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3.   Die Grundlagen

 

 

     Der Mensch ist nicht nur ein Produkt der Gesellschaft   

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Im Marxismus-Leninismus gilt als Ziel »die vollständige Befriedigung der materiellen und geistigen Bedürfnisse aller Mitglieder der Gesellschaft«. Man kann für eine humane Gesellschaft kein besseres Ziel setzen, und es wird gerade hierüber kaum größere Uneinigkeit geben. 

Hingegen gibt es kaum größere Einigkeit darüber, welche materiellen und geistigen Bedürfnisse der Mensch hat, und darüber heißt es in den <Grundlagen des Marxismus-Leninismus>: 

»Es hat keinen Sinn, Vermutungen darüber anzustellen, welcher Art diese Bedürfnisse konkret sein werden... Die menschlichen Bedürfnisse sind nichts Steifes und Unveränderliches, sie entwickeln sich und wachsen ständig... Dies ist auch der Grund dafür, warum die kommunistische Gesellschaftsordnung sich die Aufgabe stellt, die ständig wachsenden Bedürfnisse aller Mitglieder der Gesellschaft zu befriedigen.«

Wenn man es als sinnlos betrachtet, Vermutungen über die Bedürfnisse des »kommunistischen Menschen« anzustellen, so ist damit auf nette Art gesagt, daß die Bedürfnisse des Menschen von der Entwicklung der Gesellschaft geschaffen werden - und es ist gerade nicht gesagt, die Gesellschaft müßte so entwickelt werden, daß sie die Bedürfnisse befriedigt, die der Mensch schon hat und deren Beschaffenheit sich leicht vermuten läßt. 

Obgleich es selbstverständlich sein sollte, daß die Gesellschaftsordnung den Bedürfnissen der Menschen angepaßt wird, verhält es sich in Wirklichkeit umgekehrt - und also auch in der marxistisch-leninistischen Theorie. Der Mensch wird als Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet; die Psychologie des Marxismus-Leninismus ist noch immer von der Lehre des Physiologen I. P. Pawlow von der Bedeutung der Umwelt für das Verhalten von Tieren und Menschen geprägt: »Alles läßt sich zum Besseren verändern, wenn nur die geeigneten Bedingungen verwirklicht werden.« 

Die dominierende psychologische Richtung in den USA, die Verhaltenspsychologie, behauptet ebenfalls, daß Umwelteinflüsse von weit größerer Bedeutung für das Verhalten des Menschen seien als seine angeborenen Dispositionen und Bedürfnisse. Die praktische Konsequenz dieser Theorie ist, daß der Mensch durch zielbewußte Beeinflussung (Verhaltenstechnologie) in dem Verhalten »bestärkt« werden kann, das als sozial zweckdienlich gilt. 

Die Ursachen für das Verhalten des Menschen liegen nicht in seinem Willen, sondern in der Umwelt, und insoweit unterscheidet der Mensch sich nicht von der anorganischen Natur: 

»Fortschritte in der Physik werden nicht erzielt, weil man sich näher mit dem Frohlocken eines fallenden Körpers befaßte, genausowenig wie es mit der Biologie vorwärts ging, weil sie sich mit der Natur von Lebensgeistern auseinandersetzte; aus demselben Grunde aber ist es für eine wissenschaftliche Verhaltensanalyse unnötig, herausfinden zu wollen, in welcher Ordnung Persönlichkeit, Geisteszustände, Empfindungen, Wesenszüge, Pläne, Absichten, Intentionen oder all die anderen Voraussetzungen des <autonomen> Menschen wirksam sind«, 

schreibt der Verhaltenspsychologe B.F. Skinner; er behauptet weiterhin, Selbstbestimmung und Freiheit seien ein Luxus, den die moderne Gesellschaft sich nicht erlauben könne.

Mit der Theorie, der Mensch sei nur das, wozu er gemacht werde, ist der Weg für eine technologische Lenkung des Menschen, für die die EDV-Technik effektive Mittel liefert, offen. Das wird natürlich eine Kluft aufreißen zwischen den Menschen, die nach den Forderungen des Lenkungsapparats gestaltet werden und denen, die den Apparat repräsentieren; aber auch die letztgenannten werden zu einem Teil des Apparats und seiner unpersönlichen, vielleicht unmenschlichen Vernunft gemacht werden. 

Skinner bei detopia      94


Schon jetzt haben Entscheidungsbefugte in den technisch am weitesten entwickelten Nationen einen Teil ihrer Entscheidungsbefugnis an die Computer abgegeben, obwohl sie sich die Illusion bewahren, noch immer seien sie es selber, die die Fragen an die Maschinen formulieren und die Antworten auswerten. Es waren Computer, die bestimmten, wo und wieviel in Vietnam bombardiert werden sollte; Außenminister Kissinger konnte nur die Greuel bedauern, denen so viele Menschen ausgesetzt waren. Das enorme EDV-System im Pentagon besitzt größere Autorität als irgendeine Amtsperson, unter anderem deswegen, weil man es nicht beschuldigen kann, Vorurteile zu hegen, und Menschen, die total von dieser Maschinerie abhängig sind, werden vermutlich nach deren Bild geformt: »Es ist möglich, den Menschen selber als Produkt einesEntwicklungsprozesses in Richtung auf den Roboter zu betrachten«, sagte ein Wissenschaftler.

Das EDV-System ist dazu geeignet, den Menschen in seinem Glauben an die unabwendbaren Forderungen der Entwicklung zu bestärken und sein Gewissen zu beruhigen, also das Menschliche auszurotten. Mit Hilfe der EDV-Technik ist es möglich, totale Kontrolle über Arbeiter an ihrem Arbeitsplatz, über Menschen im gesamten Land auszuüben. Die unüberschaubaren Probleme der Gesellschaft fordern eine effektive Lenkungstechnologie, und gerade die Möglichkeit einer solchen Lenkungstechnologie verhindert eine Lösung der Probleme, die Lenkung und Kontrolle überflüssig machen könnte.

Die Theorie, der Mensch sei nur ein Produkt seiner Umwelt und damit praktisch allem anpaßbar, ist nicht nur für Machthaber bestrickend, sondern auch für Sozialrevolutionäre, gerade weil sie »sozial« ist. Einer der großen humanen Fortschritte war das Erkennen der sozialen Ursachen der Kriminalität; die Erkenntnis, in wie hohem Grad Krankheit gesellschaftlich bedingt ist, kann kaum schon als durchgesetzt gelten. Wenn dies einmal der Fall ist und man die Konsequenzen zieht, müßte die Umwelt so verbessert werden, daß man den Krankheitsursachen vorbeugt.

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Wenn man dann aber fragt, wie das geschehen soll, dann gibt es nur eine Antwort: 

Die Gesellschaft muß so gestaltet werden, daß die Bedürfnisse des Menschen so gut befriedigt werden, daß er Krankheit vermeiden kann. Und die nächsten Fragen ergeben sich von selber. Welche Bedürfnisse? Wie werden sie optimal zufriedengestellt? Dies sind Fragen, die zu stellen die marxistisch-leninistische und die behavioristische Milieutheorie ganz einfach nicht gestatten. Damit wird auch die Frage blockiert, was eine Gesellschaft — also ihre Organe — sich mit und gegenüber dem Menschen erlauben kann.

Wenn alles gesellschaftsbedingt ist, dann gibt es keine Selbstbestimmung. Wenn der Mensch nicht das Recht hat, der zu sein, der er von Natur aus ist, dann hat er kein anderes Recht als jenes, das die Gesellschaft ihm zugesteht. Wenn es nur die Umwelt ist, die die Verantwortung für die Handlungen und Ansichten eines Menschen trägt, und nicht er selber, so kann die Gesellschaft es sich zum Beispiel erlauben, den Menschen aus seiner Umwelt zu entfernen und ihn in einer anderen unterzubringen, wo er die »richtige« Behandlung für seine abweichenden Meinungen erhält.,

 

Interessenbestimmte Menschenauffassung  

 

Daß es als »progressiv« gilt, alles als gesellschaftsbedingt anzusehen, hat seinen Grund zum Teil darin, daß es als konservativ gilt, den Menschen als von Natur aus so unverbesserlich anzusehen, daß die menschliche Gesellschaft nicht wesentlich besser werden kann. 

Beachtet man jedoch, wie großes Gewicht gerade konservative Menschen auf autoritäre Erziehung legen, so ist es nicht so sehr die Unverbesserlichkeit der menschlichen Natur, die im konservativen Gedankengang auffällt, als vielmehr deren Verbesserungsfähigkeit: Die Natur ist nicht gut genug, sie soll kultiviert werden; ausgehend von diesem Gedankengang wurden die Naturvölker früher Wilde genannt. 

Es ist christliche Tradition, daß der Mensch von Natur aus »sündig« ist, und als Darwins biologische Entwicklungslehre neu war, erregte sie dadurch großes Ärgernis, daß sie die

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Verwandtschaft der Menschen mit anderen Tieren und vor allem mit den Affen hervorhob. 

Jetzt wird es oft als reaktionär betrachtet, gerade diese Theorie zu betonen, unter anderem, weil die Theorie Darwins vom Überleben des Stärkeren im Kampf ums Dasein als Argument für die Naturgegebenheit des wirtschaftlichen Wettbewerbs gebraucht worden ist.

Die ideologischen Gesichtspunkte waren auf diesem Gebiet vorherrschend, weil es keine einheitliche Wissenschaft von der Natur des Menschen gibt, deren Resultate genauso zwingend sind wie die der Naturwissenschaft. Wir können nicht einen Menschen ausmachen, der nicht von der Gesellschaft geprägt ist; darum ist die empirische Wissenschaft geneigt, das zu übersehen, was allen Menschen gemeinsam ist, und die angeborene Natur als eine Abstraktion zu betrachten. Es ist jedoch so einleuchtend, daß der Mensch ein Produkt sowohl der Natur als auch seiner Umwelt ist, sowohl ein biologisches als auch ein soziales Wesen, daß schon besondere Gründe oder Motive vorliegen müssen, wenn man entweder die biologische oder die soziale Seite übersehen will.

Aber die eigentliche Grundlage dieser unfruchtbaren ideologischen Uneinigkeit liegt vermutlich in einer angeborenen Tendenz, in Gegensätzen zu denken. (»Die Einteilung der phänomenalen Welt in Gegensatzpaare ist ein uns angeborenes Ordnungsprinzip«, meint der Verhaltensforscher Konrad Lorenz.) Es erfordert viel Selbständigkeit und Reife, sich über die primitive Tendenz hinwegzusetzen, die Welt in gut- böse, richtig - falsch, Freund-Feind einzuteilen, wozu unsere gesamte abendländische Gegensatzlogik uns immer verleitet. Im übrigen war es ein Aufruhr gegen diese rigide Logik, als der Philosoph Hegel seine »dialektische« Logik schuf, die betont, daß Gegensätze relativ (nicht absolut) und verschiedene Seiten derselben Sache sind; Marx, Engels und Lenin bekannten sich zu dieser Denkweise, und es ist traurig, daß ihre Nachfolger zu denen gehören, die es im starrsinnigen dogmatischen Gedankengang - oder Gedankenzwang - des Entweder-Oder am weitesten getrieben haben. 

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Wenn diese primitive Entweder-Oder-Logik (die im europäischen Denken allerdings ausgeprägter ist als im orientalischen) uns wirklich angeboren ist, dann ist sie allein bereits ein Beispiel dafür, daß nicht alle angeborenen Tendenzen in einer modernen Welt zweckdienlich sind. Und dies ist natürlich der Grund dafür, daß »progressive« Menschen, die die Gesellschaft human gestalten wollen, am liebsten alle angeborenen Tendenzen übersehen, soweit diese nicht in ihre Gesellschaftsordnung hineinpassen. Daß die Gesellschaft nicht human werden würde, wenn man sie von einer einseitigen Theorie her gestaltete, ist eine andere Sache; nimmt man keine Rücksicht auf die Schwierigkeiten in der Theorie, so erschweren sie deren Verwirklichung.

 

Der Mensch ist auch ein biologisches Wesen  

 

Es ist ein Resultat primitiver Entweder-Oder-Logik, zu meinen, der Mensch sei entweder ein Tier wie alle anderen Tiere oder aber überhaupt kein Tier. Mit anderen Worten: Entweder sei das Verhalten des Menschen angeboren oder aber es sei ein Produkt der gesellschaftlichen Umwelt. Das Kind wird zwar in einem so hilflosen Zustand geboren, daß es von den Eltern viel länger abhängig ist als die Nachkommenschaft irgendeines anderen Lebewesens: Während das Verhalten der Tiere größtenteils durch die Erbanlagen »programmiert« ist, wird das Kind in dieser langen Periode der Abhängigkeit zu dem Verhaltensmuster erzogen, das in seiner kulturellen Umwelt vorherrschend ist. Wenn man aber hiervon ausgehend meint, das Angeborene spiele eine so geringe Rolle beim Menschen, daß man davon absehen könne, so sieht man gleichzeitig darüber hinweg, daß die lange Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern sowie seine große Lernfähigkeit auch biologisch bedingt sind, bedingt von der Entwicklung des Gehirns, die als Teil der Entwicklung des Menschen als Art stattgefunden hat.  

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Das Bedürfnis der Eltern, sich mit ihren Kindern längere Zeit zu befassen als Tiere mit ihren Nachkommen, ist als »Brutpflege-Instinkt« ebenfalls biologisch programmiert. Und wenn Menschen - im Unterschied zu Tieren, deren Fürsorge für ihre Nachkommen rührend besorgt ist, bis der Nachwuchs selber zurechtkommt und die Fürsorge unvermittelt einem totalen Mangel an Interesse weicht - sich schwer tun, ihre Kinder ziehen zu lassen, so beruht dies teils auf diesem starken angeborenen Bedürfnis, teils auf einem Familienmuster, das den Eltern zunächst eine Art Eigentumsrecht an den Kindern gegeben und dann ihre Autorität untergraben hat: Es gibt eben sowohl biologische und kulturelle als auch soziale Ursachen für alle elementaren Konflikte.  

