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Einleitung  

 

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In der vorliegenden Arbeit beschreibe ich ein Verfahren, welches Patienten mit psychischen und psycho­somat­ischen Störungen ermöglichen soll, diese Störungen selbstständig psycho­thera­peutisch zu bearbeiten. Grund­lagen dieses Verfahrens stammen aus der Primärtherapie Arthur JANOVS, die er erstmalig 1970 beschrieb.(1: Janov 1970)

Im Zentrum seiner Vorstellungen steht die Annahme, dass solche Störungen im Kern Ergebnis einer Abspaltung physischer Empfindungen und davon bestimmten Gefühlen von den durch Gedanken geprägten Selbst­vorstellung der Patienten seien. Solche persistierenden Abspaltungen sollen nach JANOV entstehen, wenn psychophysische Überforderungen auftreten, die nicht mehr adäquat verarbeitet werden können. 

Das Ziel der Primärtherapie ist es folglich, diese Spaltung aufzuheben. Dadurch soll eine nachträgliche Verarbeitung solcher Störungen gelingen.

JANOV warnt am Ende seiner Schriften regelmäßig davor, sein Therapiemodell außerhalb von ihm definierter Bedingungen und ohne die Anleitung von ihm ausgebildeter Therapeuten anzu­wenden.

Wenn ich nun hier ein von meinem Kollegen Wolfgang Rosenberg und mir entwickeltes Verfahren vorstelle, nachdem wir Patienten dazu angeleitet haben, Primärtherapie selbständig und ohne Hilfe eines Psycho­therapeuten anzuwenden, so mag dies überraschen.

Daher will ich zuerst beschreiben, aufgrund welcher Überlegungen es uns möglich erschien, ein Konzept zu entwickeln, das Patienten in die Lage versetzt, sich selbständig einer aufdeckenden Methode zu bedienen, die von ihrem Anspruch her mit dem Wiedererinnern und Aufarbeiten oft sehr schmerzhafter, manchmal in früheste Lebensabschnitte eines Menschen zurück­reichender Geschehen verbunden ist. 

Bei der Lektüre der Bücher JANOVS hatte ich den Eindruck gewonnen, dass die darin zitierten Patienten plausibel, klar und einfach beschrieben, auf welche Art und Weise psychische Störungen, unter denen sie gelitten hatten, mit Hilfe der Primärtherapie aufgeklärt und zum Verschwinden gebracht werden konnten.

Am meisten beeindruckt hatte mich, dass die Patienten durch das Erinnern bestimmter Schlüsselszenen selbst, ohne jede Deutung durch ihren Therapeuten, die Ursache ihrer Störung erkennen konnten, dass insbesondere die körperlichen Reaktionen als Korrelate bestimmten psychischen Erlebens auf Dauer verschwanden und dass das Gefühl durch die Therapie wieder zum zentralen Teil ihres Erlebens wurde.


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Dies war der Anlass für mich, mich in einer psychotherapeutischen Praxis in Stuttgart einer primär­thera­peut­ischen Selbsterfahrung zu unterziehen. Die primärtherapeutische Methode schien mir dazu geeignet, die Bedingungen für das Zustandekommen eines typischen Verhaltens erfassen zu können, bei welchem ich mich wider besseres Wissen, wider bessere Einsicht und trotz allerbester Absichten immer wieder anders verhielt, als ich es vorgehabt hatte. Sorgfältiges Reflektieren der Verhältnisse, in denen ich mich befand, als auch meiner Einstellungen und Gefühle, reichte nicht dazu aus, adäquate Verhaltens­änderungen auf Dauer herbei­zuführen, die auch als ich-identisch erlebt werden. Dies hatte ich während meines Soziologiestudiums in Berlin erfahren.

In der psychotherapeutischen Praxis in Stuttgart fand ich weitgehend die Bedingungen vor, die JANOV in seinen Büchern beschrieben hatte: Eine mehrwöchige Intensivphase mit mehr­stündigen täglichen Therapie­sitzungen in schallisolierten, abgedunkelten Räumen. JANOV hatte von seinen Patienten verlangt, sich während des Zeitraums der Intensivphase in einem Hotelzimmer zu isolieren und auf alle Verhaltens­weisen, die vom intensiven Fühlen ablenken konnten, also z.B. auch auf das Rauchen von Zigaretten, zu verzichten. 

