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Auf der Suche nach dem wahren Selbst

 

 

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Wie kann hier die Psychoanalyse helfen? Die Unmittelbarkeit eines Käthchen von Heilbronn ist vielleicht nur in der Phantasie möglich und gerade aus der Sehnsucht eines narzißtisch Gequälten wie Kleist sehr gut verständlich. Die Einfachheit eines Falstaffs, von dem Freud gesagt haben soll, daß er das Traurige des gesunden Narzißmus verkörpert, ist für diese Patienten gar nicht möglich und nicht erwünscht.

Das Paradies der präambivalenten Harmonie, auf das so viele Patienten hoffen, läßt sich nie erreichen. Aber das Erleben der eigenen Wahrheit und das postambivalente Wissen um sie, ermöglicht, auf einer erwachsenen Stufe, die Rückkehr zur eigenen Gefühlswelt  —  ohne Paradies, aber mit der Fähigkeit, zu trauern. 

Es gehört zu den Wendepunkten der Analyse, wenn narzißtisch gestörte Patienten zu der emotionalen Einsicht kommen, daß all die Liebe, die sie sich mit so viel Anstrengungen und Selbstaufgabe erobert haben, gar nicht dem galt, der sie in Wirklichkeit waren; daß die Bewunderung für ihre Schönheit und Leistungen der Schönheit und den Leistungen galt und nicht eigentlich dem Kind, wie es war. 

Hinter der Leistung erwacht in der Analyse das kleine einsame Kind und fragt sich: 

»Wie wäre es, wenn ich böse, häßlich, zornig. eifersüchtig, faul, schmutzig, stinkend vor euch gestanden wäre? Wo wäre dann eure Liebe gewesen? Und all das war ich doch auch. Will das heißen, daß eigentlich nicht ich geliebt wurde, sondern das, was ich vorgab zu sein? Das anständige, zuverlässige, einfühlsame, verständnisvolle, das bequeme Kind, das im Grunde gar nicht Kind war? Was ist mit meiner Kindheit geschehen? Bin ich nicht um sie betrogen worden? Ich kann ja nie mehr zurück. Ich werde es nie nachholen können. Von Anfang an war ich ein kleiner Erwachsener. Meine Fähigkeiten – wurden sie einfach mißbraucht?«  

Diese Fragen sind mit sehr viel Trauer und Schmerz verbunden, haben aber immer zur Folge, daß eine neue Instanz im Analysanden sich aufrichtet (wie ein Erbe der Mutter, die es nie gegeben hat) – die aus der Trauer geborene Empathie für das eigene Schicksal. Ein Patient träumte in einer solchen Phase, er hätte vor dreißig Jahren ein Kind umgebracht und niemand hätte ihm geholfen, das Kind zu retten. (Vor dreißig Jahren, ausgerechnet in der ödipalen Phase, fiel es der Umgebung auf, daß das Kind völlig verschlossen wurde, höflich und brav, aber keine Gefühlsregungen mehr zeigte.)

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Die Manifestationen des eigenen Selbst werden nun nicht mehr bagatellisiert, nicht mehr verlacht oder verspottet, wenn auch noch lange unbewußt überfahren oder einfach nicht beachtet (genau in der gleichen subtilen Art, wie es die Eltern früher mit dem Kinde taten, als das Kind für seine Bedürfnisse noch keine Sprache hatte). Dann wagen sich auch die bisher abgespaltenen, weil verurteilten, Größenphantasien hervor, und ihr Zusammenhang mit den frustrierten und verdrängten Bedürfnissen nach Beachtung, Respekt, Verständnis, Echo und Spiegelung wird deutlich. Immer wieder ist im Kern dieser Phantasien der früher nie eingestandene Wunsch, z.B.: Ich stehe im Zentrum, meine Eltern schauen mich an und stecken ihre Bedürfnisse zurück (Phantasie: ich bin die Prinzessin, um mich bemühen sich die Bedienten), die Eltern tolerieren, daß ich meine Gefühle auszudrücken versuche, sie lachen mich nicht aus (Phantasie: ich bin ein berühmter Künstler, und alle nehmen mich ernst, auch wenn sie mich nicht verstehen), meine Eltern sind reich an Mut und Gaben und sind nicht auf meine Leistungen angewiesen, brauchen meinen Trost und mein Lächeln nicht (»König und Königin«).