Aber der elementare Konflikt zwischen den Bedürfnissen eines modernen Gesellschaftssystems und den angeborenen Bedürfnissen des Menschen wirft so große theoretische und praktische Probleme auf, daß es am einfachsten ist, davor die Augen zu verschließen. Wenn man nämlich einräumt, daß der Mensch ein biologisches Wesen ist, so muß man auch einräumen, daß er gleich allen anderen Wesen von seinem biologischen Erbgut geprägt ist. Es werden die Eigenschaften vererbt, die für das Überleben der Art bedeutsam sind, aber diese Eigenschaften sind unter ganz anderen Bedingungen erworben worden als jene, unter denen der Mensch in der modernen Gesellschaft lebt. Die menschliche Art hat 99 Prozent des Zeitraums ihrer Existenz in kleinen steinzeitlichen Gemeinwesen gelebt und wird vermutlich mit Bedürfnissen und Dispositionen geboren, die in einer Massengesellschaft nur schwer zu ihrem Recht kommen.

Ideologische Theorien und politische Methoden, die natürliche Bedürfnisse und Rechte ganz einfach nicht anerkennen, üben damit Gewalt an der Natur des Menschen, sie schaffen Frustration und Aggression - und vergrößern mithin ihren eigenen Bedarf an Methoden zur Lenkung und Kontrolle. Gerade ein Lenkungssystem, das im Widerstreit zur Natur steht, muß mehr und mehr totalitär werden, um wirksam zu sein; es kann sogar so weit kommen, daß das System es für nötig befindet, in die störende Erbmasse einzugreifen, um sie gefügig zu machen. Hinzu kommt, daß in der techni-

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schen Entwicklung an sich eine Tendenz liegt, den Menschen zum Gegenstand von Beschluß, Verwaltung und Manipulation zu machen. Konservative Ideologien, die davon ausgehen, daß der Mensch von Natur aus schlecht ist und darum in Zucht gehalten werden muß, und progressive Ideologien, die davon ausgehen, daß der Mensch von Natur aus nichts ist und darum praktisch allem angepaßt werden kann, sind gleich gut - oder gleich schlecht -, wenn es darum geht, das Menschliche zu unterdrücken.

 

Moral - das ursprüngliche Lenkungsmittel

 

Daß die moralischen Normen von Kultur zu Kultur, von Gesellschaft zu Gesellschaft und von Epoche zu Epoche wechseln, ist ein häufig vorgebrachtes Argument dafür, daß das Verhalten des Menschen in weit höherem Grad von seiner Umwelt als von seiner angeborenen Natur bestimmt werde. Tatsächlich aber unterscheidet der Mensch sich von den Tieren nicht dadurch, daß es ihm an angeborenen Trieben, Bedürfnissen und Dispositionen fehlt, sondern gerade dadurch, daß er kein bestimmtes angeborenes Normensystem hat. Die Natur hat ihn nicht auf eine bestimmte Art der Existenz programmiert, sondern er ist von Natur aus kulturschaffend, dazu disponiert, seine Existenz zu gestalten - und sich selber zu beherrschen. Ohne Triebbeherrschung entsteht keine menschliche Gemeinschaft, und das ursprüngliche Lenkungsmittel ist die Moral.

Mit Hilfe moralischer Normen lenken die Menschen sich gegenseitig und sich selber, und die Normen haben eine unmittelbare Macht über die Gemüter, solange man sie nicht als willkürlich festgesetzt empfindet, sondern als verankert im Wesen des Daseins, in der Weltordnung, so daß es ein Sakrileg ist, sie zu übertreten. Wer dies tut, verliert seine Ehre; die Mißbilligung der anderen wirkt weit stärker auf den ein, der die gemeinsamen Normen akzeptiert, als strenge Strafe auf den, der dies nicht tut. 

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Aber nur das »nahe« Gemeinwesen kann von moralischen Normen gesteuert werden; je größer der Abstand zwischen den Bürgern und den gesellschaftlichen Organen wird, desto zahlreicher werden auch die gesetzlichen Bestimmungen, und desto größer wird die Bürokratie: es gibt eine Höchstgrenze für die »natürliche« Größe eines Gemeinwesens.

Die gesellschaftliche Moral hat eine Doppelfunktion. Sie dient nicht nur dazu, asoziale Gelüste zu unterdrücken, sondern auch dazu, dem Menschen Stärke einzuflößen und seinem Dasein Sinn zu geben. Das Dasein hat Sinn für den, der sich in Übereinstimmung fühlt mit Kräften, die über ihn hinausweisen, mit dem Wesen des Daseins, mit der Gesellschaft oder wenigstens mit einer Gruppe, die gemeinsame Sitten oder Aufgaben hat. 

In armen Gesellschaften gab es für die große Mehrzahl der Menschen zwingende Gründe, ein bescheidenes Leben zu führen, und die herrschenden Normen, die offiziell keine wirtschaftliche Begründung hatten, sondern eine religiöse, machten Genügsamkeit und Verzicht zu moralischen Leistungen. 

In der Überflußgesellschaft gibt es keine zwingenden Gründe, auf irgend etwas zu verzichten, weil die unwirtschaftliche Wirtschaft steigenden Verbrauch fordert, so daß es sich geradezu als Sinn des Daseins ausnehmen kann, ständig neue Gegenstände zu erwerben. Die alte, christlich fundierte Moral hat ihre Macht über die Seelen der Menschen verloren - doch die gegenwärtige moralische »Freizügigkeit« hat noch immer den Charakter einer Reaktion auf alte Normen, die nicht von neuen abgelöst wurden. Das Gefühl von Zwecklosigkeit und Sinnlosigkeit ist stärker ausgeprägt.

 

Wirtschaft und Moral

 

Welche moralischen Normen würden den Bedürfnissen der modernen Gesellschaft entsprechen? Die gesellschaftliche Moral dient dazu, das Gemeinwesen in der Gestalt zu bewahren, die es jetzt hat, und man muß nicht Marxist sein, um zu konstatieren, daß »nur das zu einer bestimmten Zeit moralisch genannt wird, worauf das Gemeinwesen wirtschaftlich eingestellt ist«, wie der konservative dänische Schriftsteller Jakob Knudsen 1906 gesagt hat.

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Wenn aber die moderne Industriegesellschaft zu einer fortschreitenden Vernichtung der natürlichen Lebensbedingungen führt, dann ist es nicht mehr einfach so, daß auch gut für den Menschen ist, was gut für die Wirtschaft ist. 

In einer einigermaßen harmonischen Gesellschaft gibt es keinen Unterschied zwischen dem, was gut für die Gesellschaftsordnung ist, und dem, was man für gut an sich hält. Aber über die moderne Gesellschaft sagte J.M. Keynes bereits 1930 rundheraus, »daß das Häßliche nützlich sei und das Schöne nicht«. Die Wirtschaft erfordert egoistische Eigenschaften wie Gier, Geiz und Rücksichtslosigkeit, die nach der alten christlichen Moral Todsünden waren. Es steckt aber so tief in uns, daß das Moralische das Gute ist (und die Sprache erlaubt es uns nicht einmal, von mehreren Moralen zu sprechen, sondern es gibt nur eine), daß die egoistischen Eigenschaften nicht den Rang moralischer Tugenden bekommen können.

Aber wenn der Mensch andere Vorstellungen von Gut und Böse hat als die, die ihm seine gesellschaftliche Umwelt beigebracht hat, wo kann er sie herhaben? Es läßt sich nicht ausschließen, daß er sie von sich aus hat, was besagen will, daß etwas im Menschen gegen eine Gesellschaftsordnung reagiert, die ihn nicht zu seinem moralischen Recht kommen läßt (Indignation ist eine sehr unmittelbare Reaktion und läßt sich auch ohne vergleichende soziale und historische Forschung nachweisen). 

Aber die fundamentalen moralischen Ideen wurden erst im 6. Jahrhundert v. Chr. von fünf weisen Männern formuliert, die - wie Arnold Toynbee sagt - »noch immer, direkt oder indirekt größeren Einfluß auf die Menschheit haben als irgendein jetzt lebender Mensch«, und bemerkenswert ist, daß jeder die Ideen in seinem Kulturkreis formulierte, unabhängig von den anderen: Zarathustra in Persien, Buddha in Indien, Konfutse in China, Deutero-Jesaja in Israel und Pythagoras im damals griechischen Teil Italiens.

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Die zentrale Idee ist gerade, daß der Mensch über dem Gemeinwesen stehen kann; er benötigt nicht die Vermittlung des Gemeinwesens und seiner Priester, um mit der innersten geistigen Wirklichkeit in Verbindung zu treten. Etwas ist an sich gut oder schlecht, unabhängig vom Urteil der gesellschaftlichen Moral - und vom Standpunkt dieser höheren Moral aus beurteilten die fünf Weisen ihre Gemeinwesen. Und was sie besonders verurteilten, war die Tendenz, die wirtschaftlichen Werte den naturgegebenen überzuordnen.

Ursprünglich, für die primitive Mentalität, bestand kein Unterschied zwischen einem guten Menschen und einem reichen Menschen; Reichtum galt als Zeichen göttlicher Gunst (wie etwa im Alten Testament). Aber in der Stadtzivilisation, die von Handel und Geldwirtschaft geprägt ist, wird Reichtum eher zum Zeugnis menschlichen Unternehmungsgeistes und menschlicher Habsucht als zu einem Zeugnis göttlicher Gunst. Die wirtschaftliche Entwicklung, die zu Klassenunterschieden im Gemeinwesen führt, wird von den alten Weisen als Abweichung von der Natur aufgefaßt, und gerade im Protest gegen diese Entwicklung wird die zentrale humanistische Idee formuliert: der Wert des Menschen beruht nicht auf seiner sozialen Stellung, sondern er repräsentiert einen Wert an sich. Die traditionelle Weisheit der Menschheit hat sich von Anfang an gegen eine Entwicklung gewandt, die die Güter höher als das Gute setzt, die Unterschiede zwischen den Menschen zuläßt und die das Bereicherungsmotiv zur sozialen Triebfeder macht und nicht die Sympathie für den Mitmenschen.

Das Bereicherungsmotiv wird zur Hauptantriebskraft erst zu einem recht späten Zeitpunkt in der Geschichte, genau in den Phasen, in denen eine statische Bauerngesellschaft in eine dynamischere Händlergesellschaft übergeht. In Europa war dies im 18. Jahrhundert der Fall, als die demokratischen Ideen auch formuliert wurden im Protest gegen ein Gemeinwesen, in dem man Unterschiede zwischen den Menschen machte, im Protest gegen Standesprivilegien und Beschränkung der Freiheit. Formuliert aber wurden diese Ideen in einem ziemlich anderen, fast entgegengesetzten Geist:

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Gleichzeitig mit der industriellen Revolution werden mithin die moralischen Werte vollständig umgewertet: das Böse wird, wie Keynes es ausdrückte, gesellschaftlich nützlich. Aber dies will nicht besagen, daß die neue Bereicherungsmoral die alte christliche Moral ablöst; im Gegenteil, beide erlangen gleichzeitig Gültigkeit in Gesellschaften, die sowohl kapitalistisch als auch christlich sind, wo man also seinen eigenen Nutzen sowohl wahrnehmen als auch nicht wahrnehmen darf. 

Da gibt es eine Moral für den Geschäftsmann und eine andere für den Privatmann, und der klassische Fabrikbesitzer aus der Pionierzeit des Kapitalismus verkörperte oft diese Doppelmoral; es besteht, wie der Soziologe Max Weber in einem berühmten Buch aufzeigte, eine Verbindung zwischen dem Geist des Kapitalismus und der protestantischen Ethik. Es ist moralisch verwerflich, sich auf seinem Besitz auszuruhen, ihn nicht zu mehren und neuen Reichtum zu zeugen; der Reichtum soll nicht das Ziel der Arbeit sein, sondern ihre Folge, die Belohnung für sie. Mithin besteht für den »asketischen« Fabrikbesitzer nach wie vor ein Zusammenhang zwischen den Gütern und dem Guten: Ein reicher Mann hat nicht nur das Glück auf seiner Seite, sondern auch Gott. Gott wohlgefällig in besonderem Maße ist die gesellschaftlich nützliche Arbeit- die Arbeit, die nicht zum großen Reichtum führt, denn Arbeit adelt, und wenn der Lohn nicht hoch ist, so trägt sie zum Ausgleich ihren moralischen Lohn in sich.

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Mit dem Verschärfen der Klassengegensätze stieg auch die Tendenz, daß die Geschäftsmoral für die Oberschicht galt und die Genügsamkeitsmoral für die Unterschicht, die sich nach dem Buch der Bücher einen Schatz im Himmel erwirbt, indem sie auf Erden auf einiges verzichtet. Der steigende Wohlstand brachte es mit sich, daß der Eigennutz in allen Schichten und Sparten triumphierte, während die Genügsamkeitsmoral sich in erster Linie als schlechtes Gewissen geltend machte. 

Gleichzeitig wird es freilich schwieriger, dem Wort von Keynes zu glauben, wonach »Wucher, Geiz und Mißtrauen noch für eine kleine Weile unsere Götter sein müssen«, und daß diese uns in dieser Zeit aus dem »Tunnel der wirtschaftlichen Notwendigkeit« herausführen könnten, so daß wir es uns danach erlauben könnten, das Schöne als nützlich und das Häßliche als unnütz zu betrachten. Wir haben, indem wir diesen »Göttern« gehorchten, andere gegen uns auf den Plan gerufen, jene, die die alten Weisen (im Gegensatz zu den Weisen der Volkswirtschaft) mit der Natur gleichsetzten, also mit den Eigengesetzen des Daseins. Die Reaktion der Natur auf unser Wirtschaftssystem könnte darauf hindeuten, daß die alten Weisen Recht haben, und nicht die liberalisti-schen Volkswirtschaftler. Die ökologischen Probleme zwingen uns dazu, eine Kultur zu schaffen, die mit der physischen Natur im Gleichgewicht ist.