Ohne von meinem Therapeuten dazu aufgefordert worden zu sein, unterwarf ich mich diesen Regeln und lernte in der drei Wochen dauernden Intensivphase wieder mehr auf meine Empfindungen zu achten und deren zentrale Bedeutung für das Zustandekommen von Gefühlen und Gedankenbildung zu erkennen. Dabei hatte ich insgesamt den Eindruck, die Therapie helfe mir darin weiter, wesentliche psychische Probleme aufzu­klären.

Nicht gelernt hatte ich in den drei Wochen, wie die Therapie funktioniert. Ich hatte nur gespürt, dass sie funk­tioniert. Beeinflusst durch JANOVs Beschreibungen der Reaktionsweisen von Patienten während der Therapie­sitzungen, hielt ich intensive Gefühlsausbrüche damals noch für ein zentrales therapieförderndes Moment, ohne so etwas jedoch auch nur ein einziges Mal während meiner Intensivphase selbst erlebt zu haben. 

Deshalb versicherte ich mir, zurückgekehrt an meinen einige hundert Kilometer entfernten Wohnort, zuallererst der Existenz eines schallisolierten Therapieraumes und der Möglichkeit, diesen bei Bedarf jederzeit benutzen zu können. Allerdings war dieser Raum nur durch mehrere Hinterhöfe und über eine dunkle Stiege zu erreichen. Besonders an dunklen Novemberabenden, wenn ich Zeit gehabt hätte, den Raum aufzusuchen, ängstigte mich der Weg dorthin so sehr, dass ich ihn nie benutzte.

So lernte ich unbeabsichtigt, dass es auch möglich war zu Hause in einem ganz normalen Zimmer am helllichten Tag auf meine Empfindungen zu achten und mich auch intensiv und detailliert erinnern zu können.


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Trotzdem hatte ich den Einruck, einen Teil der aufbrechenden Empfindungen, die mit solchen Erinnerungen einhergingen, nicht allein bearbeiten zu können und suchte deshalb in unregel­mäßigen Abständen meinen Therapeuten in Stuttgart auf. Auf einer der Fahrten dorthin konnte ich spontan ein Problem aufklären, welches mich ursprünglich dazu veranlasst hatte, ganz dringend um einige Therapiesitzungen zu bitten. Der seelische Druck war danach verschwunden und stellte sich weder am nächsten Morgen noch im Laufe des nächsten Tages wieder ein.

Um die vereinbarten Therapiesitzungen trotzdem sinnvoll zu nutzen, begann ich gemeinsam mit dem Therapeuten W. Rosenberg zu diskutieren, ob es möglich sein könnte, solche spontan abgelaufenen Prozesse systematisch herbeizuführen. Dies hätte insbesondere solchen Patienten wie mir, denen ein regelmäßiger Besuch von wöchentlich stattfindenden, für alle Patienten zugänglichen sogenannten offenen Gruppenabenden wegen der räumlichen Distanz und der damit verbundenen finanziellen Belastung nicht zumutbar war, die regelmäßige Anwendung der Therapie ermöglicht. 

Auch andere Patienten hatten W. Rosenberg von solchen spontan ablaufenden Einsichtsprozessen berichtet und JANOV selbst verweist auf Angaben von Patienten, die offenbar ähnliches erlebt hatten. (2: Janov 1973: 103; 1976(b): 255, 288; 1977(b): 222)

Im Nachhinein erscheint es mir unverständlich, warum JANOV nicht versucht hat, die dort beschriebenen Vorgänge zum Gegenstand seiner Primärtherapieforschung zu machen.

Das Phänomen veranlasste W. Rosenberg und mich in der Folge zu einem sich über Jahre erstreckenden Diskussionsprozess, in dem wir unsere eigenen Erfahrungen im Umgang mit der Therapie sammelten. Wir verglichen unsere Ergebnisse mit den Berichten und Erklärungen JANOVs und versuchten ein System zu entwickeln, in das sich unsere Beobachtungen und Erfahrungen widerspruchsfrei einordnen ließen, ohne dass sie sich damit gleichzeitig schon hätten erklären lassen. 

Am schwierigsten erwies es sich dabei, konsequent auf weitergehende Theoriebildung, gestützt durch bekannte psychotherapeutische Erklärungsmodelle, zu verzichten. Dies bedeutete, bei jeder einzelnen Beschreibung von subjektivem Erleben zu prüfen, inwieweit diese durch bekannte philosophisch-therapeutisch präformierte Denkmodelle beeinflusst worden war und wir deshalb in der Wortwahl unbeabsichtigt von einer reinen Beschreibung abwichen.