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Das heißt in der Kindersituation: Ich darf traurig oder glücklich sein, wenn mich etwas traurig oder glücklich macht, aber ich bin niemandem eine Heiterkeit schuldig und muß nicht meinen Kummer oder Angst oder andere Gefühle je nach den Bedürfnissen Anderer unterdrücken. Ich darf böse sein, und niemand stirbt daran, niemand bekommt Kopfweh davon, ich darf toben und Dinge kaputt machen, ohne die Eltern zu verlieren. Mit Winnicotts Worten: »Ich kann das Objekt umbringen, und es wird überleben« (D. Winnicott, 1971).

Wenn man die Größenphantasien, die oft mit zwanghaften oder perversen Begleiterscheinungen einhergehen, als entfremdete Form dieser echten und legitimen Bedürfnisse erlebt und verstanden hat, kann die Spaltung aufgehoben werden und die Integration erfolgen.

 

Wie geht das chronologisch vor sich? 

1.  In den meisten Fällen ist es am Anfang der Analyse nicht sehr schwer, den Patienten darauf aufmerksam zu machen, wie er mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen umgeht und daß dies seine Überlebens­chance war. Er fühlt sich enorm erleichtert, wenn man Dinge in ihm ernst- und wahrnimmt, die er bisher abzuwürgen gewohnt war.

Man kann ihn aufgrund des gebotenen Materials darauf aufmerksam machen, wie er über seine Gefühle spottet, sie ironisiert, versucht, sie sich auszureden, sie bagatellisiert oder gar nicht wahrnimmt, oder vielleicht erst nach einigen Tagen wahrnimmt, wenn sie schon vergangen sind.

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Allmählich realisiert der Patient selber, wie er gewaltsam Zerstreuung sucht, wenn er bewegt, erschüttert oder traurig ist. (Als die Mutter des sechsjährigen Kindes starb, sagte die Tante: »Man muß tapfer sein und nicht weinen, geh jetzt in dein Zimmer und spiele schön.«) In vielen Situationen erlebt er sich zwar immer noch von Anderen her, sich ständig fragend, wie er wirkt, wie er jetzt sein müßte, welche Gefühle er haben sollte. Aber im großen und ganzen fühlt sich der Patient jetzt, in der Anfangsphase, viel freier, er kann dank der Hilfs-Ich-Funktion des Analytikers mehr von sich zu spüren bekommen, wenn ein Teil seiner gegenwärtigen Gefühle in der Stunde gelebt und ernstgenommen wird. Für diese Möglichkeit ist er auch sehr dankbar.

 

2. Nun – dabei bleibt es natürlich nicht: Sobald sich die Übertragungsneurose entwickelt hat, bekommt der Analytiker neben der ersten, die er noch eine Zeitlang beibehält, seine zweite Funktion – die der Übertrag­ungs­figur. Und da tauchen Gefühle aus verschiedenen Stadien der Kindheit auf. Das ist wohl die schwierigste Zeit der Analyse, an Agieren die reichste. Der Patient fängt an, sich zu artikulieren, bricht mit seiner Fügsamkeit, kann aber, aufgrund seiner Kindheitserfahrungen nicht glauben, daß dies ohne Lebensgefahr möglich sein soll.

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So inszeniert er aus dem Wiederholungszwang heraus Situationen, in denen er die Angst vor Objektverlust, vor Ablehnung, vor der Isolierung auch real erleben muß, den Analytiker mit hineinziehend (als ablehnende oder fordernde Mutter z.B.), um dann die Befreiung zu erleben, daß er das Risiko aushalten und zu sich selbst stehen konnte. Das kann ganz harmlos beginnen. Man wird von Gefühlen überrascht, die man am liebsten nicht wahrgenommen hätte, aber es ist zu spät. das Sensorium für die eigenen Regungen ist bereits freigelegt, es gibt kein Zurück. Und nun muß (aber auch: darf!) der Analysand sich so erleben, wie er es bisher nie für möglich gehalten hat.

Er, der die Geizigen verachtet, ertappt sich plötzlich dabei, daß er unwillkürlich ausrechnet, was die durch ein Telefonat des Analytikers versäumten zwei Minuten seiner Stunde kosten. Er, der bisher nirgends Ansprüche stellte und unermüdlich die Ansprüche der Anderen erfüllte – er wird plötzlich wütend, weil der Analytiker »schon wieder« Ferien macht. Oder es ärgert ihn, neue Leute beim Analytiker zu sehen. Wie kommt das? Es ist doch nicht Eifersucht. Das Gefühl kennt er gar nicht! Und doch ... »Was haben die da zu suchen? Kommen da überhaupt noch andere Leute außer mir?« Bis jetzt hat er das gar nicht realisiert.