Der kulturschaffende Mensch kann durchaus das eigene Dasein und seine gesellschaftliche Umwelt nach unterschiedlichen Normen gestalten, aber er kann das nicht völlig willkürlich tun, ohne die Natur gegen sich aufzubringen. Wenn die großen Stadtzivilisationen von Auflösungserscheinungen überwiegend zum Zeitpunkt ihres Zenits ergriffen werden, so deuten gerade diese Erscheinungen darauf hin, daß der Abstand zwischen den Bedürfnissen eines komplizierten gesellschaftlichen Systems und denen des Menschen zu groß werden kann. Der Weg in den Untergang ist genau der, den Keynes aufzeigte: Das Gute als gesellschaftlich schädlich, das Böse als gesellschaftlich nützlich gelten zu lassen.

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Sexualmoral  

 

In der Mangelgesellschaft war die große Mehrzahl der Menschen gezwungen, zu verzichten, und die Moral machte den Verzicht zu einem Verdienst. Einerseits galt die eigene und die gesellschaftlich nützliche Arbeit als moralische Leistung, andererseits war es ein moralisches Verdienst, seine Triebe zu unterdrücken, vor allem dort, wo sie am stärksten waren, auf dem sexuellen Gebiet. Gesellschaftsmoral ist traditionell das gleiche wie Geschlechtsmoral, und Unsittlichkeit - nur ein anderes Wort für Unmoral - hat die Bedeutung von Lüsternheit angenommen.

Während es also möglich war, den Eigennutz mit dem Nutzen für die Allgemeinheit zur Deckung zu bringen, war es unmöglich, den radikalen Gegensatz zwischen dem Nutzen für die Allgemeinheit und den Trieben des Individuums zu übersehen, darum mußten diese von der Sexualmoral gelenkt werden.

Noch Sigmund Freud, der um die Jahrhundertwende gegen die Tendenz seiner Zeit und seiner Gesellschaft reagierte, die Bedeutung des Sexuellen unterzubewerten - und sie statt dessen überbewertete -, nahm ein unüberwindliches Gegensatzpaar »Lustprinzip« und »Realitätsprinzip« an; die Zivilisation beruhte seiner Ansicht nach auf Triebunterdrückung. Die Volksweisheit sagt, die Lust sei es, die das Werk vorantreibt, aber für Freud wird die Lust in soziale Produktivität umgesetzt, in ihr sublimiert; was sich als »Lust« äußern darf, wird der Allgemeinheit entzogen. 

Freud unterschied nicht zwischen Arbeit aus Lust und Arbeit aus Not und nicht zwischen Selbstbeherrschung und Unterdrückung. Er ging von einer konstanten Summe psychischer Energie aus, die er mit Sexualität gleichsetzte (aber doch später durch einen ebenso ursprünglichen »Todestrieb« öder Aggressionstrieb ergänzte), aber die Sexualität, die er kannte, war die, von der seine Zeitgenossen nichts wissen wollten, es war die unterdrückte Sexualität.

Für Freud war die normale Entwicklung, daß der Körper mit der Zeit enterotisiert wird, so daß die Lustgefühle sich auf

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die dafür besonders geeigneten sexuellen Organe konzentrieren. Diese Spezialisierung ist vermutlich aber nur in der westlichen, christlich-naturwissen­schaftlichen Kultur normal, die Sex im Kopf und nicht viel Eros im Leib hat. In der christlichen Tradition, die in den katholischen Ländern am stärksten ist, gilt, daß die geschlechtliche Lust »Nicht nur für die Lust« da ist, sondern zum Nutzen der Allgemeinheit, indem sie ihrem Fortbestand dient. Da sexuelle Beziehungen ohne Möglichkeit der Fortpflanzung nicht gesellschaftlich nützlich sind, werden sie auch - von der katholischen Kirche - als widernatürlich betrachtet. Das besagt in Wirklichkeit, daß das Nichtsexuelle in einer Liebesbeziehung - wie Zärtlichkeit, Rücksichtnahme und Einfühlung - nicht als besonders natürlich für den Menschen angesehen wird, was es aber gerade ist.

Indem er alle sozialen Beziehungen als im Grunde genommen sexuelle auffaßte, übersah Freud völlig den Pflegetrieb, der - im Unterschied zur Sexualität - beim Menschen besonders entwickelt ist; die lange Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern und speziell von der Mutter hat ihre Entsprechung in einer angeborenen Bereitschaft, einer sozusagen angeborenen Schwäche für den Schwachen, die für das menschliche Zusammenleben eine weit größere Bedeutung hat als die »nackte« Sexualität.

Wenn Freud über das »Unbehagen in der Kultur« schrieb, so charakterisierte er eine Kultur, in der der Mensch nicht die Möglichkeit hat, sich gemäß seiner Natur zu entfalten. Aber von der Erkenntnis, daß die Bildung von Gemeinschaften ohne Triebbeherrschung nicht möglich ist, ist es immerhin ein Gedankensprung zu der Behauptung, daß ein unüberwindlicher Gegensatz zwischen den Bedürfnissen des Individuums und den Forderungen der Gemeinschaft bestehe und daß Kultur notwendigerweise den Charakter einer Unterdrückung haben müsse. Auch für Freud war die Sexualmoral im Wesen des Daseins und nicht nur in der Wirtschaft verankert, und für ihn stellte sich gar nicht die Frage, ob von reichen und armen Gesellschaften ein gleich großes Maß an Triebunterdrückung gefordert werden muß.

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Die traditionelle Sexualmoral, die offiziell mit Gottes eigenen Geboten begründet wurde, hatte eine deutliche wirtschaftliche Grundlage; die Grundlage ist eine andere geworden. Die Moral diente besonders dem Schutz der Ehe und Familie als Institution, und die Familie war ursprünglich eine kleinere Produktionsgemeinschaft. Die traditionellen Hausfrauen- und Dienstmädchenarbeiten, wie Essenkochen, Waschen, Saubermachen, wurden in den letzten Jahrzehnten von einer wachsenden Dienstleistungsindustrie zu einem erheblichen Teil übernommen; eine Ursache dafür und eine Folge davon ist, daß die Frauen eine Arbeit im Erwerbsleben suchen. Die Frau ist wirtschaftlich weniger abhängig vom Mann geworden; zugleich ist dessen Vaterautorität wesentlich eingeschränkt worden, unter anderem als Folge der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung, die den Menschen unter völlig anderen Bedingungen älter werden läßt, als denen, für die er erzogen wurde. Die Erziehung der Kinder ist in der modernen Gesellschaft ebensosehr Sache der Institutionen wie des Elternhauses.

Die Familie hat nach wie vor eine wirtschaftliche Funktion als Verbrauchereinheit, sie ist aber als solche nicht »wirtschaftlich«: »Als Alleinstehender kauft man keine Geschirrspülmaschine, aber das macht man, sobald man zu zweit ist«, schreibt die Dänin Suzanne Brögger, die viele andere Beispiele für den zentralen Stellenwert der Kernfamilie in der Verbrauchergesellschaft gibt. Der Volkswirtschaftler J.K. Galbraith meint, daß die Familie nicht länger eine wirtschaftliche Notwendigkeit ist: »Mit steigendem Lebensstandard wird sie immer mehr zum Mittel der Verbrauchssteigerung.«

Wenn aber Verbrauchssteigerung im Interesse der Wirtschaft liegt, dann hat die Familie weiterhin eine soziale Funktion und damit auch die Sexualmoral, die die Familie beschützt. Es besteht jedoch keine organische Verbindung zwischen Verbrauchssteigerung und ehelicher Treue. Im Gegenteil: Es besteht ein Zusammenhang zwischen der »Konsumententhaltung« in beiden Bereichen, neue Beziehungen können ebenso wie neue Kleidungsstücke die Selbstachtung stärken.

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Gerade die Sexualmoral wird nicht länger als im Wesen des Daseins, als in der Natur ruhend betrachtet; man empfindet es als natürlicher, seiner Lust zu folgen (vor allem da man effektivere Präventivmittel kennt als die Moral).

Die soziale Krise der Ehe beginnt bereits, wenn diese nicht überwiegend aus sozialen Gründen geschlossen wird, sondern eher aus emotionalen Motiven. Damit werden die an eine Ehe gestellten Erwartungen größer; man sucht den Sinn des Daseins, der schwerer zu finden ist, wenn die moralischen Normen untergraben werden, um so leidenschaftlicher im Liebesverhältnis, und die Enttäuschung ist oft um so größer. Gerade die enttäuschte Erwartung von dem » Allereinzigsten« kann dazu verlocken, das Glück mit mehreren zu erproben. Auch die sexuelle Befreiung ist von einer Überbewertung des Sexuellen und einer Unterbewertung der Kontaktbedürfnisse geprägt, von denen die Sexualmoral forderte, daß auch sie im Rahmen der Ehe befriedigt würden.

Es besteht kein Grund zu der Annahme, daß der Mensch nicht eine natürliche monogame Tendenz hat, aber die Zweierbeziehung ist in dem Maße stärker belastet worden, in dem die Familie ihre natürliche Größe (von mehreren Generationen) verloren hat und auf zwei bis fünf Personen geschrumpft ist, die weiterhin aufeinander angewiesen sind, ohne in der Regel viel Zeit füreinander oder wichtige gemeinsame Funktionen zu haben. Auf der veränderten sozialen Grundlage wird die Sexualmoral, früher ein Schutz für Kinder und Frauen, also die wirtschaftlich Schwächsten, eher zu einem Schutz für das Besitzrecht am Mitmenschen; die Kernfamilie, die ein »Mittel der Verbrauchssteigerung« ist, kann auch ein Hindernis für natürliche Selbstentfaltung sein.

Eine reiche Gesellschaft muß verhindern können, daß die Beziehungen zwischen Menschen den Charakter eines wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses erhalten. Jakob Knudsen, der, wie bereits erwähnt, einsah, daß moralisch nur genannt wird, worauf der Staat wirtschaftlich eingerichtet ist, meinte, der Staat müsse die Versorgung der Kinder übernehmen, aber nicht deren Erziehung.

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Es ist hingegen ein Programmpunkt im »Kommunistischen Manifest« von Marx und Engels, daß der Staat die Erziehung der Kinder übernimmt; es sagt auch voraus, daß die bürgerliche Familie verschwinden wird, wenn die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse abgeschafft sind. Lenin schrieb: »Eine wirkliche Befreiung der Frau, ein wirklicher Kommunismus, beginnt erst an der Stelle und zu dem Zeitpunkt, wo ein Massenkampf einsetzt... gegen den kleinen Haushalt«, als wäre der kleine Haushalt der eigentliche Feind des Kommunismus. In den »Grundlagen des Marxismus-Leninismus« werden als wichtigste Maßnahmen »die höchstmögliche Entwicklung der öffentlichen Speisung, der verschiedenen Institutionen der Dienstleistungen und aller Arten von Einrichtung für die Kinderfürsorge« genannt.

Die bürgerliche Familie ist bekanntlich in den kommunistischen Staaten nicht abgeschafft worden, was entweder daran liegt, daß die Familie auch eine biologische Grundlage hat, oder daran, daß die Eigentumsverhältnisse nicht radikal verändert worden sind. Die Auflösung der Familie ist in den kapitalistischen Ländern am weitesten vorangeschritten, in denen der Lebensstandard höher ist, die Normen weniger streng sind und man ein stärkeres Bewußtsein der eigenen Rechte hat. Die soziale und wirtschaftliche Gleichberechtigung der Geschlechter ist eine elementare demokratische Forderung.

Aber die Lösung der psychologischen und sozialen Probleme, die durch die verminderte soziale Bedeutung der Familie entstehen, liegt nicht in öffentlichen Speisungen und nicht in großen Institutionen, die lediglich die Gesellschaft und die Gemeinschaft unpersönlicher machen. Wir wissen, daß es für das Kind von entscheidender Bedeutung ist, in den ersten Tagen seines Lebens physischen Kontakt mit der Mutter und in den ersten Jahren seines Lebens ein enges Verhältnis zu einem Menschen zu haben; die Fähigkeit, später selber enge Kontakte zu knüpfen, ist hiervon abhängig. Die mannigfaltigen sozialen Bedürfnisse werden weder in der geschlossenen Kernfamilie befriedigt, noch in Institutionen, wo man häufig auf Menschen der eigenen Altersklasse oder mit den gleichen Problemen angewiesen ist.

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Das natürliche Milieu ist weiterhin die Großfamilie oder die Familiengruppe, die mehrere Generationen umfaßt. Über eine gewisse Größe hinaus wird die Familie überdies ein Instrument der Verbrauchsminderung. Der gemeinschaftliche Besitz von teuren Apparaten und die gemeinschaftliche Bewältigung von größeren Aufgaben können in einem derart hohen Grad eine wirtschaftliche Forderung werden, daß sie auch in eine moralische Forderung umschlagen können.

Eine Sexualmoral, die als im Dasein verankert empfunden werden soll (also nicht nur in der Wirtschaft), muß das als unmoralisch abstempeln, was die Fähigkeit des Menschen zur eigenen Entfaltung hindert. Nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für Frau und Mann ist es von Vorteil, daß beide Geschlechter sich nicht nur in ihrem traditionellen Bereich Geltung verschaffen können. Gerade die Eigenschaften, die zuvor als besonders menschlich bezeichnet wurden - Rücksichtnahme, Zärtlichkeit und Einfühlungsvermögen-werden traditionell als speziell weibliche betrachtet. War die Frau sozial unterdrückt, so war der Mann stärker in seiner gefühlsmäßigen Entwicklung gehemmt, nicht zuletzt durch die klassische Vorstellung vom »richtigen Jungen«, der sich herumschlagen, aber nicht weinen darf. 

Der einzige psychische Geschlechtsunterschied, über den bei den Forschern einigermaßen Einigkeit besteht, ist der, daß der Mann aggressiver als die Frau ist, und in einer Gesellschaft der Männer und des Wettbewerbs galten Kampflust und Besitzlust eher als soziale Triebe als - die Lust schlechthin. Wenn es in der Gesellschaft keine wirtschaftliche Grundlage für eine andere Moral gibt, so ist eben eine andere Moral erforderlich, um eine humanere und auch wirtschaftlichere Gesellschaft zu schaffen. Auch in der Beziehung der Geschlechter liegt das Böse in der Aggressivität und nicht in der Lust; es ist ebenso unmoralisch, mit anderen Menschen etwas zu machen, wozu sie keine Lust haben, wie es unmoralisch ist, sie an dem zu hindern, wozu sie Lust haben, und was niemandem schadet.

