbeitsinformation und Praxis im Arbeitsleben nieder, was jedoch in einem gewissen Widerspruch zu den Bestimmungen des Arbeitsmilieugesetzes steht, demzufolge Kinder unter 15 Jahren keine gewerbsmäßige Arbeit ausüben dürfen. Hier geschieht etwas, was auch auf vielen anderen Gebieten geschieht: die Reaktion auf einen Mißbrauch- hier der Arbeitskraft Jugendlicher- führt dazu, daß man nicht nur die Mißstände einer Sache beseitigt, sondern gleich die gesamte Sache.

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Der Zielsetzungsparagraph des dänischen Volksschulgesetzes von 1975 erwähnt »die allseitige Entwicklung des einzelnen Schülers«. Hierin liegt beschlossen, daß man nicht nur Gewicht auf die theoretischen Kenntnisse und das intellektuelle Vermögen legen soll, sondern in gleich hohem Grad auf die psychische Entfaltung und physische Betätigung der Kinder, auf ihre Fähigkeit zur Teamarbeit und ihre praktischen Anlagen. 

In der Praxis werden die praktischen Fächer benachteiligt, die musischen Fächer führen ein Schattendasein, und die physische Betätigung beschränkt sich in der Regel auf zwei Turnstunden wöchentlich. Es ist nicht gelungen, mit der Tradition zu brechen, die den Schwerpunkt auf theoretisches Wissen legt, obwohl viele Kinder und Jugendliche andere Begabungen haben, die innerhalb dieses Rahmens nicht zur Entfaltung kommen können. Man klagt über die Verschlechterung des Leistungsstandards in Dänisch und in Rechnen; nicht geklagt wird über mangelhafte praktische Fähigkeiten. Warum will man nicht die Konsequenzen daraus ziehen, daß es eine schlechte Erziehung ist, die dauernd gegen die schwachen Seiten eines Menschen Sturm läuft, statt ihm die Möglichkeit zur Entfaltung seiner starken Seiten zu geben? Daß Kinder die Möglichkeit bekommen, ihre Begabungen unter Beweis zu stellen, fördert ihre Selbstachtung, und das ist wiederum von entscheidender Bedeutung für das Ergebnis ihres gesamten Schulbesuchs.

In allen Bereichen des Bildungssystems sollte größeres Gewicht auf eine Kombination von Ausbildung und Arbeit gelegt werden. Die Jugendarbeitslosigkeit könnte ein Ausgangspunkt für derartige Bestrebungen sein und sollte es werden. 1977 waren in Dänemark 50.000 bis 60.000 Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren ohne Arbeit. Viele gehen von der Schule direkt zum Stempeln, ohne vorher eine Arbeit gehabt zu haben, und das Problem wird nicht dadurch kleiner, daß es international ist. Ein Mitglied des Bildungskomitees des US-Präsidenten hat konstatiert: »Die USA sind das erste Land in der Geschichte, das die Produktivität anheben kann, ohne daß man die 15 bis 17jährigen einsetzt.« Mehr und mehr Jugendliche werden in den kommenden Jahren die Frage stellen, wozu ihr Schulbesuch und ihre Ausbildung dienen sollen, wenn die Gesellschaft doch keine Verwendung für sie hat.

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In den siebziger Jahren wurden in Dänemark auf einigen Fortbildungsschulen (zum Beispiel auf den Tvind-Schulen) pädagogische Versuche unternommen. Sie haben gezeigt, daß Jugendliche, die sich in der traditionellen Schulumgebung nicht wohl gefühlt haben, überraschende Leistungen erbringen, wenn ihnen eine regelrechte Arbeit übertragen wird. Dieses Beispiel sollte Schule machen. 

Besteht in der Gemeinde keine Möglichkeit zur Integration ins Arbeitsleben, müßte es möglich sein, Zentren für Zusammenarbeit und Produktion zu errichten, in denen praktische Arbeitsaufgaben mit dem Unterricht zu einer Einheit verschmolzen sind. Die eigenen Projekte der Zentren können mit lokalen Aufgaben abgestimmt und kombiniert werden, sie würden neue Impulse geben und pädagogischen, sozialen und kulturellen Neuschöpfungen dienen können.

Man muß konstatieren, daß das Bildungssystem nach wie vor in zu starkem Maße als ein Auswahlinstrument funktioniert, das die am besten Geeigneten durch die schwierigsten Examen schleust und ihnen die Qualifikationen für die höchsten und höchstbezahlten Posten einräumt. Ein Teil der Auswahl ist bereits erfolgt, bevor die Schüler selber Ausbildung und Arbeit »wählen«; in Wirklichkeit ist es die Elite, die sich nach einer scheinbar gerechten Methode ergänzt. Sie gewährt einigen, relativ wenigen Auserwählten aus den weniger begünstigten Schichten Zugang zur obersten Schicht der Bildungspyramide auf der gleichen Basis wie den eigenen Kindern. Der sozial ungleich verteilte Zugang zu besserer Ausbildung war der Grund für die Erweiterung der Unterrichtspflicht in Dänemark; längere Ausbildung für alle ist jedoch nicht der richtige Weg zum Ausgleich sozialer Unterschiede. Das richtige Mittel ist der Ausgleich der Lohnunterschiede, damit andere Interessen als wirtschaftliche für die Wahl der Ausbildung und des Berufs bestimmend werden.

