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(IV)  1.  Gruppensitzung   Entwicklungspsychologische Konzepte 

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In der ersten Gruppensitzung, die in der Regel eine Woche nach der letzten Einzelsitzung stattfand, gaben wir den Patienten zunächst Gelegenheit, sich miteinander bekannt zu machen. Manche Patienten nannten nur ihre Vornamen, manche gaben Pseudonyme an, andere wiederum erzählten über sich und die Gründe, warum sie dieses Verfahren erlernen wollten. Wir erklärten dann, wie die Gruppensitzungen ablaufen würden: In der jeweils ersten Hälfte einer Sitzung bestand Gelegenheit, darüber zu berichten, ob die therapeutischen Techniken angewendet worden waren, ob jeder einzelne damit zurecht gekommen war und wo sich Schwierig­keiten ergeben hatten.

Im weiteren Verlauf jeder Sitzung sollten den Patienten dann theoretische Grundlagen vermittelt werden, damit sie am Ende des Kurses in der Lage wären, den Stellenwert bestimmter, typischer Schwierigkeiten, die beim Anwenden dieser Therapie auftreten, einzuschätzen und die Probleme selbst angehen zu können. Die Dauer der Sitzungen bestimmte sich aus den Bedürfnissen und Interessen der Teilnehmer heraus; ein festes Ende war nicht vorgegeben. Wir erklärten, dass für diese Gruppen keine fest vorgeschriebenen Regelungen gibt, durch die von vorneherein festgelegt wird, was darin gesagt werden darf und was nicht. Die Patienten sollten nur die Aussagen der Mitpatienten nicht wertend kommentieren oder beurteilen.

Diejenigen, die früher schon an gruppentherapeutischen Veranstaltungen teilgenommen hatten, erlebten dieses Verfahren einerseits als ungewohnt, andererseits aber als beruhigend. Der Hintergrund für diese Regelung, die ich an anderer Stelle61) erfolgreich erprobt habe, geht von folgender Überlegung aus: 

Bei diesem therapeutischen Verfahren macht später jeder der daran Beteiligten seine Therapie selbständig. Der Patient wird also sozusagen zu seinem eigenen Therapeuten

Der Grund dafür, mehrere Patienten zu gemeinsamen Gruppensitzungen zusammenzufassen, liegt darin, dass es zweckmäßig und für den einzelnen kostengünstiger ist, wenn die notwendigen theoretischen Informationen an mehrere Patienten gleichzeitig vermittelt werden.

Die Teilnehmerzahl von fünf sollte jedoch auch hierbei nicht überschritten werden, da dem einzelnen ausreichend viel Zeit zur Verfügung stehen soll, um Fragen stellen zu können, besondere Probleme zu diskutieren und Bezüge zu seinen, im ersten Teil des Kurses genannten, konkreten Schwierigkeiten bei der Anwendung des Verfahrens herstellen zu können. 

 

61)  Michel, S. 1982: 85- 87


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Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass verschiedene Patienten ganz verschiedene Probleme mit der Therapie beschreiben und die Teilnehmer einer solchen Gruppe so die Gelegenheit erhalten, besondere Hindernisse bei der Anwendung dieser Technik kennen zu lernen, die bei Ihnen selbst bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht aufgetreten waren, die aber im weiteren Verlauf auch bei ihnen eine Rolle spielen konnten.

Viele Patienten hatten zudem übersteigerte Vorstellungen und Erwartungen daran, in welcher Zeit sich bei ihnen die ersten "Primals" (s.u.) eingestellt haben müssten. Besonders für diese Teilnehmer, die ihre Anfangs­schwierigkeiten mit der Technik dahingehend interpretierten, dass die Therapie für sie zu schwierig sei, ist es von Vorteil, wenn sie während der Gruppensitzungen beobachten können, dass der Umgang mit der Methode auch bei anderen Mitgliedern der Gruppe nicht mühelos und ohne Probleme verläuft. Außerdem ist es für die Patienten günstig, wenn sie sich bestimmte methodische Vorgehensweisen in einer Situation einprägen können, in der sie nicht selbst unmittelbar von einem Problem betroffen sind. 

Für die meisten Patienten ist es leichter, die Schwierigkeiten, die bei Anwendung einer bestimmten Technik auftreten, dann aufzuklären, wenn sie gerade nicht Erinnerungsbilder vor Augen haben, die für ihre Therapie von Bedeutung sind.

Da jeder Patient seine Therapie für sich allein durchführt, sind weder wertende oder kommentierende Bemerkungen der Gruppenteilnehmer, noch solche des Therapeuten für den einzelnen Patienten hilfreich. 

Denn bei diesem therapeutischen Verfahren werden Patienten mit Hilfe besonderer Techniken dazu in den Stand versetzt, sich so gezielt an biographische Einflüsse zurückzuerinnern, diese mit heutigen Problemen in Beziehung zu setzen und aufzulösen, dass es keiner Fremddeutung mehr bedarf.62)

Welche Ereignisse auf eine Person in welchem Zusammenhang traumatisierend wirken, erschließt sich für diese im Nachhinein und lässt sich nicht vorneweg durch ein theoretisches Konzept erschließen.

Wir vereinbarten daher mit den Patienten, dass sie nur Fragen stellen sollten, wenn sie Aussagen der anderen Gruppenteilnehmer nicht verstanden hatten. Sie konnten auch ihre persönlichen Erfahrungen dazu mitteilen und damit etwas von sich selbst erzählen. Obwohl diese Vereinbarung auf den ersten Blick den Eindruck vermitteln mag, durch sie werde jedwedes intensive Gespräch unterdrückt, so hat sich doch gezeigt, dass sich gerade weil die Meinungen und Aussagen der Patienten nicht kritisiert oder wertend kommentiert wurden, ein sehr angenehmes, offenes Gruppenklima einstellte.

 

62)  Görres, A., 1977: 1210 (in: Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Hrsg.)


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Im Vergleich zu Erfahrungen aus anderen Gruppentherapien, machten die Patienten hier überraschend ehrliche Aussagen über sich selbst. Teilnehmer, die vorher die Befürchtung geäußert hatten, sie könnten vor anderen Menschen nicht über ihre Probleme sprechen, erzählten unter diesen Bedingungen sehr persönliche Einzelheiten von ihren Schwierigkeiten. Wir wiesen in der ersten Gruppensitzung auch noch einmal mit Nachdruck darauf hin, dass es nicht nötig wäre, die konkreten Inhalte dessen, woran sich die Patienten erinnert hatten (oder womit sie sich gerade beschäftigten), mitzuteilen. Statt dessen konnte ein Patient sagen:

"Immer wenn ich mir eine ganz bestimmte Situation aus meiner Kindheit ansehe, bekomme ich starkes Herzklopfen, und dann denke ich ganz schnell, ohne dass ich das selbst will, an etwas anderes. Wenn ich mir das Bild danach noch einmal vornehmen will, klappt es nicht mehr. Wie kann ich mit diesem Problem umgehen?" 

In einem solchen Fall konnten wir dann die technischen Aspekte dieses Problems aufgreifen, ohne überhaupt über den Inhalt der Erinnerungen sprechen zu müssen, wenn dies von den Patienten nicht gewollt war. Wir respektierten solche Wünsche der Patienten und deuteten sie nicht als Widerstände, die es unbedingt zu überwinden gelte. 

Falls beispielsweise ein Patient aber andeutete, es sei sein generelles Problem, private Informationen über sich fremden Menschen gegenüber zu äußern und er würde dieses spezielle Problem gerne lösen, so empfahlen wir ihm folgende Vorgehensweise: Der Patient sollte versuchen, sich vorzustellen, was passieren könnte, wenn er persönliche Informationen von sich preisgeben würde. Sagte er dann beispielsweise: ,,Ich fürchte, dann würde ich ausgelacht werden." würden wir die Frage anschließen, ob er sich an eine Situation erinnern könne, in der er schon einmal ausgelacht worden sei. Dies fragten wir von der Überlegung ausgehend, dass man sich nur vor etwas fürchten kann, was man in irgendeiner Form schon einmal erlebt hat.

Der Patient kann also eine alte Erfahrung auf ein zukünftiges Ereignis projizieren. Ob er aber in der neuen Situation tatsächlich wieder ausgelacht werden würde, kann er nicht von vorneherein wissen. Wenn ein Patient beispielsweise angibt, ausgelacht worden zu sein und sich an eine Situation, in der er ausgelacht wurde, genau erinnern kann, so schließen wir als nächste Frage an: "Was ist schlimm daran, ausgelacht zu werden?" Die Antwort könnte lauten: "Dann bin ich isoliert und habe keine Freunde." Nun ist weiter zu prüfen. was physisch schlimm daran ist, isoliert zu sein und keine Freunde zu haben. Meist wird sich in solchen Fällen nicht an eine einzelne Episode erinnert, sondern vor dem inneren Auge des Patienten taucht ein ganzer Zeitabschnitt, in dem er ohne Freunde war, auf.


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Um die Relevanz der Erfahrung einschätzen zu können, was es heißt, über einen längeren Zeitraum hinweg isoliert und ohne Freunde dazustehen, ist es notwendig, sich viele Einzelheiten aus der betreffenden Zeit anzusehen. Dies ist nötig, um ermessen zu können, welchen Einfluss eine solche Situation auf die spätere Entwicklung dieses Menschen genommen hat. So mag jemand, der isoliert war, sich z.B. zum Stubenhocker und Bücherwurm entwickelt haben und trotzdem auch im Erwachsenenalter noch "einen Stich verspüren", wenn er eine Gruppe von Jungen auf der Straße Fußball spielen sieht.

Ein Hauptinteresse der Patienten lag darin zu erfahren, worin sich die Primärtherapie theoretisch von anderen Therapieverfahren unterscheidet. Viele von ihnen hatten psychologische Literatur gelesen, bevor sie zu uns kamen und sich mit unterschiedlichen psychologischen Theorien beschäftigt.

Dabei hatten sich bei ihnen oft konkrete Vorstellungen darüber gebildet, auf welche Art und Weise bestimmte Ereignisse in ihrer Kindheit Einfluss auf ihre spätere Entwicklung genommen haben müssten. Die meisten dieser Vorstellungen bezogen sich auf die Beziehung zu bestimmten Personen, das hieß z.B., dass die Patienten fanden, ihre Eltern seien zu streng gewesen, sie selbst seien nicht genug geliebt oder gestreichelt worden, etc. 