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Es gibt keinen Grund dafür, irgendeine Form abweichender Sexualität zu verbieten oder zu diskriminieren, abgesehen von der irrationalen Furcht, diese könnte die »gesunde« Gesellschaft »anstecken«. Auch auf diesem Gebiet spielt die Milieutheorie eine reaktionäre Rolle, sowohl bei christlichen Menschen (in Dänemark beispielsweise bei der Kristeligt Folkeparti), die annehmen, junge Menschen könnten zur Homosexualität verführt werden, und in kommunistischen Staaten, wo die Homosexualität als »bürgerliche Dekadenz« betrachtet und bestraft wird.

 

Arbeitsmoral

 

Es besteht ein traditioneller Gegensatz zwischen Lust und Arbeit. »Wir sind hierher zur Arbeit entsandt worden, nicht zu Lust und Spiel«, sagte der in Norwegen geborene Wissenschaftler und Dichter Carsten Hauch. Müßiggang gehörte zu den Todsünden des Christentums - gleich den Ausschweifungen der Sinneslust. Diese moralische Auffassung steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zu der mehr psychologischen, die im Sprichwort von der »Lust und Liebe zum Dinge«, die »die Müh' geringe« werden läßt, zum Ausdruck kommt. Tatsächlich gibt es zwei völlig unterschiedliche Triebkräfte der Arbeit: Not und Lust; nur wird Arbeit aus Spaß, die »wie spielend leicht von den Händen geht«, nicht als richtige Arbeit betrachtet. Der christliche Standpunkt ist, daß die Arbeit auch eine Arbeit zur Erlösung der Seele ist, darum um so stärker läuternd, je mehr Unbehagen sie bereitet.

Natürlich ist eine solche Arbeitsmoral ein Vorteil für den, der die unangenehmste Arbeit nicht selber ausführen muß, wohl aber ein Interesse daran hat, daß sie so billig wie möglich gemacht wird. In einer Gesellschaft, in der kein Mangel an Arbeitskräften besteht, die meisten Menschen aber nicht genug physische Entfaltung haben, sollte man es sich leisten können, Arbeit anders zu betrachten. 

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Die Arbeit wird denn auch nicht mehr als eine moralische Leistung betrachtet, aber doch immer noch als ein notwendiges Übel, teils weil Arbeitsplätze (für die Arbeitgeber) zu teuer sind und man menschliche Arbeit darum weitestgehend zu begrenzen versucht, teils weil die Arbeit (aus demselben Grund) oft für die Arbeiter unbefriedigend ist. Wenn Arbeit nicht den Charakter unmittelbarer Abwehr von Not hat, kann es schwerer fallen, einen Sinn in ihr zu sehen, wenn sie nicht von ihrer Art und Weise her befriedigend ist.

Dennoch hat die alte Arbeitsmoral nach wie vor eine so große Macht über die Gemüter, daß lange anhaltende Arbeitslosigkeit oft die Selbstachtung angreift - und nicht selten auch den Respekt anderer; der Familienvater, der zu Hause ohne Funktion herumsitzt, ist keine so respekteinflößende Person wie der, der von einem der Familie unbekannten Arbeitsplatz nach Hause kommt.

Das Problem der Arbeitslosigkeit hat für den Betroffenen mehrere Seiten:

Zugleich besteht in der modernen Industriegesellschaft eine deutliche Tendenz, immer weniger Zeit für die Produktion aufzuwenden. 

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Der Wirtschaftstheoretiker E. F. Schumacher hat berechnet, daß es sich dabei um etwa 3 lh Prozent der gesamten gesellschaftlichen Zeit handelt. Obwohl man sowohl von rechts als auch von links die produktive Arbeit, die die gesellschaftlichen Werte (und in der marxistischen Theorie auch den Mehrwert) schafft, höher als die Arbeit im öffentlichen Sektor oder in den privaten Dienstleistungsbereichen einstuft, meint Schumacher dennoch konstatieren zu können: »Das Ansehen, das Menschen in der modernen Industriegesellschaft genießen, steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Nähe zum eigentlichen Produktionsprozeß.« Was hier anscheinend wie ein Widerspruch wirkt, bekommt seine marxistische Erklärung dadurch, daß ja die produktive Arbeit den Mehrwert schafft - und mithin so niedrig wie möglich entlohnt werden muß, damit der Profit größer wird.

Der Gegensatz zwischen dem Bedarf des privatkapitalistischen Systems, weniger menschliche Arbeitskraft einzusetzen, und dem Bedürfnis der Menschen, sich innerhalb der Gesellschaft nützlich zu machen, kommt besonders deutlich in der Industrialisierung der Landwirtschaft zum Ausdruck. Die Landwirtschaft ist Dänemarks natürliches Gewerbe, aber sie beschäftigt nicht mehr als 7 Prozent der Bevölkerung. Die Mechanisierung der Arbeit, die auch aus den Tieren eine Art von Maschinenteilen gemacht hat, hat die Landwirtschaft gegenüber aussetzender Energieversorgung empfindlicher werden lassen. Je mehr an der menschlichen Arbeitskraft, die es ja im Überfluß gibt, gespart wird, desto mehr wird an Ressourcen verbraucht, an denen wir Mangel haben.

Wenn es so weit gekommen ist, daß gesellschaftlich nützliche Arbeit sich für die Gesellschaft nicht mehr auszahlt, scheint eine radikale Änderung notwendig zu sein. Den Lohn für die Arbeit zu senken, ist eine naheliegende Möglichkeit -die sich jedoch nur verwirklichen läßt, wenn die Arbeit von einer Art ist, daß sie teilweise ihren Lohn in sich selber trägt und mithin nicht nur Lohnarbeit ist, sondern gleichzeitig auch eine Arbeit, mit der man sich gesellschaftlich nützlich macht. Diese Änderung im Charakter und in der Bewertung der Arbeit ist auf einer Entwicklungsstufe möglich und notwendig, auf der die technischen Hilfsmittel die menschliche Arbeit vermenschlichen könnten, anstatt sie, wie es jetzt der Fall ist, wegzurationalisieren und die Produktion irrationaler zu machen.

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Gleichheit und Unterschiedlichkeit 

 

Wie sehr zu jeder Zeit das Bild des Menschen gerade von der betreffenden Zeitperiode abhängig ist, deutet sich darin an, daß Freud die Sexualität als die innerste Triebfeder der victorianischen Epoche auffaßte, während die Verhaltenspsychologen - in einer technisch sehr viel höher entwickelten Gesellschaft - von Gefühlen, Rücksichten und ähnlichem völlig absehen, wenn sie das Verhalten »wissenschaftlich« analysieren. Da sie mithin den angeborenen Trieben keine Bedeutung beimessen, müssen sie sozusagen »äußere« Motive für die Handlungen des Menschen suchen. Der Mensch muß im erwünschten Verhalten »bestärkt« werden, damit für ihn zum treibenden Motiv wird, den Lohn für seine Handlungen zu erwarten. 

Damit nimmt das Lohnsystem selber (obgleich auch andere Formen der Belohnung als nur Lohn denkbar sind) in der verhaltenstechnologischen Gesellschaft eine zentrale Stellung ein, und man muß - um die Wahrnehmung der verschiedenen Funktionen zu sichern - die Menschen, die dieser Theorie zufolge aus der Werkstatt der Natur nicht unterschiedlich herausgekommen sind, nun höchst unterschiedlich behandeln. Was aus dem Menschen werden soll, entscheidet nicht er selber, weil sein Verhalten nur das Resultat von Einflüssen der Umwelt ist; es wird mit anderen Worten von denen entschieden, die die Macht haben, diese Umwelt zu beeinflussen. Aber diese Verhaltenstechnologie muß offenbar nach völlig willkürlichen Kriterien ausgeübt werden, denn was ist die Begründung dafür, daß der eine Technologe wird, ein anderer aber Müllwerker, wenn man angeborene Unterschiede nicht wahrhaben will?

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Natürlich muß es für die menschliche Art Überlebenswert gehabt haben - also für die Fähigkeit des Menschen, eine Gemeinschaft aufzubauen -, daß die Begabungen unterschiedlich verteilt sind. So läßt sich eine Arbeitsteilung denken, die nicht auf äußerem Zwang beruht, sondern auf innerem Drang und im übrigen auf praktischen Rücksichten, und eine solche Arbeitsteilung hatte sich in den ursprünglichen gesellschaftlichen Formen durchgesetzt. In der modernen Industriegesellschaft wurde einerseits die Arbeitsteilung im Rahmen der Spezialisierung ins Aberwitzige getrieben, weil sie in erster Linie nicht darauf beruht, daß jeder die Möglichkeit hat, seine Interessen zu verfolgen, sondern vor allem auf wirtschaftlichen Sonderinteressen und einseitigen Bildungssystemen; andererseits ist es ein demokratisches Dogma, daß alle Menschen von Geburt aus gleich sind.

Wenn alle von Geburt aus in dem Sinn gleich sind, daß sämtliche Unterschiede milieubedingt sind, so wäre es in der Tat keineswegs gerechtfertigt, die Menschen zu etwas Unterschiedlichem zu erziehen; man könnte dann die Gleichheitsforderung nur erfüllen, wenn alle zu genau derselben Stellung in der Gesellschaft ausgebildet würden, und die wahre Demokratie würde dann die sein, von der Adolf Hitler redete, als er versprach, »jeder deutsche Knabe wird an die Spitze der Nation treten«, wobei dies doch eigentlich auch für jedes deutsche Mädchen hätte gelten müssen. Auf einer derart willkürlichen theoretischen Grundlage gibt es bestimmt keinen anderen Weg als den verhaltenstechnologischen: die Menschen in unterschiedlichem Verhalten zu bestärken, also ausgehend von der Theorie, daß alle von Geburt aus gleich seien, die Ungleichheit erst einmal zu schaffen.

Sind hingegen die Menschen von Geburt aus verschieden, selbständige Individuen und nicht nur unterschiedsloses Menschenmaterial, so ist es für die Gesellschaft weniger notwendig, Unterschiede einzuführen. Soziale Gerechtigkeit muß dann darin bestehen, daß alle Menschen die gleiche Möglichkeit haben, ihre unterschiedlichen Fähigkeiten zu entfalten, was auch im Interesse der Gesellschaft liegt, denn so können die erforderlichen Aufgaben ohne äußeren Zwang oder Belohnung ausgeführt werden. 

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Aber im gleichen Augenblick, in dem die unterschiedlichen Fähigkeiten unterschiedlich eingestuft werden, macht die Gesellschaft Unterschiede, versündigt sie sich gegen den demokratischen Gleichheitsbegriff.

Es deutet alles daraufhin, daß die angeborenen Fähigkeiten danach drängen, auch genutzt zu werden. Daher ist es nicht notwendig, den Menschen im sozial wünschenswerten Verhalten zu bestärken; es wird in der Regel ausreichend sein, Hindernisse zu entfernen, damit seine Fähigkeiten zur Entfaltung kommen können. Und diese Hindernisse liegen im Milieu, in schlechten Wohnverhältnissen, in diskriminierender Erziehung und einseitiger Ausbildung, in den wirtschaftlichen Sonderinteressen, in der bürokratischen Verwaltung, kurz gesagt in der zu geringen Rücksichtnahme auf individuelle Bedürfnisse.

Wenn die Menschen nicht die Möglichkeit haben, ihren Trieben oder Interessen zu folgen, dann treibt sie natürlich nicht die Lust und die Liebe zur Arbeit voran, und man muß sie belohnen, also Lohn für eine Arbeit zahlen, die ihren Lohn nicht in sich selber tragen kann. Ein verbreitetes Motiv der vielen Streiks in den letzten Jahren war die Verärgerung darüber, daß andere für die gleiche Arbeit höheren Lohn bekommen; dieses Motiv ist in vielen Fällen nicht in erster Linie ein wirtschaftliches, sondern ein psychologisches: verletzte Selbstachtung. 

Das kann gar nicht anders sein in einer Gesellschaft, die sich zu demokratischer Gleichheit bekennt und die Bürger wirtschaftlich einstuft, und dabei die am höchsten einstuft, die die befriedigendste Arbeit haben. »Wenn wir nicht völlig an eine solche Ordnung gewöhnt wären, würde sie uns höchst sonderbar vorkommen«, schreibt J. K. Galbraith; sie geht auf Zeiten zurück, als es zumeist die einzelne Familie war, die die wirtschaftlichen Opfer trug. Jetzt, wo vor allem die Gesellschaft die qualifizierten Ausbildungen finanziert, gibt es keinen Grund dafür, daß sie den am besten Ausgebildeten auch noch belohnen soll. Nicht nur unterschiedlicher Lohn für die gleiche Arbeit, sondern auch unterschiedlicher Lohn für unterschiedliche Arbeit ist ein Ausdruck der unterschiedlichen Behandlung, die nicht demokratisch ist.

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Formen der Aggression 

 

Der Streit über die Bedeutung des Angeborenen und Angelernten für das soziale Verhalten hat sich vor allem mit dem Kampftrieb (Aggression) und der Wettbewerbslust (Konkurrenz) auseinandergesetzt. Konrad Lorenz leitete die Debatte ein, als er 1963 in seinem Buch»Das sogenannte Böse« behauptete, daß das »Böse«, die Aggression, ursprünglich für etwas gut gewesen sei und dies auch noch immer als »Mut zum Rangehen« der Fall sei; es gehört auch Angriffslust dazu, ein Problem anzugreifen. 

Aber die Wettbewerbsgesellschaft, die - nach den Worten von Keynes - das Böse »nützlich« machte, hat zu einer Über- und Fehlentwicklung gerade der asozialen Triebe geführt. Lorenz war also keineswegs ein Fürsprecher der Aggression, sondern er griff im Gegenteil die sie fördernden sozialen Verhältnisse an. Aber so wie Freud (von Wilhelm Reich) hören mußte, er habe sich »einer konservativen Ideologie zur Verfügung gestellt«, als er das Vorhandensein eines »Todestriebs« neben dem sexuellen Lebenstrieb annahm, ist auch Lorenz beschuldigt worden, er verfechte die Sache der Reaktion. Seinen sozial gesinnten Gegnern ist es schwer gefallen, zwischen der sachlichen Erkenntnis eines Triebs und dem moralischen Bekenntnis dazu zu unterscheiden. Eine angeborene Disposition ist nicht dadurch sozial gerechtfertigt, daß sie angeboren ist. Was zu einem früheren Zeitpunkt der Entwicklungsgeschichte der menschlichen Art zweckmäßig gewesen sein mag, muß es nicht auch in der modernen Gesellschaft sein.