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Zunächst ist es eine große Kränkung, nicht nur gut, verständnisvoll, großzügig, beherrscht und vor allem erwachsen zu sein, wenn die Selbstachtung bisher darauf aufgebaut war. Aber zu dieser Kränkung gesellt sich eine noch viel schwerere, wenn der Analysand die Introjekte in sich entdeckt und sich selber in deren Gefängnis sieht. Die Wut, der Anspruch, der Geiz treten ja nicht in einer gezähmten, erwachsenen Form auf, sondern zunächst in der kindlich-archaischen, in der sie verdrängt wurden. Und der Patient ist entsetzt, wenn er feststellt, daß er in der verhaßten Art seines Vaters gewütet hat oder, wie er das nennt, »in den Kleidern seiner Mutter« gestern sein Kind kontrollierte.

Dieses Aufleben der Introjekte und die Auseinandersetzung mit ihnen mit Hilfe der Übertragung bilden den Hauptteil der Analyse. Was nicht erinnert werden kann, wird unbewußt inszeniert und auf diesem Wege gefunden. Je mehr der früheren Gefühle zugelassen und erlebt werden, desto stärker und kohärenter fühlt sich der Patient. Dies befähigt ihn, sich Gefühlen der ganz frühen Kindheit auszusetzen und die damalige Hilflosigkeit und Ambivalenz zu erleben, was letztlich wiederum seine Sicherheit stärkt.

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Es ist etwas völlig anderes, ob man als Erwachsener einem Menschen gegenüber ambivalente Gefühle hat oder ob man – nach langer Vorgeschichte – sich plötzlich als ein zweijähriges Kind erlebt, das in der Küche vom Hausmädchen gefüttert wird und verzweifelt denkt: »Warum ist Mama jeden Abend weg? Warum hat sie keine Freude an mir? Was ist an mir, daß sie lieber zu den anderen Menschen geht? Was kann ich machen, damit sie bleibt? Ja nicht weinen! ja nicht weinen — «.

Damals konnte das Kind nicht in diesen Worten denken, aber in der Stunde auf der Couch war dieser Mann beides: der Erwachsene und auch das zweijährige Kind, und er konnte bitterlich weinen. Es war nicht ein kathartisches Weinen, sondern die Integration seiner frühen Sehnsucht nach der Mutter, die er bisher immer verleugnet hatte. In den auf diese Stunde folgenden Wochen erlebte der Patient die ganze quälende Ambivalenz seiner Mutter gegenüber, die eine erfolgreiche Kinderärztin war. Das bisher »eingefrorene« Bild der Mutter verwandelte sich in das einer Frau mit liebenswürdigen Seiten, die dem Kind keine Kontinuität in der Beziehung geben konnte. »Ich hasse diese ewig kranken Biester, die mir meine Mutter immer weggenommen haben. Ich hasse meine Mutter, weil sie lieber bei ihnen war als bei mir.« In der Übertragung mischten sich Anklammerungstendenzen und Gefühle von Hilflosigkeit mit der lang aufgestauten Wut auf das nicht verfügbare Liebesobjekt. In der Folge verschwand gänzlich eine den Patienten seit langem quälende Perversion, deren Sinn sich nun unschwer entziffern ließ.

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Seine Beziehungen zu Frauen verloren den ausgesprochen narzißtischen Besetzungscharakter, und der Zwang, zu erobern und zu verlassen, war auf einmal verschwunden.

In diesem Stadium der Analyse werden frühe Gefühle der Ohnmacht, der Wut und des Ausgeliefertseins an das geliebte Objekt erlebt, wie sie früher nie hätten erinnert werden können. Man kann nur etwas erinnern, was man bewußt erlebt hat. Aber die Gefühlswelt eines narzißtisch gestörten Kindes ist ja bereits das Ergebnis einer Selektion, in der das Wesentliche ausgeschieden wurde. Erst in der Analyse werden diese frühen Gefühle, die vom Schmerz des Nichtbegreifenkönnens der frühkindlichen Stufe begleitet sind, zum erstenmal bewußt erlebt.

