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IV   Darstellung des Therapieverfahrens  

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   Erste Einzelsitzung - Gefühle und Erinnerungsbilder  

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Die bewusste Wahrnehmung von Körperempfindungen ist eine wesentliche Voraussetzung für den primär­thera­peutischen Prozess. Körperempfindungen markieren jeweils diejenigen Episoden einer Biographie, die von besonderer subjektiver Betroffenheit gekennzeichnet waren.11,12) Ein Beispiel dafür liefern peinliche Ereignisse, deren Erinnerung noch Jahre danach Affekte auslöst.

Wir begannen also die erste Einzelsitzung jeweils damit, dass wir demonstrierten, was im Sinne der Primär­therapie unter dem Begriff des Fühlens zu verstehen sei. Im alltäglichen Sprachgebrauch ist es üblich, Sätze zu formulieren wie: "Ich fühle, dass Du mich nicht leiden kannst. Oder: "Ich habe das Gefühl, dass es noch lange dauern wird, bis wir bedient werden.", etc.

In Sätzen solcher Art wird aber eigentlich nicht ein Gefühl formuliert, sondern es werden Vermutungen geäußert, die eher den sprachlichen Ausdruck eines Gedankens darstellen. Wahrnehmung der Veränderungen von körperlichen Empfindungen und Gefühlen im weiteren Sinne13) werden darin nicht präzisiert.

Worte wie Fühlen, Spüren, Emotion, Empfindung, Wahrnehmung, Affekt sind weder in der Umgangs­sprache noch in der wissenschaftlichen Literatur immer eindeutig von einander abgegrenzt. Deshalb haben wir uns mit den Patienten darauf verständigt, körperliche Wahrnehmungen, und zwar solche, die gemeinhin als Körper­gefühle bezeichnet werden, innerhalb der Primärtherapie Gefühle zu nennen. Selbstverständlich ist eine solche Definition angreifbar. Sie hat sich aber in Bezug auf die Vermittlung der einzelnen Schritte dieses therap­eutischen Verfahrens als zweckmäßig erwiesen und stimmt auch mit der Auffassung JANOVS überein.14,15)

Um den Patienten zu demonstrieren, was im Sinne unseres Verfahrens unter Fühlen zu verstehen sei, baten wir sie, sich einem kleinen Experiment zu unterziehen. Wir forderten sie auf, die Augen zu schließen. Danach nahmen wir den linken Arm des Patienten und führten seine Hand in eine Position oberhalb des Scheitels. In dieser Position sollte der Patient die Hand bei geschlossenen Augen belassen und beschreiben, in welcher Entfernung sich seine Hand vom Kopf befand. Alle Patienten konnten sehr präzise, teilweise auf den Zentimeter genau, Angaben über die Stellung ihrer Hand im Raum und im Verhältnis zum Kopf machen.

11)  Janov, A. , 1973: 20, 33ff, 40 
12)  Rosenberg, W.E., 1987: 14, 48f, 90  
13)  Ewert, O., (in: Drewer/Fröhlich Hrsg.) 1968, 1972: 115  
14)  Janov, A., 1973: 63 
15)  Janov, A., 1981: 15  


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Anschließend forderten wir die Patienten auf, die Augen wieder zu öffnen, um selbst ihre Schätzung überprüfen zu können. An dieser Stelle fragten wir, woher sie wissen konnten, wo sich ihr Arm befindet. Sie hätten es ja nicht gesehen. Die Patienten waren meist überrascht und von der Frage fasziniert.

Es scheint einem gesunden, erwachsenen Menschen so selbstverständlich zu sein, bei geschlossenen Augen Angaben über die Stellung seiner Gliedmaßen im Raum machen zu können. dass offenbar die wenigsten darüber nachdenken, worauf sich diese Fähigkeit gründet. Fast alle aber konnten auch über die Erfahrung berichten, dass unter bestimmten Umständen eine Fehleinschätzung zustande kommen kann; wenn z.B. ein Arm "eingeschlafen" ist und sich beim Liegenden in einer Position oberhalb des Kopfes befindet, wo er nicht gesehen werden kann, muss er in einer solchen Situation regelrecht gesucht werden.

Um unseren Patienten zu helfen, ihre Körperempfindungen zu differenzieren, forderten wir sie auf, diese so exakt wie möglich zu beschreiben. Sie sollten dazu wertneutrale physikalische Begriffe wie warm, kalt, Druck etc. verwenden und auf bewertende Ausdrücke verzichten.

Hierdurch versuchen wir zu verhindern, dass bestimmte Empfindungen bestimmten Erwartungen zugeordnet werden. Nach unserer Beobachtung können nämlich solche Empfindungen von ganz anderen als den erwarteten Verknüpfungen begleitet sein, wenn sie im Kontext biographischer Episoden gesehen werden.
(Diese Beobachtung entspricht am besten dem Phänomen der sogenannten "Belohnungs­erwartung", die in der Ethologie beschrieben wird und die zu sogenannten "Suchbildern" führen soll, nach denen ein bestimmtes Ziel verfolgt werden kann.)
16)

Erst im nächsten Schritt sollten sie dann formulieren, wie sie die mit diesen Empfindungen verbundenen affektiven Gefühlsanteile benennen würden. Die Patienten konnten also beispielsweise sagen: "Meine Schultern sind eingezogen. Ich atme flach. Meine Mundwinkel hängen herunter. Ich erlebe dies als Gefühl der Trauer."

Wir informierten die Patienten in diesem Zusammenhang darüber, dass Untersuchungen an Quer­schnitts­gelähmten ergeben hatten, dass diese zwar "wussten", dass sie sich in einem bestimmten Moment freuten oder traurig waren, gleichzeitig aber wenig affektive Reaktionen zeigten. Als Erklärung dafür wird die Tatsache herangezogen, dass der entsprechende körperliche Ausdruck dieser Emotionen von den Betroffenen nicht mehr wahrgenommen werden kann und in der Folge bei ihnen eine gewisse Gleichgültigkeit auftritt.17)

16)  Hinde, R. A., 1987: 149 ff, 514 ff  


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Schildert eine Person einer anderen Person ihre Körpergefühle in der oben angegebenen Art und Weise, so kann der Zuhörer alleine aus dieser Beschreibung Rückschlüsse auf die Stimmungslage seines Gegenübers ziehen, ohne dass jener noch besonders erklären muss, dass er im Moment traurig ist, da er sie mit seiner eigenen Erfahrung vergleichen kann. Bei bestimmten Völkerstämmen Afrikas ist diese Art, seine Befindlichkeit darzustellen, allgemein üblich.18)

Dass man über das Nachstellen von Körperhaltungen und von Mimik Rückschlüsse auf die Stimmung eines Menschen ziehen kann, ist eine allgemein bekannte Tatsache, die man sich sowohl beim Theaterspielen als auch zu therapeutischen Zwecken im Rollenspiel oder im Psychodrama19) zunutze machen kann. Die human-ethologische Forschung bemüht sich derzeit mit Hilfe computergestützter Mimik- und Gestikanalysen um Aufklärung der Wirkmechanismen dieses Phänomens.20)

Zum besseren Verständnis klärten wir die Patienten an dieser Stelle über die einzelnen Hautsinne, gegliedert nach Rezeptoren für Druck, Vibration, Wärme, Kälte und Schmerz, sowie über die Rezeptoren des propriozeptiven Systems auf. Wir stellten dar, dass unsere Fühlfähigkeit auf dem Vorhandensein solcher Rezeptoren basiert. Auch die Tatsache, dass andere Spezies über Sinne verfügen, die dem Menschen nicht zur Verfügung stehen, wurde von uns erwähnt.

Im Weiteren erörterten wir mit den Patienten bestimmte unklare Sprachgewohnheiten. So ist es durchaus üblich zu sagen: "Ich fühle, dass ich rot werde." Tatsächlich kann jemand aber nur fühlen, wie ihm warm wird, das Rotwerden selbst hingegen kann man nur sehen.

Um zu demonstrieren, dass es auch möglich ist, aktuelle Wahrnehmungen mit Empfindungen und Eindrücken, an die man sich erinnert, zu vergleichen, fragten wir die Patienten, ob in diesem Moment auf einem Ihrer Ohrläppchen eine Fliege krabbele. Die Patienten konnten dann beispielsweise antworten: "Ich weiß, dass in diesem Augenblick keine Fliege auf meinem Ohrläppchen krabbelt. Sonst würde ich es spüren." Sie konnten beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn sich ein kleines Insekt auf ihrer Haut bewegt. Sie verglichen also, um unsere Frage beantworten zu können, die Ist-Situation der Sinneseindrücke einer bestimmten Region ihres Körpers mit einer im Gedächtnis gespeicherten Sinneserfahrung.

17)  vergl. Hohmann, G. W., zit. n. Birbaumer, N., 1973: 148 
18)  Schostak, M., 1982: 21, 47, 204  
19)  Moreno, J. L., 1973  
20)  vergl. Eibl-Eibelsfeldt, 1. 1984: 201-206, 566-585


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Die Fähigkeit, aktuelle Gefühlseindrücke mit solchen zurückliegender Situationen vergleichen zu können, ist für unser therapeutisches Verfahren von großer Bedeutung. Sie ermöglicht die Trennung und Zuordnung sich ähnelnder biographischer Vorfälle und hilft daher, Generalisierungen aufzulösen und die Fakten in ihren realen Zusammenhang zu stellen.

Deswegen ließen wir die Patienten ihre Empfindungen stets so präzise wie möglich beschreiben. Sie sollten versuchen, ihre Empfindungen genau zu benennen, wenn sie sich selbst als fröhlich, traurig, hungrig, zufrieden usw. erlebten. Dabei legten wir Wert auf die Differenzierung der daran beteiligten Muskelgruppen, auf Atemfrequenz und -tiefe und auf Wärme- und Kälteempfindungen. Zuerst sollten sie Ihren Körperzustand genau beschreiben und ihn erst danach bewerten. Sie sollten also beispielsweise sagen: ,,Ich habe kalte Hände. Meine Schultern sind angezogen und angespannt. Mein Herz klopft schnell. Meine Atmung ist flacher als normal. Ich habe Angst."

Alle Patienten konnten ohne große Schwierigkeiten unterschiedliche Gefühlszustände gegeneinander abgrenzen und differenzieren. Wenn es einzelnen nicht auf Anhieb gelang, so forderten wir sie auf, so grob voneinander unterscheidbare Zustände wie Angst oder Freude zu beschreiben.

Allerdings bereitete es einigen Patienten Schwierigkeiten, Gefühlszustände zu schildern, ohne sie zugleich zu bewerten. Sie sagten zum Beispiel: "Dies ist ein angenehmes Gefühl", anstatt zu beschreiben, welchen Gefühlszustand sie als angenehm bezeichneten. Ihnen bereitete die nüchterne Herangehensweise an ihre Gefühle Verlustängste, die sich allerdings bei näherer Kenntnis als unbegründet erwiesen. 

Die sachliche Beschreibung einer Gefühlswahrnehmung beeinflusst nicht deren subjektiv erlebte Qualität.

Um das bisher Gelernte zu festigen, empfahlen wir den Patienten, sie sollten, wann immer sie im Laufe eines Tages die Gelegenheit dazu fänden, versuchen, sich ihre jeweiligen Körpergefühle von Kopf bis Fuß klar zu machen und sie auch zu beschreiben. Diese Übung hat sich besonders bei solchen Patienten bewährt, die von sich sagen: "Ich kann nicht mehr fühlen", oder: "Ich weiß nicht mehr genau, wer ich bin. Ich erlebe mich in verschiedenen Situationen nicht als die gleiche Person." 

Solche Patienten konnten schon über die bewusste Wahrnehmung ihrer Körpergefühle allein einen Teil der von Ihnen genannten Probleme verringern. Ergänzend zu diesem Komplex diskutierten wir mit den Patienten die Tatsache, dass nur ein sehr geringer Teil der Informationen, die das Gehirn zu einer bestimmten Zeiteinheit erreichen, auch gleichzeitig der bewussten Wahrnehmung zugänglich gemacht wird.21 

21)  Silbernagl, S. Despopoulos. A., 1979: 254f, 274f 


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Dazu führten wir ein Beispiel an: Jemand ist in ein sehr intensives Gespräch mit seinem Gegenüber vertieft. Er achtet während dieser Zelt überhaupt nicht auf seine Kleidung. Würde diese Person aber von einem Augenblick zum anderen beispielsweise ohne einen Ärmel ihres Pullovers dasitzen und wäre ansonsten unverändert gekleidet, so würde sie dies sehr wohl sofort bemerken. Ein analoges Beispiel ist sehr geläufig: Steht eine Person in einem Raum, in dem sich sehr viele Menschen miteinander unterhalten, so werden die einzelnen gesprochenen Worte und Sätze der Umstehenden nicht bewusst zur Kenntnis genommen. Fällt aber zufällig der Eigenname dieses Menschen, so wird er sofort hellhörig. Dies weist darauf hin, dass Informationen aus der Umgebung vorbewusst ständig wahrgenommen und wahrscheinlich selektiv eliminiert werden; ein in der Psychologie bekanntes Phänomen.22)

Worauf nun die bewusste Aufmerksamkeit gerichtet wird, hängt unter anderem von der aktuellen Interessen­lage des Betroffenen ab. An vielen unserer Patienten konnten wir beobachten, dass in ihren Berichten gefühlsmäßige Anteile des Erlebens hinter abstrahierten kognitiven Inhalten zurücktraten. Dies kann zum einen durch Erziehungseinflüsse bedingt sein, durch die sie dazu gebracht wurden, ihre Bedürfnisse zugunsten objektiver Anforderungen zu Ignorieren. Zum anderen hilft Denken offenbar, unangenehme Gefühlszustände nicht wahrnehmen zu müssen. Jedenfalls beschrieben einige Patienten, dass sie immer dann, wenn sie bestimmte, seit Jahren bestehende, muskuläre Verspannungen spürten, sofort wieder zu denken begannen, anstatt sich auf ihr Gefühl einzulassen.

Neben der Fähigkeit, Körpergefühle differenziert wahrzunehmen, ist das Vermögen, sich an zurückliegende Ereignisse präzise erinnern zu können, ein weiterer zentraler Bestandteil des primärtherapeutischen Prozesses. Erinnerung hat darin die Funktion, bestimmte Gefühle und Verhaltensweisen in ihren biographischen Kontext einzufügen und damit einer Neueinschätzung zugänglich zu machen.23,24)

Mit Hilfe einer von uns speziell zu diesem Zweck entwickelten Technik ist es möglich, sich relativ problemlos auch an weit zurückliegende Ereignisse zu erinnern. Diese Technik lässt sich am besten an einem Modell darstellen, das wir den Patienten In der folgenden Weise demonstrierten: Sie sollten zunächst versuchen, sich einen Weihnachtsbaum vorzustellen. Wir benutzten dieses Sujet deshalb, weil Weihnachtsbäume für die meisten Menschen unseres Kulturkreises emotional angenehm besetzt sind und wir damit weitere Erinnerungsschritte leichter zugänglich machen konnten. 