Wir wissen, daß die menschliche Art sich im Kampf mit anderen Arten entwickelt hat und daß Völker einander bekriegt haben und daß »die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft die Geschichte von Klassenkämpfen« ist; darum ist es leichtsinniges Wunschdenken, dem Menschen angeborene aggressive Tendenzen (was nicht dasselbe ist wie angeborene Aggression) abzuerkennen.

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Gleich dem Tier wird auch der Mensch von Kampf- und Furchtinstinkten, die in Kampfsituationen zweckmäßig sind, in Alarmbereitschaft versetzt. Der Mensch kann durchaus, vor allem wenn die gesellschaftlichen Normen ihn dazu ermutigen, seine Zornes- und Furchtimpulse mit Überlegung beherrschen, aber er braucht nicht zu überlegen, um wütend oder ängstlich zu werden.

Ebenso wie für die Tiere war es für die Menschen zweckmäßig, sich über große Gebiete zu verteilen, damit nicht alle (wie in den modernen Gesellschaften) von den gleichen Ressourcen abhängig sind; der Kampf um Herrschaftsgebiete sorgt für diese Verteilung. Der Drang, sich Herrschaftsgebiete - Territorien - zu sichern, scheint auch im Menschen ein ursprünglicher zu sein; das läßt sich leicht bei Kindern bemerken.

Aber es liegt auf der Hand, daß Aggression und Gebietssicherung nur bis zu einer gewissen Grenze zweckdienlich sind. Es ist weder zum Nutzen für die Art noch für die Menschheit, daß eine Nation andere unterdrückt oder Menschen Menschen morden. Wir wissen, daß Tiere - und in stärkerem Maße wilde Tiere als etwa Hauskatzen - eine »instinktive Hemmung« davor haben, Artgenossen zu verletzen oder zu töten, denn mit ihnen besteht ja eine - wenn auch unbewußte - Interessengemeinschaft, so wie sie auch Menschen, obwohl nicht immer bewußt, mit anderen Menschen haben. 

Von Natur aus hat der Mensch ohne Zweifel eine entsprechende Hemmung, aber er kann, weil er seine Triebe beherrschen kann, auch seine Hemmungen »beherrschen«. Es gilt bei Schuljungen noch immer als Ehrensache, »keinen zu verhauen, der kleiner als man selber ist«, auch Terroristen können manchmal Kinder und Frauen freilassen. So wie das besiegte Tier an den Brutpflegeinstinkt des Siegers appelliert, so ist auch die angeborene Schwäche für den Schwachen das Humanste am Menschen, die stärkste Quelle der Aggressionsüberwindung; es ist die gute alte Moral, die da sagt, daß der am stärksten ist, der sich selber überwindet, und nicht der, der Städte erobert.

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Was speziell die instinktiven Hemmungen des Menschen außer Kraft setzen kann, das sind die Waffen, die es ihm erlauben, zu töten, ohne seinem Opfer von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen und ohne Hand an es zu legen. Der ständige Ausbau der Vernichtungsindustrie, in dem fehlgeleitete Triebe eine sozusagen chemische Verbindung mit wirtschaftlichen Interessen eingehen, bedeutet eine fortschreitende Entfremdung des Menschen von der Natur. Das Wettrüsten vermehrt nicht nur die Kraft und Zahl der Vernichtungswaffen, sondern es kann auch den Menschen in einer rücksichtslos aggressiven Einstellung bestärken; es ist nicht einmal eine Halbwahrheit, zu sagen, »Waffen hat man, um sie nicht einzusetzen«. Da gerade Waffen den Menschen von seiner Aggressionshemmung befreien, sind sie wirklich nicht das natürlichste Mittel gegen Aggression.

 

Um die Verwirrung hinsichtlich des Begriffs Aggression zu klären, soll hier zwischen vier Formen der Aggression unterschieden werden:

1. Aggression als Hilfe für eine Art im Kampf gegen andere Arten. 

Sie dient - im großen Haushalt der Natur- auch dazu, das Gleichgewicht der Arten aufrechtzuerhalten, die lebensentscheidend voneinander abhängig sind. Der Mensch hat sich, gerade indem er Hilfsmittel für seine Aggression entwickelte, zum »Herrn der Schöpfung« gemacht; so folgte er seinen Jagdimpulsen oft über das sozial und der Natur Zweckdienliche hinaus, etwa, wenn er den Wal ausrottet und afrikanische Elefanten zu Tausenden abknallt, um mit den Stoßzähnen prahlen zu können. Der Mensch wird jetzt nur noch von sich selber bedroht und von den Tieren, die nicht ohne weiteres seine Jagdbeute werden können, nämlich von den Insekten, und die Insektengefahr wird durch die ständigen technischen Eingriffe des Menschen in die Natur nicht kleiner. Die Insektenvernichtungsmittel haben sich als zweischneidiges Schwert erwiesen, teils weil sie die Natur verschmutzen und das natürliche Gleichgewicht der Arten stören, teils weil viele Insekten im Laufe weniger Generationen gegen sie widerstandsfähig werden. So betrachtet müssen wir erkennen, daß die »Naturrechte« nicht nur dem Menschen zustehen, sondern auch der Natur.

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2. Aggression, die der Mensch als »Herr der Schöpfung« gegen sich seiher gerichtet hat. Kriegsausbrüche rufen häufig bei dem aggressiven Teil wilde Begeisterung hervor, denn eine Kampfgemeinschaft ist besonders glühend, und ein gemeinsamer Feind kann der Stärkung des Zusammenhalts dienen.

Als Argument dafür, daß aggressive Tendenzen nicht angeboren sind, weist man oft auf Stämme hin, die, wie die Arapeschen auf Neuguinea, ein sehr friedliches Verhalten zeigen; doch haben gründlichere Untersuchungen gezeigt, daß bei ihnen die Kinder dazu erzogen werden, ihre Wut an Gegenständen auszulassen; sie sind also kein Beispiel dafür, daß aggressive Tendenzen nicht angeboren sind, sondern dafür, daß man sie unter soziale Kontrolle bringen kann, vor allem jedoch in isoliert lebenden Gesellschaften.

Es gibt auch viele Beispiele dafür, daß sich benachbarte Stämme damit begnügen, ihr Territorium durch drohendes Verhalten oder in einem Wettkampf abzugrenzen, der sich nicht zum Krieg ausweitet. Ohne jeden Zweifel sind die aggressiven Tendenzen-oder die sozialen Verhältnisse, die diese Tendenzen auslösen -in den großen Stadtzivilisationen und nicht zuletzt in der westlichen Welt kräftig entwickelt worden.

Gebietssicherung kann sich noch immer positiv als »Lokalpatriotismus« ausdrücken, negativ als Nationalismus; jedoch muß man zwischen nationalistischer Verteidigung des eigenen Territoriums und dem Angriff auf ein anderes unterscheiden. Die Gebietsverteilung, also der Drang, über ein Gebiet selber Hoheit auszuüben, ist so ursprünglich, daß das Gefühl der Mitverantwortung für die Gesamtheit auf der realen Verantwortung für die eigene Umgebung aufbauen muß. 

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3 • Aggression, die kollektiv ist und sich nicht nur gegen andere Gesellschaften wenden kann, sondern auch gegen die Gesell-schafl überhaupt. Ein gemeinsamer Kampf kann den Zusammenhalt stärken, macht aber auch die Gesellschaft kriegerischer. Ist die Kriegführung durch Wirtschaftsinteressen bedingt, treten in der Gesellschaft Interessengegensätze auf, denn häufig sind es die Interessen der herrschenden Klasse, für die alle Menschen den Kopf hinhalten müssen, ohne jedoch gleichen Anteil an der Beute zu bekommen. Man versucht, innere Spannungen in einen Kampf gegen einen äußeren Feind abzuleiten, der Krieg wird für den Frieden notwendig, und der Kampf um die Weltherrschaft verschärft den Klassenkampf. Das ist ein eskalierender Prozeß, der Europas Geschichte geprägt hat und in den beiden Weltkriegen zur Explosion gekommen ist.

 

Die Ideologen des Sozialismus betonen mit Recht die internationale Interessengemeinschaft der Arbeiterklasse, aber die nationalistischen Motive haben sich gegenüber den klassenkämpferischen stets als überlegen erwiesen. Die Klasse ist für ihre Angehörigen eine abstraktere Größe als die Nation für die Mitglieder einer Gesellschaft, was ein anderes Zeichen dafür ist, daß die wirtschaftlichen Motive nicht so ursprünglich sind wie die nationalistischen, die in territorialer Aggressivität wurzeln.

Während der Krieg die inneren Gegensätze vermindern kann, kann der Friede sie verschärfen, in einem reichen Land wie in einem armen, was wiederum daraufhindeutet, daß materieller Fortschritt allein nicht ausreicht, den aggressiven Tendenzen entgegenzuwirken. Die Gruppenaggression gegenüber dem Staat, die kollektive Gewalt ist ein bekanntes Phänomen in den reichen Ländern geworden, die keine gemeinsamen Werte als Mittelpunkt, wohl aber materielle Werte als Streitpunkt haben. In den siebziger Jahren hat der Gruppenterrorismus dazu beigetragen, die Aggressivität in mehreren westlichen Ländern zu verstärken. In Diktaturen, wo der Staat auch ein Patent auf die Gewalt hat, winken dem Terrorismus nur geringe Chancen; sein Druck richtet sich oft gegen demokratische Staaten, die als Polizeistaaten angeklagt werden, deren Schwäche es aber gerade ist, daß sie nicht ebenso rücksichtslos sein können wie die Terroristen. 

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Genauso gefährlich wie die Aktionen selber (dies gilt zumindest so lange, wie die Terroristen nicht mit Kernwaffen drohen können), ist die Forderung nach Gegenmaßnahmen, die von den Aktionen ausgelöst wird und die darin gipfelt, die Demokratie solle totalitäre Züge annehmen. Alle extremen Formen der Selbsthilfe bedrohen die demokratische Entwicklung; auch Panikhandlungen zur Verteidigung der Demokratie setzen sie gerade aufs Spiel.

Der asoziale Gruppenegoismus ist ein Zeichen für die Stärke des Gruppenzusammenhalts; kann man ihn nicht positiv in der Gesellschaft ausnutzen, kann er sich negativ gegen sie wenden. Die Gruppe ist konkret, die Gesellschaft ist abstrakt, solange ihre Mitglieder sich nicht solidarisch mit der Gesamtheit fühlen können. Die Gruppe (der Stamm, die Großfamilie u. ä.), in der jeder jeden kennt und jeder an allem teilnimmt, ist die ursprüngliche soziale Einheit und der Gruppenzusammenhalt die ursprüngliche Solidarität, die in der anonymen Massengesellschaft zur Konformität wird. Die Massenhysterie, in der der einzelne begeistert seinen Willen in die Hände des Führers legt, ist eine krankhafte Regression auf den Zusammenhalt der primitiven Gruppe, nur mit dem Unterschied, daß aus der Gruppe selbständiger Individuen eine unterschiedslose Masse geworden ist.

 

4. Die individuelle Aggression. Die kollektive Aggression, die in früheren Zeiten für die Erhaltung der menschlichen Art sowie der einzelnen Stämme oder Nationen zweckdienlich sein konnte, ist jetzt eine Gefahr für die einzelne Gesellschaft und für die Menschheit. Die individuelle Gewalt hat im Vergleich dazu geringere Bedeutung, obwohl sie häufig die größere Aufmerksamkeit auf sich lenkt und die stärkste Erbitterung weckt. Die Aggressionsschwelle ist bei Gruppen niedriger als beim Individuum; der Feigling kann gefährlich sein, wenn er in der Mehrheit ist. Der individuelle Gewaltverbrecher ist in der Regel ein pathologischer Fall; anders verhält es sich mit der Aggression, die auf die nächsten Verwandten entladen wird (Eifersuchtsmord, Kindesmißhandlung u. ä.) und die häufig ihre Wurzeln in Frustration, psychischer und wirtschaftlicher Not, schlechten Wohnverhältnissen usw. hat.

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Wer verneint, daß der Mensch mit aggressiven Tendenzen auf die Welt kommt, leitet jegliche Aggression von Frustration, vor allem auf sexuellem Gebiet, ab. Ohne Zweifel ist die Aggression in unserer Kultur oft eine Art Ersatzbefriedigung gewesen, und es ist vielleicht kein Zufall, daß die Epoche des Imperialismus auch die des Victorianismus war. Vielleicht ist es auch kein Zufall, daß der Glaube des Entwicklungsoptimismus, demzufolge die Zivilisation den Menschen zivilisiert, in der Phase am stärksten war, als die »friedlichen« Kolonialmächte die »Wilden« zu »zivilisieren« versuchten. Die kollektive Gewalt ist die gefährliche, aber die Bereitschaft für sie findet man im einzelnen Individuum. Kinder im Alter von acht bis zehn Monaten zeigen Furcht vor Fremden, ohne mit Fremden unangenehme Erfahrungen gemacht zu haben; in einem etwas späteren Alter zeigen sie aktive Feindschaft. Sowohl die Furcht- als auch die Zornesreaktion sind angeboren und gehen in dem bekannten Fremdenhaß eine Verbindung ein, die »archaische Intoleranz« genannt wird. Kinder brauchen nicht erst zulernen, Abweichendes zu fürchten und zu verachten und zu verhöhnen, sondern sie müssen lernen, dies nicht zu tun, was eine der größten Aufgaben der Erzieher ist.