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Wirkliche Gleichheit der Bildungsmöglichkeiten bedeutet nicht, daß alle die gleiche Ausbildung haben und sich um dieselben (großen) Stellungen bewerben sollen, sondern daß man eine Mannigfaltigkeit des Milieus, Erziehungsarten und Ausbildungsrichtungen schafft, die zu den unterschiedlichen Talenten der verschiedenen Menschen paßt. Das läßt sich durch eine Dezentralisierung der Ausbildungsgänge sowie durch eine Kombination von Ausbildung und Arbeit erreichen. Das bedeutet auch, daß die Hochschulen nicht das Recht bekommen, sich zu selbständigen Enklaven zu entwickeln, sondern daß sie in lokale Forschungs- und Unterrichtszentren aufgeteilt werden, die eine Rückwirkung auf die Entwicklung in den einzelnen Teilen Dänemarks haben können, beispielsweise mit Angeboten für die Erwachsenenbildung. 

Der Wettbewerb um Qualifikation durch das Bildungssystem hat die Tendenz zu langen Ausbildungszeiten verstärkt, deren Wert sich in einer Gesellschaft, die ständigen Veränderungen unterworfen ist, als zweifelhaft erweist und die auf einigen Gebieten dazu führt, daß überqualifizierte Arbeitskräfte Menschen die Arbeit wegnehmen, die gerade dafür ausgebildet worden sind. Vor allem in einem demokratischen Land ist es wichtig, daß alle - auch Schüler mit speziellen Begabungen - die bestmöglichen Ausbildungsbedingungen erhalten. Dabei darf die fachliche Spezialisierung, die für die wenigen Gruppen auf der höchsten Ausbildungsebene notwendig ist, sich aber nicht durch das gesamte Bildungssystem nach unten auswirken und den Schulbesuch zu einer Plage für die Vielen werden lassen.

Es ist eine alte Streitfrage, wieviel im Verhalten des Menschen auf das Erbgut und wieviel auf die Umwelt zurückzuführen ist. Das Verhalten der Menschen ändert sich von einer Kultur zur anderen, aber es schließt keineswegs eine allen Menschen gemeinsame Bedürfnisstruktur aus, die in den unterschiedlichen Gesellschaften mehr oder weniger zu ihrem Recht kommt. Wir wissen, daß Kinder in einem bestimmten Lebensalter besonders gut Sprachen erlernen, und das gilt vermutlich auch für vieles andere. 

Die volle Entfaltung der Talente - beispielsweise auch das zur Zusammenarbeit und das zur Einfühlung - ist davon abhängig, daß sie zum richtigen Zeitpunkt angeregt werden. Erziehung und Ausbildung müssen natürlich darauf abzielen — und nicht darauf, die Kinder bestimmten gesellschaftlichen Funktionen anzupassen. Die Vorhersagen über den Bedarf an bestimmten Berufen sind in wechselhaften Zeiten nicht zuverlässig, und es ist eine veraltete Vorstellung, daß man sich in der Schule Fertigkeiten für das gesamte Leben aneignen kann. Der Übergang von einer Schule, die Gewicht auf »allseitige Entwicklung« legt, in eine Gesellschaft, die keinen Wert darauf legt, kann Schwierigkeiten verursachen. Sie spiegeln ein reales Mißverhältnis zwischen den demokratischen Idealen - zu denen die Menschen sich bekennen und für die sie erzogen werden - und den geltenden gesellschaftlichen Normen wider.

Wie wir gesehen haben, wachsen die Probleme der modernen Gesellschaft, wächst ihr Lenkungsinstrumentarium, ohne daß eine effektivere Lösung der Probleme und eine effektivere Lenkung erzielt wird, und das deswegen, weil in das politisch-wirtschaftliche System Interessenkonflikte eingebaut sind, die sich im Rahmen dieses Systems nicht auflösen lassen.

Der grundlegende Konflikt aber scheint zwischen den Bedürfnissen zu bestehen, denen des Gesellschaftssystems und denen des Menschen. In den letzten Jahrzehnten hat der ökologische Schock uns einsehen lassen, daß der Mensch die Natur ungestraft nur bis zu einer gewissen Grenze ausbeuten kann; und man muß auch erkennen, daß der Mensch nicht unbegrenzt angepaßt und ausgebeutet werden kann, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen.  

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Aufruhr der Mitte (1978) Modell einer künftigen Gesellschaftsordnung