Das wahre Selbst ist »im Zustand der Nichtkommunikation«, wie Winnicott schrieb, weil es geschützt werden muß. Nichts wird der Patient so gründlich so lange und so tief verstecken müssen wie sein wahres Selbst. Es ist daher jedesmal wie ein Wunder zu sehen, daß trotzdem so viel Eigenes hinter einer solchen Verstellung, Verleugnung, Selbstentfremdung überleben konnte und zutage tritt, wenn durch die Trauerarbeit einmal die Freiheit von den Introjekten erreicht wurde. Und doch wäre es irreführend, wollte man Winnicotts Satz so verstehen, daß hinter dem falschen Selbst ein entwickeltes wahres Selbst versteckt wäre.

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In einem solchen Fall gäbe es keine narzißtische Störung, sondern ein bewußtes Sich-Schützen. Das Kind weiß jedoch nicht, was es versteckt. Ein Patient formulierte es so: »Ich lebte in einem Glashaus, in das meine Mutter jederzeit hineinschauen konnte. In einem Glashaus kann man nichts verstecken, ohne sich zu verraten, außer unter dem Boden. Dann sieht man es aber selbst auch nicht.«

Ein erwachsener Mensch kann auch nur dann seine Gefühle erleben, wenn er ein zugewandtes, empathisches Selbstobjekt internalisiert hat. Menschen mit narzißtischen Störungen hat das gefehlt, sie können deshalb nicht von Gefühlen überrascht werden, denn nur solche Gefühle finden bei ihnen Zutritt, die die innere Instanz, die Erbin der Eltern, zuläßt und gutheißt. Die Depression, die innere Leere, ist der Preis, der für diese Kontrolle bezahlt werden muß. 

Um zu Winnicotts Satz zurückzukommen: das wahre Selbst kann nicht kommunizieren, weil es in einem unbewußten, und daher unentwickelten, Zustand geblieben ist, in einem inneren Gefängnis. Der Umgang mit Gefängniswärtern begünstigt keine lebendige Entwicklung. Erst nach der Befreiung in der Analyse fängt das Selbst an, sich zu artikulieren, zu wachsen und seine Kreativität zu entwickeln. Und wo früher nur die gefürchtete Leere oder die gefürchteten grandiosen Phantasien zu finden waren, tut sich ein unerwarteter Reichtum an Lebendigem auf. Es ist nicht eine Heimkehr, denn das Heim hat es nie gegeben. Es ist eine Heimfindung.

 

3. Die Phase der Trennung vom Analytiker beginnt, wenn der Analysand eine stabile Fähigkeit zu trauern erworben hat und sich auch Gefühlen aus der Kindheit aussetzen kann, ohne dabei ständig auf den Analytiker angewiesen zu sein.

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Die Situation des Psychoanalytikers  

 

Man hört oft die Behauptung, daß Psychoanalytiker an einer narzißtischen Störung leiden. Die bisherigen Ausführungen wollten deutlich machen, inwiefern man diese Behauptung nicht nur induktiv auf erfahrene Tatsachen stützen, sondern sie auch deduktiv aus der Art der Begabung zum Analytiker ableiten könnte. Seine Sensibilität, seine Fähigkeit zur Einfühlung, zu intensiven und differenzierten Gefühlen, seine übermäßige Ausstattung mit »Antennen« prädestinieren ihn ja geradezu dazu, als Kind von narzißtisch Bedürftigen gebraucht – wenn nicht mißbraucht – zu werden.

Natürlich gibt es theoretisch auch die Möglichkeit, daß ein in dieser Richtung begabtes Kind bei Eltern aufgewachsen ist, die diesen Mißbrauch nicht nötig hatten, d.h. das Kind in seinem Wesen sahen, verstanden, seine Gefühle ertrugen und respektierten. Dieses Kind hätte dann einen gesunden Narzißmus entwickelt.

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Es ist aber kaum anzunehmen,

1. daß es später den Beruf des Psychoanalytikers ergreift,
2. daß es das geeignete Sensorium für den Anderen in dem Maße ausbilden und entwickeln wird wie die »narzißtisch gebrauchten« Kinder, 
3. daß es je – aufgrund eigenen Erlebens – genügend verstehen wird, was es heißt, sein Selbst »getötet zu haben«.

So meine ich, daß gerade unser Schicksal nicht minder als unsere Begabung uns befähigt, den Beruf des Psycho­analytikers auszuüben, wenn wir in der Lehranalyse die Möglichkeit bekommen, mit der Wahrheit unserer Vergangenheit zu leben und auf die gröbsten Illusionen zu verzichten. Das hieße, das Wissen auszuhalten, daß wir auf Kosten unserer Selbstverwirklichung genötigt waren, die unbewußten Bedürfnisse unserer Eltern zu befriedigen, um das geliebte Objekt nicht zu verlieren. Es hieße weiter, die Auflehnung und Trauer über die Nichtverfügbarkeit der Eltern für unsere primären narzißtischen Bedürfnisse erleben zu können.