 

Angesichts des über-aufgerüsteten Zustands der Welt bedeuten die aggressiven Tendenzen eine tödliche Gefahr. Es ist nur ein geringer Trost, daß es eine Fehlentwicklung ist, wenn sie überhand nehmen, denn diese Fehlentwicklung betrifft auch uns. Es ist ein angebrachter Verteidigungsmechanismus, seinen Kampfeseifer gegen die Aggression zu richten, wenn es wohlgemerkt die aggressiven Tendenzen und Handlungen sind, gegen die sich der moralische Zorn wendet, und nicht schon die Tatsache der Aggression an sich. So wie in der victorianischen Epoche Sex tabu war, gibt es nun eine Tendenz, die Auffassung vom Menschen als potentiell aggressiv unpassend zu finden. Der Victorianismus führte letztlich zur Sexbesessenheit, wohin wird das Aggressionstabu führen? 

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Aggressionsvorbeugung

 

Was für Tiere gilt, nämlich daß Übervölkerung (crowding) von Gebieten die natürlichen Hemmungen erlöschen und die Aggressivität ansteigen läßt, kann vermutlich auch für Menschen gelten. Deutlich ist jedenfalls, daß die Anhäufung von Menschen nicht ihr Zusammengehörigkeitsgefühl verstärkt, sondern im Gegenteil die Gleichgültigkeit gegenüber den Mitmenschen, eine Einstellung, die noch durch die sozusagen institutionalisierte Menschlichkeit verstärkt wird. Die Konsequenzen für die Wohnungspolitik lassen sich leicht ziehen, aber nur schwer verwirklichen.

Der Aggression (sieht man von der Entladung auf die nächsten Verwandten ab!) entgegen wirkt die Kenntnis der persönlichen Lebensumstände des oder der anderen, sei er nun ein politischer Feind, ein Krimineller oder ein Abweichender anderer Art. Auch im Krieg ist die »Verbrüderung« mit dem Feind eine ernste Gefahr für die Kampfmoral. Die Massenmedien können durch Propaganda aufhetzen durch Tatsachen aufklären; ein Argument dafür, daß diese Medien nicht von den Machthabern kontrolliert werden sollten.

Weil die Aggressivität bei starker Belastung des Menschen wächst, sollte diese vermieden werden. Es deutet einiges darauf hin, daß die politischen Führer von Nationen, die allzuviel damit zu tun haben, über allzuviel zu bestimmen, dauernd in einer Situation der Belastung sind. Das beste Mittel, einer inneren Aggression vorzubeugen, ist ein Verteilen der Gesamtverantwortung auf alle, nicht nur formal, sondern auch real. Die Entfernung zwischen demokratischen Ideen und sozialen Realitäten ist frustrierend.

Weil unzureichende Befriedigung physischer und psychischer Bedürfnisse zur Frustration führt, ist es schon aus dem genannten Grund eine vordringliche Aufgabe der Wissenschaft, die es auf anderen Gebieten weiter gebracht hat, die Bedürfnisse zu erforschen; die Medizin hat die Krankheiten fast ausgerottet, die vor allem die armen Gesellschaften heimsuchten, sie hat aber nicht den Krankheiten vorbeugen kön-

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nen, die in den reichen Gesellschaften häufiger sind, und mithin teilweise also von ihrem falschen Lebensmuster verursachten, sie hat aber nicht den Krankheiten vorbeugen kön-sacht sein müssen. 

Falsch ist hier gleichbedeutend mit »ungesund«, also keine moralische Bewertung, denn einer der großen menschlichen Fortschritte ist die Erkenntnis, die sich in der Medizin niederschlägt: Krankheit ist keine Strafe, sondern ein unverschuldetes Leiden. Dennoch hat das allgemeine Verschwinden von Verantwortungsgefühl in der Massengesellschaft dazu geführt, daß wir geneigt sind, die Verantwortung für die eigene Gesundheit zu vernachlässigen. Die Moral der Armutsgesellschaft machte das Ertragen von Leiden zu einer Tugend; heutzutage liegt darin kein Sinn mehr, da man nur nach schmerzstillenden Mitteln zu greifen braucht. Der enorme Verbrauch an Nervenmedikamenten und Aufput-schungsmitteln deutet ja auch darauf hin, daß im modernen Dasein der natürliche Lebensrhythmus außer Kraft gesetzt ist; unser Dasein ist sowohl zu angespannt als auch zu spannungslos.

Knud Lundberg hat die Hypothese aufgestellt, daß »die eigentliche Grundlage für die gefährlichsten Krankheiten der industriellen Gesellschaft - woran über die Hälfte von uns sterben wird - möglicherweise in dem Leben als Zuschauer liegt, zu dem wir nicht geboren sind«; beispielsweise kann unser Kampftrieb vor dem Fernsehapparat psychisch angeregt werden, ohne daß er durch physische Aktivität abreagiert wird, auf die der Organismus sich durch Anregung eingestellt hat. 

Gewalt als Unterhaltung - eine beliebte Familienunterhaltung in der spannungslosen Wohlstandsgesellschaft - ist kaum dazu geeignet, sich abzureagieren, sondern sie wird die Kampfeslust eher anregen, während gleichzeitig die Zuschauerhaltung die Gleichgültigkeit gegenüber auf dem Bildschirm gezeigtem Leiden verstärkt. Unsere Kinder werden in einem frühen Alter mit allen möglichen Arten des Grauens konfrontiert, während gleichzeitig ihre Entfaltungsmöglichkeiten, auf jeden Fall im psychisch belastenden Großstadtmilieu, stark begrenzt sind.

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Wenn Unterdrückung zur Frustration führt, so kann nichts Gutes darin liegen, die Lust am Wettstreit zu unterdrücken. Aber auch ein Wettstreit kann unterschiedlich ausgetragen werden, und die Grenze ist dort, wo Sportwettkämpfe, die bei den Teilnehmern physische und psychische Bedürfnisse befriedigen, zu Abrechnungen werden, die bei ihnen und den Zuschauern Aggressionen auslösen. Es ist nicht die Wettbewerbsgesellschaft, die das Wettbewerbsbedürfnis schafft, sondern dieses macht sich auch in anderen Gesellschaftsformen geltend (in den sozialistischen Ländern wird der Elite- und Wettkampfsport mit wissenschaftlichem und nationalistischem Zielbewußtsein betrieben), und man muß deshalb der Wettbewerbslust nicht schon jede soziale Berechtigung absprechen, weil man den »freien Wettbewerb« als treibendes Prinzip der Gesellschaft ablehnt.

 

Freiheit und Lenkung  

 

Es gibt zwei Extreme von Gesellschaftsordnungen. Das eine ist die totale und totalitäre Lenkung der Menschen, die Zwangsorganisation, deren Zwang-verhaltenstechnologisch und biologisch - sich unmerklich geltend machen kann. Im anderen folgen die Individuen hemmungslos ihren Bedürfnissen, in einem Kampf aller gegen alle, der natürlich zur Auflösung jeder Gemeinschaft führen würde. Die Zwangsorganisation ist eine Vergewaltigung der menschlichen Natur, aber auch die Anarchie ist kein Naturzustand. Beides sind Fehlentwicklungen, die jeweils eines der beiden fundamentalen Bedürfnisse übersehen: das nach Führung und das nach Selbständigkeit. Traditionell ist Gehorsam die größere Tugend als (politische) Selbständigkeit, und die Lenkungsprobleme in der Demokratie sind mit der Umwertung dieser beiden Haltungen verbunden. In den modernen Diktaturen kann man wegen politischer Selbständigkeit eingesperrt werden, bei den Nürnberger Prozessen wurden Menschen wegen Gehorsams (allerdings gegenüber bestialischen Befehlen) zum Tode verurteilt.

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In den Demokratien bestehen deutliche Tendenzen sowohl zum Totalitarismus als auch zur Anarchie; man kann den Auflösungstendenzen nur mit einer maßvollen Balance zwischen Freiheit und Lenkung entgegenwirken, zwei Begriffe, die nicht im Gegensatz zueinander stehen müssen. 

Der Gegensatz zur Unterdrückung ist nicht Hemmungslosigkeit, sondern Selbstbeherrschung. Im Unterschied zum Tier ist der Mensch nicht an Instinkte gebunden; der Mensch, der ein Opfer seiner Impulse ist (»unzurechnungsfähig unter Affekteinfluß«), ist genauso unfrei wie der Mensch, der von einer unmenschlichen Gesellschaft daran gehindert wird, seine Möglichkeiten auszunutzen. Die Freiheit hat sowohl eine psychische als auch eine soziale Seite, und der soziale Ausdruck der psychischen Selbstbeherrschung ist Selbstverwaltung oder Selbstlenkung.

Die Menschen in primitiven Gesellschaften fühlten sich vom Häuptling eher repräsentiert als dirigiert. Die Häuptlingsmacht hatte den Charakter psychischer Autorität, und in gewissen Kulturen wurde der Häuptling am Ende seiner Herrschaftszeit der Gemeinschaft geopfert, damit seine Kraft wieder in den Kreislauf der Natur zurückfließen konnte. Es gibt eine primitive Grundlage für das stoisch-christliche Herrscherideal, daß der Höchste der Diener des Geringsten sein soll. 

Eine ursprüngliche Form der Selbstverwaltung wurde im Altertum und im Mittelalter auch auf den Things der nordischen Länder praktiziert, wo man sich bis zu einem allseits akzeptierten Ergebnis durchdiskutierte. (Französisch »parlementer«; danach haben die Parlamente ihren Namen; im dänischen »Folketing« ist die Tradition zumindest dem Wort nach bewahrt.) Eine Gruppe, beispielsweise eine Schulklasse, die einen Sprecher braucht oder sich organisiert, eine praktische Aufgabe zu lösen, wählt ihre Repräsentanten unmittelbar mit Hilfe ihrer Kenntnis von deren persönlichen und fachlichen Qualifikationen; eine wirkliche Wahl ist nur möglich, wenn der Wählende über derartige Kenntnisse verfügt. 

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In Menschengruppen gibt es ebenfalls die Neigungen zu einer Rangordnung, die in Tierherden ein Mittel zur Abwehr interner Aggression ist, und die wir in Banden und anderen Mafiaorganisationen sehr ausgeprägt und tyrannisch finden. Aber so wie vom Leittier andere Eigenschaften gefordert werden als physische Stärke (unter natürlichen Verhältnissen! Denn in zoologischen Gärten ist es oft der wildeste Affe, der sich die Herrschaft erzwingt), so ist es auch nicht der Tyrann, der unter natürlichen Verhältnissen Führer wird, also bei einer freien Wahl, bei der ihn alle persönlich kennen.

 

Man kann allerdings die Tatsache nicht leugnen, daß es sowohl in älterer als auch in jüngerer Zeit immer die größten Tyrannen waren, die - wenn auch nicht gewählt - so doch mit der größten Begeisterung empfangen wurden. Das läßt sich nicht allein mit den Machtmitteln und der Propaganda der Diktatoren erklären, sondern beruht auch auf dem »Bedürfnis nach einem starken Mann«, ein Bedürfnis, das in chaotischen sozialen Situationen oder in einer Kampfsituation (die der Tyrann gern hervorruft, wenn er nicht von ihr hervorgerufen wird) verstärkt wird. 

Die verblüffende Bereitwilligkeit des Menschen, in extremen Situationen Gehorsam zu zeigen, darf nicht als simple, reine Feigheit verstanden werden, sondern muß in einem primitiven Drang verwurzelt sein, sich gelenkt zu wissen, in einem infantilen Bedürfnis nach Führung. Der Drang nach Selbständigkeit ist jüngeren Datums, sowohl in der Art, als auch in der Individualentwicklung. Die Wahlfreiheit kann, vor allem wenn es sich nicht um eine tatsächliche Wahl handelt, sondern nur um eine formale, lästig fallen; bequemer ist manchmal, nicht wählen zu müssen. Beschlüsse können lästiger sein als Befehle. »Unpopuläre« Beschlüsse, die der großen Mehrheit der Gesellschaft große Entsagungen auferlegen, kann ein Diktator unter Beifall fassen (dafür gibt es viele Beispiele), während ein Parlament sich damit schwertun kann. Die Alternative zur totalen Lenkung- die bei fortschreitender Krise, angesichts des infantilen Bedürfnisses nach Lenkung zu einer realen Gefahr wird - ist echte Mitverantwortung.

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Ein gängiges Argument gegen die aktive Demokratie besagt, daß sie zu große Aufforderungen an den einzelnen stelle, Forderungen nach größerer Selbständigkeit, Reife und Einsicht. In gewissem Sinn ist es richtig, daß der Mensch nicht zu demokratischem Verhalten geboren ist, sondern dazu erzogen werden muß; das will aber nicht heißen, daß die Zwangsorganisation, die dem Menschen keine natürliche Entwicklung zubilligt und ihn in politischer Unreife beläßt, »natürlicher« ist. 

Wenn der Mensch von Natur aus ein selbständiges Wesen ist, das sich von allen anderen unterscheidet, kommt sein natürliches Bedürfnis nach Selbstbestimmung erst in der entwickelten demokratischen Gesellschaft zu seinem Recht. Die Befreiung von einer Gesellschaftsordnung, die von der alten Genügsamkeits- und Gehorsamsmoral beschützt wurde, führt wieder zu einem Entweder-Oder: zu einer tatsächlichen Befreiung des Menschen oder zu einer Unterdrückung des Drangs zur Selbständigkeit, die zu rechtfertigen durch das verschärfte Bewußtsein der demokratischen Rechte erschwert wird. Das Bewußtsein der demokratischen Pflichten ist unleugbar geringer entwickelt; das Gefühl der Mitverantwortung ist kaum möglich, wenn die demokratische Mitbestimmung auf eine Wahl zwischen politischen Repräsentanten beschränkt ist, die von anderen Personen aufgestellt worden sind und von denen die wenigsten Bürger sich wirklich repräsentiert fühlen.

 

Tradition und Erneuerung

 

Unsere Gesellschaftsordnung unterscheidet sich von allen früheren durch das rasche Tempo des Veraltens und Erneu-erns. Es war-und ist vielleicht noch-natürlich, daß natürliche Autorität und Erfahrung mit den Jahren größer werden; nun wird es immer üblicher, daß das Wissen der Älteren veraltet; »Respekt vor dem Alter« ist bei der Jugend nicht gerade ausgeprägt. Dennoch ist das Durchschnittsalter der Menschen in einflußreichen Stellungen heute wesentlich höher als in früheren Zeiten, nicht nur, weil die durchschnittliche Lebenserwartung höher geworden ist, sondern auch, weil man von den Jugendlichen mehr und mehr fordert, ehe man ihnen eine Stellung in der Gesellschaft einräumt. 