Dass auch andere Einflüsse wie Lärm, Kälte, häufige Umzüge, Krankheiten wichtiger Bezugspersonen und vieles andere mehr zu bleibenden Störungen führen können, kam in den Theorien unserer Patienten als Möglichkeit meist nicht vor. Wir diskutierten mit den Patienten die biologische Betrachtungsweise, dass ein lebendiger Organismus sich dann am Besten entwickeln kann, wenn er zur richtigen Zeit und in der richtigen Menge das erhält, was er gerade braucht. 

Was für ein Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt richtig ist, kann nicht abstrakt bestimmt werden, sondern lässt sich nur über das Realisieren von Körpergefühlen feststellen. Nach dem ethologischen Modell sind es physische Empfindungen, die ein Individuum veranlassen, seine Lage zu verändern und nach der Befriedigung der neuaufgetretenen Unruhe zu trachten. Das jeweilige Ziel formt sich dabei in dem Individuum vermutlich zu einem "Suchbild", nach dessen Muster die in Frage kommenden Objekte seiner Umwelt auf ihre Brauchbarkeit hin überprüft werden.63)

Dieses Suchbild wird bei häufiger Bestätigung fixiert und schließlich von seinem Ursprungsempfinden isoliert, bis es den Charakter einer Gewohnheit annimmt. Solche Gewohnheiten sind erst dann wieder aufzulösen, wenn eine Rückbesinnung auf das Ursprungsempfinden ein Wiedererkennen des Wesentlichen erlaubt.64,65)

 

63)   Hinde, R.A. , 1966, 1973, 1987: 149, 514


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Deshalb ist es möglich, auch zu einem späteren Zeitpunkt Rückschlüsse auf die eigenen Bedürfnisse in jener Situation zu ziehen, wenn man sich an die Empfindungen erinnert, die man zu einer bestimmtem Zeit hatte. Menschen verfügen über die Möglichkeit auf Grund ihres Gefühls entscheiden zu können, ob eine Situation für sie stimmig ist. Dies gilt jedoch nicht für den Typus von Entwicklungen, in denen Kinder in einer bestimmten Phase ihres Heranwachsens gewisse Fertigkeiten nicht zu erlernen brauchten. 

Ein Kind etwa, welches bis zum Kindergartenalter von seiner Mutter an- und ausgekleidet wird, mag erst zu einem späteren Zeitpunkt darunter leiden, dass es sich nicht selbst anziehen kann; dann nämlich, wenn niemand mehr bereit ist, diese Aufgabe für es zu übernehmen. Die Nachteile von Verwöhnung scheinen nicht unmittelbar zu dem Zeitpunkt, an dem sie stattfindet, wahrgenommen werden zu können, sondern werden erst zu einem späteren Zeitpunkt offenbar. 

Patienten können zurückliegende Situationen daraufhin überprüfen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt schädigenden Einfluss auf Ihre Entwicklung genommen hat. Sie können dabei ihr Empfinden als eine Art Kompass verwenden (s.o.). Die Patienten konnten z.B. über eine bestimmte Situation sagen: "Meine Mutter war kalt. Sie hat mich nie geliebt.", was dann im Einzelfall vielleicht bedeuten konnte, dass die Mutter nicht bemerkt hatte, dass ihr Kind ständig unter einer zu dünnen Bettdecke schlafen musste und gefroren hatte; aber auch, dass es zu selten beachtet oder in den Arm genommen worden war, etc. 

Im Unterschied zu anderen Therapiemodellen kann in der Primärtherapie allein mit Hilfe der physischen Empfindung über die Bedeutung entschieden werden, die eine bestimmte Erfahrung für ein Individuum zu dem Zeitpunkt ihres Eintretens bekommt. Spätere Bewertungen basieren nicht mehr auf der originalen Empfindung dieser Ursprungserfahrung und geben deren Gehalt folglich nicht mehr in geeigneter Weise wieder.

 

64) Rosenberg, W.E., a.a.O.: 24-27 
65)  J. v. Uexküll beschreibt, wie er eine Glaskaraffe auf dem Esstisch übersah, da er nach einen Tonkrug suchte. Er beschreibt diese Erfahrung mit den Begriff des "Suchbildes". Das "Suchbild" des Kruges stimmte nicht mit dem der Karaffe überein. (zit. n. Hinde ebenda). Die Besinnung auf Uexkülls Bedürfnis nach Wasser eröffnet die Möglichkeit, sich von diesem Suchbild zu lösen und seinen Durst zu löschen.


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Das betroffene Individuum ist, zumal als Kind, nicht in der Lage, die Summe der Einflüsse, die sein Gefühl präformieren, zu erkennen. Es spürt nur das Gefühl selbst und behält die Erinnerung daran als private Erfahrung bei.65)

Deshalb eignen sich psychologische, philosophische oder weltanschauliche Deutungskonzepte nach unserer Auffassung in keinem Fall dazu, solche ganz persönlichen Erfahrungen in ihrer subjektiven Tragweite adäquat zu erfassen.67) Schließlich werden in der Primärtherapie die erinnerten Szenen und Sequenzen als reale, erlebte Vorgänge und nicht als symbolische Merkposten aufgefasst.

Die Zuordnung bestimmter, typischer Formen des Erlebens und der Verarbeitung von Umwelteindrücken zu bestimmten Entwicklungsstufen fällt leichter, wenn die Charakteristika solcher Phasen entweder theoretisch bekannt oder zumindest aus der eigenen Erinnerung vertraut sind. Damit sind an dieser Stelle aber nicht entwicklungspsychologische Theoriemodelle gemeint, da diese sich erfahrungsgemäß nicht zur Erinnerung trivialer Details eignen. Sie heben spezielle Aspekte hervor, neben denen die für die Primärtherapie besonders aufschlussreichen sich wiederholenden Alltagserfahrungen eines Kindes nicht hinreichend gewürdigt werden. Nach unserer Vorstellung können nicht nur akzentuierte Erlebnisse seelische Störungen hervor rufen, sondern gerade chronische Belastungen (die unter Umständen, weil nie eine Alternative zu ihnen bestand, gar nicht als solche erkannt werden) sind dazu imstande.

 

66)  GÖRRES forderte 1975 (publiziert 1976: a.a.O. 80f) die systematische Eingliederung aller Forschungen über erlebnisreaktive Fehlentwicklungen als Beiträge zur Stressforschung, insbesondere als sie alle auch Theorien von Adaptionssyndromen darstellten. Hierin erfasst GÖRRES auch "Die Unsumme von Forschungsbemühungen, die sich der Sache nach mit dem Aufbau innerer Dauerstressoren in der frühen Kindheit beschäftigen, also mit den Stressdispositionen im psychobiologischen Programm. (...) Der Hinweis auf das psychobiologische Programm scheint (mir) wichtig, weil von den in ihn enthaltenen ererbten Voraussetzungen und früh erworbenen Engrammstrukturen vor allem abzuhängen scheint, wie ein Organismus die ihn begegnenden Stimuli und komplexeren Situationen interpretiert, welche Bedeutung er ihnen zuteilt."

Doch selbst wenn GÖRRES' wichtiger Forderung entsprochen würde, bliebe immer noch der Umstand, dass mit keiner Theorie und keinem Konzept vorausgesagt werden könnte, welcher Stimulus zu welcher Zeit unter welchen inneren Bedingungen welches Individuum mit welcher Vorgeschichte eine gegebene Erfahrung wie verarbeitet hat. Die Auskunft darüber ist letztendlich nur den Individuum selbst in historischen Nachvollzug möglich. (S.M.)

67)  vergl. Rosenberg, W.E., a.a.O.: 11f


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Korrespondierend damit muss die jeweilige biologische Disposition des Individuums gesehen werden (Hirnreifung, vulnerable Phasen), die entscheidend mitbestimmt, wie Erlebtes verarbeitet wird. Wir bemühten uns deshalb, unseren Patienten einen Abriss der allgemeinen Entwicklungsbiologie des Kindes wie sie von HASSENSTEIN68 dargestellt wurde, nahezubringen um sie mit dem Gedanken vertraut zu machen dass Traumata in der Regel nicht auf ein monokausal fassbares Geschehen zurückgeführt werden können, sondern dass sich solche Störungen am ehesten mit einer systemischen Betrachtungsweise erfassen lassen.

JANOV postuliert ein Schema, in dem drei unterschiedliche Entwicklungsstufen, in denen sich Störungen manifestieren können, voneinander abgrenzbar sind. Er unterscheidet eine vorsprachliche, empfindungs­gebundene, von einer an Konkretes gebundenen sprachlichen und einer symbolisch abstrakten Sprach- und Denkebene.69

Störungen, die in der ersten Ebene entstanden sind, können später, in entsprechender Form in den anderen Ebenen repräsentiert sein.

 

68)  Hassenstein, B. , 1973
69) Janov, A.; Holden, E.M., 1977b


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6.  Zweite Gruppensitzung 

 Was ist ein Primal? 

 

Auch zu Beginn dieser Sitzung hatten die Patienten, so wie in allen weiteren, die Gelegenheit technische Fragen im Zusammenhang mit der Selbstanwendung der Therapie zu klären. Im Anschluss daran gingen wir zu dem theoretischen Thema des Abends über: Was ist ein Primal?

JANOV hat in seinem Buch "Der Urschrei"70 eine Beobachtung an einem seiner Patienten beschrieben, den er Danny Wilson nennt und der kurz vorher eine Bühnenvorstellung besucht hatte. bei der der Akteur, auf der Bühne hin und her laufend ungehemmt "Mammi" und "Pappi" schrie. Dann erbrach er in eine Tüte und forderte die Zuschauer auf, es ihm nachzutun. Diese Aufführung hatte Wilson so stark berührt, dass er in der nächsten Gruppentherapiestunde davon berichtete. JANOV bat Danny, einem Impuls folgend, seinerseits in der Therapiestunde laut nach seinen Eltern zu rufen.