22)  Buser K.; Kaul, U., (Hrsg.) 1978:70f
23)  Lazarus, R.S. 1968, zit. n. Birbaumer, N., 1973:171
24)  Rosenberg, W.E., 1987: 139- 145


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Wir fragten die Patienten, was für einen Weihnachtsbaum sie sich gerade vorstellten. Gaben sie dann an, ihnen seien nacheinander verschiedene Weihnachtsbäume eingefallen, so forderten wir sie auf, einen davon herauszugreifen und zu beschreiben. Wir fragten: "Wie sieht der Baum aus? Ist der Baum als Ganzes oder nur in einem Ausschnitt zu erkennen. Handelt es sich bei dem Baum um eine Tanne oder ein Fichte? Ist der Baum geschmückt? Wie sieht der Christbaumschmuck aus? Brennen die Kerzen am Baum? Haben sie schon einmal gebrannt?" 

Damit die Patienten sich leichter auf das Bild in ihrer Vorstellung konzentrieren konnten, empfahlen wir ihnen, die Augen geschlossen zu halten. Waren sie dann in der Lage, diese oder ähnliche Fragen zu beantworten, so gingen wir einen Schritt weiter und fragten, ob es ihnen möglich sei anzugeben, aus welcher Entfernung und Perspektive sie den Baum sähen. Wir fragten nach dem Licht im Raum, ließen uns den Weihnachtsbaum von der Spitze bis zum Boden beschreiben und erkundigten uns dann weiter: "Was ist hinter, neben, vor dem Baum?" Mit Hilfe dieser Fragen, war es möglich, das Umfeld, in dem der Baum gesehen worden war, immer weiter zu erschließen. Dazu kamen auch Fragen nach dem, was die Patienten in diesem Zusammenhang an akustischen, osmischen und haptischen* Eindrücken abrufen konnten.

Wir fragten danach, ob sie von ihrem Körpergefühl her darüber Auskunft geben könnten, welche Art von Kleidern sie in der entsprechenden Situation gerade trugen. Manchen Patienten ist diese Vorgehensweise leicht zugänglich, andere tun sich etwas schwerer damit. Doch kein einziger der von uns behandelten Patienten konnte sich überhaupt keine Vorstellungen machen.

Teilweise erinnerten sich die Patienten auf Anhieb gut und erzählten beispielsweise: "Ich stehe (in meiner Erinnerung) gerade vor dem Weihnachtsbaum in unserem Wohnzimmer zu Hause. Ich weiß, dass ich ein Kleid und Kniestrümpfe anhabe. Meine Haare sind zu Zöpfen geflochten. Ich kann den Duft von Lebkuchen riechen. Ich höre, dass im Radio Weihnachtslieder gespielt werden." Selbst auf unsere Frage, welches Lied denn da gerade gespielt würde, konnte dann schmunzelnd zur Antwort gegeben werden: "Kling Glöckchen, klingelingeling."

Die Patienten sollten nicht versuchen und sich vor allen Dingen nicht dazu zwingen, sich an Dinge zu erinnern, die ihnen nicht spontan zugänglich waren. Dies war uns deshalb besonders wichtig, weil in der Primärtherapie solche Bilder und Eindrücke als konkrete Erinnerungen und nicht als Symbole aufgefasst werden. Falls sie den Eindruck hatten, sie würden zu wirklichen Erinnerungen einzelne Elemente dazuerfinden, so sollten sie sich dies klarmachen. 

* (d-2005:)  osmisch = .... ; haptisch = ....


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Tatsächlich sagten viele Patienten: "Ich habe den Eindruck, dass ich mir etwas dazudichte. Ich bin mir nicht sicher, ob alles wirklich so war." Wir erklärten, dass es offenbar einem grundlegenden menschlichen Bedürfnis (Kausalbedürfnis)25) entspräche, Erinnerungslücken mit logischen Überlegungen zu überbrücken.

*

Neuropsychologische Untersuchungen aus der jüngsten Zelt geben Hinweise darauf, dass dies eine spezielle Funktion der sprachbegabten linken Gehirnhemisphäre sein könnte.26 Die Patienten sollten nun nicht versuchen, solche Klitterungen sofort zu korrigieren, sondern sie nur registrieren und unterscheiden, wo ihrer Wahrnehmung nach wirkliche Erinnerungen vorlagen und wo sie sich darüber unsicher waren. Wenn sich in einem Bild Elemente aus verschiedenen Episoden miteinander vermischen, so ist es möglich, diese einzelnen Anteile zu entwirren und in einem geduldigen Prozess verschiedenen realen Ereignissen zuzuordnen.

Wenn aber der Therapeut oder der Patient auf eine sofortige "richtige" Erinnerung drängen, wird diese Möglichkeit eher blockiert.27) Natürlich kann sich ein Patient auch an die Abbildung eines Weihnachts­baumes in einem Kinderbuch oder im Fernsehen erinnern. Eine Fragetechnik, wie die oben beschriebene, würde jedoch auch eine Situation aufklären können, bei der ein Erwachsener im Hochsommer an einem heißen Tag im Schwimmbad auf dem Bauch auf einer Wiese liegend, die Abbildung eines Weihnachtsbaumes in einer Illustrierten betrachtet.

Die Patienten sollen das beschreiben, an das sie sich wirklich erinnern und nicht ein Erinnerungsbild entsprechend bestimmter Erwartungen und Vermutungen beurteilen. Also nicht nach der Art interpretieren: "Wenn ich einen Weihnachtsbaum sehe, dann kann ich nicht gleichzeitig Kindergeschrei im Schwimmbad hören, denn das passt nicht zusammen." Wir ermutigten die Patienten dazu zu beschreiben, was sie wirklich sahen, auch wenn sie die Einzelheiten nicht sofort erklären oder zuordnen konnten.

Um ihnen das Erinnern zu erleichtern, rieten wir ihnen, sich zu den Erinnerungsbildern orientierende Fragen zu stellen. Beispielsweise: "Was sehe ich? Wie sieht es aus? Worauf steht es? Was befindet sich dahinter oder darunter? Woher kommt das Licht? Welche Temperatur herrscht? Wann fand dieses Ereignis statt?"

Mit dieser Art von Fragetechnik ist es möglich, sich nach und nach viele Einzelheiten eines Erinnerungs­bildes, von dem man sich anfänglich nur an einen kleinen Ausschnitt erinnerte, zu erschließen. Man könnte das mit dem Effekt vergleichen, der entsteht, wenn man die Blende einer Kamera öffnet und nach und nach immer weitere Teile eines Bildes sichtbar werden. 

25)  Humne. D. 1748 (Neuauflage 1967)
26)  Gazzaniga, M.S.. Le Doux, J.E., 1983: 114 ff
27)  Lorenz, K.., 1965: 294 f


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Die Patienten sollten alle Fragen stellen, die dazu geeignet sind, eine Situation in ihren Einzelheiten zu beschreiben. Nur auf die Frage: "Warum?" sollten sie verzichten, weil diese Frage dazu anregt, eine Situation an Erwartungen anzupassen und nach einer Zielvorstellung auszurichten." Damit wird unter Umständen der unmittelbare Eindruck des Erinnerungsbildes verfälscht und unversehens werden Ergänzungen vorgenommen, die logischen Überlegungen entspringen, aber oft nicht die Situation wiedergeben, so wie sie tatsächlich war. In jedem Fall wird über solche Erklärungsversuche auf ein präzises Abrufen von Körpergefühlen, die der Patient seinerzeit empfunden hat, verzichtet.

Ferner schlugen wir den Patienten vor zu sagen: "Ich befinde mich gerade (gemeint ist damit: In meiner Erinnerung befinde ich mich gerade....) auf einer grünen Wiese. Ich laufe barfuss. Ich spüre das feuchte Gras zwischen meinen Zehen." Diese bewusst vorgenommene sprachliche Verlagerung in die Gegenwart, dient dazu, die Plastizität der Erinnerung zu verbessern.

Um nun demonstrieren zu können, wie Körperempfindungen und Affekte diejenigen Ausschnitte erinnerter Episoden markieren, die aktuell noch von Bedeutung sind (s.o.), beobachteten wir zunächst, wie sich Mimik, Gestik und Phonetik unserer Patienten während der Beschreibung der Situation, in der ein Weihnachtsbaum vorkam, veränderte. So mochte ein Patient bei der Schilderung eines Rauschgoldengels, der an der Baumspitze befestigt war, lächeln; bei der Beschreibung eines altmodischen Radios, weiches neben dem Weihnachtsbaum auf einem Schränkchen stand, abschätzig die Mundwinkel verziehen und bei der Empfindung seines kratzigen Rollkragenpullovers eine abwehrende Kopfbewegung machen. 

Wir wiesen die Patienten auf solche verschiedenen uns sichtbar gewordenen Regungen hin, die sie während ihrer Beschreibung zum Ausdruck gebracht hatten und fragten sie, ob sie jeweils selbst bemerkt hätten, an welcher Stelle sie gelächelt, oder andere Gefühle gezeigt hatten. Wir veranlassten sie, sich den Gegenstand, der ein Lächeln bei ihnen hervorgerufen hatte, noch einmal "anzusehen". Das gleiche sollten sie auch mit einem zweiten Gegenstand tun, durch den ein anderes Gefühl bei ihnen ausgelöst worden war. Vergegenwärtigten sich die Patienten den einen Gegenstand, so lächelten sie meist wieder, blickten sie auf den anderen, dann veränderten sich ihre Gesichtszüge in der zuvor beschriebenen Weise. 

Dieser Wechsel der Gefühle mit dem Wechsel der damit verbundenen Bilder ließ sich beliebig oft wieder­holen. Wir wiesen die Patienten auf die Wichtigkeit hin, auch subtile Veränderungen von Körpergefühlen zur Kenntnis zu nehmen, da durch sie der Vektor des therapeutischen Geschehens bestimmt wird.

28)  Spaemann, R.; Löw, R., 1985: 15-23  


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Subjektiv ist es gleichsam so, als würden an bestimmten Gegenständen bestimmte Gefühle "kleben". Selbst nach Wochen und Monaten lassen sich solche Szenen mit den damit konditionierten Gefühlseindrücken zur Überraschung der Patienten reproduzieren. Erinnerten sie sich an ein Bild, welches sie in der ersten Sitzung beschrieben hatten und sahen aus der gleichen Perspektive denselben Gegenstand wieder, so lächelten sie auch wieder an derselben Stelle. Dies geschah unabhängig davon, ob die Gefühlsregung mit ihrer aktuellen emotionalen Lage übereinstimmte oder nicht. Selbst in einem weinenden Patienten ruft die Erinnerung an eine positive Stimmung, solange er sich in dieser Erinnerung aufhält, die gleiche positive Gestimmtheit wie seinerzeit hervor.

Viele Patienten hatten angegeben, sie seien nicht mehr imstande, sich ihrer Kindheit oder frühen Schulzeit zu entsinnen. Als dritten Schritt in der ersten Sitzung unterwiesen wir daher die Patienten in der von uns entwickelten, speziellen Technik, sich an beliebige zurückliegende Lebensabschnitte zu erinnern. Viele Patienten bezweifelten zunächst, dass es möglich sein sollte, sich ohne weiteres an frühe Episoden Ihres Lebens erinnern zu können.

Wir begannen daraufhin mit der Frage, ob sie noch ungefähr wüssten, wo sie zu einer bestimmten Zelt gewohnt hätten, in welchem Ort, in welchem Haus, oder ob sie sich vielleicht daran erinnern könnten, in welche Schule sie gegangen seien. Ausnahmslos alle Patienten konnten sich nun, ausgelöst durch unsere detaillierten Fragen, an irgendeine Einzelheit aus jener Zeit erinnern. Entweder an einen Ausschnitt aus der Wohnung, in der die Familie seinerzeit gelebt hatte, an die Eintrittspforte des Schulhofe oder an die Theke des Bäckerladens, wo sie als Kinder Himbeerbonbons kauften. Die Erinnerung wird umso lebendiger, je mehr scheinbar triviale Einzelheiten vergegenwärtigt werden. Die meisten Patienten konnten z.B. die Bewegung vormachen, mit der man einen Schulranzen vom Rücken nimmt, obwohl gerade bei älteren Patienten schon einige Jahrzehnte vergangen waren, seitdem sie das letzte Mal einen Ranzen getragen hatten. 

Sobald einem Patienten ein Detail aus einem zurückliegenden Lebensabschnitt eingefallen war, empfahlen wir ihm, mit diesem Erinnerungsbild so zu verfahren, wie er es vorher mit dem Bild des Weihnachtsbaumes gelernt hatte. Er sollte wieder bestimmen, aus welcher Perspektive er auf einen Ausschnitt der betreffenden Situation blickte. Er sollte sagen, um welche Tageszeit es sich darin gerade handelte, ob er wisse, welche Kleidung er trug usw. 


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Wenn ein Patient sich beispielsweise an den Eingang zu seinem Schulhof erinnern konnte, so fragten wir, ob er sich dabei in einer Position innerhalb oder außerhalb des Hofes befände und ob dort Kinder zu sehen seien. Die meisten Patienten fügten dann zwanglos weitere Einzelheiten hinzu. Beispielsweise konnten sie sich plötzlich wieder an Abschnitte des Schulweges, das Innere eines Klassenzimmers, den Geruch des Schulflures oder die Kleiderhaken an den Wänden erinnern. All dies fiel ihnen unerwartet leicht. Beschrieben sie etwa die Garderobenhaken im Schulflur, so konnten sie auch angeben, welche Kleidungsstücke an diesen Haken hingen und dass "der Anorak mit den angestrickten Bündchen Rosemarie gehört." - Rosemarie erwies sich dann auf Nachfragen als eine Mitschülern aus der zweiten Klasse, die jahrzehntelang in Vergessenheit geraten war.

Die Patienten wurden von uns instruiert, nicht irgendwelche Details dazuzuerfinden, wenn ihnen bestimmte Einzelheiten aus zurückliegenden Situationen nicht gleich einfallen wollten. Sie sollten dies nur registrieren.

Die Fülle von Erinnerungen, welche die Patienten auf diese Weise abrufen konnten, war ungewöhnlich groß. Fast allen machte es Freude, gewisse, längst vergessene, scheinbar unbedeutende Einzelheiten wiederzuentdecken.