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Man verlangt ständig eine längere Ausbildung für eine ständig wachsende Zahl von Berufen. Was kaum nur daran liegt, daß die Berufe schwerer auszuüben sind, sondern auch daran, daß längere Ausbildung eine Qualifikation für höhere Entlohnung ist. Aber als A und O gilt, daß die lange Ausbildungszeit ein Mittel ist, die Jugendlichen hinzuhalten; der obligatorische Schulbesuch ist in allen Industrienationen verlängert worden, in einigen bis zum 18. Lebensjahr, was man nur als sinnlos bezeichnen kann.

In einer statischen Gesellschaft, wo die Jugend nur die alten Traditionen weiterführen soll, gibt es nicht viel Spielraum für den Drang zur Selbständigkeit; vielleicht mußten aus diesem Grund Jugendliche in vielen primitiven Gesellschaften durch harte Proben und Prüfungen gehen, bis sie als Erwachsene akzeptiert werden konnten; es mußte sozusagen erst einmal etwas in sie hineingeprügelt werden. Aber sie wurden bereits in einem viel früheren Alter als Erwachsene akzeptiert als die Jugendlichen in der modernen Gesellschaft, die in weit stärkerem Maße der Erneuerung bedarf. Bis zur Industrialisierung nahmen die Kinder an der Arbeit der Erwachsenen teil (wobei sie unleugbar oft mißbraucht wurden), mit der Konfirmation traten sie »in die Reihen der Erwachsenen« ein; die Pubertät scheint in den früheren Jahrhunderten keine kritische (geschweige denn gesellschaftskritische) Phase gewesen zu sein. Je schneller die Gesellschaft sich entwickelt, desto länger wird die Periode zwischen Kindheit und Erwachsensein, bis Jugend geradezu eine »Kultur« für sich wird.

Das Wegrationalisieren der menschlichen Arbeit bringt es mit sich, daß sich weder Kinder noch alte Menschen im Leben der Gesellschaft nützlich machen können; man benötigt immer mehr Institutionen, die sich der Jüngsten und Ältesten annehmen. Aber auch die Jugendlichen werden in enorme Ausbildungsinstitutionen gesteckt, die von der Gesellschaft künstlich abgesondert sind und eigene künstliche Gruppierungen darstellen. 

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In den letzten Jahren hat der Mangel an Arbeitsplätzen vor allem die Jugendlichen betroffen, die noch nicht in den Arbeitsprozeß eingegliedert waren. Da es infolge der Inflation und der steigenden Preise für Immobilien für den Jugendlichen gleichzeitig ständig teurer wird, sich einen Platz in der Gesellschaft zu erkaufen, kann es so wirken, als ob die älteren Generationen ihre Positionen gegenüber den jüngeren zementieren, während es gleichzeitig ein Ideal ist, mit der Jugend jung zu sein.

Daß gerade die Altersklasse, deren Energie und Tatendrang am stärksten sind, von der Einflußnahme ferngehalten wird, ist der unheimlichste Beweis der Irrationalität der modernen Gesellschaft, ihres inneren Zwiespalts und ihrer Verschwendung von Ressourcen. Die, die bestimmt sind, die Gesellschaft zu erneuern, geraten mithin in Gegensatz zu ihr, vor allem, weil die wirtschaftliche Entwicklung die alten Normen untergraben, den Glauben an Autoritäten geschwächt und den Drang nach Selbständigkeit gestärkt hat. 

Für die Kinder der Wohlstandsgesellschaft, die verwöhnter sind als es die ältere Generation in ihren Kinderjahren war (und auf die die Älteren deshalb zuweilen mit etwas Neid schauen), wird das Mißverhältnis zwischen den Erwartungen und der Realität um so frustrierender und empörender. Es gibt wohl keine historische Parallele dafür, daß die Jugend als Gruppe zum Aufstand gegen die eigene Gesellschaft oder die eigene Kultur antritt, und dies gerade gegen eine Kultur, die weniger traditionsgebunden und weniger autoritär ist als die früherer Zeiten. Die Frage stellt sich auch, ob die Jugendrebellion nicht trotz ihres politischen Überbaus ebenso eine Reaktion gegen den Mangel an Tradition und Mündigkeit war wie gegen Normen und Autoritäten. Charakteristisch für die Kultur des Industriezeitalters ist der Abstand zwischen den traditionellen moralischen Werten und den praktischen Konventionen, zwischen dem Guten und dem »Nützlichen«. Die Jugendrebellion setzte Fragezeichen hinter das »Nützliche«, und es ist kein Zufall, daß sie gleichzeitig mit der Wohlstandswelle der sechziger Jahre ihren Höhepunkt erreichte.

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In einer Gesellschaft, in der sich die Lebensbedingungen ständig verändern und in der die Normen ihre Macht über die Gemüter verlieren, steht die Erziehung vor Problemen, die in mehr traditionsgebundenen Gesellschaften nicht existieren. Erziehungs- und Schulprobleme gehören seit 50 Jahren zu den am heißesten debattierten. Weil es kein von allen akzeptiertes Wertsystem mehr gibt, kann es Besorgnis erwecken, daß die Kinder dazu »indoktriniert« werden, anderen Idealen zu huldigen als denen, die man selber hat, seien es nun »bürgerliche« oder »revolutionäre«.

Solange es gestattet ist, mehr als eine Meinung zu haben, ist jede einseitige Indoktrinierung ein zweischneidiges Schwert, weil die Natur - der Freiheitsdrang - die Tendenz hat, mit der Erziehung durchzugehen. Damit ist nicht gesagt, daß Indoktrinierung nicht von Übel ist, aber sie besteht nicht darin, daß ein Lehrer den eigenen Standpunkt klar durchblicken läßt, sondern darin, daß er abweichende Standpunkte nicht gelten läßt. Die Schuljugend soll nicht in Ansichten unterrichtet werden, sondern in deren Grundlagen. 

Wenn man ernst damit machen will, die Gesellschaft dem Menschen anzupassen (und nicht umgekehrt), dann muß der Erzieher größeres Gewicht darauf legen, die elementaren Bedürfnisse des Kindes zu befriedigen, als darauf, den eigenen Standpunkt zu dozieren. Gerade weil der Mensch auch ein Stück Natur ist und nicht nur ein Produkt der Gesellschaft, sind Grenzen gesetzt, wozu ein Kind erzogen werden kann und darf; gerade weil der Mensch (im Unterschied zum Tier) auch von seiner Umwelt geformt wird, sind keine Grenzen gesetzt, wieviel Schaden eine Erziehung stiften kann, die keine Rücksicht auf die Natur des Kindes nimmt. Es ist beispielsweise ein verhängnisvoller Irrtum, anzunehmen, daß das Kind vom »bürgerlichen Individualismus« befreit und ein besonderes soziales Wesen werden könnte, wenn es nicht die Möglichkeit bekommt, sich an einzelne Personen zu klammern oder etwas für sich selber zu sein oder zu haben. 

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Auch der Sammlerdrang ist für den Menschen natürlich. »Die Bindung an Objekte finden wir ebenfalls in allen Kulturen, und sie stellt sich beim Kleinkind sehr früh ein. Die >bürgerliche< Erziehung besteht nicht darin, daß man dem Kinde das Besitzen beibringt, sondern darin, daß man es frühzeitig lehrt, Dinge mit anderen zu teilen. Verweigert man aber einem Kinde prinzipiell das Recht auf Eigentum, dann setzt man Frustrationserlebnisse. Außerdem gründet auf dieser Liebe zu Dingen die materielle Kultur.« (Irenäus Eibl-Eibesfeldt)

Wie die Wettbewerbsfreiheit (die Freiheit, andere völlig zu verdrängen), so ist auch das Privateigentum, das die Macht verleiht, andere auszunutzen, eine Fehlentwicklung angeborener Tendenzen, die nicht dadurch verschwinden, daß man sie vernachlässigt oder unterdrückt. Das Eigentumsrecht an Produktionsmitteln, Grund und Boden und Wohnungen (anderer) kann andererseits nicht mit dem ursprünglichen Besitzdrang gerechtfertigt werden. Die Natur zu ihrem Recht kommen lassen, ist nicht gleichbedeutend damit, daß man bei einer kleinen Minderheit alle Triebe zur vollen Entfaltung kommen läßt, sondern daß man eine Kultur schafft, in der ein harmonisches Gleichgewicht zwischen biologischen Bedürfnissen und sozialen Forderungen besteht.

Wie erwähnt, hat das Kind das Bedürfnis nach enger Verbindung mit einem bestimmten Menschen; Tatsache ist auch, daß es beim Suchen nach der eigenen Identität das Bedürfnis nach Vorbildern hat, mit denen es sich identifizieren kann, und daß in diesem Drang nach Identifikation das Einfühlungsvermögen, das die moralischste Eigenschaft des Menschen ist, der Gegensatz zum unselbständigen Konformismus, seine Wurzeln hat. Eine »freie« Erziehung, die überhaupt keine Richtlinien gibt, ist ebensowenig eine Erziehung zur Freiheit wie eine autoritäre Erziehung. Die erste führt zu fundamentalem Mißtrauen, die zweite zu Untertänigkeit; beides ist Ausdruck psychischer Unfreiheit.

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Individuum und Gemeinschaft, die Naturrechte

 

Von Natur aus ist der Mensch ein soziales Wesen. Vermöge seines Talents, differenzierte Gemeinwesen zu schaffen, hat sich der Mensch »die Erde Untertan« gemacht; und das Individuum kommt sicherlich in einer Stammesgemeinschaft besser zu seinem Recht, in der der einzelne an allem teilnimmt, als in einer Massengesellschaft, in der es vielleicht größere Selbständigkeit erhält, aber kaum größere Bedeutung für die Gesamtheit. 

Die Frage nach dem Sinn des Daseins ist für den, der seinen natürlichen Platz in der Gemeinschaft hat, nicht so bedeutungsvoll wie für das isolierte Individuum der städtischen Gesellschaft. Das Gefühl der Sinnlosigkeit drängt sich dort auf, wo das Gefühl der Gemeinschaft schwach ist. Das Erlebnis vom Sinn des Daseins ist ursprünglich ein soziales Phänomen. In der Kultgemeinschaft, die vielleicht noch stärker ist als die Kampfgemeinschaft, beten die Individuen die Kräfte an, die das Gemeinwesen tragen, und gleichzeitig geben sie sich ekstatischen Selbstausdruck. Ursprünglich, primitiv werden die Phänomene als lebendig gedeutet, was besagt, daß der Mensch die eigene Seele in die Natur legt und sich zugleich in seine Mythen hineinprojiziert, in Symbole, die von den Betroffenen nicht als Symbole erlebt werden, sondern als die innersten Realitäten des Daseins.

Der Biologe Jacques Monod ist der Ansicht, daß wir das primitive Bedürfnis nach Sinngebung ererbt haben, und dies wird dadurch bestätigt, daß wir in unseren Träumen unser Dasein in Symbolen deuten, die oft mit der Symbolwelt der primitiven Mythen verwandt sind; darüber hinaus durch die Tatsache, daß unsere Traumtätigkeit sowohl eine physiologische als auch psychische Funktion hat; sie ist entscheidend für unsere geistige Gesundheit.

Dieses Bedürfnis nach Sinngebung liegt den verschiedenen Religionen zugrunde, die in aller Unterschiedlichkeit auffällig viel gemeinsam und auch dieselbe soziale Funktion haben. Kult und Religion einen die Mitglieder eines Gemeinwesens in einer Gefühls- und nicht nur in einer Interessengemeinschaft.

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Ursprünglich werden die Werte des Daseins und des Gemeinwesens als identisch erlebt, als wären die Normen des Gemeinwesens im Wesen des Daseins verankert. Dieser Zusammenhang zwischen dem Psychischen, dem Sozialen und dem Religiösen löst sich in Krisenzeiten auf.

Die große kritische Phase war, wie schon erwähnt, der Übergang zur städtischen Zivilisation, der nicht nur zu wirtschaftlichen und nationalen Gegensätzen führte, sondern damit auch eine entscheidende Veränderung der Funktion der Götter mit sich brachte. In der primitiven Gesellschaft sind die Götter personifizierte Naturkräfte, im Stadtstaat sind sie Personifikationen der kollektiven Macht des Staates, die Götter werden national, der Kriegsgott bekommt eine starke Position ; die Staatsreligion bekommt eine mehr politische Funktion und wird für die Machthaber zu einem bewußt eingesetzten Lenkungsmittel. In dieser Phase verkünden die alten Weisen und die Propheten den einen übernationalen Gott, der allen Menschen gemeinsam ist. Und mit dem Göttlichen können die Menschen ohne Vermittlung einer Priesterschaft in Verbindung treten.

Der Monotheismus, der Glaube an den einzigen Gott, ist historisch an den Individualismus gekoppelt, verstanden als Erkenntnis und Anerkenntnis dessen, daß der einzelne seinen Wert in sich selber hat, unabhängig von seiner sozialen Stellung. Der Hintergrund dieser grundlegenden humanistischen Erkenntnis ist die Tatsache, daß der einzelne in einer Gesellschaft mit stärkerer Klassen- und Arbeitsteilung nicht zu seinem Recht kommt; im Gegensatz zum geltenden (Un-)recht der Gesellschaft formulieren die Philosophen die Idee von der Menschheit, der alle Menschen als gleichwertige Teile angehören, und vom Naturrecht, das von Natur aus für alle Menschen gilt.

So gesehen muß man den Individualismus als den großen Fortschritt der Zivilisation auffassen. Aber es hat - nicht zuletzt in jüngster Zeit - eine (marxistische) Tendenz gegeben, den »bürgerlichen Individualismus« als soziales Auflösungsphänomen zu betrachten, als eine »Atomisierung« der Gesellschaft, in der der einzelne im Wettbewerb mit den anderen nur den eigenen Nutzen sucht.