Als der Patient sich darauf einließ, geriet er in immer stärkere Erregung, die schließlich im einem lauten Schrei kumulierte. Dieses Ereignis schien irgend etwas Wichtiges in ihm bewirkt zu haben, denn er sagte hinterher: "Ich hab's geschafft! Ich weiß nicht was, aber ich kann fühlen"71,72 Als sich solche Szenen mit anderen Patienten wiederholten, begann JANOV diesem Phänomen nachzugehen.

Nach seiner Ansicht war dem Patienten durch diesen Vorgang der Anschluss an sein verlorengegangenes Gefühlsleben gelungen, was zur Folge hatte, dass sich seine psychischen Störungen besserten. JANOV nennt dieses Zentralphänomen "Primal"73 (im deutschen als ,,Urerlebnis" übersetzt).

Aufgrund seiner Beobachtungen entwickelte er die Theorie, psychische Störungen seinen im wesentlichen als Abspaltungen des Gefühls zu verstehen, die auf der Basis frühkindlicher Überlastungen entstanden seien und sich in einer gestörten Gefühlswahrnehmung im Erwachsenenalter fortsetzten.74,75,76,77

 

70) Janov, A., 1973
71)  ders. ebenda: 7
72)  ders. 1977a: 82
73)  ders. 1973: 98
74)  ders. a.a.O.: 14, 16ff, 33ff
75)  ders. 1974a: 16ff, 20f, 24, 30, 79ff, 83f
76)  ders. 1976a: 178f, 182f
77) ders. 1977b: 174


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In einem Primal erlebt der Patient "in sinnlicher Gegenwärtigkeit eine qualvolle Kindheitsszene wieder, als ereignete sie sich im gegenwärtigen Augenblick. Der quasi-halluzinatorische Charakter bezieht sich auf alle Sinnesbereiche. Mit dem vollen Eintauchen in die Gegenwart des Erlebnisses kommt der Schmerz auf seinen Gipfel und ist bald darauf zu Ende gebracht und überstanden. (...) Der ganze Vorgang wird schließlich, so quälend er ist, als intensive Befreiung erfahren, als sei jeweils ein großer Teil eines gestauten Schmerzes aus dem Organismus abgeflossen."78

Ein wesentliches Essential von einem Primal scheint zu sein, dass Menschen in der Lage sind, sich zurück­liegende Ereignisse mit allen Einzelheiten plastisch ins Gedächtnis zurückzurufen. Für unsere Patienten, die dieses besonders plastische Erinnern in den vorausgegangenen Einzelsitzungen und dazwischen zu Hause ausprobieren konnten, war die Tatsache, solches zu vermögen, nun nur noch wenig sensationell.

Für PENFIELD79), der mit Hilfe elektrischer Stimulationen der Hirnrinde bei Operationen am offenen Gehirn von nicht narkotisierten Patienten ähnliche, sehr intensive Erinnerungsbilder, oft mit den dazugehörigen Gerüchen, Geräuschen, und Gefühlen reproduzieren konnte, war dies sehr beindruckend. NATHAN80 zitiert ihn folgendermaßen:

"Die Kranken nannten das Erlebnis ein 'Zurückblenden in Traum' und verglichen es mit dem Zurückblenden wie es in der Filmtechnik angewandt wird. (...) Während der Reizung konnten die Patienten auf jede gewünschte Einzelheit achten und nachher darüber Auskunft geben. Die wiedererlebten Szenen waren in der Regel visueller Natur, aber die Geruchs- und Geschmacks­empfindungen des ursprünglichen Erlebnisses waren ebenfalls vorhanden. Alle affektiven Begleiterscheinungen und die ganze Stimmung des ursprünglichen Vorfalls waren zugegen. Der Patient erlebte das Geschehen genauso wie seinerzeit und schrieb ihm die gleiche Bedeutung zu wie damals. Mit dem Erlebnis war auch dessen damalige Beurteilung gespeichert worden."

Wesentlich für ein Primal scheint bei diesen Erinnerungen nicht nur zu sein, dass man sich in solcher Intensität erinnert, sondern auch mit der Bedeutung abgerufen werden, die sie für den jeweiligen Menschen zu dem damaligen Zeitpunkt hatten. Während aber bei den Versuchen von Penfield die Patienten das Auftreten von Erinnerungen nicht willkürlich beeinflussten, sondern diese durch elektrische Reizung der Hirnrinde induziert wurden, ist es offenbar auch möglich, sich ohne eine solche Manipulation in gleicher Weise an zurückliegende Situationen erinnern zu können.

 

78)  Görres, A., a.a.O.: 83f 
79)  Penfield, W., 1952 
80)  Nathan, P., 1975: 195ff 


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Dadurch kann man sich gezielt an bestimmte Situationen und Lebensabschnitte erinnern, was bei elektrischer Reizung nicht gelang. Genau so gut kann man aber auch Erinnerungsbilder in sich aufsteigen zu lassen, deren Inhalte nicht vorherbestimmt waren. So wie PENFIELD's Patienten sagen konnten, sie seinen sicher, die Situation, die ihnen durch Reizung bestimmter Areale der Hirnrinde eingefallen war, schon einmal erlebt zu haben, so fallen Patienten, die sich einer Primärtherapie unterziehen, Situationen plötzlich wieder ein, die sie ,,vollständig' vergessen hatten.

Viele Patienten hatten, angeregt durch die Lektüre der Bücher JANOV´s 81,82,83,84,85 , die Vorstellung entwickelt, es sei wichtig, in kürzester Zeit Erinnerungen aus der ganz frühen Kindheit, von kurz nach der Geburt oder an den Geburtvorgang selbst zu produzieren. Der hier zugrunde liegende Gedanke lässt sich etwa so skizzieren: Wenn angeblich die meisten Geburten in der westlichen Welt ein Trauma darstellen und dieses Trauma dann quasi den Grundstein für alle späteren Störungen legt, dann ist es sinnvoll, dieses "Geburtstrauma' so bald wie möglich wiederzuerleben, um dessen Bedeutung für das spätere Leben erkennen zu können.

Dass bleibende seelische Schädigungen auch in späteren Lebensabschnitten entstehen können, wie es aus den schrecklichen Beispielen von Gefolterten bekannt ist, war für viele Patienten nur von nachrangigem Interesse. Wenn also die Theorie vertreten wird, das Geburtsgeschehen selbst sei das eigentliche Trauma und nachfolgende Entwicklungsstörungen ließen sich im Wesentlichen aus diesem Geschehen heraus erklären,'' dann ist es nur konsequent, solche Therapieformen zu fordern, in denen das Wiedererleben der eigenen Geburt zum Inhalt der Therapie wird, so wie es beispielsweise in der Rebirthingtherapie auch angeboten wird. Ob allerdings das Erinnern an bestimmte, auch weit zurückliegende Ereignisse allein einen therapeutischen Effekt hat, darf angezweifelt werden.87

Für das Zustandekommen eines Primals scheint es darüber hinaus auch nicht ausreichend zu sein, wenn man sich an Episoden, gleich aus welchem Lebensalter, nur intensiv wieder erinnert. So berichteten denn auch viele Patienten, dass sie sich an bestimmte Situationen sehr genau und deutlich erinnern könnten und dass ihnen klar wäre, dass dieses Ereignis in einem Zusammenhang mit ihren heutigen psychischen Reaktionen und Verhaltensweisen stehen müsse.

 

81)  Janov, A., 1973: 86 
82)  ders. 1974a: 43, 111ff, 130f 
83)  ders. 1974b: 35ff, 44ff 
84)  ders. 1976b: 28 
85)  ders. 1984: 18 
86)  z.B. Mittelsten- Scheid, D., 1979: 63- 67 
87)  Hemminger, H., 1982: 118, 177


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Doch obwohl sie sich die betreffende Situation immer wieder vor Augen geführt und unter Umständen immer wieder Trauer verspürt und geweint hatten, war es in der Folge dennoch zu keiner tiefgreifenden Veränderung ihrer Empfindungen und Reaktionen in der Gegenwart gekommen.

Wesentlich scheint die Tatsache, dass eine Vielzahl längst vergessen geglaubter, bedeutender und unbedeutender Ereignisse im Leben eines Menschen wieder abgerufen werden kann, wenn diese Person sich auf solche Erinnerungen einlassen will. Die Fähigkeit, solche Erinnerungen abrufen zu können, kann trainiert werden.

Als Folge dieses Trainings treten intensive Erinnerungen häufig spontan im Alltag auf. Es entspricht einer allgemeinen Erfahrung, dass, ausgelöst durch zufällige Sinnesreize, bestimmte, zurückliegende Episoden in allen Einzelheiten unerwartet aus dem Gedächtnis auftauchen. Der Geruch einer Imbissstube bringt vielleicht die Erinnerung an die Würstchenbude auf einer Dorfkirmes in der Kindheit hervor. Das Quietschen einer rostigen Türangel erinnert an das Schulhoftor.

Das Phänomen, dass, ausgelöst durch bestimmte Sinneseindrücke, sich die Stimmung eines Menschen von einer Sekunde zur anderen ändern kann, ist auch jedermann vertraut. Wenn nun aber diese Stimmungs­änderung auf die Erinnerung an ein zurückliegendes Ereignis zurückzuführen ist, etwa durch den Klang einer Melodie ausgelöst wurde, ohne dass sich die davon betroffene Person diesen Vorgang mit der dazu gehörenden Erinnerung bewusst gemacht hat, dann wird diese versuchen, die Stimmungsänderung aus der gegenwärtigen Situation heraus zu interpretieren.

Physische Veränderungen, das ist seit dem Versuch von SCHACHTER und SINGER bekannt, werden gewöhnlich nach den zur Verfügung stehenden Interpretationsmustern attributiert.88 Mit dem oben beschriebenen primärtherapeutischen Verfahren können jedoch die jeweils daran konditionierten Variablen wiedergefunden werden.

 

88)  Schachter, S.J., Singer J.E., 1962: 379- 99


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7. Dritte Gruppensitzung 

Verknüpfung 

 

 

Wir sagten, dass die genaue Erinnerung an zurückliegende Situationen in allen Einzelheiten, selbst dann, wenn sie mit den damaligen Gedanken abgerufen wurde, allein nicht ausreichend sei, um zu einem Primal zu führen.