Die Detailtreue dieser Erinnerungen versetzte die Patienten oft in Erstaunen. Aber hierdurch erhielten sie auch einen Hinweis darauf, mit welchem methodischen Vorgehen Erinnerungen aus einer bestimmten Zeit vor dem inneren Auge wieder entstehen können. Gerade weil wir die Patienten nach scheinbar unbedeutenden Einzelheiten fragten, erschloss sich dieser reichhaltige Strom von Erinnerungen.

Das Haupthindernis bei dem Versuch sich zu erinnern, scheint für Erwachsene darin zu liegen, dass sie versuchen, zurückliegende Situationen aus ihrer heutigen Sicht anzusehen. So können sie sagen: "Meine Schulzeit war schrecklich", oder: "Ich war ein ungeliebtes Kind. An Genaueres kann ich mich aber nicht mehr erinnern." 

Spricht man diese Erwachsenen nun auf solch "unbedeutende" Einzelheiten wie beispielsweise Farbe und Geschmack bestimmter Bonbons an, so kommt der Fluss der Erinnerungen sehr viel leichter und ungehemmter in Gang. Die Situationen werden dann mit der gleichen Bedeutung und aus der gleichen Perspektive gesehen, in der sie seinerzeit als Kind erlebt worden waren.

Dass Kinder sich eine Fülle von Details merken können, die einem Erwachsenen leicht entgehen, ist eine bekannte Tatsache. So sind sie im Kindergartenalter Erwachsenen im "Memory"-Spielen (einem Kartenspiel bei dem es um die beste Gedächtnisleitung geht) haushoch überlegen.29)

Wenn also in einem therapeutischen Verfahren Geschehnisse aus der Kindheit wieder in Erinnerung gebracht werden sollen. so ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass für Kinder andere Dinge von

29)  Oerter, R., 1972:


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Bedeutung sind und Geschehnisse unter Umständen anders eingeordnet und bewertet werden, als dies von Erwachsenen getan würde. Fragten wir Patienten danach, wie sie als kleines Kind die Wohnungstür zu Hause geöffnet hatten, dann führten sie ihre Hand unter Umständen über Kopfeshöhe, um zu demonstrieren, wie sie die Klinke heruntergezogen (nicht gedrückt) hatten. Das heißt: die Patienten führten in der Sitzung spontan Bewegungen aus, wie sie sie als Kind machen mussten, um eine Tür zu öffnen.

Interessanterweise fielen ihnen auch bestimmte Worte nicht ein, welche sie sonst selbstverständlich zur Verfügung hatten, wenn sie sich gerade an Situationen aus der frühen Kindheit erinnerten. So benutzten dann viele Patienten bei der Beschreibung eines Gegenstandes ihre Hände. Oder ein Patient sagte: "Dieses Ding ging immer nicht zu." Dabei machte er eine Bewegung, als ob er den Reißverschluss einer Jacke schließen wollte. Offenbar werden die Informationen aus einer bestimmten Zeit nicht nur gemeinsam mit den damaligen Körpergefühlen. sondern auch mit den Bewegungsmustern und dem Leistungsvermögen der damaligen Zeit zurückgerufen. Kindern, die in einem bestimmten Alter noch nicht lesen und schreiben können, prägt sich z.B. der Text auf einem oft angeschauten Plakat als eine Art Muster ein. 

Wenn man sich eine Situation ins Gedächtnis ruft, in der man als Kind, an der Hand seiner Mutter, die sich längere Zeit angeregt mit der Nachbarin unterhielt, derweil aus Langeweile intensiv ein Plakat musterte. wird man erst als Erwachsener in der Lage sein, das "Muster" auf dem Plakat als Schrift zu identifizieren und zu lesen.

Als Übung empfahlen wir den Patienten "in ihren Erinnerungen spazieren zu gehen". Sie sollten sich an alles erinnern, was ihnen zwanglos einfiel, an die unzählbar vielen Alltäglichkeiten. Was befand sich z.B. in den Schubladen des Küchenschranks? Wo lag das Brot? Welche Knöpfe wurden in der Knopfkiste aufbewahrt? Wo stand das Glas mit den roten Himbeerbonbons beim Kaufmann? Woher kamen die Groschen, mit denen diese Bonbons bezahlt wurden?

Diese Herangehensweise hat eine doppelte Funktion: Zum einen können die Patienten eine gewisse Übung darin erlangen, sich zurückliegende Ereignisse leichter ins Gedächtnis zurück zu rufen, zum anderen lassen sich schon viele Einzelheiten zusammentragen, die den Kontext für spezifisch belastende Ereignisse liefern. Nicht wenige Patienten begannen mit der durch die Lektüre der Bücher JANOV's beeinflussten Vorstellung, sie müssten sich nur bestimmter traumatisierender Einzelsituationen in ihrem Leben entsinnen und würden durch solche "Urerlebnisse" zu Erkenntnissen gelangen. Der überwiegende Teil der Patienten stellte sich dabei unter einem Trauma Einflüsse vor, die man üblicherweise als Kindesmisshandlungen bezeichnen würde.


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Beispiele offensichtlicher körperlicher und seelischer Grausamkeiten ihrer Bezugspersonen waren aber in den Berichten unserer Patienten tatsächlich die seltene Ausnahme. Hatten verschiedene Personen gleich­artige Einflüsse erlebt, so führten sie keineswegs bei allen zu den gleichen Auswirkungen, wie etwa dauernden Schädigungen.

Wir versuchten solche Zusammenhänge über ein Beispiel zu erläutern: Bekommen zwei Kinder gleichen Alters eine Ohrfeige, so mag ein Kind, welches körperlich gesund in einer liebevollen. geordneten Umgebung aufwächst und bei seinen Lehrern und Mitschülern beliebt ist, diesen Schlag nur als schmerzhaft und unangenehm erleben. Bei einem anderen Kind, in einer instabilen häuslichen Situation, mit Schulproblemen und einer sich im Prodromalstadium befindenden Infektionskrankheit, mag ein solcher Schlag ins Gesicht in einer Kette von schädigenden Einflüssen zu einer dauerhaften Störung führen. (Dieses Beispiel ist bewusst klischiert gewählt und sollte nicht zu der irrigen Auflassung verleiten, daß nur solche, üblicherweise als unglücklich erachteten, Verhältnisse zu Schädigungen führen.)

Eine erhebliche Anzahl von Patienten konnte gar keine unangenehmen Kindheitserinnerungen vergleichbarer Art reproduzieren. Eine sorglose, gut behütete Kindheit in einer langweiligen Vorstadtsiedlung, in der sich die Mütter um alles kümmern und ein Spielen mit "Schmuddelkindern" nicht mehr verboten zu werden braucht, weil dort solche nicht mehr existieren, kann gleichwohl dauerhafte Störungen hervorrufen.

Möglicherweise werden sie einfach deshalb nicht ohne weiteres als Störungen erkannt, weil ihre Genese in gängigen Psychologiebüchern nicht dargestellt ist. Patienten, die in einer solchen behüteten Umgebung aufgewachsen sind, tendierten während der Therapie oft dazu, ständig nach besonders fürchterlichen, dramatischen Ereignissen in ihrer Vergangenheit zu suchen, anstatt sich mit den vielen monotonen Stunden und Tagen ihrer Kindheit auseinander zusetzen, die ihr späteres Leben dann entscheidend beeinflusst haben. 

Um den Stellenwert bestimmter erinnerter Szenen realistisch einschätzen zu können, muss ein Mensch auch seine damalige Lebensweise, das Klima in dem er aufwuchs, die körperliche Verfassung in der er sich seinerzeit befand, als ein bestimmtes Ereignis geschah, miteinbeziehen. Der Versuch, sich nur an bestimmte, traumatisierende Situationen einer Biographie zu erinnern, wäre über das Leben eines Menschen ähnlich wenig aussagekräftig, wie es die zu Werbezwecken zusammengeklebten Actionszenen eines Filmes sind, wenn er in einer Programmvorschau angekündigt wird.

Wenn Patienten während des Erinnerns auf emotional belastete Episoden stießen, so sollten sie sich nicht weiter mit diesen Situationen beschäftigen.


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Wir fragten statt dessen nach alltäglichen, harmlosen Eindrücken aus der gleichen Lebensspanne. Dies geschah zum einen, weil die Patienten in den Einzelsitzungen die Grundlage des therapeutischen Verfahrens kennen lernen sollten, anstatt mit Hilfe eines Therapeuten belastende Situationen aufzudecken und zu bearbeiten, zum anderen aus der Vorstellung heraus, dass sich der krankheitsbegünstigende Charakter solcher Episoden erst unter Einbeziehung ihres Kontextes erschließt.29

Obwohl wir versuchten, in den ersten Einzelsitzungen emotional belastende Erinnerungen zu vermeiden, produzierten einige Patienten Bilder, in denen sich unterschwellige Affekte in Form einer Spaltung ausdrückten. Sie sagten dann beispielsweise: "Ich sehe mich, wie ich den Gartenweg entlang laufe." 

Auf genaues Nachfragen gaben sie an, sie sähen sich dabei selbst von außen. Eine Patientin beschrieb, sie sähe die ganze Situation aus einer Perspektive, als ob sie in der Luft schwebe und alles von oben betrachten könne. 

Wenn Patienten solche Bilder beschrieben, forderten wir sie auf, den Erinnerungsprozess zu unterbrechen. Wir erklärten ihnen, dass wir eine solche Abspaltung als Ausdruck von Überforderung werten. Es handele sich vermutlich um einen unbeabsichtigt produzierten Artefakt. Selbst bei einer vorsichtigen Herangehens­weise des Therapeuten kann nicht immer genau eingeschätzt werden, ob ein Patient durch die in der Sitzung aufzubringende, vielleicht ungewohnte Konzentrationsleistung nicht überfordert wird, und diese Spaltung Ausdruck dieser Überforderung ist. Wir erklärten den Patienten, dass sie, sollten sie sich zu Hause in Erinnerungsbildern so gespalten erleben, die Therapie in dieser Situation sofort abbrechen und sich ausruhen, beziehungsweise mit etwas anderem beschäftigen sollten.

Wenigen Patienten, die von vorne herein in einer sehr schlechten Verfassung zu uns kamen, empfahlen wir, nicht gleich mit der eigentlichen Therapie zu beginnen. Sie sollten statt dessen zunächst nur ihre Körpergefühle registrieren und ihre aktuellen Bedürfnisse feststellen und umsetzen.

Überforderten Patienten rieten wir stimulierende Substanzen wie Kaffee und Tee für einige Tage zu meiden und erst einmal auszuschlafen. In Einzelfällen verordneten wir auch für einen begrenzten Zeitraum leichte Beruhigungsmittel. Da es kaum sinnvoll ist, einen gestressten Organismus noch zusätzlich durch traurige Kindheitserinnerungen zu belasten, sollten die Patienten sich erst im notwendigen Maße körperlich stabilisieren.

 

30)  Kagan, J., 1984: 110f, zit. n. Zimmer, D.E., 1986: 120 f  


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Damit unterscheidet sich unser Vorgehen in einem entscheidendem Punkt von dem JANOVs, wie er es in seinen ersten Veröffentlichungen zur Primärtherapie dargestellt hat.31 Da unser Therapieverfahren darauf zielt, die Patienten in den Stand zu versetzen, ihre Therapie selbstständig, in einer normalen, ungeschützten Situation, ohne die Anwesenheit eines Therapeuten durchzuführen, legten wir großen Wert darauf, unsere Patienten nicht zu destabilisieren. Im Gegensatz zu JANOV rieten wir ihnen auch nicht, jeglichen Konsum von Genussmitteln, Medikamenten oder Drogen sofort einzustellen.

Dass Zustände von Volltrunkenheit, sehr starker Sedierung durch Schlaf- oder Beruhigungsmittel usw. ein sinnvolles therapeutisches Vorgehen nach diesem Verfahren ausschließen, bleibt davon unberührt. Insofern war unsere Empfehlung an sehr erregte und teilweise verwirrte Patienten, aufputschende Substanzen zu meiden und bei Erschöpfungszuständen erst einmal zur Ruhe zu kommen. Wenn von solchen destabilisierten Patienten in den Sitzungen belastende Anteile angesprochen wurden, (teilweise stellten die Patienten sich in akuten Krisensituationen bei uns vor) so benutzten wir zudeckende Gesprächsformen, um diese Patienten kurzfristig zu entlasten. Wir halten Anweisungen und Eingriffe von Therapeuten, die geeignet sind, Patienten in für diese nicht überschaubarer Weise zu destabilisieren, nicht nur für überflüssig, sondern auch für gefährlich.32) Als wir dieses Verfahren den ersten Patienten vermittelten, waren wir nicht ganz sicher, ob nicht der eine oder andere sich zu Hause in eine kritische Lage hineinmanövrieren würde.

Deshalb blieben wir jeweils über einen Zeitraum von vier Wochen hinweg für die Patienten Tag und Nacht telefonisch erreichbar. Nicht einer der von uns behandelten Patienten bedurfte einer Krisenintervention in dem Zeitraum, In dem er sich das therapeutische Verfahren aneignete. Bei einer Nachuntersuchung (unveröffentlicht) wurde von keinem Patienten berichtet, dass er durch die Anwendung der Therapie in eine kritische Situation geraten sei, in der er fremder Hilfe bedurft hätte. Am Ende der Sitzung rekapitulierten wir mit dem Patienten das Besprochene und fragten, ob sie sich in der Lage sähen, zu Hause ihre Körpergefühle in der eingeübten Art und Weise zu registrieren und zu beschreiben und in ihrer Erinnerung "Spazieren zu Gehen". Dies wurde stets bejaht.

 

31)  Janov, A., 1973: 105  
32)  Rosenberg, W.E., 1987: 11f  


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      Zweite Einzelsitzung      Abwehr    

 

 

Zu Beginn der zweiten Sitzung erhoben wir sehr gründliche Anamnesen hinsichtlich körperlicher Beschwerden und zurückliegender Erkrankungen, unter anderem auf der Grundlage eines Schemas von DAHMER.33) (Etwaige neurologische und psychiatrische Störungen und deren Behandlung waren von uns schon in dem mehrstündigen Vorgespräch erfragt worden, welches vor Beginn der einzelnen Sitzungen stattfand). 