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Während jener Zeit verzichteten wir darauf, uns ergänzend zu den Büchern JANOVs mit weiteren psycho­thera­peut­ischen Methoden oder psychotherapeutischer Literatur auseinander zusetzen, weil wir von der Überlegung ausgingen, dass, wenn die Grundannahmen stimmten (und zumindest stimmten diese mit unseren eigenen Erfahrungen überein), dass es möglich wäre, mit Hilfe des Erinnerns bestimmter Ereignisse und der sie begleitenden Körperempfindungen bleibende Veränderungen im Erleben herbeizuführen — es sich dabei um eine Art biologisch angelegter Möglichkeit zur Selbstreparatur psychischer Störungen handeln müsse. 

Eine Möglichkeit, die bisher weder ausreichend beschrieben, noch auch nur ansatzweise erklärt worden ist, von der aber einzelne Aspekte in unterschiedlichen Psychotherapie­modellen erscheinen.

Wir stellten dabei fest, wie verlockend es ist, bestimmte beobachtete Phänomene in irgendein bekanntes Theoriegebäude einzuordnen und dass es einer gewissen Disziplin bedarf, sich auf die reine Beschreibung von Beobachtungen zu beschränken.

Im wesentlichen beschäftigten wir uns damals mit der Frage ob und wie psychische Störungen aufgelöst werden können, ohne dabei bekannte Theorien über das Zustandekommen solcher Störungen heranzuziehen. Wir gingen dabei von der Prämisse aus, dass, falls ein biologisch angelegter Mechanismus zur Selbstreparatur psychoreaktiver Störungen existieren sollte, sich dieser Mechanismus universell und unabhängig von der Art und Genese der jeweiligen Störung benutzen lassen müsste. Falls ein solcher Mechanismus beschreibbar wäre, würde es aus­reichen, diesen jeweils immer wieder in der gleichen Weise in Gang zu setzen.

Nach unserem Eindruck war die bloße sorgfältige Analyse eines Problems und eine daraus resultierende Diagnostik nicht ausreichend, um in jedem Fall bleibende Veränderungen herbei­zuführen. Deshalb verzichteten wir auch später in der Arbeit mit Patienten darauf, deren psychische Probleme genauestens zu analysieren oder die Patienten zu einem solchen Vorgehen anzuregen. Wir beschränkten uns auf die systematische Vermittlung der uns zur Verfügung stehenden Kenntnisse über einen Vorgang, der gezielt und mit Absicht hervorgerufen werden kann, reproduzierbar ist und konsequent angewandt, zu gleichartigen Ergebnissen führt, die im Kern darin zu bestehen scheinen, dass sich durch eine Neueinschätzung zurück­liegender Erfahrungen spontan eine veränderte psychophysische Integration aktueller Erlebnisse vollzieht.

Die therapeutisch nutzbaren Ergebnisse unserer Arbeit finden sich in dem hier vorgestellten Konzept wieder, welches wir in nahezu unveränderter Form seit 1978 an unsere Patienten weitergaben.


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In den folgenden Jahren versuchten wir Forschungsergebnisse zusammenzutragen, die dazu geeignet schienen, für die von uns beobachteten Phänomene wissenschaftliche Erklärungs­ansätze zu bieten. Hinweise dafür fanden sich in überraschender Zahl in Ergebnissen der ethologischen Forschung, der Stressforschung, der Hirnforschung (insbesondere soweit sie Unter­suchungen über verschiedene Funktionen der rechten und linken Hirnhälfte betrifft) und in der Forschung über Neurotransmitter. 

Viele dieser Forschungsergebnisse wurden im Zeitraum seit Mitte der siebziger Jahre veröffentlicht und bieten vielleicht erste naturwissenschaftlich fundierte Erklärungsansätze für psycho­thera­peutische Prozesse, in denen menschliches Erleben nicht allein auf die Summe seiner Funktionsabläufe reduziert wird. Insbesondere aber geben sie Anstöße für ein erweitertes Verständnis von Psychotherapieforschung.

ROSENBERG hat in seiner Dissertation(3) die theoretischen Grundlagen unseres modifizierten Verfahrens der Primärtherapie A. Janovs bereits ausgeführt, so dass ich mich in meiner Arbeit ausschließlich darauf beschränken werde, darzustellen, wie wir das Verfahren an unsere Patienten weitervermittelten.