In dieser Sitzung war es unser Anliegen zu diskutieren, welche weiteren Elemente hinzutreten müssten, um ein Primal zu vervollständigen. Schon 1974 hatte JANOV beobachtet89), daß zum affektiven Wieder­durch­leben vergangener Episoden eine Art von Verknüpfung mit gleichsinnigen späteren und aktuellen Vorgängen vollzogen werden musste, damit eine dauerhafte psychophysische Änderung sich einstellte. Später erkannte er diesen Vorgang sogar als Zentralphänomen der Therapie und verlagerte damit den Schwerpunkt vom Emotionalen zum Kognitiven.90)

Etwa gleichzeitig waren wir selbst zu ähnlichen Erkenntnissen gelangt, die wir unseren Patienten später in folgender Weise nahebrachten. Im allgemeinen unterziehen Menschen sich deshalb einer psycho­therap­eutischen Behandlung, weil bei ihnen in der Gegenwart psychische Probleme auftreten, die sie nicht ohne weiteres bewältigen können. Viele von ihnen sind deshalb bereit, sich mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen, weil sie gehört oder gelesen haben, dass dies die notwendige Voraussetzung für einen Heilungsprozess sei.

Nur wenige unserer Patienten brachten diese Erwartung nicht von vorneherein in das erste Beratungs­gespräch mit ein. In welcher Beziehung Erinnerungen an Kindheitserlebnisse nun zu Ihren heutigen Problemen zu setzen sind, wussten sie meist nicht zu sagen. Obwohl zweifellos hinreichend viele Erkenntnisse darüber vorliegen, dass beispielsweise das Fehlen einer ständigen Bezugsperson In den ersten Lebensjahren zu erheblichen Beeinträchtigungen führen kann,91 so ist im einzelnen doch nicht genau geklärt, welche Schädigungen und Störungen bei einem speziellen Individuum auftreten werden und inwieweit in späteren Lebensabschnitten nicht weitere Einflüsse und Erfahrungen hinzutreten, die von entscheidender Bedeutung für Störungen im Erwachsenenleben eines solchen Menschen sind.

Daher erscheint der Versuch, Probleme aus gegenwärtigen Situationen monokausal auf traumatisierende Einflüsse aus der Kindheit zurückführen zu wollen, sicherlich als naiv. Trotzdem hat sich dieses Denken unter Laien verfestigt.

So berichtete ein zwanzigjähriger Patient, der in einer umsorgten Atmosphäre aufgewachsen war, dass er von Erzählungen seiner Schwester ganz genau wisse, er sei als kleiner Junge einmal (!) dazu gezwungen worden, nahezu eine halbe Stunde lang auf dem Topf zu sitzen. Er selbst habe keine Erinnerung mehr an diese Szene, aber seine Schwester habe ihm berichtet, er hätte seinerzeit sehr geweint. Daher müsse es sich hierbei wohl um ein traumarisierendes Erlebnis gehandelt haben, das im Zusammenhang mit seiner heutigen Depression gesehen werden müsse.

 

89)  Janov, A. , 1974a: 77 
90)  Janov, A.; Holden, M.E. , l977b: 344, 454f, 459 
91)  Bowlby, J., (1951) 1973: 71 
92)  Montagu, A. , 1982: 11, 15, 18, 30, 159 


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"Wir erwarten keine katastrophenartigen 'Urszenen' aus der Vorgeschichte unserer Patienten, sondern gehen davon aus, dass eine langanhaltende, permanente Belastung die Kompensations- und Integrations­fähigkeit vieler Menschen so weit ausreizen kann, dass danach auch geringfügige Anlässe imstande sind, dramatische Dekompensationen zu erzeugen."93)

Wegweiser bei der Aufklärung solcher Biographien sind Körpergefühle, über die Beziehungen zwischen bestimmten, äußerlich unter Umständen voneinander sehr verschieden wirkenden Anlässen hergestellt werden können.

Wesentliche Elemente eines Primals sind also: das bewusste Wahrnehmen von Empfindungen in einer aktuellen Situation, das konkret sinnliche Erinnern, die Entdeckung der Beziehung zwischen diesen Faktoren und ihre kognitive Verknüpfung.

Indem ein Patient das Gefühl aus aktuellen Situationen mit zurückliegenden Ereignissen in Zusammenhang bringt, ist er in der Lage, die aktuelle Situation nun unabhängig von diesen Ereignissen real einzuschätzen. Dieser Vorgang entspricht wahrscheinlich dem, was von LAZARUS Neueinschätzung (reappraisal) genannt wurde.94

Eine Situation wird mit einer oder mehreren zurückliegenden verglichen. Dabei werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser Situationen herausgearbeitet, bis daraus ein Erkenntnisgewinn entsteht, aus dem heraus eine Neueinschätzung der aktuellen Situation möglich wird. Eine ähnliche Form des Erkenntnisgewinns wurde von Konrad LORENZ wegen der Blitzartigkeit, in der sie erlebt wird, auch als Fulguratlon bezeichnet.95

Dabei werden zwei bekannte Informationen so lange mit einander verglichen und zueinander in Beziehung gesetzt, bis daraus ein Informationsgewinn auf einer höheren Ebene erwächst. LORENZ vermutet darin eine Grundform des Denkens, die man hier auch auf unseren Gegenstand beziehen kann.96

Dies soll an einem Beispiel illustriert werden: Ein Patient, von Beruf Lehrer, beschrieb, eines seiner größten Problem bestehe darin, dass er sich seinen Schülern gegenüber schwach, hilflos und unterlegen fühle und nicht wisse, wie er sich gegen sie durchsetzen könne. Der Patient war gleichzeitig Karatemeister und hatte bei der Ausübung seines Sportes keinerlei Mühe sich durchzusetzen.

 

93)  Rosenberg, W.E., a.a.O.: 113 
94) Lazarus, R.S. , 1966, 1968, zit. n. Birbaumer, N. , 1973: 171 
95) Lorenz, K. , (1978) 1982: 35f 
96) vergl. Rosenberg, W.E. a.a.O.: 128f


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Wir forderten diesen Patienten auf, das Empfinden zu beschreiben, welches bei der Konfrontation mit seinen Schülern auftrat. Dann sollte er auf Erinnerungsbilder achten, die ihm im Zusammenhang mit diesem Gefühl einfielen. Er erinnerte sich an eine Szene, bei der er von seinen Mitschülern verprügelt und in einen Brennnesselbusch gedrängt worden war. Auf Befragen, was denn das eigentlich Schlimme in dieser Situation gewesen sei, gab der Patient an, das Schlimmste sei gewesen, dass er sich nicht habe wehren dürfen. Auf weiteres Nachfragen fiel ihm ein, wie er von seinem Vater einige Jahre zuvor heftig verprügelt worden war und der Vater ihm angedroht hatte, ihn totzuschlagen, weil er tags zuvor bei einer Prügelei in der Schule den Sohn eines Kollegen des Vaters unbeabsichtigt so verletzt hatte, dass dieser einer ärzt­lichen Behandlung bedurfte.

Nachdem der Patient sich an diese einzelnen Episoden erinnert hatte, ordnete er die Gefühle, die in ihm durch seine Schüler ausgelöst wurden, spontan seinen Kindheitserlebnissen zu. Der Patient erkannte, dass er nicht etwa zu schwach war und sich deshalb nicht wehren konnte, sondern im Gegenteil die Konsequenzen fürchtete, die möglicherweise hätten entstehen können, falls er sich gewehrt hätte. Das Problem, welches ihn über Jahre hinweg stark belastet hatte, sah er danach in einer ganz anderen Weise. Er fühlte sich nun von den Schülern nicht mehr besonders angegriffen oder schlecht behandelt, wie er es vorher immer empfunden hatte. Zu einem späteren Zeitpunkt erzählte dieser Patient, dass er das Karatetraining seinerzeit auf Anraten eines Psychotherapeuten hin aufgenommen hatte, um sich nicht mehr ständig als schwach und unterlegen erleben zu müssen.

Ein weiterer Schritt, der dieser Erkenntnis folgte, war die Trauer darüber, welche Auswirkungen die Furcht vor den Schlägen des Vaters auf diesen Patienten hatte. Er war häufig von seinen Mitschülern verprügelt worden, wurde als Feigling beschimpft und später von seinen Schülern ausgelacht. Die Vielzahl von Kränkungen, die er in späteren Jahren deshalb zu erleiden hatte, weil er sich nicht wehren durfte, kann natürlich nicht durch eine Neueinschätzung ausgelöscht werden: solche Geschehnisse sind nur zu betrauern.

 

In der Regel folgt die Trauer sofort einer solchen Neueinschätzung. Am Ende eines Primals, in dem auch die Trauer über die erlittenen Verluste empfunden wurde, ist ein Patient dann in zukünftigen analogen Situationen auf eine neue Art und Weise handlungs- und erlebensfähig. Was auf der neurophysiologischen Ebene während eines Primals stattfindet, ist nicht bekannt. Bisher gibt es nur einige theoretische Überlegungen darüber, wie man sich diesen Vorgang erklären könnte.97)


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Insbesondere die neuropsychologischen Forschungsarbeiten von GAZZANIGA und LeDOUX98 über Hemisphärenfunktionen des zentralen Nervensystems, die interessante Analogien zu der Vorstellung kognitiver Verknüpfung enthalten, wurden von uns in diesem Zusammenhang diskutiert. Da die theoretischen Grundlagen an anderer Stelle ausführlich dargestellt wurden,99 sollen sie hier nur erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt werden.

Ein wichtiger Anteil eines Primals scheint darin zu bestehen, dass bestimmte Stimmungen und Gefühle zeitlich korrekt in einen bestimmten Kontext zugeordnet werden können. Ein wesentlicher Grund, warum Menschen sich in psychotherapeutische Behandlung begeben, scheint darin zu liegen, dass sie sich oft wider eigene bessere Einsicht unangemessen verhalten. Wenn eine Person etwa beim Anblick eines kleinen, angeleinten Hundes, der ihm, geführt von seiner Besitzerin, auf dem Gehsteig entgegenkommt, eine plötzliche Aufregung verspürt und so schnell wie möglich auf die andere Straßenseite wechselt und sich dafür auch noch selbst kritisiert, weil sie doch eigentlich vor einem kleinen Hund an der Leine keine Angst zu haben brauchte, dann mag eine solche Einschätzung für die aktuelle Situation durchaus zutreffend sein. Trotzdem hat Irgendetwas in Zusammenhang mit diesem Hund die unerklärliche Angst und Ausweichreaktion hervorgerufen.