Daran schloss sich eine gründliche klinische Untersuchung an. Ergaben sich hieraus Hinweise auf eine körperliche Erkrankung, so wiesen wir die Patienten an, sich bei entsprechenden Fachärzten zur weiteren Diagnostik und Therapie vorzustellen. Da die Befragung und Untersuchung mit einem erheblichen Zeitaufwand durchgeführt wurde (etwa zwei Stunden pro Patient) konnten wir eine Reihe körperlicher Zufallsbefunde erheben, die zum Teil auch Rückwirkungen auf die psychische Verfassung der Patienten hatten, oder damit in Wechselwirkung standen. Die Befunde erklärten wir den Patienten ausführlich und diskutierten beispielsweise, welche Einflüsse eine chronische Hypotonie oder eine Schilddrüsen­überfunktion auf die Grundstimmung eines Menschen haben können.

Ein Patient, bei dem wir eine Beinlängendifferenz nachweisen konnten, welche dann auf Empfehlung eines Orthopäden durch eine einseitige Erhöhung des Schuhabsatzes korrigiert werden konnte, fand allein schon dadurch, dass er seine chronischen Rückenschmerzen verlor, zu einer erheblichen Steigerung des Wohlbefindens. Die Korrektur wurde in der Folge von diesem Patienten such zum Anlass genommen, die aus seiner Beinlängendifferenz resultierenden Probleme beim Schulsport, in der Tanzstunde und zu den sich daraus entwickelnden Pubertätsproblemen aufzuarbeiten.

Nach Abschluss der Untersuchung knüpften wir an den Inhalt der ersten Sitzung an und fragten die Patienten, ob sie sich in der Zwischenzeit an vergangene Situationen erinnert hätten und ob sie versucht hatten, auf ihre Körpergefühle zu achten. Nur sehr wenige von ihnen hatten keinerlei Schwierigkeiten mit dem bewussten Wahrnehmen oder Beschreiben von Körperempfindungen. Die hauptsächlich vorgetragenen Probleme waren von der Art wie:

"Immer wenn ich mit der Therapie anfangen wollte, fiel mir ein, dass ich noch etwas erledigen musste. — Immer wenn ich mit der Therapie angefangen habe, bin ich eingeschlafen. — Wenn ich versucht habe mich zu erinnern, fing ich fast sofort an nachzugrübeln und dann habe ich keine Bilder mehr gesehen. — Wenn ich versucht habe auf Gefühle zu achten, dann wusste ich nicht, wie ich sie beschreiben konnte. — Wenn ich versucht habe auf meine Gefühle zu achten, so habe ich gemerkt, dass mir der Rücken weh tut, und dann habe ich lieber wieder aufgehört." — Mir fallen keine Bilder ein." 

 

33)  Dahmer, J., 1978: 38f


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Wir versuchten dann mit dem Patienten herauszufinden, bei welchem Gefühl er begonnen hatte zu denken, statt sich weiter Erinnerungsbilder anzusehen. Sie sollten sich jetzt in der Sitzung irgendeine der Erinnerungen, die sie dann durch Denken unterbrochen hatten, ins Gedächtnis zurückrufen. Alternativ konnten sie sich die Gelegenheit vergewärtigen, in denen sie ursprünglich die Therapie anwenden wollten, dann aber doch lieber eine andere Tätigkeit ausgeführt hatten. Wir gingen dabei in der nun schon aus der ersten Sitzung bekannten Frageweise vor. 

Wenn der Patient dann die Situation so präzise und detailliert wie möglich beschrieben hatte, sollte er registrieren, welches Körpergefühl diese Erinnerung begleitet hatte. Die Patienten beschrieben hier meist unangenehme Körpersensationen wie Palpitationen, muskuläre Verspannungen, Engegefühle im Thoraxbereich oder Übelkeit. Genaue Beschreibungen unangenehmer Körpergefühle fielen den Patienten erwartungsgemäß schwerer als beispielsweise die Schilderung der Kleidung, welche sie gerade trugen. 

Der Grund mag darin liegen, dass unangenehme Sensationen natürlicherweise gemieden werden. Obwohl diese Tatsache wahrscheinlich jedermann geläufig ist und als Trivialität gelten kann, sind die daraus resultierenden Konsequenzen für das therapeutische Vorgehen von Bedeutung: Es wird gemeinhin in der wissenschaftlichen Diskussion als gesichert angesehen, dass unangenehme Gefühlszustände, die bewusst wahrgenommen werden, bei einem nichtanästhesierten Individuum zu einem Vermeidungsverhalten führen.34)

Wenn nun also durch Erinnerungen oder Vorstellungen unangenehme Gefühle hervorgerufen werden, so erscheint es sinnvoll, dass Patienten diese Erinnerungen abbrechen, um sich diesen dadurch zu entziehen. Bezüglich der bei uns selbst oder bei unseren Patienten aufgetretenen aversiven Gefühlen, die mit bestimmten Erinnerungen verknüpft waren, können wir nicht entscheiden, ob die dabei von außen registrierbaren Affektäußerungen durch plastische Erinnerung zurückliegender Ereignisse hervorgerufen werden, oder ob es sich dabei um Gefühle handelt, die durch eine aktuelle Bewertung eines zurückliegenden Ereignisses entstehen. Häufig wird im Zusammenhang mit solchen intensiven Erinnerungen von den Patienten der Begriff "Wiedererleben" benutzt. 

Obwohl er dem intensiven, plastischen Eindruck solcher präzisen Erinnerungen am ehesten gerecht zu werden scheint, ist der Ausdruck trotzdem falsch verwandt: Selbst wenn es möglich ist sich an zurückliegende Ereignisse so lebendig zu erinnern, als geschähen sie gerade in diesem Augenblick, so werden sie selbstverständlich doch nur wiedererinnert und nicht wiedererlebt.

 

34)  Hassenstein, B. , 1980: 96


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Wenn ich diesen Umstand hier eigens hervorhebe, dann deshalb, weil bei einigen Patienten gerade an diesem Punkt Unklarheiten bestanden. Sie hatten nämlich nicht selten von sich aus versucht, ganz und gar in ein früheres Ereignis "zurückzukehren", in der Annahme, damit "richtige" Primärtherapie zu machen. Dabei hatten sie sich bemüht, alle Sinneseindrücke, die ihnen darüber Auskunft hätten geben können, wie und wo sie sich gerade befanden, so gut wie irgend möglich zu ignorleren.35

Wir halten solches Vorgehen für gefährlich. Falls ein Patient in einem solchen Fall wirklich glauben sollte, er sei das kleine Kind von damals, so würde er in dieser Situation die Realität verkennen und bedürfte dann einer psychiatrischen Krisenintervention.

*

Generell lässt sich sagen, dass Patienten visuelle Eindrücke bei der von uns empfohlenen Art des Vorgehens mehr oder weniger rasch und mühelos ins Gedächtnis zurückrufen konnten. Weniger leicht gestaltete sich der Versuch, Geräusche und Gerüche zu erinnern. Von den Hautsinnen konnte gemeinhin am leichtesten die Temperatur registriert werden. Eine Aussage zu machen wie: "Mich fröstelt es, obwohl ich weiß, dass es sehr warm im Raum ist", (wenn das Frösteln sich z.B. als Reaktion auf ein unangenehmes psychisches Ereignis eingestellt hatte), gelang den Patienten jedoch erst nach einiger Übung.

Wenn unangenehme Gefühle auftraten, so forderten wir die Patienten nicht dazu auf sie auszuhalten, sondern die betreffende Situation soweit ins Gedächtnis zurückzurufen, bis sie erkennen konnten, welche Empfindung sie dazu veranlasst hatte, die Erinnerung abbrechen zu wollen. Es ging uns also nicht darum, ein Vermeidungsverhalten zu unterbinden, sondern darum, den adaptiven Nutzen dieses Vermeidungs­verhaltens für die Patienten verstehbar zu machen.

Fragten wir die Patienten, was ihrer Meinung nach mit ihnen geschehen würde, wenn sie eine solche Situation aushalten müssten, so beschrieben sie stets Angst und körperliche Stressreaktionen. Am schlimmsten war offenbar die Vorstellung, unfreiwillig in einer solchen Situation verharren zu müssen.

Einige Patienten wollten sich erst gar nicht vorstellen, was mit ihnen geschehen würde. Schon die bloße Überlegung, was geschehen könnte, müssten sie eine solche Situation länger aushalten, reichte aus, um solche drastischen Einschätzungen wie: ,,Sterben vor Angst, umfallen, verrückt werden" usw. hervorzubringen.

 

35)  Ausführliche Darstellung sich aus solcher Auffassung herleitenden Form von Primärtherapie bei Hemminger, H.J.; Becker, V. , 1986: 73, 173


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Wir nahmen dies zum Anlass, den Patienten zu erklären, dass sie im biologischen Sinne unter diesen Umständen sehr klug handelten, wenn sie versuchten, solche belastenden Situationen zu vermeiden oder sie zu einem Zeitpunkt abzuwehren, in dem sie sich noch nicht zu einer solchen Bedrohlichkeit entwickelt hatten. Wir versuchten, an Hand bestimmter klassischer Untersuchungsergebnisse36 den Patienten zu verdeutlichen, dass sowohl Menschen als auch Tiere, die unfreiwillig in ausweglose Situationen geraten, in denen sie handlungsunfähig sind, zu einer erheblichen Stressreaktion tendieren können. 

Falls ein solches Ereignis noch dazu plötzlich und unerwartet eintritt und der Organismus des betroffenen Individuums sich nicht rechtzeitig adaptiert, so kann aus diesem Schreck ein Schock mit tödlichem Ausgang hervorgehen.37

Wir berichteten über einen Versuch, der mit Ratten unternommen wurde: Die Tiere wurden in verschiedenen Versuchsanordnungen mit Stromschlägen traktiert. Im ersten Käfig erhielten die Ratten Stromschläge, ohne dieses Geschehen beeinflussen zu können. In einem zweiten Käfig konnten die Ratten durch Laufen in einem Laufrad das Verabfolgen der Stromschläge verhindern. Bei der dritten Versuchsanordnung konnten solche Ratten, die zuvor gelernt hatten, durch Laufen die Stromschläge zu beeinflussen, nun zwar immer noch im Laufrad laufen; dieses hatte aber keinerlei Auswirkungen mehr auf die Abfolge der elektrischen Reize. Beim Sezieren wurde bei der ersten Gruppe von Tieren Geschwüre von erheblicher Ausdehnung in Magen und Darmtrakt gefunden, während die entsprechenden Ulcerationen bei den Tieren aus dem zweiten und dritten Käfig wesentlich seltener auftraten und geringer ausgeprägt waren.

Zudem war in dieser Hinsicht zwischen der zweiten und dritten Gruppe kein Unterschied erkennbar.38) Die bloße Illusion einer Handlungsfähigkeit scheint schon zu genügen, um diese Stressreaktion zu reduzieren. Von Opfern von Verkehrsunfällen mit tödlichem Ausgang ist bekannt, dass die Verletzungen, die durch die Unfälle selbst herbeigeführt wurden, oft nicht so schwer waren, dass durch sie der Tod der Betroffenen hätte erklärt werden können. Die Opfer schienen eher am Schreck oder Schock gestorben zu sein. Diese Tatsache war Ärzten schon im siebzehnten Jahrhundert bekannt.39

Ergänzend dazu erklärten wir den Patienten allgemeinverständlich und so ausführ lich wie möglich die physiologischen Grundlagen, die einen Organismus befähigen, sich an bestimmte Anforderungen anzupassen und auf welchem Weg ein Schock entstehen kann, wenn dieses System gestört ist. 

 

36)  Cannon, W.B, 1915 (Neuaufl. 1975: 30f)  
37)  Kovach, A.G.B. (in Eiff, A.W.v., Hrsg. 1976: 125)  
38)  Weiss, J.F., 1972: 104, zit. n. Vester, F., 1976: 92ff  
39)  Stahl, G.E., 1695 (Neuaufl. 1961: 32- 33)


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Wir bemühten uns um Beispiele, die von den Patienten durch eigene Erfahrungen überprüft werden konnten, um zu erklären, dass psychische und physische Stressoren vom Organismus mit dem gleichen Anpassungssystem beantwortet werden.40) Den Patienten war aus eigener Erfahrung bekannt, dass sich Puls und Atemfrequenz sowohl bei schnellem Laufen, als auch bei Freude oder bei Erschrecken erhöhen. Wir fragten die Patienten, was ihrer Meinung nach geschehen würde, wenn sie plötzlich und ohne Vorbereitung, wie dies bei Wettkämpfen durch die Zurufe des Starters geschieht, loslaufen müssten. 

Wer eine solche Situation schon einmal erlebt hatte, sagte: "Das Blut versackt einem in die Beine. Man läuft wie mit bleiernen Füßen." Mit diesem Beispiel ließ sich auch anschaulich demonstrieren, dass ein Organismus sich normalerweise schon zu einem Zeitpunkt an eine Leistung adaptiert, zu dem sie erst antizipiert wird.41,42,43)

Als Beispiel dafür, wie ein Organismus auf eine erwartete seelische Belastung vorbereitet wird, beschrieben wir eine typische Filmszene, welche in abgewandelter Form in Kriminalfilmen immer wieder auftaucht: Ein Polizist klingelt an einer Haustür. Eine Frau öffnet und erschrickt ein wenig als sie den Polizisten sieht. Dieser fragt mit ernster Miene: ,,Sind sie Frau Müller?" Die Frau bejaht dies und fragt nun ihrerseits: ,,Ist etwas passiert?" Der Polizist antwortet nicht direkt, sondern fragt erst einmal ob er hereinkommen darf und betritt das Wohnzimmer. Die Frau will nun wissen: "Ist etwas passiert, Herr Wachtmeister? Ist etwas mit meinem Mann?" Der Beamte bittet die Frau doch ruhig zu bleiben und erst einmal Platz zu nehmen. Erst dann teilt er ihr mit, dass ihr Mann schwer verunglückt ist. Die Frau beginnt daraufhin heftig zu weinen...

Hätte nun der Polizist der Frau, gleich nachdem sie die Tür geöffnet hatte, ohne Vorbereitung mitgeteilt: ,,Frau Müller, ihr Mann ist schwer verunglückt", dann wäre die Frau vielleicht in Ohnmacht gefallen oder hätte unter Umständen einen Schock erlitten.

Vergleicht man nun die beiden Szenen miteinander, so wird erkennbar, dass die Art der Reaktion auf eine unangenehme Information nicht allein durch den Inhalt der Information selbst sondern auch dadurch bestimmt wird, ob der Empfänger Gelegenheit hatte, sich rechtzeitig darauf einzustellen, eine solche Nachricht aufzunehmen. 

"So erging es einer Dame, die von Regimentsachreiber einen Brief erhielt, dem sie die unerwartete Nachricht von Tod ihres Sohnes entnehmen musste. Zutiefst erschüttert und gramgebeugt fiel sie, von plötzlicher Ohnmacht befallen, auf das Bett. Schließlich setzte ein Schlagfluß ihrem Leben ein Ende.44

Diese Illustrationen sollten den Patienten dazu dienen, die Ursache für ihr Abwehrverhalten nicht als psychologisches sondern als physiologisches Problem zu begreifen. 