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Ist dies das Ergebnis einer konsequenten liberalistischen Politik, dann führt andererseits eine marxistisch-leninistische Politik zur totalen Unterordnung des Individuums unter die Forderungen von Partei oder Staat. In einer Kampfsituation, wie etwa während der chinesischen Revolution, mag eine solche Unterordnung zweckmäßig und notwendig sein; ein soziales Ideal aber kann sie ebensowenig sein wie der liberalistische Egoismus.

Es muß durchaus kein Gegensatz zwischen Individualismus und Kollektivismus bestehen, aber sowohl der Egoismus als auch die Gleichschaltung sind Fehlentwicklungen eines ursprünglichen Bedürfnisses nach Freiheit und Zusammenarbeit. Dies schließt nicht aus, daß einige Menschen individualistischer eingestellt sind als andere und daß in einer humanen Gesellschaft Platz auch für den Einzelgänger sein muß. Die Leistungen ursprünglicher Begabungen führen zu wissenschaftlichem Durchbruch und künstlerischer Erneuerung, und es ist eine bornierte Betrachtungsweise, wenn man diese Einzelleistungen als nicht nützlich für die Gesellschaft bezeichnet oder vielleicht gar als asozial, weil sie als »bourgeoise Kultur« Anlaß zur Anbetung der Elite und zu Snobismus geben. (In China ist das Verhältnis nicht nur zu den europäischen Künstlern, sondern auch zur kulturellen Elite des eigenen Landes, von Konfutse bis zu den Kunstakrobaten und den Grundlagenforschern, ein Problem gewesen.) 

Erstens ist die wissenschaftliche und künstlerische Erneuerung für die Erneuerung der Gesellschaft notwendig, obwohl sie sich nicht in wirtschaftlichem Gewinn messen läßt; zweitens darf der Staat nicht das Recht haben, irgendeine Form menschlicher Entfaltung, die für andere Menschen nicht direkt schädlich ist, zu beschneiden. Daß oppositionelle Kunst und Wissenschaft für den Machtapparat Staat unbequem sind, bedeutet noch nicht, daß sie gesellschaftsschädlich sind.

Sogar in einer liberalistischen, individualistisch orientierten Gesellschaft gibt es eine große Anzahl Menschen, die sich in ihren Entfaltungsmöglichkeiten von den Normen ihrer Familie oder den Zwängen ihres Arbeitsplatzes eingeengt fühlen.

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Beispiele dafür kann man aus fast allen Gruppen heranziehen (Hausfrauen, Lohnarbeiter, Schulkinder usw.). Viele Menschen fühlen, daß sie Möglichkeiten in sich haben, die unterdrückt und nicht zutage gefördert werden. Das Ergebnis ist oft Frustration oder schwere psychische Probleme.

Entwicklungshistorisch ist der Mensch der überschaubaren Gruppe angepaßt, das Individuum kommt am besten in der kleinen Gemeinschaft zu seinem Recht. Weil wir uns nicht »zurück zur Natur« wenden können, zur Stammesgesellschaft der Steinzeit, haben wir keinen anderen Weg als den, nach vorn einer Demokratie entgegenzustreben, die auf kleinen Einheiten aufbaut und in der das Individuum nicht ein zufälliges Stück Material für die Machthaber und Technokraten ist. Ausgangspunkt müssen dabei die Naturrechte des Menschen sein; werden diese nicht respektiert, so wird die Massengesellschaft in einem weit unheimlicheren Sinn primitiv als eine primitive Gesellschaft.

Von Natur aus ist der Mensch ein selbständiges, aktives Wesen, darum ist es gegen seine Natur, zu einem passiven Gegenstand der Beschlüsse anderer erniedrigt zu werden. Von Natur aus ist der Mensch ein Individuum, verschieden von allen anderen Menschen; darum ist es gegen seine Natur, daß er zum Herdenwesen erniedrigt wird.

 

Rational und Irrational; Wissenschaft und Kunst

 

Eine Schwierigkeit liegt darin, daß Naturrechte kein (naturwissenschaftlicher Begriff sind, sondern ein moralischer. Die Wahrheiten, die in der modernen Zivilisation bindend für alle sind, obwohl die Ideologen zuweilen mit ihnen manipulieren, sind die objektiven Tatsachen der Wissenschaft, und Objektivität ist der beste Schutz gegen die interessenbestimmten Umdeutungen durch Ideologien. Aber in der wissenschaftlichen Einstellung selber ist eine Tendenz, das völlig zu übersehen, was nicht in objektiven Begriffen ausgedrückt werden kann.

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Unser Ausgangspunkt in diesem Abschnitt war die verhaltenstechnologische Tendenz, von allem »Inneren« und all dem Angeborenen im Menschen abzusehen und ihn zu reduzieren, nicht einmal auf Natur, sondern auf Mechanik. In dieser Hinsicht ist die Wissenschaft bestimmt nicht mehr objektiv, nicht unbefangen, sondern selber interessenbestimmt; sie ist daran interessiert, daß der Mensch auch tatsächlich so ist, wie er sein sollte, damit man ihn zum Gegenstand erschöpfender wissenschaftlicher Erkenntnis - und Beeinflussung - machen kann.

Wenn man die verschiedenen Theorien über den Menschen und die Gesellschaft (zum Beispiel Verhaltenspsychologie, Psychoanalyse und Verhaltensforschung, liberalistische und marxistische Wirtschaftstheorie) miteinander vergleicht, muß man erkennen, daß es nicht eine völlig objektive Wissenschaft auf diesen Fachgebieten gibt. Der Mensch und die Gesellschaft können nur mit Hilfe völlig willkürlicher und interessenbestimmter Reduktionen zu »objektiven« Größen gemacht werden. Aber auch dort, wo objektive Erkenntnis möglich ist, in den Naturwissenschaften, liegt im objektiven Wissen keine Richtschnur für dessen Anwendung. Es gibt keine objektiven Kriterien für die Ausnutzung der objektiven Wissenschaft; in der Regel wird die Forschung begünstigt, die wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen dient.

Obwohl die eigentliche geisteswissenschaftliche Forschung im Vergleich zur naturwissenschaftlichen vernachlässigt worden ist, reicht unser Wissen vom Menschen und seinen Bedürfnissen doch aus, um festzustellen, daß unsere Gesellschaft und unsere Welt anders eingerichtet sein würden, wenn wir dieses Wissen ernsthaft ausnutzten. Aber wenn wir »wir« sagen, identifizieren wir uns sofort mit den gemeinsamen Interessen, mit der Menschheit, die als solche nicht vorhanden ist. Die Menschheit war zwar niemals zuvor in gleich starkem Maße einem gemeinsamen Schicksal unterworfen, aber sie war auch niemals stärker gegen sich selber aufgerüstet als jetzt. Das schließt nicht aus, daß es tatsächlich gemeinsame Werte gibt, die nach wie vor im Wesen des Daseins, in der Natur verankert sind, die sich aber nur schwer gegen die beherrschende Allianz von »uninteressierter« Wissenschaft und wirtschaftlichen, nationalistischen und machtpolitischen Interessen durchsetzen können.

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Die wirtschaftliche und wissenschaftliche Orientierung sind charakteristisch für die Industriegesellschaft, die aus politisch-wirtschaftlicher Auflehnung gegen die Standesprivilegien der alten Gesellschaft entstanden ist und aus einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der mittelalterlichchristlichen Weltdeutung, die die Ideologie der alten Gesellschaft war. Erst die objektive Erkenntnis vom Eigenzusammenhang der Dinge ermöglicht einen Eingriff in sie und mithin die technische Zivilisation, aber damit wird ein intellektuelles Bedürfnis nach Erklärung (der Ursachen) vom primitiven, gefühlsmäßigen Bedürfnis nach Sinn abgetrennt. Die Wissenschaft wird eine Sache der Spezialisten, die sozusagen die Wirklichkeit unter sich aufteilen (in Fachgebiete, die oft vorgeben, sie seien das Gesamte oder das Grundsätzliche), aber diese Spezialisierung kann auch zu einer Spaltung der intellektuellen und der emotionalen Seite des Menschen führen. Der Mensch wird nicht dadurch rational, daß seine Wirklichkeitsauffassung wissenschaftlicher wird - nur das »Irrationale«, das Gefühlshafte, findet nicht so leicht seinen Ausdruck.

Was früher in den gemeinsamen Symbolen der Religion ausgedrückt wurde, wird in der Industriegesellschaft Sache der Kunst. Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein stand die Kunst im Dienst der Religion; erst mit der Befreiung der Kunst von der Religion wird der Künstler sich als Künstler bewußt, aber damit wird die Kunst auch individualistischer, und die kollektiven Symbole in der modernen Kunst werden schwerer zugänglich. Daß die Kunst dennoch in der modernen Gesellschaft eine vitale Funktion hat, geht aus dem negativen Verhältnis der Diktaturen zur Kunst hervor. Das Unterdrückte ist es, was in der Kunst zum Ausdruck kommt. Sie hat die gleiche Funktion für die Gesellschaft wie der Traum für den einzelnen, selbst wenn er sich vielleicht an die Symbole des Traums nicht mehr erinnert oder sie nicht versteht.

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Da die wissenschaftliche Erkenntnis in ihrem Ursprung aufrührerisch ist, gibt es in unserer technischen Zivilisation insgesamt eine Tendenz, das Rationale als progressiv und das Emotionale als irrational und konservativ zu betrachten, eine Tendenz, die durch die Unterbewertung der traditionellen weiblichen Werte in einer von Männern beherrschten Gesellschaft verstärkt wurde. Es galt als reaktionär, die Segnungen des Fortschritts in Zweifel zu ziehen und positive und unverletzbare Werte in der Natur und in der Natur des Menschen zu sehen. Diese »rationalistische« Einstellung führt äußerlich zur Herrschaft der Fachleute, aber innerlich zur Krankheit der Seele, deren unbefriedigtes Bedürfnis nach einem Sinn des Daseins wahrscheinlich unserem primitiven Aberglauben an den Fortschritt zugrunde liegt.

 

Schlußfolgerung 

 

Trotz aller wissenschaftlichen Uneinigkeit und aller ideologischen Gegensätze reicht unser Wissen aus, um ein Mißverhältnis zwischen den Bedürfnissen des Menschen und denen des industriellen Systems zu konstatieren. Je schlechter der Mensch in der Gesellschaft zu seinem Recht kommt, desto totalitärer wird deren Lenkungsapparat und umgekehrt. Die totalitäre Gesellschaft droht als Endpunkt dieser Entwicklung. Es ist anscheinend ein historisches Gesetz, daß die großen Zivilisationen von Auflösungstendenzen gerade dann befallen werden, wenn sie ihren Gipfelpunkt erreicht haben.

Oswald Spengler meinte im »Untergang des Abendlandes«, daß die Entwicklung der Zivilisationen den Charakter eines unabwendbaren biologischen Prozesses habe, eine fortschreitende Abweichung von der Ordnung der Natur. Das Gemeinwesen, das ursprünglich ein natürlicher Organismus ist, wird zur künstlichen bürokratischen Organisation.

Eine Tatsache ist jedoch, daß die Kultur krank wird, wenn sie sich zu weit von ihren natürlichen Grundlagen entfernt, eine andere ist, diese historische Entwicklung selber als einen »natürlichen«, also als einen biologischen Prozeß aufzufassen. 

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Das Wahnwitzige in der Entwicklung ist nicht eine Folge des fortschreitenden Wahnwitzes des zivilisierten Menschen; es verhält sich umgekehrt. Dieses Verhältnis stellt selbstverständlich die Frage, ob das Verhalten des Menschen in einem derart starken Maße ein Produkt der Entwicklung ist, daß der Mensch keine Möglichkeit hat, diese zu ändern.

Selbst wenn Karl Marx und seine Nachfolger damit recht haben sollten, daß es »in letzter Instanz« die Produktivkräfte sind, die den Charakter des gesellschaftlichen und des geistigen Lebens bestimmen, so haben sie nicht damit recht, daß die Entwicklung der Produktivkräfte ganz von selber zu einer besseren Gesellschaft führt. Sie haben auch kein Recht dazu, es der Entwicklung zu überlassen, welche Bedürfnisse der Mensch haben soll.

Der marxistischen Theorie zufolge gerät die Gesellschaft in eine Krise, wenn die technischen Möglichkeiten nicht mehr im Rahmen des wirtschaftlichen Systems verwirklicht werden können. Diese Krise ist eine Tatsache; führte die Entwicklung von sich aus zu einem Übergang in ein anderes System, so hätte dies bereits geschehen müssen. Darum sprechen marxistische Theoretiker von einer Verzögerung der proletarischen Revolution. Tatsächlich sind in den reichen Ländern die Motive für eine klassische Revolution infolge des materiellen Fortschritts schwächer geworden; andere Motive drängen auf eine Änderung der Gesellschaft, Motive, die man in den psychischen Bedürfnissen suchen muß, die in der Massengesellschaft nicht befriedigt werden.

Wenn die vollständige Befriedigung der materiellen und geistigen Bedürfnisse aller Mitglieder der Gesellschaft das Ziel ist, so muß die Erkenntnis dieser Bedürfnisse der Ausgangspunkt eines zielbewußten Programms sein. 

Wenn man ernst damit machen will, daß die unterschiedlichen Fähigkeiten und die natürlichen Bedürfnisse der Menschen zu ihrem Recht kommen sollen, so muß jeder das Recht haben, über sich selber zu bestimmen, jeder das Recht auf Mitbestimmung in seiner Umwelt, bei seiner Arbeit und in der gesamten Gesellschaft haben. 

Das bedeutet, daß die Gesellschaft auf kleinen Einheiten mit tatsächlicher Selbstbestimmung aufbauen muß; daß die Führungskräfte aufgrund persönlicher Kenntnis von denen gewählt werden, die sie repräsentieren. Machtpositionen, die auf Erbe, individuellem Eigentumsrecht oder wirtschaftlichen Privilegien beruhen, darf es nicht geben; die Erde und ihre Ressourcen müssen Gemeinbesitz sein.

Nur wenn die Natur des Menschen in der Gesellschaft zu ihrem Recht kommt, ist es möglich, eine Gesellschaft im Gleichgewicht mit der Natur zu schaffen.

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