Für das Selbstvertrauen der Patienten ist es nun wichtig, sich klar machen zu können, dass sie der Wiederholung einer Situation ausweichen kann, in der sie sich in der Vergangenheit tatsächlich einmal befunden hatten.100)

Es mag für die zitierte Person zutreffen, dass sie sich in der Kindheit einmal in einer ausweglosen Situation befand, in der auch ein Hund eine gewisse Bedeutung spielte. In dem Moment nun, in dem sie sich an ein solches zurückliegendes Ereignis mit allen seinen Konsequenzen wieder erinnert, wird die Aufregung, die sich so prompt und wider bessere Einsicht beim Anblick eines harmlosen Hundes eingestellt hatte, nicht mehr auftreten. Die zeitlich richtige Zuordnung eines bestimmten Geschehens, die bei einem Primal erfolgt, korrigiert das buchstäblich "Verrückte" einer Reaktion.

 

97)  Irefzer, S. ; Gutjahr, L.; List, E.; Hinrichs, H., 1987 
98)   Gazzaniga, M.S.; LeDoux, J..e., 1983 
99) Rosenberg, W.E., a.a.O.: 87- 136 
100) Görres, A., 1977 (in: ,,Die Psychologie des 20. Jahrhunderts":1210- 1221) 


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Eine andere typische Problematik, welche Patienten häufig schildern, scheint durch Primals ebenfalls zum Verschwinden gebracht werden zu können: Manche Menschen haben in ihrer Kindheit bestimmte, für eine gesunde psychische Entwicklung notwendige Bedürfnisbefriedigungen nicht erlangt, so dass sich daraus Defizite auf Dauer entwickeln konnten. So mag bei einem Menschen auf Grund entsprechender Erfahrungen in seiner Kindheit der Eindruck entstanden sein. "Ich bin immer allein". Vielleicht war er in Wirklichkeit nur für einen kurzen Zeitabschnitt alleine gelassen worden. Trotzdem kann eine solche Person fortan immer wieder den Eindruck haben, im Stich gelassen zu werden.

Selbst wenn sich nun ein liebevoller Partner bemühte, diesen Eindruck zu entkräften, so kann doch durch geringfügige Anlässe die alte Wunde wieder aufbrechen und erneut das Empfinden eines Defizits ausgelöst werden. In dem Moment, in dem das Gefühl dem historisch zugrunde liegenden Ereignis zugeordnet werden kann, und auch die Bedeutung dieses Ereignisses für die spätere Entwicklung erkannt ist, kann die gegenwärtige Situation adäquat eingeschätzt werden. Die Möglichkeit, solche Situationen auf Grund eines Primals neu einzuschätzen, wird immer als Erleichterung empfunden.

 

Das Mitschleppen historisch gewachsener Irrtümer oder Vorurteile kann sich im Einzelfall als erhebliche Behinderung erweisen. Das eigentliche, auslösende Geschehen muss aus der Sicht eines Erwachsenen von nicht erkennbar großer Bedeutung gewesen sein. Der Anlass für diese Verluste war manchen Patienten oft in allen Einzelheiten bekannt und erinnerlich, schon bevor sie mit der Therapie begannen. Oft verursachen die daraus resultierenden Verhaltensweisen erheblich größere Folgeschäden als das Ursprungsgeschehen selbst.

Je länger bestimmte Defizite nicht ausgeglichen werden, desto stärker scheint der Drang zu werden, sich dafür zu entschädigen. Bei dem Versuch, solche störenden oder quälenden Gefühle abzustreifen, können Menschen in einem ganz erheblichen Maß daran gehindert werden, im Hier und Jetzt Erfüllung zu finden. Insofern macht die Auflösung eines solchen Gefühls den Weg dafür frei, die Gegenwart wirklich leben zu können, ohne dabei durch in der Vergangenheit entstandenen Fixierungen und den dadurch verursachten Fehleinschätzungen des Vorfindlichen daran gehindert zu werden.

Trauer und der Schmerz umfassen also auch den Kummer über vertane Gelegenheiten im Hier und Jetzt zu leben, die zugunsten der Abwehr antizipierter Verletzungen geopfert werden mussten. Die Patienten hatten durch ihr Verhalten bestimmte Situationen immer wieder zusätzlich verschlimmert, aus dem einzigen Bemühen heraus, noch Schlimmeres zu verhindern.

 


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8.  Vierte Gruppensitzung 

  Psychosomatik 

 

Da viele der von uns behandelten Patienten unter funktionellen Störungen litten, besprachen wir das Problem der psycho-physischen Wechselwirkungen regelmäßig im theoretischen Teil dieser Gruppensitzung. Dazu stellten wir das Stress-Adaptionsmodell von SELYE101) vor und diskutierten neuere Erkenntnisse über den Zusammenhang endogener Transmitter und psychischer Stimmungslagen.

Besonders die Folgerungen aus dem SELYE'schen Stressmodell, nach dem die unspezifischen Anpassungs­reaktionen zwar immer den Gesamtorganismus betreffen, aber am frühesten an einem locus minoris resistentiae zu Symptomen führen, wurde besonders von denjenigen Patienten erleichtert aufgegriffen, die das Konzept der Organwahl102 auf sich angewendet hatten und ihre Krankheit als persönlichen Fehler interpretierten.

Weil sie dieses theoretische Modell übernommen hatten, sahen sie in einer Psychotherapie den einzigen Weg, um wieder gesund zu werden. Einer Patientin war eingeredet worden, ihre chronische Hypotonie sei darauf zurückzuführen, dass sie nicht arbeiten wolle. Andere Patienten hatten an die Primärtherapie regelrechte Heilserwartungen. So erhoffte sich ein Patient eine deutliche Besserung seiner Kurzsichtigkeit. Ein anderer wollte über eine Psychotherapie wieder mehr Haupthaar erhalten.

Solche Vorstellungen basieren auf einer weit verbreiteten magischen, unhinterfragten Auffassung psycho-physischer Wechselwirkungen. In dieses Gebiet fallen typischerweise auch Annahmen über die Genese von Stoffwechselkrankheiten und Allergien. Wir warnten unsere Patienten davor, hier durch eine Psychotherapie eine vollständige Heilung ihres Leidens zu erwarten.

Beispielhaft sei eine achtzehnjährige Patientin genannt, die uns in einem Vorgespräch erzählte, sie sei von ihren Eltern immer unterdrückt worden. Sie habe wegen einer Knochenkrankheit (Köhler I) immer Einlagen in den Schuhen tragen müssen und außerdem leide sie unter einer Schilddrüsenunterfunktion und müsse deshalb regelmäßig Tabletten einnehmen. Nach ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie das Schilddrüsenhormon nicht mehr substituiert, weil sie meinte, sie brauche sich von niemand mehr zwingen zu lassen, gegen ihre Überzeugung Tabletten einzunehmen. Aus demselben Grund trug sie seitdem auch nicht mehr ihre "unmodischen" Einlagen. Bei ihr seien alle körperlichen Beschwerden durch psychische Störungen verursacht, das wisse sie genau.

Dieser jungen Frau machten wir schon beim Vorgespräch eindringlich klar, dass das langfristige Ziel der Primärtherapie nicht darin liegen kann, auf die Einnahme lebendnotwendiger Medikamente zu verzichten, sondern dass ein Ergebnis einer erfolgreich abgelaufenen Therapie in ihrem Fall darin zu sehen sei, die Notwendigkeit der Tabletteneinnahme von ihren Autoritätsproblemen abzukoppeln.

 

101) Selye, H., 1977: 47ff 
102) vergl. Uexküll, T.v., 1970: 55- 63, 91, 158 


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In diesem Sinne informierten wir auch Patienten, die sich einer Behandlung mit antipsychotisch wirksamen Medikamenten unterziehen mussten. Wir konnten deren Hoffnung, dass mit Hilfe der Primärtherapie eine Psychose geheilt werden könne, aus langjähriger Erfahrung nicht bestätigen.

Die dem Optimierungsdrang zugrunde liegende Vorstellung von Gesundheit ist nicht nur illusionär, sondern auch gefährlich, weil sie nur kompletten, intakten und perfekten Menschen ein erfülltes Leben zuzuerkennen vermag.

Integraler Bestandteil einer erfolgreich verlaufenden Psychotherapie sollte also sein, dass das Zustandekommen solcher Wertvorstellungen hinterfragt wird, anstatt sie unkritisch zum Therapieziel zu erheben.

Darüber hinaus erörterten wir die soziale Dimension von Gesundheit, die naturgemäß nicht von einem einzelnen Individuum allein beeinflusst wird. Das Problem gesundheitsschädigender Einflüsse, die etwa durch Fluglärm, Verkehrsplanungen oder monotone Hochhaussiedlungen verursacht werden, lassen sich selbstverständlich nicht durch psychotherapeutische Interventionen beeinflussen, sondern nur durch andere strukturelle Maßnahmen. Gleichwohl stehen Menschen auf der Basis ihrer biologisch vorgegebenen Reaktionsmuster verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, sich auf Anforderungen ihrer Umwelt einzustellen. über das gleiche körpereigene System, welches dazu geeignet ist, Schmerzen zu unterdrücken, um Gefahrensituationen überstehen zu können, scheint es andererseits auch möglich zu verhindern, dass in Zelten, in denen keine akute Bedrohung vorliegt, sich die notwendige Phase der Erholung anschließt.

Dass bei dann ständig heraufgesetzter Schmerzschwelle ein Zustand von chronischer Erschöpfung und Überarbeitung nicht voll realisiert werden kann, ist evident. Aber erst auf dem Niveau einer auf die normale Schmerzschwelle herabgesenkten Ausgangslage ist es einem Individuum möglich, seine körperliche Ausgangslage realistisch einzuschätzen und sich entsprechend zu verhalten.