 

40)  Selye, H. , 1974 (1977: 47)
41) Silbernagl, S. Despopoulos, A. 1979: 48, 56, 270
42) Cannon, W.B., ebenda: 150ff
43)  Selye, H. , 1977: 39, 41


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Nach unserer Überzeugung dient eine Abwehrreaktion dazu, Hilflosigkeit und Handlungs­unfähigkeit in ausweglos scheinenden Situationen nicht erleben zu müssen. KLIX bezeichnet eine grundlegende Form der Abwehrreaktion als hedonalgisches Differential: 

".... es ist die Registrierung einer Verschiebung im Lust-Unlust-Erleben. Nach diesen differentiellen Wirkungsprinzips ist es auch nicht die Gewinnung eines neutralen Zustands oder das Behalten eines Zustandes von Lustgefühl schlechthin, auf das hin die Verhaltensregulation ausgelegt ist; es ist vielmehr die Verschiebung der Lagebewertung in Richtung zum positiven Pol, zur Erhöhung des Selbstgefühls hin.(...) Die Tendenz hat verhaltensmotivierende Kraft; etwa so, wie es einen zurücktreibt, wenn man über die Steilwand eines Berges einige hundert Meter senkrecht in die Tiefe blickt ...."45

In der Primärtherapie müssen aber solche belastenden Situationen vom Patienten sehr detailliert wieder ins Gedächtnis zurückgerufen werden, damit deren Bedeutung für spätere Entwicklungen überhaupt verstanden werden kann.

Nun hatten die meisten Patienten die Vorstellung JANOVs übernommen, Abwehr sei etwas Schädliches und müsse infolgedessen auf irgend eine Art und Weise gebrochen werden.46 Die Vertrauensseligkeit, mit der manche Patienten bereit gewesen wären, sich zu therapeutischen Zwecken in Situationen zu begeben, die von den meisten Menschen als inhuman bezeichnet würden, war für uns jedes Mal von Neuem erschreckend.

Überhaupt hatten einige Patienten eine Vorstellung von der Primärtherapie, die darin gipfelte, dass sie sich unter der Aufsicht eines Therapeuten in einem schallisolierten Raum schreiend auf dem Boden wälzen müssten, um gesund zu werden. Die positive Funktion der Abwehr, bzw. eines gezielten Vermeidungsverhaltens war von den meisten Patienten kaum bedacht worden. Bisher waren sie davon ausgegangen, durch die Therapie bzw. durch den Therapeuten, der spezielle Techniken verwendet, würde die Abwehr in ihnen "gebrochen" und ihre unaufgearbeiteten Probleme aus der Kindheit würden auftauchen und sie schmerzhaft überschwemmen.

 

44)  Stahl, G.E. , 1695 a.a.O.
45)  Klix, F. , 1983: 111 
46)  Janov, A. , 1973: ebenda


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Wenn aber ein Patient von sich aus beschließt, sich eine zurückliegende Situation, in der er hilflos war, zu vergegenwärtigen, so wird er von diesem Ereignis nicht überrascht, sondern kann sich darauf einstellen, dass er sich jetzt eine ihn belastende Situation ansehen wird. Der Unterschied zwischen einem plötzlichen Überschwemmtwerden und einem aktiven Zulassen belastender Einsichten lässt sich damit vergleichen, ob jemand an einem heißen Sommertag unerwartet von hinten mit einem Eimer kalten Wassers übergossen wird oder ob die Person sich von sich aus unter eine kalte Dusche stellt. 

Der gleiche „schockierende“ Anlass wird in der ersten Situation als sehr viel unangenehmer erlebt werden, als in der zweiten. Außerdem sind die betreffenden Situationen natürlich überlebt worden, sonst könnten sie schließlich nicht wiedererinnert werden. Wenn sich folglich ein Patient, nachmittags zu Hause ruhig auf seinem Sofa liegend, an eine lebensbedrohliche Begebenheit aus seiner Kindheit erinnert, ist er ja in diesem Augenblick nicht in Gefahr. 

Alles was den Patienten heute ängstigen kann, ist eine Art Phantomschmerz, dessen Bedrohlichkeit lediglich in den mobilisierten Affekten besteht. Aus diesem Grund empfahlen wir den Patienten, in aktuell belasteten Situationen keine Therapie zu machen. Statt dessen sollten sie sich zuerst eine ruhigere Umgebung verschaffen und sich erst dann mit unangenehmen Erinnerungen auseinandersetzen. Wir erklärten unseren Patienten, dass auch wir nicht versuchen würden, ihre Abwehr zu brechen. Wir würden ihr Abwehrverhalten auch nicht durchschauen und so handeln, als wüssten wir als Therapeuten, was sich hinter ihrer Abwehr verbirgt. 

Viele Patienten hatten nämlich die Vorstellung, ihre Abwehr sei ihnen unbewusst. Die Gründe für Ihre Abwehr lägen in ihrem Unterbewusstsein verborgen und müssten durch Therapeuten über ihnen noch nicht nähere bekannte Manipulationen ins Bewusstsein geholt werden.

Wir erklärten den Patienten, wir könnten allenfalls unsere eigenen psychischen Probleme aufklären und selbstverständlich besäßen wir nicht die Fähigkeit, ihre Seele zu "röntgen". Wir seien nur in der Lage. ihnen eine Methode zu vermitteln, mit Hilfe derer sie Störungen ihrer persönlichen Entwicklung aufarbeiten könnten.

"Die mit der Methode der Primärtherapie erhobenen Befunde sind nichts anders als ein biographischer Katalog jener vom Beginn der individuellen Existenz an auftretenden Disstressoren, die der Organismus nicht zu neutralisieren vermochte und die verdächtigt werden, zu einem inneren Dauerstressor zu kumulieren, der mit großem Aufwand in Schach gehalten, aber nur unter günstigen Bedingungen spontan oder durch eine geeignete Therapie aufgelöst werden kann."47)


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In diesem Zusammenhang wiesen wir noch einmal darauf hin, dass der Versuch, die Abwehr von außen durch bestimmte Manipulationen zu durchbrechen, nicht ungefährlich ist.48 Zudem halten wir ein solches Vorgehen für überflüssig, da der Zugang zu solchen Erlebnissen auch auf gewaltfreiem Weg möglich ist. Wir versuchten den Patienten an einem Beispiel zu demonstrieren, wie der Mechanismus verstanden werden könnte, den sie als Unterbewusstsein bezeichneten.

Die meisten Patienten konnten beschreiben, dass bei dem Versuch, sich an bestimmte belastende Situationen zu erinnern, ihr Gedächtnis zu versagen schien oder sie sich immer wieder mit Hilfe verschiedene Möglichkeiten davon ablenkten. Sie benutzten solche Möglichkeiten anscheinend selektiv.

An viele Situationen erinnerten sie sich mühelos und sehr lebendig, nur bei bestimmten Episoden hatten sie Probleme mit ihrem Erinnerungsvermögen.

Im ersten Schritt sollten sich die Patienten nun Klarheit darüber verschaffen, welches unangenehme Gefühl sie vermeiden wollten. Wir beschrieben zur Illustration eine alltägliche Begebenheit: Jemand fährt nachts mit dem Auto durch die Stadt und unterhält sich dabei angeregt mit seinem Beifahrer. Er überquert mehrere Straßenkreuzungen, er stoppt an Ampeln und fährt nach einer Weile weiter. Fragte man nun den Fahrer des Wagens, der die ganze Zeit ins Gespräch vertieft war, ob er wisse, warum er eben angehalten habe und dann nach einer Weile wieder weitergefahren sei, so würde dieser wohl antworten, er habe sein Auto zum Stehen gebracht, weil das Signal der Ampel von gelb nach rot gewechselt habe und sei immer dann weitergefahren, wenn das Signal wieder nach grün wechselte. 

Fragt man nun weiter nach, wie er es geschafft hat auf die Ampeln und die Bremslichter des vor ihm fahrenden Wagens zu achten, obwohl er doch so engagiert mit Begleiter gesprochen hatte, so wird er vielleicht sagen, dass dies automatisch geschehen sei. Er habe auf den Verkehr geachtet und automatisch bei rotem Ampelsignal gebremst. Solche Reaktionen wurden von den Patienten nicht als unterbewusst bezeichnet. Nun ließ sich der Unterschied zwischen Handlungsabläufen, die kortikal oder subkortikal gesteuert werden, erklären. 

Alle Patienten meinten, Ihnen wäre sofort aufgefallen, wenn die Ampel etwa von grün auf blau geschaltet worden wäre. Dies hätte sie dann auch dazu gebracht, das intensive Gespräch mit ihrem Beifahrer zu unterbrechen. Mit anderen Worten: Sie hatten während der ganzen Zeit des Fahrens den Verkehr sehr wohl genau beobachtet, sich aber nicht bewusst gedanklich damit auseinander gesetzt.

 

47)  Görres, A., 1976: 79 in: Eiff, A.W.v., Hrsg.
48)  Janov, A.; Holden, E.M., 1977: 17


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Denkt man sich die Verkehrssituation im Zentrum einer Großstadt, wo große Leuchtreklamen an den Fassaden angebracht sind, so wird der Fahrer eines Wagens auch nur dann anhalten, wenn das Licht der Verkehrsampel von grün nach rot wechselt und nicht etwa, wenn die viel größer dimensionierten Elemente der Reklame ihre Farbe verändern. Der Fahrer eines Wagens reagiert also auch dann noch selektiv auf einen speziellen Reiz, wenn gleichzeitig konkurrierende, größere Reize auf ihn einwirken. Man hält keineswegs an, "weil die Ampel auf rot steht", wie es die Patienten anführten. Ihre Begründung, warum sie nicht bei den sehr viel größeren und helleren Zeichen einer Leuchtreklame anhalten würden, war denn auch: "Wenn Ich an der Ampel bei Rot nicht halten würde, dann könnte Ich einen Unfall verursachen." 

Wir fragten weiter ob sie sich eigentlich jedes Mal, wenn sie das Bremspedal ihres Wagens betätigten, in allen Einzelheiten von neuem realisierten, weshalb sie gerade jetzt bremsten. Natürlich dachten sie im Einzelfall nicht darüber nach, sondern bremsten eben "automatisch". Alles andere sei viel zu umständlich und würde sie unter Umständen nur daran hindern, rechtzeitig zu reagieren. Daher ist es auch nicht unsinnig zu sagen: "Ich halte an der Ampel, weil sie auf Rot steht." 

Jedermann weiß natürlich, dass es hier darum geht, einen Unfall zu vermeiden, aber es ist ökonomischer sich "Rot=Anhalten" zu merken, als die Konsequenzen des Nichtbeachtens des Haltesignals jedes Mal von Neuem in allen Einzelheiten zu durchdenken. Diese Möglichkeit der kognitiven Vereinfachung (Symbolisierung) ist ubiquitär zu beobachten, neuropsychologisch aber noch keineswegs aufgeklärt.49)

 

In ähnlicher Weise versuchten wir den Patienten einen Umstand zu erklären, den diese so beschrieben: "Wenn ich mich in bestimmten Situationen immer wieder so verhalte, wie ich das selbst gar nicht möchte, so liegt das an irgend etwas in meinem Unterbewusstsein." 

Wenn ein Individuum eine unangenehme Situation abwehren möchte, so ist es zweckmäßig, rechtzeitig Signale zu erkennen, die das Wiederauftreten gleichartiger Bedingungen ankündigen, damit die befürchtete Situation umgangen werden kann. Ebenso wie in dem vorgenannten Fall wäre es unökonomisch, sich jedes Mal von neuem an die ursprüngliche bedrohliche Situation, deren Wiederholung es jetzt zu vermeiden gilt, in allen Einzelheiten zu erinnern. Wird dieses Abwehrverhalten aber über einen längeren Zeitraum beibehalten und nicht mehr hinterfragt, so kann der eigentliche Anlass in Vergessenheit geraten. Er lässt sich bei Bedarf aber wieder ins Gedächtnis zurückrufen. Wie dazu nach dem primärtherapeutischen Verfahren vergegangen werden muss, wurde von uns in der dritten Sitzung vermittelt.

 

49)  Seitelberger, F., (in Lorenz, PC.; Wuketits, F, Hrsg. 1984: 187ff)


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In der zweiten Sitzung beschäftigten wir uns weiter mit der prinzipiellen Funktion von Abwehr und damit, wie dieses Problem theoretisch bearbeitet werden kann, um es auch praktisch zu bewältigen. Dazu war es wichtig, die Patienten über neurophysiologische Zusammenhänge von scheinbar automatisch ablaufenden Verhaltensweisen aufzuklären. Wir forderten sie auf, auch sehr subtile Veränderungen ihrer Körperempfindungen zu beachten, um nach einer Weile auch solche registrieren zu können, die durch ein gezieltes Abwehrverhalten abgeschwächt oder vermieden werden sollten.

Wenn Patienten ihre Abwehr verstehen wollen, so ist es notwendig, sich solche automatisch und sehr schnell ablaufenden Reaktionen in allen Einzelheiten zu vergegenwärtigen. Dazu muss deren Ablauf notwendigerweise verlangsamt werden. Ein erster Schritt dorthin ist nach unserem Verfahren das subtile Wahrnehmen körperlicher Veränderungen.

Das heißt nicht, dass sie unangenehme Empfindungen besonders lange aushalten sollten,, sondern es ging darum, die Wahrnehmung der Patienten für das Vorhandensein solcher unangenehmer Gefühle zu schärfen. Hatten wir Raucher unter unseren Patienten, so empfahlen wir ihnen zum Beispiel darauf zu achten, aus welchem körperlichen Empfinden heraus sie eine Zigarette rauchen wollten. Viele Patienten berichteten, sie würden in Stresssituationen mehr rauchen als unter normalen Bedingungen. Diese Patienten sollten das Rauchen nicht sofort einstellen, sondern nur realisieren, bei welchen Gefühlszuständen sie rauchen wollten.