Verschiedene andere psychotherapeutische Verfahren wie etwa Bioenergetik(4) , Focusing(5) oder Katathymes Bilderleben(6) benutzen stellenweise ähnliche Techniken, wie sie auch von uns gefunden wurden. Bedauerlicherweise verwenden verschiedene Autoren sehr viel mehr Zeit darauf, das Trennende zwischen den verschiedenen Methoden hervorzuheben, statt die Gemein­sam­keiten herauszuarbeiten. Der Vergleich unseres Vorgehens mit dem anderer Therapieformen ist allerdings nicht Gegenstand dieser Arbeit und muss an anderer Stelle nachgeholt werden.

Zu unserem großen Bedauern war uns GÖRRES' Aufsatz: "Sinn und Grenzen biographischer Methoden in der Psychosomatischen Medizin" erst im letzten Jahr zugänglich. Seine Hinweise über die Bedeutung der freien Assoziation, die letztendlich dazu geeignet scheint, Erkenntnisse beim Patienten herbeizuführen, die keiner Deutung durch einen Therapeuten mehr bedürfen, sind richtungweisend.

3)  Rosenberg, Wolfgang Erlend : Theoretische Grundlagen einer Weiterentwicklung der Primärtherapie nach Arthur Janov, München 1987.
     detopia-2022:   https://d-nb.info/890292744  168 Seiten, Dissertation an der Technischen Universität München.

4)  Lowen, A., 1988     5)  Gendlin, E.T., 1984
6)  Launer, H., 1987  in: Jahrbuch für Psychologie, Psychotherapie und medizinische Anthropologie, 11. Jahrgang Heft 3/4, 1964: 319- 341

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Viele der Implikationen, die JANOV später in einem nur unzureichend abgestützten Theoriemodell unter­zubringen versuchte, wurden von GÖRRES in diesem Aufsatz in ihrer Bedeutung erkannt und beschrieben: 

"Für die Vertiefung und Verfeinerung der Anamnese ist das Verfahren der freien Assoziation, bei dem man von aller Theorie und von aller willkürlichen Deutung absehen kann, ein überlegenes und einzigartiges Hilfsmittel. Es leistet nicht nur mehr als die biographische Anamnese, sondern ist auch der hypnotischen Exploration in der Aufdeckung weit zurück­liegender und verdrängter Erlebnisse mindestens gleichwertig.

Es übertrifft beide, weil es die Gedächtnisstrukturen, die gehemmtem Gefühls- und Antriebsbereiche so lockert, dass auch tief versunkene Erinnerungen und Phantasien, gehemmte Erlebniskeime, behinderte Erlebnis­möglichkeiten sich entfalten können. Die Methode liefert ein reiches und differenziertes Erinnerungs­material für die dem Symptomausbruch jeweils vorausgehenden Zeiten, das durch Einfälle aus früheren Situationen beleuchtet und in seinem Sinn akzentuiert wird, bis in günstigen Fall der Patient selbst in einem Aha-Erlebnis nachträglich versteht, was ihn betroffen und verwundet hat, ohne dass er helfender Deutungen bedurft hätte." (Seite 328, kursiv von S.Michel)

An anderer Stelle schreibt GÖRRES: "Die Methode des freien Einfalls ist vor allem ein Weg zur Gefühls­entfaltung." (8: A Görres, A., 1958: 270)

Für unser Vorgehen sind diese Überlegungen deshalb so wichtig, weil hinter dem spontanen Ablauf solcher er­kennt­nis­gewinnender Prozesse biologische Selbstheilungsmöglichkelten vermutet werden dürfen, die die Entwicklung eines therapeuten­unabhängigen Therapieverfahrens überhaupt erst erlauben. Wenn Patienten mit einem solches Verfahren die für den Erkenntnis­gewinn zentralen Bedeutungsmuster selbständig herausarbeiten können, so müssen theoretische Erklärungsansätze für das Zustandekommen psychischer Störungen im psycho­therapeutischen Prozess nicht mehr herangezogen zu werden. Sie behalten aber nach wie vor im Rahmen der Stressforschung, die angewandt immer einen präventiv wirksamen Charakter hat, ihre Bedeutung.

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Dr. Sigrid Michel  - Primärtherapie zur Selbstanwendung - Darstellung eines modifizierten psychotherapeutischen Verfahrens nach der Primärtherapie Arthur Janovs  - Dissertation 1988