Haben wir unsere Verzweiflung und die daraus entspringende narzißtische Wut nie gelebt und infolge­dessen nie verarbeitet, so können wir in die Gefahr kommen, die unbewußt gebliebene Situation der eigenen Kindheit auf den Patienten zu übertragen.

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Denn wen würde es wundern, wenn diese unbewußte Wut keinen anderen Weg finden würde, als wiederum ein schwächeres Wesen dazu zu benutzen, es sich an Stelle der Eltern verfügbar zu machen. Das läßt sich am leichtesten mit eigenen Kindern und mit Patienten machen, die zuweilen wie Kinder vom Analytiker abhängig sind. Ein analytisch begabter Patient, ein Patient mit »Antennen« für das Unbewußte des Analytikers, wird prompt darauf reagieren. Er wird ein vollendetes Bild seines Ödipuskomplexes vor dem Analytiker ausbreiten, mit allen gewünschten Affekten und Einsichten.

Allein – es wird ein »Als-ob-Odipus« sein, eine Abwehr seiner wahren Gefühle. Erst wenn man ihm Zeit und Raum läßt, sein wahres Selbst sich entwickeln und reden zu lassen und darauf zu hören, entfaltet sich vor den beiden (Analysand und Analytiker) die unbekannte, einmalige Geschichte seines ödipalen Schicksals, die langsam auftaucht und keiner Theorien bedarf, aber für beide erschütternd ist, weil sie die in Schmerzen gefundene Wahrheit erzählt.

Das gilt nicht nur für den Ödipuskomplex, das gilt für alles. Ein solcher Analysand wird sich auch schnell autonom »fühlen« und wird so reagieren, wenn er spürt, daß es dem Analytiker wichtig ist, schnell autonome Analysanden mit sicherem Auftreten zu bekommen.

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Das kann er auch, er kann alles, was von ihm erwartet wird. Aber diese »Autonomie« mündet in die Depression, weil sie keine echte ist. Der echten geht das Erlebnis der Abhängigkeit voraus, zunächst von Partnern und vom Analytiker und anschließend von den primären Objekten. Erst jenseits des tief ambivalenten Gefühls der kindlichen Abhängigkeit liegt die echte Befreiung.1)

Die narzißtischen Wünsche des Analytikers nach Bestätigung, Echo, Verstanden- und Ernstgenommen­werden befriedigt der Patient, wenn er solches Material bringt, das zum gelernten Rüstzeug des Analytikers, zu seinen Konzepten, folglich zu seinen Erwartungen paßt. Der Analytiker übt damit die gleiche Art unbewußter Manipulation aus, der er als Kind selbst ausgesetzt war. Die bewußte Manipulation hat er ja längst durchschaut und sich von ihr freigemacht. Er lernte auch, »nein« sagen, seine Ansichten vertreten und durchsetzen zu können. Aber die unbewußte Manipulation ist für ein Kind niemals durchschaubar. Sie ist die Luft, die es atmet, es kennt keine andere, und sie erscheint ihm als die einzig normale.

1  Die hier formulierten Thesen beruhen zwar auf meinen Erfahrungen, aber sie lassen sich auch durch Erfahrungen anderer Analytiker verdeutlichen. Vgl. dazu z.B. die Kasuistik von M. Stern, 1972, oder M. Khan, 1974.

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So durfte z.B. ein Analysand als Kind nicht traurig sein und nicht weinen, ohne zu spüren, daß er seine geliebte Mutter unglücklich und zutiefst unsicher machte, denn »Heiterkeit« war die Eigenschaft, die ihr seinerzeit als Kind das Leben gerettet hatte. Tränen bei ihren Kindern drohten ihr Gleichgewicht zu erschüttern. Aber das hochsensible Kind spürte in sich den ganzen abgewehrten Abgrund dieser Mutter, die als Kind im Konzentrationslager gewesen war und nie davon gesprochen hatte. Erst als der Sohn erwachsen war und sie mit Fragen angehen konnte, erzählte sie, daß sie eines von achtzig Kindern gewesen war, die zuschauen mußten, wie ihre Eltern in die Gaskammer gingen. Keines der Kinder hätte geweint!