Viele Patienten beschrieben, dass sie ihr eigenes Verhalten in bestimmten Lebenslagen nicht billigen könnten und dafür auch von anderen zu Recht kritisiert würden. Trotzdem verhielten sie sich immer wieder in der gleichen, falschen Art und Weise, ohne wirklich zu verstehen warum. Wir versuchten diese Reaktionen als eine Form sinnvollen Abwehrverhaltens aus dem historischen Kontext heraus begreifbar zu machen, indem wir ein karikierendes Beispiel wählten: Wenn ein Mensch, der durch einen herabfallenden Blumentopf verletzt wurde, seit jenem Ereignis vorsichtshalber mit einem Sturzhelm spazieren ginge, und wenn jener, weil er ein anderes Mal versehentlich in einen nicht abgedeckten Kanalschacht stürzte, sich zur Sicherheit nur noch auf Kurzskiern fortbewegte, so mag das Verhalten dieses Menschen auf seine Umgebung bizarr wirken, ja er mag, wenn er die Anlässe zu diesem Verhalten vergessen hat, auch sich selbst seltsam und lächerlich vorkommen. 

(Analoge Formen solchen Vermeidungsverhaltens sind auch von Tieren bekannt und wirken bei diesen ebenso merkwürdig wie bei Menschen, wenn der historische Kontext, aus dem heraus dieses Verhalten erklärbar wird, nicht mehr zu erkennen ist.50))

 

50)  Lorenz, K., 1968: 105-109


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Ein solcher Mensch befände sich in einer ständigen Zwickmühle: Würde er versuchen ohne Sturzhelm und Kurzski auszugehen, so müsste er ständig mit einem unerklärlichen Angstgefühl zu kämpfen haben, aber er würde nun nicht mehr kritisiert werden. Gibt er weiter seinen Angstgefühlen nach, so bliebe er dem Spott und dem Unverständnis seiner Umgebung ausgeliefert. Schließlich könnte er noch versuchen, den Konflikt dadurch aus der Welt zu schaffen, dass er politisch aktiv würde, um die Ursache seiner Ängste, nämlich ungesicherte Blumentöpfe und Kanalschächte verbieten zu lassen oder sie in einem Maße abzusichern, dass kein Passant mehr durch sie einen Schaden erleiden könnte. 

Aber auch diese Form der Auseinandersetzung mit dem Problem würde ihn nicht auf Dauer von dem Grundübel seiner Ängste befreien, z.B. wenn er bei einer Urlaubsreise nach Venedig der völlig ungesicherten Kanäle ansichtig wird.

Solche offensichtlich unsinnigen Versuche, bestimmte Situationen zu vermeiden, werden, wenn Clowns oder Komiker sie darstellen, von jung und alt belacht. Trotzdem unterscheiden sich diese Formen des Problemlösungsverhaltens nicht prinzipiell von weniger auffälligen Formen des Vermeidungsverhaltens, deren Auswirkungen den Alltag von Betroffenen beeinträchtigen. Besonders schlimm scheint dabei zu sein, dass solche Menschen sich selbst ja von innen her anders einschätzen, als sie nach außen hin wirken und sich daher ständig selbst ablehnen, oder aber für verkannt halten müssen.

Man kann dieses Problem an Hand einer Graphik verdeutlichen:

A: Zeitpunkt der Geburt

B: Ziel des ,biologischen Programms

C/D/E: Störungen des ,biologischen Programms

F: Gegenwärtiger Zeitpunkt

G: Angestrebter Zustand

H: Erreichter Zustand

 

Könnte sich ein Mensch unbeeinflusst von traumatisierenden Einflüssen entwickeln, so würde sein Leben etwa analog der Ordinate dieser Graphik verlaufen. Wird er jedoch in einer solchen "geraden" Entwicklung gestört, so wird er gleichwohl im Rahmen seiner Möglichkeiten versuchen, solche Einwirkungen zu kompensieren und sich weiter in die angestrebte Richtung zu entwickeln. Er wird also die alterstypischen Entwicklungsschritte nur in einem bestimmten Maße vollziehen können und deshalb in gewisser Hinsicht ein Anderer werden, als er es unter besserem, seinen biologischen Bedürfnisse gemäßen Bedingungen geworden wäre.

 


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Auf unserer Graphik erreicht dieser Mensch nach vielen, hier als Stufen ausgedrückten, Abweichungen von seinem "psychobiologischen Programm"51 den Punkt B, der zwar mit dem Punkt A das biologische Alter gemeinsam hat, jedoch ansonsten von diesem abweicht. Diese Abweichung wird subjektiv als Selbstentfremdung und als dauernder Konflikt erlebt. 

 

Über das Problem sind viele Bücher geschrieben worden unter anderem auch Alice MILLERs: "Das Drama des begabten Kindes"52, von dessen Titel alleine sich schon viele Menschen verstanden fühlten. Um wieder zu sich selbst zu finden, müssten die betreffenden Formen des Vermeidungsverhaltens korrigiert werden. 

An dieser Graphik konnten wir auch aufzeigen, was mit Hilfe der Primärtherapie idealerweise erreicht werden soll. Das Ziel der Therapie ist es, dass Patienten ein Leben im Hier und Jetzt führen können, ohne ständig durch dysfunktional gewordenes Abwehrverhalten daran gehindert zu sein.

Nur Gleiches sollte danach nicht mehr für Dasselbe genommen werden müssen. Dass Frustrationen, die in der Vergangenheit erlebt wurden, natürlich im Nachhinein nicht wieder gut zu machen sind, sondern dass über solche Verluste nur getrauert werden kann, ist evident. Die Patienten berichteten, dass sie anlässlich bestimmter Geschehnisse entweder immer wieder aufgebracht waren, oder regelmäßig depressiv reagierten.

Nun stellen Aggression und Depression immer noch Handlungsformen dar und sind insofern besser als ein Zustand von Hilflosigkeit, was leicht vergessen wird. 

Kummer oder Arger sind als Antwort auf ein belastendes Ereignis allerdings sehr viel häufiger anzutreffen als eine tiefe Depression oder ein unkontrollierter Wutausbruch. Hilflosigkeit zu realisieren, ist jedoch die einzige Möglichkeit, auf einmal geschehene Verluste realistisch zu reagieren.

Es ist möglich, die eigene Hilflosigkeit in aktuellen Situationen bewusst zuzulassen und zu akzeptieren, natürlich kann aber auf diese Art und Weise auch die Hilflosigkeit, mit der eine Person einer früheren Situation gegenüberstand, nachträglich realisiert werden. Aggression und Depression weichen in diesem Falle, nach unserer Erfahrung, meistens einer Betroffenheit, die zwar einerseits als schmerzhaft, anderseits aber auch als Befreiung von dem Zwang, abwehren zu müssen, erlebt wird.

Viele Patienten berichteten, sie hätten besonders dann Schwierigkeiten ihre Empfindungen zu beschreiben, wenn diese unangenehm waren. Sie neigten dann sehr schnell dazu lieber doch in Gedanken abzuschweifen. 

 

51)  Görres, A., a.a.O.: 80
52) Miller, A., 1979 


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Wir empfahlen den Patienten in solchem Fall, ihre Gefühle laut auszusprechen und einem Gegenüber zu erzählen. Dies begründeten wir folgendermaßen: Fast jeder Mensch kann sich daran erinnern, peinliche Situationen erlebt zu haben. Man kann dies wissen und trotzdem davon unbewegt bleiben. Geht man aber auf die Details der betreffenden Situation ein und macht sie in der Erinnerung lebendig, so wird bei ihr das peinliche Körpergefühl wieder mit auftreten. Die betreffende Person könnte rot werden, beim Erzählen ins Stocken geraten oder verlegen lachen. Da es also möglich scheint, gewissermaßen abstrakt an eine peinliche Situation zu denken und dadurch nicht von der Peinlichkeit berührt zu werden, erinnern sich wahrscheinlich die meisten Menschen deshalb lieber nur abstrakt an solche emotional getönten Episoden.

Denn je detaillierter und deutlicher die Beschreibung ausfällt, um so mehr ist damit auch das gefühlshafte Erleben reaktiviert. Vegetative Körperreaktionen bedürfen bis zu ihrer Auswirkung einer gewissen Zeit. Beim Erröten müssen beispielsweise vom Zentralen Nervensystem Impulse ausgehen, die eine Erweiterung der Blutgefäße in der Peripherie bewirken. Erst danach kann von den Thermorezeptoren der Haut eine Temperaturerhöhung gemessen und wieder zum Gehirn zurückgemeldet werden. Auch wenn dieser Vorgang sich nur in Sekunden abspielt, so scheint er doch länger zu dauern als das Denken daran. 

Mit anderen Worten: Das Nachdenken über Peinlichkelten ist vom Fühlen der Peinlichkeit unterscheidbar. Die Betroffenheit in einer Situation in allen Einzelheiten zu registrieren und nicht abstrakt darüber zu berichten, ist für den primärtherapeutischen Prozess von erheblicher Bedeutung, weil anders die Authentizität des Erlebens nicht erreicht wird. Das an motorische Leistungen gebundene Sprechen ist dazu geeignet, Gedanken und Empfindungen zu synchronisieren. Um die schizoide Komponente des Selbstgespräches zu vermeiden, sollten die Patienten dazu als Gegenüber eine Attrappe wie einen Teddybären oder ähnliches benutzen, da reale Personen wie Freunde, Therapeuten oder der jeweilige Partner schon durch ihre Anwesenheit das Verhalten, die Stimmung und sogar die Inhalte der jeweiligen zu bearbeitenden Thematik eines Patienten beeinflussen, selbst wenn dies ganz und gar nicht beabsichtigt ist.

Deshalb scheint uns ein "neutraler" Zuhörer geeigneter. Ähnliche Techniken sind aus dem Psychodrama und der Gestalttherapie bekannt.53) Benutzen Patienten ein Stofftier oder eine Puppe, so können sie sicher sein, dass dieses Gegenüber ein unbegrenztes Maß an "Geduld" zeigt, jederzeit verfügbar ist und seinerseits den Patienten in gar keiner Weise beeinflussen wird. 

Dies erschien uns auch besonders wichtig, weil besonders weibliche Patientinnen häufig beschrieben, dass sie Angst davor hätten alleine zu sein und deshalb sehr oft ihr Verhalten und ihre Aussagen gezielt auf ihr Gegenüber abstimmten, um nicht in die Gefahr des Alleinseins zu geraten.

 

53)  Moreno, J.L., 1973: 99


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Diese Patienten konnten nun, wenn sie alleine zu Hause waren, ihrem Teddybär erzählen, wie sie sich jetzt alleine fühlten, seit wann sie das Problem mit dem Alleinsein kannten, welche Konsequenzen es für sie hatte usw. Natürlich lassen sich auch andere Probleme auf diese Art und Weise bearbeiten. Wenn jemand sich schämt. einem Teddybären, der ja letztlich nur eine Attrappe aus Stoff ist, von sich zu erzählen, dann ist die Ursache dafür leichter aufzudecken, als in Gegenwart eines menschlichen Gegenübers. 

Der Patient kann schließlich nicht wissen, wie sein Gesprächspartner ihn nach einem solchen Geständnis einschätzen wird. Eine psychotherapeutische Sitzung kann sich von daher auch leicht zur Beichtstunde entwickeln, in der der Patient vom Therapeuten die Absolution erwartet.

Diese Technik des lauten Aussprechens erwies sich besonders bei solchen Patienten als hilfreich und wirksam, die eine große Übung darin hatten, sich von ihren Körpergefühlen abzulenken. Manchmal führte dieses Vorgehen allein schon zu einer Verminderung funktioneller Störungen, oder solche Symptome wurden nicht mehr als so bedrohlich und ängstigend erlebt, wenn sie bewusst und absichtlich registriert wurden. Aphoristisch könnte man sagen: Zuvor hatte das Symptom den Patienten, nun hat der Patient ein Symptom. Erst jetzt wird das Symptom handhabbar und wird einem psychotherapeutischen Prozess zugänglich. Dass das Aussprechen und Benennen von Problemen alleine bereits ein wesentliches therapeutisches Moment darstellt, ist bekannt.54

JANOV forderte seine Patienten auf, ihre Bedürfnisse und Gefühle in fiktiver Weise nachträglich an ihre Eltern zu richten;55 andere Therapiekonzepte streben beispielsweise die Animation von Organen oder inneren Stimmen an (,,Lass Deinen Magen sprechen", ,,Was sagt Dein anderes Ich?"). Wir halten dies für eine fragwürdige Vorgehensweise, da dadurch irreale Elemente eingeführt werden, die den therapeutischen Prozess unnötig komplizieren.

Unsere Patienten sollten, wenn sie ihre Probleme laut aussprechen, formulieren, was es ihnen ausgemacht hatte, dass sie sich bestimmten Personen gegenüber nie wirklich hatten aussprechen können. Die Patienten sollten z.B. die Gefühle benennen, die sie in bestimmten kritischen Situationen empfunden hatten, wenn sie sich mit Ihren Bedürfnissen ihrer Mutter gegenüber nicht äußern konnten.

 

54)  Rosenberg, W.E., a.a.O.: 123f
55)  Janov, A., a.a.O.: 79ff


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Nach unseren Beobachtungen sprechen Patienten mit sich in der zweiten Person, wenn sie sich mit emotional stark belasteten Situationen auseinandersetzen. 

So kann jemand über ein bestimmtes Ereignis berichten und dabei erzählen: ,,Ich habe dieses entstellte Mädchen gesehen...", und dann fortfahren: ,,Und dann wusste ich: Jetzt musst du stark sein und dir nichts anmerken lassen.". Diese Art der Spaltung ist so alltäglich und häufig geübt, dass deren dahinter liegende Ursache kaum mehr hinterfragt wird. Will man wissen, wen die Menschen eigentlich meinen, wenn sie zu sich sagen: ,,Du musst jetzt stark sein.", so antworten sie: ,,Mich" Da in diesem Fall jedoch zwei Personen auftreten, fragten wir bei den Patienten, um sie auf die Spaltung aufmerksam zu machen nach, wer denn der eine und wer der andere von jenen beiden sei, beziehungsweise wer von diesen beiden jeweils dem anderen gut zuredet. Sie sollten beobachten, ob sich Ihre Körpergefühle ändern würden, wenn sie versuchten, die gleiche Aussage mit ,,ich" statt mit ,,du" zu artikulieren. Probierten sie es aus, so stellten sie jedes Mal fest, dass ihre Betroffenheit stärker wurde, wenn sie gleichen Satz mit ,,Ich" sagten.

Mit Hilfe dieser sprachlichen Spaltung scheint es möglich zu sein, gefürchtete Themen in ihrer Wirkung auf die eigene Betroffenheit abzuschwächen. Es wäre aber nicht sinnvoll sich diese Gewohnheit abzutrainieren, da dadurch ein diagnostischer Hinweis darauf verloren ginge, wo unverarbeitete Konflikte zu vermuten sind, mit denen die Patienten, wenn sie selbst es für richtig hielten, sich gezielt auseinandersetzen konnten. Auch weil im Selbstgespräch solche Spaltungstendenzen unbemerkt mit einfließen, empfahlen wir das Ansprechen einer Attrappe. Die meisten Patienten hatten bestimmte Vorstellungen davon, was sie an Erinnerungsbildern sehen würden. Hatten sie beispielsweise unglückliche Situationen mit ihrem Vater erlebt, so erwarteten sie vielleicht, in ihren Erinnerungen das Gesicht ihres Vaters zu sehen.