Die von VESTER103) modifizierte Stresskurve SELYEs, in der verschiedene Stressoren sich aufaddieren und sich das Individuum auf einem hohem Leistungsniveau adaptiert, wurde von uns als Modell herangezogen, um die belastenden Dauerwirkungen von traumatisierenden Kindheitserfahrungen in ihrer schädigenden Wirkung auf Körper und Seele von Erwachsenen zu erklären. Der stetige Versuch, Defizite auszugleichen oder schädigende Einflüsse zu vermeiden, führt demnach zu Dauerstress.

 

103)  Vester, F., 1976: 50


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Ein besonderer Aspekt in der Diskussion über Stress ergab sich mit jungen Erwachsenen. Diese hatten mehrheitlich nicht solche realen Traumata erlebt, wie sie von manchen älteren Patienten angegeben wurden. Sie hatten nicht gehungert, nicht unter Entbehrungen gelitten, waren weder geschlagen noch mit Liebes­entzug bestraft worden. Trotzdem erlebten sie überdimensionierte Stressreaktionen und schwere depressive Verstimmungen im Umgang mit alltäglichen Anforderungen.

Solche oft gut gebildeten Patienten mit einem hohen Anspruchsniveau hatten durch das Lesen psycho­logischer Literatur gewöhnlich sehr genaue Vorstellungen darüber entwickelt, wie ihre Störungen entstanden und wie sie zu behandeln seien. Besonders für sie war die Information wichtig, dass das, was einen Menschen überfordert und krankmacht, auch davon abhängt, was er solchen Anforderungen in konstitutioneller, geistiger, körperlicher und seelischer Hinsicht entgegenzusetzen hat und dass dabei der jeweilige Trainingszustand miteinbezogen werden muss.

Die Arbeit mit diesen Patienten bedingt ein besonderes Vorgehen bzw. einen besonderen Erklärungs­zusammen­hang: Ein untrainierter Mensch kann schon geringe Anforderungen als starke Belastung und als Stressor erleben. Die gleichen Anforderungen würden aber von einer trainierten Person gar nicht als Strapaze interpretiert werden. So kann für einen wochenlang bettlägerigen Menschen schon das Gehen weniger Schritte eine große Anstrengung darstellen. Ein trainierter Läufer mag sich erst in einer Wettkampfsituation in vergleichbarer Weise angestrengt erleben.

Menschen, von denen bestimmte Leistungen längere Zeit nicht oder überhaupt nie gefordert wurden und die es dann plötzlich Trainierten gleichtun, überfordern sich von vorne herein. Diese Überforderung wird aber zumeist so interpretiert, dass sie eine Bestätigung dafür darstellt, dass sie persönlich bestimmte Anforderungen nicht erfüllen könnten. Diese Patienten sagten dann etwa: "Ich kann nicht arbeiten. Solche Arbeiten könnte ich nie tun."

Von der Therapie erhofften sie sich dann auf eine nicht näher beschriebene Art und Weise, dass durch diese ihre Schwierigkeiten aufgehoben werden könnten. So als ob sich etwa allein aus einer neu gewonnenen Einsicht heraus ein Trainingsmangel kompensieren ließe. Solche Vorstellungen werden vor allen Dingen von Personen mit wenig Lebenserfahrung entwickelt. Sie setzen gerne Denken an Stelle von Kenntnis, ohne den entscheidenden Unterschied zu realisieren.


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Eine Unterforderung oder gar nicht gefordert worden zu sein stellt kein Trauma in dem Sinne dar, dass etwas erlitten worden wäre. Das Problem der Patienten besteht gerade darin, dass sie als Erwachsene ihr Leben deshalb nicht bewältigen können, weil sie keine Gelegenheit hatten, bzw. keine Notwendigkeit bestand, sich die dazu notwendigen Fähigkeiten in ihrer Kindheit oder Jugend anzueignen. Dieses Phänomen lässt sich unter Luxusbedingungen auch bei Tieren beobachten.104)

Von diesen Patienten wird oft jede Form von Arbeit mit Stress gleichgesetzt. "Ich muss arbeiten." Dass die erfolgreichen Auseinandersetzungen mit bestimmten Anforderungen dazu führen, einen höheren Grad von Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu erreichen, haben sie nicht erfahren. Ihr Dilemma besteht nun darin, einerseits von ihrer biologischen Entwicklung her bestimmte Aufgaben und Tätigkeiten bewältigen zu wollen und ein gewisses Maß von Selbstständigkeit und Unabhängigkeit für sich in Anspruch zu nehmen, andererseits aber keine ausreichende Handlungskompetenz entwickelt zu haben. Dies wird dann aber als Behinderung erlebt.

Gestützt auf psychologische Theorien, wird dann ein frühkindliches Trauma als Erklärung für diese Behinderung herangezogen. In Wirklichkeit ist die Behinderung wohl eher darin zu sehen, dass Menschen, die nicht gelernt haben, sich aktiv tätig mit ihrer Umgebung auseinanderzusetzen, ähnlich eingeschränkt wirken wie solche, die durch äußere Einflüsse an einer Außenorientierung gehindert wurden. Für solche Patienten sind Informationen hilfreich, die ihnen ermöglichen eine neue Einstellung zu ihren Problemen zu entwickeln.

Werden beispielsweise Frustrationen, die bei der Auseinandersetzung mit einer Arbeit oder einem Problem auftreten, als Trainingsmangel akzeptiert und wird dann daraus die Konsequenz gezogen, dass sich bei Fortführen der Aktivitäten das Ergebnis verbessern wird, so eröffnet dies den Patienten einen größeren Handlungsspielraum, Ein Trainingsmangel ist also nicht mit einem Trauma gleichzusetzen. Unterforderung in der Kindheit und Jugend kann aber andererseits zu Irritationen und depressiven Verstimmungen führen, wenn die erworbenen Strategien für eine erfolgreiche Bewältigung nicht an die realen Erfordernisse adaptiert sind. Man mag es angesichts der Trivialität dieser Tatsache kaum für möglich halten, dass jemand von diesen Zusammenhängen nicht weiß. Doch wir hatten junge Patienten mit einer mehrjährigen Karriere in jugendpsychiatrischen Einrichtungen und suizidale Jugendliche zur Therapie, denen diese Informationen alleine aus ihrer Ausweglosigkeit heraus half!

Da gerade von solchen Patienten sehr häufig Sätze mit: "Ich muss" oder "Ich soll" begonnen wurden (ebenso wie dies auch bei Süchtigen zu beobachten ist), wurde dieser Aspekt von uns noch einmal besonders angesprochen.

 

104)  Wickler, W. , 1969: 90ff


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Wenn also jemand meinte: "Ich muss aufstehen.",  so fragten wir ihn, ob ihn denn jemand dazu zwinge, oder ob er nicht aus bestimmten Überlegungen heraus zu dieser Zeit aufstehen wolle. Es stellte sich meistens heraus, dass die Patienten nicht gelernt hatten, die Realität anzuerkennen und sich selbst als darin Handelnde zu begreifen. Es ließ sich leicht feststellen, dass bestimmte Tätigkeiten von ihnen freiwillig und gerne unternommen wurden und dass sie andere Anforderungen demgegenüber als Zwang erlebten.

Die Patienten konnten dann aufklären, wie es dazu gekommen war, dass sie zu verschiedenen Tätigkeiten unterschiedliche Einstellungen entwickelt hatten. So waren sie teilweise in einer angenehmen Atmosphäre dazu angeleitet worden, teilweise hatte man Leistungen von ihnen verlangt, als sie diese noch nicht zu erbringen imstande waren, oder sie hatten sich ohne weiteres an dem Beispiel ihrer Bezugspersonen orientiert und dies im Erwachsenenalter nicht mehr hinterfragt.

An dieser Stelle informierten wir die Patienten darüber, wie wichtig es ist. sich auf eine bestimmte Anforderung einzustellen, bevor sie erbracht wird. Es macht auch physiologisch einen Unterschied, ob jemand von der gleichen Tätigkeit sagt: "Ich will etwas tun", oder "Ich muss etwas tun". Indem ein Mensch eine Handlung ausführen oder ein Problem lösen will, wird er sich sowohl psychisch als auch physisch darauf einstellen. (Beispiel: Startsignal für einen Wettlauf)

Für die Patienten, die sich dem Problem gewöhnlich erfolglos von moralischen Überlegungen her genähert hatten, war es überraschend, die physiologische Dimension von Einstellungen erkennen zu können. Die Patienten konnten selbst ausprobieren, ob sich bei derselben Tätigkeit Veränderungen im Erleben ergäben, wenn sie sie mit einer anderen Einstellung ausübten.

Eine fünfundzwanzigjährige Patientin berichtete nach einem solchen "Selbstversuch", dass sie zum ersten Male in ihrem Leben ihr Zimmer ohne Druck und Zwang habe aufräumen können und sich hinterher wider Erwarten auch noch sehr gut gefühlt habe. Die Diskussion der oben angesprochenen Problematik nahm einen sehr breiten Raum ein und wurde sowohl in den Einzelsitzungen als auch im ersten Teil verschiedener Gruppensitzungen immer wieder aufgegriffen. Insbesondere Im Zusammenhang mit der konkreten Auseinandersetzung mit bestimmten Formen von süchtigem Verhalten spielte sie eine besondere Rolle.

Meines Erachtens führt gerade das Nichteinbeziehen dieses Problems in Psychotherapien zu der fatalen Konsequenz, dass Probleme von Patienten chronifizieren und diese sich zu Menschen entwickeln, denen die Fähigkeit gerne Handlungskompetenz zu erwerben, um selbstbewusst und selbstsicher ein eigenständiges Leben führen zu können, auf Dauer verloren geht.

 

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9  Fünfte Gruppensitzung 

Schock und Abwehr 

 

Der Inhalt der fünften Sitzung ist teilweise als eine Fortsetzung der vorausgegangenen aufzufassen. Wie schon in den Einzelsitzungen angesprochen, scheint eine der schlimmsten Situationen für Lebewesen darin zu bestehen, in einer ausweglosen bedrohlichen Situation handlungsunfähig zu sein. Der Schritt, sich etwa bei einem Hotelbrand dem drohendem Tod durch Verbrennen durch einen Sprung aus dem zehnten Stockwerk zu entziehen, obwohl auch hier der tödliche Ausgang gewiss ist, stellt den Versuch dar, einer ausweglosen Situation durch eine Handlung zu begegnen.