Wurden Aspekte einzelner erinnerter Szenen nach solchen Vorstellungen ausgewählt, konnte der erwartete Affekt jedoch häufig nicht mobilisiert werden. Statt dessen lösten aber völlig unbedeutende Elemente solcher Szenen, wie der Anblick eines Tapetenmusters, die erwarteten Affekte oft unvermittelt aus. ROSENBERG hat ein hierfür eindrucksvolles Beispiel beschrieben und die theoretischen Folgerungen aus dieser Beobachtungen ausführlich diskutiert.56)

Um den Patienten den zu Grunde liegenden Mechanismus zu verdeutlichen, forderten wir sie zu einem Experiment auf.

Sie sollten sich vorstellen, sie würden ein für sie peinliches Erlebnis, von dem niemand wissen soll, ihrem Vorgesetzten erzählen. Wir wollten aber diesmal nicht, dass sie es aussprachen, sondern beobachteten nur ihr Verhalten, während sie an dieses Ereignis dachten. Regelmäßig schweiften ihre Blicke während des Nachsinnens von uns ab und richteten sich auf einen neutralen Punkt im Raum.

 

56)  Rosenberg, W.E., a.a.O.: 113-117


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 Wir fragten die Patienten dann, ob sie wüssten, was sie in dem Augenblick, als sie sich die peinliche Situation vorgestellt hatten, taten. Den meisten war gar nicht bewusst geworden, dass sie ihre Blickrichtung verändert hatten. Sprachen wir sie gezielt darauf an und fragten, was sie gesehen hätten, als sie gerade an diese peinliche Situation dachten, so sagten sie beispielsweise: ,,Ich habe auf eine Stelle an der Wand, etwa dreißig Zentimeter oberhalb des Bildes gesehen. Sie hatten sich in diesem Augenblick einen Punkt gesucht, der nicht geeignet war, sie von ihren Vorstellungen abzulenken. 

(Genauso verhalten sich Menschen übrigens auch, wenn sie eine kompliziertere Rechenaufgabe im Kopf lösen sollen: Sie wenden sich von demjenigen ab, der Ihnen die Aufgabe gestellt hat und wenden sich ihm erst wieder zu, wenn sie ihm das Rechenergebnis mitteilen, oder aber erklären dass sie die Aufgabe nicht lösen können.)

Wenn nun ein Patient im Alltag durch ein harmloses Tapetenmuster beunruhigt wird und Sich das nicht erklären kann, so könnte er in einem therapeutischen Prozess aufdecken, wie er In einer bestimmten Situation in der sein Vater wütend gewesen war und eine bedrückende Atmosphäre geherrscht hatte, statt seinem Vater anzusehen, innerlich verzweifelt auf einen bestimmten Ausschnitt der Wohnzimmerwand gestarrt hatte, die mit einer ähnlich gemusterten Tapete beklebt war wie jene, bei deren Anblick sich noch heute beklemmende Gefühle bei ihm einstellten. Es ist zu vermuten, dass es sich bei solchen Vorgängen um eine Form von Konditionierung handelt.

Ein besonderes Problem stellt sich für Patienten dann, wenn sie zwar in einem bestimmten Augenblick gerne die Therapie anwenden würden, die äußere Situation dies aber zu diesem Zeitpunkt nicht zulässt. Für diesen Fall entwickelten wir eine Vorgehensweise, die es ermöglicht, die für die Therapie relevanten Aspekte des aktuellen Geschehens gewissermaßen zu konservieren. Sie sollten sich in solchen Augenblicken zunächst ihre physischen Empfindungen bewusst machen, dann kurz die Augen schließen und darauf achten, ob ihnen ein Erinnerungsbild oder der Ausschnitt eines solchen einfallen würde. Dieses Bild sollten sie innerlich kurz beschreiben, um es nicht gleich wieder aus dem Gedächtnis zu verlieren.

(Dies wirkt so ähnlich, wie man es von Trauminhalten kennt, die, wenn sie kurz nach dem Erwachen bedacht oder erzählt werden, ins Langzeitgedächtnis übernommen und an die man sich noch nach Jahren erinnern kann, während solche die man nicht bewusst festhalten wollte, nach kurzer Zelt in Vergessenheit geraten.) 

Wie mit den so gespeicherten Bildern dann später gearbeitet werden kann, wurde den Patienten in der dritten Sitzung vermittelt.


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Am Ende der zweiten Sitzung vereinbarten wir mit den Patienten, dass sie nun mit diesen theoretischen Erklärungen im Hintergrund zu Hause weiter üben sollten, ihre Körpergefühle in alltäglichen Situationen zu beachten, festzustellen und zu beschreiben. Sie sollten sich an beliebige, zurückliegende Situationen erinnern und registrieren, wenn sie bei der Betrachtung eines bestimmten Ausschnitts der Erinnerungsbilder ihre Empfindungen plötzlich änderten. Wenn ihnen nur ein Objekt, oder nur ein Teil davon einfiel, konnten sie versuchen, dessen Umfeld zu erschließen, indem sie die in der ersten Sitzung erlernte Technik anwendeten. Danach sollten sie versuchen, das, woran sie sich erinnerten, zusammen mit den damit verbundenen Gefühlen ihrem "Gegenüber" mit allen, auch banalen Einzelheiten ausführlich zu schildern. Schließlich sollten sie bei Anlässen, deren konkrete Bewältigung ihnen Schwierigkeiten bereitete, sich ihr Körpergefühl vergegenwärtigen, dann kurz die Augen schließen und sich das Bild ansehen, welches ihnen spontan einfiel. 

Wir merkten an, dass es einer gewissen Routine bedarf, bis man sich daran gewöhnt hat, vor seinem inneren Auge Erinnerungen plastisch ins Gedächtnis zurückzurufen und dass es nicht nur vom guten Willen des einzelnen, sondern auch von einem gewissem Übungseffekt abhängt, ob man mit der Methode zurecht kommt. 

Besonders Patienten, die sich in ihrem Beruf oder in ihrem Studium mit abstrakten Fragestellungen beschäftigten, fiel es nach unseren Beobachtungen viel schwerer, Erinnerungsbilder nicht zu bewerten oder zu analysieren, sondern sie nur konkret zu beschreiben. Diesen Patienten fiel es auch oft schwerer, sich visuelle Erinnerungen wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Forderten wir solche Patienten auf, die Augen zu schließen und anzugeben, ob ihnen etwas einfiele, so sagten sie gern Dinge wie: ,,Ich sehe nichts, aber mir fällt ein, dass ich meine Stromrechnung noch bezahlen muss." 

Fragten wir sie dann danach wie das betreffende Rechnungsformular aussehe oder woher sie überhaupt wüssten, dass sie die Stromrechnung bezahlen müssten, so sagten sie etwa: ,,Der Briefträger hat die Stromrechnung gestern gebracht. Sie war in einem blauen Umschlag und liegt jetzt auf meinem Schreibtisch in der linken Ecke."

Über diesen Umweg war es damit auch bei diesen Patienten möglich, einen visuellen Eindruck abzurufen. Den Patienten war nur häufig selbst nicht klar, dass ihre abstrakten Gedanken sich sehr leicht bebildern ließen und es eher darauf ankam, ob und wie weit sie bereit waren, diese sowieso vorhandenen Erinnerungsbilder parallel zu ihren Gedankengängen auch bewusst werden zu lassen.

 


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3.  Dritte Einzelsitzung 

Bilder gehen ineinander über 

 

Zu Beginn der Sitzung fragten wir die Patienten, wie sie mit den einzelnen Techniken umgegangen waren, welche ihnen Schwierigkeiten bereitet hatten und wo Unklarheiten bestanden. Dann gingen wir jeweils gezielt auf die vorgebrachten Probleme ein und nahmen die Gelegenheit wahr, um daran das gezielte Arbeiten mit Körpergefühlen oder Erinnerungsbildern zu erklären. 

Sagte ein Patient beispielsweise, er sei noch nicht dazu gekommen, sich ein Stofftier oder etwas ähnliches als Gegenüber zu besorgen, um damit laut zu sprechen und außerdem empfinde er bei der Vorstellung, dies zu tun, ein gewisses Unbehagen, so forderten wir diesen Patienten auf, sein Unbehagen näher zu beschreiben, es ernst zu nehmen und nicht abzutun. Als wir ihn fragten, ob er wisse, was ihm Unbehagen bereite, antwortete er: "Wenn ich laut spreche, dann könnte mein Nachbar mich hören und das wäre mir unangenehm." Auf weiteres Nachfragen stellte sich heraus, dass der Patient befürchtete, von seinem Nachbarn für verrückt gehalten zu werden. Als wir wissen wollten, was er sich unter ,,verrückt" vorstelle, meinte er: ,,Verrückt ist, wenn man nicht mehr richtig denken kann und in der Schule ausgelacht wird." Dann erzählte er von seiner kleinen Schwester, die als Kind aus dem Zug gefallen und seitdem geistig behindert war. Das Mädchen war seine Lieblingsschwester. Je weiter sich der Patient an die lange zurückliegenden Ereignisse erinnerte, um so mehr drückte sich in seinem Gesicht eine deutliche Erregung aus. Er selbst sagte dazu:" Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist und was das mit dem lauten Reden mit dem Teddybären zu tun hat. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich darauf gekommen bin. Ich merke, dass ich mich nicht mehr konzentrieren kann und Kopfschmerzen bekomme."

Gemeinsam mit ihm rekapitulierten wir daraufhin die entscheidenden Etappen seines Berichtes, wodurch es ihm möglich wurde, einen Zusammenhang zwischen seiner Angst, für verrückt gehalten zu werden, wenn er mit einem Teddybären sprechen würde und der ihn noch immer erschreckenden Hilflosigkeit gegenüber dem Schicksal seiner Schwester zu erkennen. Nach dieser Sitzung konnte der Patient unbelastet mit einer Attrappe arbeiten.

Eine andere Möglichkeit bestand darin, die Patienten nach den Assoziationen zu fragen, die sich bei ihnen in typischen Auslösesituationen eingestellt hatten. Die Patienten lernten diese jeweiligen Bilder immer im Zusammenhang mit den augenblicklichen Körperempfindungen zu sehen. Es konnte sich immer wieder die gleiche Assoziation einstellen, wenn sie ein bestimmtes Körpergefühl realisierten. Aber sehr viel häufiger assoziierten sie Verschiedenes zu ein und demselben Gefühl.


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Die Patienten wollten meist wissen, welchen Zusammenhang das Erinnerungsbild mit dem aktuellen Gefühl hätte. Wir versuchten ihnen das so zu erklären: Ein bestimmtes Körperempfinden, das sich z.B. in Gefühlen wie Freude, Hunger oder Trauer ausdrückt, kann in sehr unterschiedlichen Situationen erlebt werden. Man kann dabei z.B. bekleidet oder unbekleidet sein, sich in einem Raum oder im Freien aufhalten, und natürlich kann man, während man ein solches Gefühl verspürt, seinen Blick über verschiedene Gegenstände schweifen zu lassen.

Andererseits ist es natürlich auch möglich, seinen Blick auf einem Gegenstand ruhen zu lassen, unabhängig davon ob man dabei traurig, satt oder müde ist. Deswegen ist es notwendig, nicht nur ein solches Bild zu beschreiben, sondern im nächsten Schritt diese Erinnerung auch darauf abzufragen, was man in der erinnerten Situation gefühlt hat. Erst damit ist die räumliche und zeitliche Zuordnung dieser bestimmten Episode und ihre Abgrenzung zu anderen, ähnlichen Vorgängen möglich.

Wenn die Patienten sich ein Erinnerungsbild wieder so genau, wie es eben ging, ins Gedächtnis zurückgerufen hatten, sollten sie denjenigen Eindruck, beziehungsweise das Gefühl nennen, welches ihnen in dieser Situation am bedeutsamsten schien. Wir meinten damit nicht nur dramatische Gefühlsregungen; genauso interessant für die Therapie ist es festzuhalten, ob sie sich in der betreffenden Situation gelangweilt hatten oder vielleicht ruhig und zufrieden gewesen waren. Patienten, die sich in ihrer Kindheit häufig gelangweilt hatten, versuchten nämlich nicht selten, sich an besonders aufregende Szenen zu erinnern, und auch den Ablauf der Therapie dramatisch zu gestalten, anstatt aufzuklären, welche Konsequenzen ihre langweilige Kindheit für ihr späteres Leben hatte. 

Viele Patienten meinten auch, die Erinnerungen an angenehme, zurückliegende Ereignisse könnten für den therapeutischen Prozess nicht von Bedeutung sein. Dabei wird erst auf dem Hintergrund der vollen Erinnerung an einen sorglosen und unbeschwerten Lebensabschnitt verständlich, welche Dimensionen spätere Verletzungen und Verluste für das subjektive Erleben hatten. Patienten, die die Nachkriegszeit als Flüchtlinge erlebt hatten, konnten sich nie wieder richtig wohlfühlen, weil sie die neue Umgebung als feindselig empfanden.

Kehrt ein solcher Patient in seinen Erinnerungen immer wieder zu einem bestimmten Zeitabschnitt zurück, so kann er vielleicht nach einer Weile erkennen, unter welchen Belastungen er jahrzehntelang gelebt hat, und dass er selbst dann nicht mehr in der Lage war sich zu entspannen, als sich im weiteren Verlauf seines Lebens seine äußere Situation längst wieder verbessert hatte.

 

57)  Janov, A., a.a.O.: 138


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Das Behandlungsziel der Primärtherapie, das "Realwerden"57) der Patienten, kann nur erreicht werden, wenn Klarheit über die wirklichen Umstände der persönlichen Lebensgeschichte gewonnen wird.58) Wir wiesen die Patienten deshalb immer wieder darauf hin, dass es falsch wäre, die Erinnerungen nach bestimmten Vorstellungen, die sie sich über ihr Leben gebildet hatten, zu ordnen und zu erklären. Ein solches Vorgehen mag zwar plausibel sein, es folgt aber einer einem vorgefügten Schema, das echte Erkenntnisse über zurückliegende Ereignisse eher behindert als fördert. Eine solche Verfahrensweise entspräche einem kausalanalytischen Vorgehen, bei dem Zusammenhänge über logische Bezüge hergestellt werden. 

Bei der Primärtherapie hingegen ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Erinnerungsbilder nicht erklärt werden, sondern dass der Patient in einem geduldigen Prozess so lange solche Bilder sammelt und beschreibt, bis sich deren Bedeutung für sein heutiges Leben spontan durch ein Aha- Erlebnis59 erschließt. Da die meisten Patienten sich eine Theorie über ihre Kindheit gebildet hatten, fiel es ihnen schwer, diese nicht sogleich als Deutungshilfe für die Erinnerungsbilder heranzuziehen. 

Besonders solche Patienten, die sich zuvor Therapieverfahren unterzogen hatten denen eine festgefügte Theorie über das Zustandekommen von Traumata in der Kindheit zugrunde liegt,60 hatten Schwierigkeiten sich von speziellen vorgegebenen Deutungskonzepten wieder zu lösen. 

Das gleiche galt für solche Patienten die sich mit psychologischer Literatur beschäftigt und daraus Elemente extrahiert hatten, die sich als Erklärung für ihre jeweiligen Probleme eigneten. Am wenigsten Schwierigkeiten hatten die Patienten mit der von uns angebotenen Methode, die weder über eine akademische Ausbildung verfügten, noch sich jemals vorher mit psychologischen Theorien beschäftigt hatten. Nachdem die Patienten das Gefühl beschrieben hatten, fielen ihnen in der Regel ein weiteres Bild ein. 

Dieses Bild sollten sie dann genauso behandeln wie das vorausgegangene. Darin würde sich dann ein anderes Gefühl als bedeutsam erweisen und diesem würde dann wieder ein Bild folgen und so weiter. Solche Ketten von Gefühlen und Erinnerungsbildern entwickeln sich spontan, wenn man ihnen kein Hindernis entgegensetzt. Wir übten diese Vorgehensweise mit den Patienten sehr ausführlich und so entstanden Assoziationsfolgen, bei denen sich jeweils der Übergang von einem Bild zum nächsten über das Registrieren und Beschreiben des wesentlichsten gefühlsmäßigen Eindruckes des vorangegangenen Erinnerungsbildes gestaltete. 

Die Patienten begannen den therapeutischen Prozess jeweils indem sie in einer aktuellen Auslösesituation ein Erinnerungsbild assoziierten. Mit dem Erinnerungsbild konnten sie dann sofort in der beschriebenen Art und Weise verfahren; sie konnten sich dieses Bild aber auch merken und zu einem späteren Zeitpunkt damit weiterarbeiten.

 

58)  Rosenberg, W.E., a.a.O.: 95, 142ff  
59)  Bühler, K., 1922 (Neuaufl. 1967: 18)
60)  Kritische Übersicht bei Hemminger, H., 1962


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Hatten die Patienten in einer solchen Situation weder auf ihre Empfindungen geachtet, noch ein Erinnerungsbild registriert, so konnten sie alternativ die betreffende Situation so genau wie möglich rekonstruieren. Wir fragten in diesem Fall die für die Bewertung der Situation unbedeutenden Elemente zuerst ab, um uns danach den bedeutenderen zu nähern, mit dem Ziel herauszufinden, welches Körpergefühl für einen Patienten in jener Situation beherrschend gewesen war. Hatten sie dieses Gefühl registriert und beschrieben, so sollten sie auf das nächste Bild achten, welches ihnen einfiel und dann so fortfahren, wie oben angegeben.

Manche Patienten klagten, dass sie Schwierigkeiten hätten, "richtige" Bilder zu sehen. Ihnen fielen zwar bestimmte Szenen oder Ausschnitte solcher Episoden ein, da sie aber zwischen diesen Bildern und der vorausgegangenen realen Situation keinen Zusammenhang herstellen konnten, verwarfen sie diese Bilder als untauglich und warteten statt dessen auf solche, die mit ihren Erwartungen übereinstimmten. Teilweise berichteten sie auch, dass sie für einen ganz kurzen Augenblick ein Bild gesehen hätten und dass sie sicher wüssten, dass in diesem Bild etwas Belastendes enthalten sei, Das Bild sei aber sofort wieder verschwunden, weshalb sie es nicht beschreiben konnten.

In einem solchen Fall empfahlen wir den Patienten, dann eben das Bild zu wählen, welches ihnen als nächstes eingefallen war und weniger belastend schien.

Bei diesem Prozess des Erinnerns können sehr frühe oder erst kurz zurückliegende Ereignisse miteinander abwechseln. Für das Verständnis der rezenten Problematik eines Patienten sind sie gleichermaßen wichtig, da es sich dabei um eine kontinuierliche Entwicklung der gleichen Person handelt.

 

Wir ließen die Patienten die Assoziationsketten so lange fortsetzen, bis sie einen Punkt erreichten, an dem sie durch diese Erinnerungen so betroffen wurden, dass sie sich nicht mehr imstande fühlten, sich weiter darauf einzulassen. Sie konnten dann eine heftige Erregung verspüren, starke Angst entwickeln, oder es konnte geschehen, dass die Bilder sich ganz plötzlich ihrer Erinnerung entzogen. Es hat sich bewährt, sich solche belastenden Anteile dann nicht sofort zu vergegenwärtigen, sondern sich harmloseren Aspekten der betreffenden Lebensphase zuzuwenden. 

Den Sinn dieses Vorgehens versuchten wir den Patienten wieder an einem Beispiel zu demonstrieren: Wir zeigten ihnen zu diesem Zweck die ganzseitig mit einer Photoreklame bedruckte Seite einer Illustrierten, aus deren Mitte ein Herz herausgeschnitten worden war. Fragten wir die Patienten was sie sähen, so antworteten die meisten von ihnen: "Ein Herz."


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Tatsächlich aber sahen sie ein Papier vor sich liegen, in dessen Mitte sich ein herzförmiger Ausschnitt befand. Wir fügten daraufhin das aus dieser Seite herausgeschnittene Teil nahtlos mit der Rückseite nach oben in den passenden Ausschnitt ein und fragten die Patienten, ob sie diese Anordnung akzeptierten. Die Patienten gaben zwar zu, dass die Größenverhältnisse stimmten, waren aber unzufrieden mit der Unstimmigkeit des Musters und wendeten das Papierherz um. Im zweiten Schritt nahmen wir nun das umgebende Blatt weg und baten die Patienten aus der Erinnerung zu rekonstruieren, was darauf abgebildet gewesen war.

Keiner der Patienten konnte alle Einzelheiten dessen wiedergeben, was er zuvor auf dem Photo gesehen hatte. Es fiel ihnen offenbar leichter, einen bestimmten fehlenden Ausschnitt eines Bildes zu ergänzen, als umgekehrt von einem solchen Ausschnitt aus, dessen Umgebung zu rekonstruieren. Jeder Leser, der sich mit Puzzles beschäftigt hat, kennt diese Eigenheit solcher Vorgänge. Es ist offensichtlich leichter, zunächst den Rand eines Puzzles zusammenzusetzen und am Schluss einzelne fehlende Teile in der Mitte einzufügen, als mit interessant aussehenden Fragmenten zu beginnen und sich von dort aus dem Rand des Bildes zu nähern. 

Mit diesen Beispielen suchten wir zu verdeutlichen, dass es ungeschickt und unzweckmäßig wäre, sich sofort die dramatischen Anteile eines erlebten Geschehens ansehen zu wollen. Sehr viel leichter und direkter zugänglich sei es, sich zuerst mit der ungefährlichen und nicht belastenden Umgebung eines Ereignisses zu beschäftigen und sich von dort aus dem Zentrum zu nähern. Das Ereignis kann gleichzeitig in seinem Kontext erfasst und erst dadurch richtig bewertet werden. 

Wenn sie also in einer speziellen Situation beispielsweise den Anblick des Gesichtes ihres Vaters nicht ertragen konnten, so sollten sie sich statt dessen die neutralen Anteile des Erinnerungsbildes ansehen. Fiel ihnen auch dieses zu schwer, so war es besser, sich noch weiter in die Peripherie des Bildes begeben oder sich sogar an andere, weniger belastende Situationen der gleichen Zelt zu erinnern. Sie konnten sich beispielsweise ansehen, mit wem sie in dieser Zeit gespielt hatten, wie ihr Schulweg war usw. 

Wenn sie es sich zutrauten, hatten sie die Möglichkeit, sich von dort aus wieder dem belasteten Erinnerungsbild zu nähern. Auf diese Art und Weise konnten die Patienten selbst bestimmen, inwieweit sie belastende Eindrücke zulassen konnten und wollten. Wenn sie viele unbelastende Einzelheiten aus der Peripherie eines belastenden Geschehens gesammelt hatten, würde es leichter sein, sich die bedrohliche Situation im Zentrum anzusehen, da sie in der Proportion mit den seinerzeit herrschenden Bedingungen gesehen und damit verständlicher und weniger ängstigend wäre, als wenn sie nur isoliert dastände. 


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Mit dieser Art des Vorgehens hatten die Patienten auch dann die Möglichkeit mit dem gezielten Erinnern von Situationen fortzufahren, wenn sie an den speziellen belastenden Szenen nicht unmittelbar weiter arbeiten konnten. Schließlich kamen wir am Ende der dritten oder zu Beginn der vierten Einzelsitzung noch auf die Problematik zu sprechen, die generell damit verbunden ist, wenn Menschen sich einer psychotherapeutischen Behandlung unterziehen. 

Bei vielen der von uns behandelten Patienten bestand anfänglich eine Tendenz, die Tatsache zu glorifizieren, dass sie sich in eine Psychotherapie begeben hatten. Aus dieser Sicht meinten einige sogar, jeder Mensch müsse sich einer Therapie unterziehen, um "komplett" zu sein. Wir versuchten die Patienten hingegen zu einer nüchterneren Betrachtungsweise gegenüber jedweder Art von Psychotherapie zu ermutigen. 

Per Definition handelt es sich bei einer medizinischen Therapie um eine Heilbehandlung. Es sind nur wenige medizinische Therapien bekannt, deren Anwendung nicht auch unerwünschte Nebenwirkungen mit sich bringt. Auch Patienten mit einer kritischen Einstellung gegenüber Ärzten tendierten jedoch zu einer überraschend sorglosen Einschätzung der möglichen Folgen, die durch Manipulationen ihrem Seelenleben entstehen könnten. Deswegen erwies es sich immer wieder als notwendig, darauf hinzuweisen, dass jede therapeutische Handlung als ein notwendiges Übel anzusehen ist, das zwar geeignet ist, einen unangenehmen Zustand zu verändern, trotzdem aber immer auch einen Eingriff darstellt, dem sich ein gesunder Mensch nicht unterziehen würde. Sinnbildlich gesprochen ist es schlechter an einer goldenen Krücke zu humpeln, als ohne Stock unbeschwert laufen zu können,

Viele Patienten wunderten sich darüber, dass sie keine Lust verspürten, das hier Gelernte anzuwenden, obwohl die Einzelschritte der Therapie leicht durchzuführen wären. Hatten unsere Patienten anfangs eher befürchtet, sie seien möglicherweise nicht in der Lage, die Therapie zu Hause alleine ohne fremde Hilfe durchzuführen, so stellte sich nun heraus, dass sie sie im Grunde gar nicht anwenden mochten. Sie wollten eigentlich ihre Probleme gleich los sein und sich nicht einem mühsamen und zeitaufwendigen Verfahren unterziehen. 

Den Patienten, die unter manifesten somatischen Beschwerden zu leiden hatten, fiel die Entscheidung für die Therapie bedeutend leichter, als jenen, die sich nur aus Überzeugung heraus jedes Mal von neuem dazu überreden mussten. (Dieser Aspekt ist besonders bei der Indikationsstellung für die Therapie zu berücksichtigen.) 

Dies bedeutet aber auch, dass ein Patient, wenn er die Psychotherapie nicht als Zeitvertreib betrachtet, sich jedes Mal von neuem schmerzhaft vergegenwärtigen muss, was der Anlass für die Therapie war. Die unangenehme Erkenntnis, unter psychischen Behinderungen und Gefühlsstörungen zu leiden, ist deshalb notwendige Voraussetzung für den Einstieg in den therapeutischen Prozess. Alle Patienten, die eine Therapie bei uns begonnen hatten, sahen ihre Störungen in Ursachen begründet, die von ihnen seinerzeit nicht zu beeinflussen gewesen waren. Dass sie sich jetzt noch freiwillig einer Therapie unterziehen mussten, empfanden sie als Zumutung. Gleichsam als seien sie doppelt bestraft. Die Auseinandersetzung mit diesem Problem lässt sich natürlich umgehen, wenn die Therapie als solche als etwas Positives dargestellt wird.

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4. Einzelsitzung      Wiederholung    

 

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Die vierte Einzelsitzung war dazu vorgesehen, die Inhalte der vorausgegangen Termine zu rekapitulieren und offengebliebene Fragen zu thematisieren. Wir ließen uns wieder berichten, wie die Einzelnen zu Hause gearbeitet hatten und ob sie in der Lage gewesen waren, den Wechsel von Gefühlen und Bildern nachzu­vollziehen und anzuwenden. Teilweise waren auch bestimmte Themen der vorausgegangenen Sitzungen aus Zeitgründen nicht erschöpfend behandelt worden und mussten daher noch ergänzt werden. Die Patienten hatten während dieser Sitzung Gelegenheit, die einzelnen Schritte der Therapie zu besprechen und sie im Zusammenhang zu sehen. Schwierigkeiten mit bestimmten Techniken wurden dabei noch einmal analysiert und die einzelnen Schritte sehr umfassend geübt. 

Am Ende der Sitzung besprachen wir auch individuelle Probleme, die einen Patienten davon abhalten konnten, die Methode überhaupt anzuwenden. So könnte z.B. jemand, dessen Problem es ist, nichts durchhalten zu können und alle Unternehmungen, die er beginnt, vorzeitig abzubrechen, dies auch mit der Therapie tun. Das würde sich aber als besonders problematisch erweisen, wenn er die Therapie gerade aus diesem Grunde begonnen hatte. In einem solchen Fall würde so eine Störung unter Umständen das Bearbeiten eben dieser Störung unmöglich machen. 

Dieses Problem ist meines Erachtens von uns bisher unbefriedigend gelöst. Wir konnten uns nur darauf beschränken, diesen Sachverhalt eindringlich bewusst zu machen und mit den Patienten ausführlich zu diskutieren, damit sie in betreffenden Fall Situationen in der Lage sein würden, diese Störung zum Gegenstand der Therapie zu machen, anstatt die Therapie daran scheitern zu lassen. 

Wir beendeten die vierte Sitzung erst, wenn wir uns davon überzeugt hatten, daß einem jeden Patienten alle essentiellen Bestandteile dieses Therapieverfahrens sicher zur Verfügung standen.

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