"Aus Berichten von Kampfpiloten geht hervor, dass solch ein Angstzustand aversiver erlebt wird als die unmittelbare Furcht. So kam es zu Bruchlandungen, weil die Piloten die Angst vor den bevorstehenden Aufgaben nicht länger ertragen konnten."105

Wenn in einer Situation keine Lösungsmöglichkeiten durch Handlungen gefunden werden können, also eine Flucht real nicht möglich Ist, so kann man sich einer solchen Situation noch durch Vorstellungen oder Einbildungen entziehen. Dieses Verhalten erweist sich insbesondere dann als sinnvoll, wenn die volle Einsicht über die Ausweglosigkeit einer Situation einen Schock herbeiführen könnte.

"Jede Aktion, sei sie noch so unpassend, ist besser und weniger aversiv als ein hohes ungerichtetes Aktivierungsniveau. Dies erklärt auch, warum angstmotivierte Leute leicht durch einen Führer oder eine Gruppe zu einer Aktion überredet und hingerissen werden, die sie normalerweise nicht einmal in Betracht gezogen hätten. Dies erklärt auch die Entwicklung des Aberglaubens, der Magie und des Rituals in Stresssituationen, in denen keine geeigneten Handlungsalternativen vorhanden sind"106

Manche Patienten hatten, angeregt durch die Lektüre der Bücher Janovs und durch Erfahrungen in Therapie­zentren, bestimmte Vorstellungen darüber gebildet wie vorgegangen werden müsse, um zu tiefer liegenden Selbsterkenntnissen zu gelangen. Im Prinzip handelt es sich dabei um Methoden wie Schlafentzug, Reizentzug und ähnliches, die in anderen Zusammenhängen als psychische Folter oder Gehirnwäsche beschrieben werden. Patienten, die sich mit solchen Methoden, oder auch durch Hyperventilation in Grenzzustände gebracht hatten, berichteten bisweilen über erstaunliche Erlebnisse (z.B. wie sie sich als Spermatozoon auf dem Weg in den Uterus ihrer Mutter erlebt hätten).

 

105)  Bond, D.D., 1952, zit. nach Birbaumer, N. 1973: 217 
106)  Epstein, S., in: Birbaumer, N.; Hrsg. 1973: 217 


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Diese intensiven Vorstellungsbilder wurden regelmäßig mit tiefer Überzeugung und Gewissheit vorgetragen. Vorsichtig geäußerter Zweifel wurde aggressiv abgewehrt und als Unglauben oder Blindheit ("Ihr seid noch nicht so weit!") abgetan. Andererseits hatte sich aber keine dauerhafte Veränderung ihrer ursprünglichen Beschwerden eingestellt. Aus einer Vielzahl von Beobachtungen ist bekannt, dass in extrem stressbelasteten Situationen neben ACTH und Kathecholaminen auch Endomorphine aktiviert werden,107 die neben ihrer Eigenschaft das Schmerzerleben zu verändern, auch eine psychotrope Wirkkomponente besitzen, die unter Umständen eine illusionäre Verkennung der Wirklichkeit begünstigen kann. Ein wesentlicher Faktor hiervon ist die Betäubung.

Durch Betäubung kann man sich subjektiv einem Erlebnis entziehen, wenn die reale Situation keine Handlung mehr zulässt. Ein betäubter Mensch spürt auch keine Schmerzen mehr. Wird diese Möglichkeit, sich einer unangenehmen Situation quasi durch "Nichtfühlen" zu entziehen, integriert, so liegt es nahe, sich von vorne herein rechtzeitig, bevor der Schmerz auftritt, zu betäuben. Dies hätte den Effekt, dass ausweglose Situationen nicht mehr gefühlt werden müssen. Andererseits ist dann aber such kein Anlass mehr gegeben zu überprüfen, ob zu einem anderen Zeitpunkt, in einer analogen Situation, nicht doch erfolgreiche Handlungs­strategien entwickelt werden könnten.

Die dafür nötige Betäubung kann, wie man heute weiß, nicht nur durch exogen zugeführte Betäubungs­mittel, sondern auch, bei entsprechender Stimulation, durch körpereigene Substanzen hervorgerufen werden. Für das angestrebte Ziel ergibt dies jedoch keinen prinzipiellen Unterschied.

Patienten, die versucht hatten, unter Einwirkung bestimmter rauscherzeugender oder bewusstseins­veränd­ernd­er Drogen Primärtherapie anzuwenden, konnten teilweise über sehr klare und deutliche Erinnerungen bestimmt­er Episoden berichten. Sie konnten auch angeben, dass sie wussten, dass diese Erinnerungen von besonderer Bedeutung für sie wären; trotzdem waren sie später in nüchternem Zustand nicht mehr in der Lage, die Bedeutung bestimmter Erinnerungen in Zusammenhang mit ihrer heutigen Situation zu bringen. Die Patienten berichteten uns von solchen Erfahrungen nach dem Konsum von Alkohol oder Haschisch.

GROF108 versuchte durch den Gebrauch von LSD bei seinen Patienten Erinnerungen hervorzurufen, die dann zu einem späteren Zeitpunkt therapeutisch genutzt werden sollten. 

 

107)  Tricklebank, M.B.; Curzon, G. (Hrsg.), 1984 
108) Grof, S.. 1985


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Die Problematik so gewonnener Eindrücke scheint darin zu liegen, dass die gewonnenen Einsichten nicht verknüpft werden können. Das Phänomen, dass sich Stimmungs- und Gefühlslage von Menschen unter Alkoholeinwirkung meist beträchtlich vom nüchternen Zustand unterscheiden, ist bekannt. Die unterschied­liche Wirkung des Alkohols auf die Großhirnhemisphären, kann möglicherweise als Interpretationshilfe für dieses Phänomen herangezogen werden.109

Durch den Einfluss von Substanzen, die in den Stoffwechsel des zentralen Nervensystems eingreifen, scheinen Barrieren, die Menschen im nüchternen Zustand daran hindern würden, sich bestimmte Erinnerungen oder Verhaltensweisen zu gestatten, abgebaut oder in Ihrer Wirksamkeit so beeinflusst zu werden, dass diese Erinnerungen oder Verhaltensweisen nun doch zugelassen werden.

Werden solche Barrieren durch chemische oder auch mechanische Einflüsse wie etwa bei der Bioenergetik- Therapie110) unter Umgehung der Abwehr zufällig hervorgebracht, so können sie zwar heftige emotionale Reaktionen hervorrufen; die daraus gewonnenen Einsichten können aber nach unserem Eindruck nicht regelmäßig mit der normalen auslösenden Alltagssituation in Verbindung gebracht werden. Wenn Patienten berichten, sie seien nur mit Hilfe bestimmter Drogen oder Pharmaka in der Lage, die für die Therapie nötige Entspannung und Besinnung zu erreichen, dann ist es falsch, solche Drogen zu benutzen, da dadurch dieses Problem nie gelöst würde.

Richtig ist es, hier zuallererst zu fragen, wie diese Unfähigkeit zur Entspannung beim einzelnen Patienten entstanden ist; das heißt also, die Therapiemethode auf dieses Problem anzuwenden.

Sich mit Hilfe bestimmter Drogen oder anderer Tricks einen Einstieg in die Selbstfindung zu verschaffen, anstatt sich zunächst das augenblickliche Empfinden bewusst zu vergegenwärtigen, ist ein systematischer Fehler, der sich in der Therapie immer wieder leicht einschleichen kann. 

Ein solches Vorgehen ist zwar möglich und führt auch zu Erkenntnissen, die aber letztlich nicht Ihre positive Wirkung im Alltag entfalten können, weil sie die Realität des Individuums nicht berücksichtigen.

Für die Patienten ist es nützlich und hilfreich zu hinterfragen, wodurch sie in ihrem Alltag daran gehindert werden, so gelöst und entspannt zu sein, wie es nötig wäre, um sich ohne Hilfsmittel erinnern zu können. Ein Zugang hierzu fand sich, wenn die Patienten beschrieben, unter welchen Umständen sie daran gedacht hatten, Drogen zu nehmen oder sich bewährter Verhaltenstricks zu bedienen. Sie sollten sich vor allem klar machen, welches Gefühl sie dazu veranlasste.

 

109)  Chandler, B.C.; Parsons, O.A., 1977: 381- 389, zit. nach Blakeslee, T.R., 1982: 38 
110)   Lowen, A., 1988


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Mit diesem Gefühl als Leitfaden konnten sie danach in der besprochenen Weise weiterarbeiten. Ein häufig vorgebrachtes Argument der Patienten für den Einsatz von Hilfsmitteln war, dass sie befürchteten, die Therapie gehe nicht schnell genug voran oder sie sei für sie zu schwierig. Auch hier begannen wir wieder mit dem nächstliegenden Problem zu arbeiten und fragten die Patienten, was ihrer Meinung nach sein würde, wenn die Therapie bei ihnen tatsächlich nicht anspräche. Meistens befürchteten sie Folgen, wie etwa immer gehemmt oder verklemmt bleiben zu müssen. In gewohnter Weise fragten wir zurück, was denn das eigentlich Schlimme daran für sie sei.

Wenn die Patienten auf diese Weise zu ihrem Problem zurückgekehrt waren, konnten sie sich auch wieder ohne Probleme Bilder ansehen und diese zu ihrer aktuellen Situation in Beziehung setzen.

Daraus resultierten dann allerdings in der Regel neue Konflikte, die unter dem anderen Problem maskiert geblieben waren und die nun ihrerseits psychotherapeutisch bearbeitet werden mussten. Wenn die Patienten in der Lage sind, sich beispielsweise klarzumachen, dass sie ständig überarbeitet sind, so können sie versuchen ihre alltäglichen Belastungen zu verringern.

Reduzieren sie aber ihre Belastungen, so rückt unter Umständen ein selbst gestecktes Ziel immer mehr in die Ferne. Wird nun hinterfragt, welchen Sinn das Erreichen dieses Ziels haben soll, so kann vielleicht deutlich werden, dass der Patient versucht, damit sein Ich- Ideal zu vervollkommnen. Der Hintergrund dieser Ich- Ideal- Bildung könnte dann schließlich wieder hinterfragt und mit Hilfe eines Primals aufgeklärt werden. Innerhalb der Sitzung informierten wir die Patienten über psychotrope Wirkungen bestimmter gängiger Genussmittel und Suchtstoffe und wiesen darauf hin, dass die Wahl solcher Mittel auch von familiären und kulturellen Gewohnheiten beeinflusst ist.

Eine Patientin, die nie ein angemessenes Verhältnis zu ihrer eigenen Leistungsfähigkeit entwickelt hatte, gab an, schon als Zehnjährige regelmäßig starken Bohnenkaffee getrunken zu haben. Später habe sie sich angewöhnt, in Situationen, in denen sie müde oder abgespannt war, erhebliche Mengen starken schwarzen Tees zu sich zu nehmen. Für sie war ein Zustand von ständiger Erregtheit, verbunden mit der Schwierigkeit, bestimmte alltägliche Anforderungen nicht bewältigen zu können, zum Dauerzustand geworden. Dies brachte mit sich, dass sie zwar in der Lage war, sich versiert an hitzigen Diskussionen zu beteiligen, dass es ihr im Studium aber besonders schwer fiel, sich auf die Lektüre eines Textes oder das Schreiben eines Aufsatzes zu konzentrieren. In der Therapie konnte diese Patientin zu einem späteren Zeitpunkt erkennen, dass bei ihr maniforme Zustände, die sich mit solchen von Erschöpfung abgewechselt hatten, durch den täglichen Konsum von mehr als drei Liter sehr starken schwarzen Tees begünstigt worden waren.


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Wir empfahlen den Patienten zu klären, zu welchen Zweck sie bestimmte Stoffe in einer Art von Selbst­medikation einsetzten. Wie schon in Zusammenhang mit den Einzelsitzungen beschrieben, sollten die Patienten nur registrieren, zu welchen Zeitpunkt, bei welchen Anlässen, bei welchen Körpergefühlen bei ihnen das Bedürfnis auftrat, bestimmte Stoffe zu sich zu nehmen. Sie sollten sich die betreffende Empfindung bewusst machen und auch wie und in welcher Art und Weise Richtung ihrer Erfahrung nach ihr Gefühl durch den Konsum einer bestimmten Substanz verändert würde.

Patienten, die angegeben hatten, sie tränken Bier allein des Geschmacks wegen, konnten durch den Wechsel auf alkoholfreies Bier sehr schnell feststellen, dass nicht allein der Geschmack des Bieres für ihr Bedürfnis ausschlaggebend war. Die meisten Patienten wollten Alkohol am liebsten abends nach der Arbeit oder zum Essen trinken, während sie morgens zum Frühstück oder nach dem Essen eher eine Tasse Bohnenkaffee bevorzugten.

Dies brachten sie mit der entspannenden Wirkung des Alkohols beziehungsweise der anregenden Wirkung des Koffeins in Zusammenhang, die von ihnen jeweils gewünscht wurde. Die Patienten konnten bei sich selbst beobachten, dass sie gezielt Stoffe einsetzten und auch in Werbespots mit Absicht Situationen dargestellt würden, In der durch den Konsum des propagierten Stoffes eine Alltagssituation scheinbar leichter bewältigt, oder generell das Wohlgefühl gesteigert werden sollte.

Damit erhalten solche Stoffe den Rang von Psychopharmaka. Ihre jeweilige Verwendung wird auch durch kulturelle und historische Einflüsse geprägt.

Bei der Besprechung dieser Thematik wurde regelmäßig das Argument angeführt, eine Alltagsbewältigung ohne jegliche Form von Genussgiften erscheine unmöglich. Man müsse sich ja schließlich ab und zu etwas Gutes gönnen. Ja einige Patienten bezweifelten, dass Menschen, die ein Leben ohne jeglichen Konsum solcher Stoffe führen, zufrieden sein könnten. Dass das Bedürfnis danach spontan immer mehr zurückgehen und schließlich ganz verschwinden kann, konnten sie sich nicht vorstellen.

Als Beispiel für die gleichsinnige Wirkung endogen gebildeter Substanzen führten wir den sogenannten Typ A des Verhaltens an, der in der Literatur wie folgt beschrieben wird:


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"Dass Typ A Verhaltensmuster entspricht nicht einem Persönlichkeitstyp, sondern es ist ein Verhaltenssyndrom, das man klar definieren und mit neurohormonalen und physiologischen Reaktionen korrelieren kann. Zu dem Syndrom gehören Verhaltensanlagen wie Ehrgeiz, Aggressivität, Rivalitätsdenken und Ungeduld; spezifische Verhaltensweisen wie Anspannen der Muskeln, rasches, zügiges Handeln und rasches, nachdrück­liches Sprechen; und schließlich emotionale Reaktionen wie Gereiztheit, Wut und eine — vielfach nicht offen in Erscheinung tretende — Feindseligkeit."111

Viele Patienten gaben an, solche oft erfolgreichen Menschen heimlich zu beneiden und sich an ihrer Leistungsbereitschaft und ihren Erfolgen zu orientieren, sich aber zumindest von solchen Vorbildern unter Leistungsdruck gesetzt zu fühlen. Einigkeit bestand in den Gruppen immer darüber, dass von solchen Personen gesellschaftliche Leitbilder vorgegeben werden. Die Menschen mit dem Typ A des Verhaltens scheinen zwar im hohen Maße dem Risiko ausgesetzt zu sein zu erkranken, bis zu dem Zeitpunkt aber, wo solche Krankheiten manifest werden, erbringen sie überdurchschnittliche Leistungen. Viele Patienten hatten von sich eine Ich-Idealvorstellung entwickelt, ähnlich überdurchschnittlich sein zu müssen oder zu sollen.

Dabei meinten sie aber, diese Leistungen erbringen zu können, dass dabei ihre Gesundheit angegriffen würde. Für die Patienten war die Information interessant, dass bestimmte Leistungen von Personen möglicherweise nur deshalb erbracht werden können, weil sie ständig die Leistungsfähigkeit ihres Organismus überstrapazieren und dass sie dieses unter nur Umständen deshalb nicht realisieren müssen, weil sie entsprechende Warnsignale mit Hilfe bestimmter körpereigener Stoffe zum Verstummen bringen können.112

In diesem Zusammenhang nannten wir auch die Theorie von MacLEAN über die Dreieinigkeit der mensch­lichen Gehimfunktionen113 die darstellt, dass sich das Gehirn eines Menschen, entwicklungs­geschichtlich gesehen, aus drei voneinander abgrenzbaren Teilen zusammensetzt: Stammhirn, Zwischenhirn mit Limbischem System und Neokortex, deren Funktionen sich auf verschiedenen Ebenen ergänzen und verschränken.

Ein Psychotherapeut müsse infolgedessen auf seiner Couch nicht mit einem der Vernunft gehorchenden Menschen rechnen, sondern auch mit emotionalen und primitiven Reaktionen, diktiert durch die entwicklungsgeschichtlich älteren Hirnareale; was MacLEAN in dem Bonmot zusammenfasste, der Therapeut habe sozusagen gleichzeitig ein Krokodil, ein Pferd und einen Menschen vor sich.114

 

111)  Rosenman, R.H.; Chesney, M.A., 1982 (in: Kielholz, P., et al. Hrsg.: 38 ) 
112)  vergl. Rosenberg, W.E., a.a.O.: 58- 62 
113)  MacLean, P.D., 1973: 6- 22 


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Wir wiesen die Patienten darauf hin, dass es möglich ist, sich einzureden, man brauche in bestimmten Situationen keine Angst zu haben. Wenn eine Person in einer bestimmten Situation aber tatsächlich Angst hat, so wird sich dies an ihren Körperreaktionen ablesen lassen. Man kann diese Körperreaktionen zwar ignorieren und die Aufmerksamkeit stattdessen auf irgendwelche komplizierten Gedankengänge lenken. Das ist aber nur für eine begrenzte Dauer und nur bis zu einer gewissen Reizintensität durchführbar.

So ist es beispielsweise bei einer bestimmten Blutdrucklage nicht möglich, sich willentlich am Ohnmächtig­werden zu hindern. Ebenso wie man auch nicht durch willkürliches Anhalten der Luft allein einen Atemstillstand auf Dauer erreichen kann. Spätestens bei Verlust des Bewussteins wird die spontane Atmung wieder in Gang gesetzt, da wesentliche, im Stammhirn verschaltete zentrale Funktionen zwar durch kortikale Leistungen in erheblichem Maß beeinflusst, aber nicht dominiert werden können. Für die Patienten war dabei die Überlegung wichtig, dass ihre Gedanken durch ihre körperliche Ausgangslage beeinflusst und bestimmt werden und dass umgekehrt Stoffwechselvorgänge durch logische Gedankenoperationen nicht direkt beeinflusst werden. 

Die Patienten sollten also lernen, die Körperreaktionen als Entscheidungshilfe zu akzeptieren und sich nicht alleine von logischen Folgerungen und Erwartungen leiten zu lassen. Ganz konkret, bezogen auf die direkte Anwendung der Methode, sollten die Patienten diskrete Veränderungen in ihrem Körper wahrzunehmen und auch kleinste Andeutungen von Unbehagen zu hinterfragen und ernstzunehmen lernen.

Viele Patienten neigen dazu, sofort emotional stark belastende Erinnerungen provozieren zu wollen, weil sie sich von der Überlegung leiten lassen, dass sie um so schneller mit der Therapie vorankommen würden, je eher sie sich mit wirklich gravierenden Einflüssen auseinandersetzen könnten. Gerade diejenigen, die unter einem großen Leidensdruck stehen und deren Leben auf Grund ihrer psychischen Probleme sehr reduziert ist, neigen dazu, sich bei der Therapie zu überfordern. 

Die Vorstellung, für einige Wochen quasi durch die Hölle gehen zu müssen, um dann hinterher geheilt zu sein, scheint für erschöpfte Menschen erträglicher zu sein, als die über einen längeren Zeitraum hinweg in kleinen Einzelschritten ihre Belastungen kontinuierlich abzubauen. Besonders für diese Patienten ist es daher von größter Bedeutung, dass sie ihr Körpergefühl und nicht ihre Überlegungen zum Maßstab Ihres Vorgehens bei der Therapie machen, weil sie sich sonst überfordern.

 

114) ebenda

 

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