Der Sohn hatte in seiner ganzen Kindheit versucht, heiter zu sein, und konnte sein wahres Selbst, seine Gefühle und Ahnungen nur in zwanghaften Perversionen leben, die ihm bis zur Analyse fremd, beschämend und unverständlich vorkamen. 

(Das Selbstbeschämende in Perversionen und Zwangshandlungen ist oft als Introjektion der Befremdung der Eltern den ganz natürlichen kindlichen Triebregungen gegenüber zu verstehen. Eine »normale« Sexual­befriedigung evoziert noch kein Entsetzen der introjizierten Mutter wie früher der realen, aber eine pervertierte kann sicher damit rechnen. Vgl. S. 159 ff.)

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Gegen diese Art von Manipulation in der Kindheit ist man völlig wehrlos. Das Tragische ist, daß auch die Eltern diesem Geschehen wehrlos ausgeliefert sind, von dem sie oft nichts wissen und an dem sie, auch wenn sie es ahnen, nichts ändern können. Bewußt wird da alles andere versucht, ehrlich und mit vollem Einsatz der eigenen Möglichkeiten. Unbewußt setzt sich aber die Tragik der elterlichen Kindheit in der Beziehung zu den eigenen Kindern fort.2)

Ein anderes Beispiel mag das noch deutlicher illustrieren: Ein Vater, der als Kind öfters über die Angstanfälle seiner zeitweise schizophrenen Mutter erschrocken war, ohne daß jemand ihm eine Erklärung gegeben hätte, erzählte seiner kleinen geliebten Tochter gerne Schauergeschichten. Über ihre Angst machte er sich lustig, um sie anschließend immer mit dem Satz zu beruhigen: das ist doch eine erfundene Geschichte, du brauchst dich nicht zu fürchten, du bist bei mir. So konnte er die Angst des Kindes manipulieren und sich stark dabei fühlen. Bewußt wollte er dem Kind etwas Gutes geben, etwas, das er selber entbehrte, nämlich Beruhigung, Schutz, Erklärung. Was er ihm aber unbewußt auch vermittelte, war die Angst seiner Kindheit, die Erwartung eines Unglücks und die ungeklärte Frage (auch seiner Kindheit): Warum macht mir der Mensch, den ich liebe und der mich liebt, so viel Angst?

2)   Zum tragischen Aspekt der Psychoanalyse vgl. Schafer, 1972.

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Jeder Mensch hat wohl in sich eine mehr oder weniger vor sich selbst verborgene Kammer, in der sich die Requisiten seines Kindheitsdramas befinden. Vielleicht ist es sein geheimer Wahn, seine geheime Perversion oder ganz schlicht der unbewältigte Teil seines Kinderleidens. Die einzigen Menschen, die mit Sicherheit Zutritt zu dieser Kammer bekommen werden, sind seine Kinder. Mit den eigenen Kindern kommt neues Leben in die Kammer, das Drama erfahrt seine Fortsetzung.

Allein – das Kind hatte keine Möglichkeit, mit diesen Requisiten frei zu spielen, seine Rolle verschmolz ihm mit dem Leben; es konnte auch keine Erinnerung an dieses Spiel in sein späteres Leben hinüberretten, es sei denn durch seine unbewußte Wiederholung in einer Analyse, wo ihm seine Rolle zur Frage werden kann. Die Requisiten machten ihm zwar manchmal Angst, es konnte sie mit der sonstigen vertrauten Person seiner Mutter oder seines Vaters nicht in Zusammenhang bringen, begreiflicherweise, denn sie verkörperten ja den abgespaltenen, nicht integrierten Teil der Eltern. Aber das Kind kann diesen Widerspruch gar nicht bewußt erleben, es nimmt einfach alles hin und entwickelt höchstens Symptome. Und dann, in der Analyse, tauchen die Gefühle auf: Gefühle des Entsetzens, der Verzweiflung und Auflehnung, des Mißtrauens und – falls die Rekonstruktion des elterlichen Schicksals gelingt – des Mitleids und der Versöhnung.

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Ist es wohl ein Zufall, daß gerade Heinrich Pestalozzi, der von seinem sechsten Lebensjahr an vaterlos aufgewachsen und trotz Mutter und Kinderfrau emotional verwahrlost war, ausgerechnet bei seinem einzigen Sohn die Idee hatte, ihn nach der Methode Rousseaus zu erziehen, während er andererseits fähig war, den fremden Waisenkindern echte spontane Wärme und »Väterlichkeit« zu geben? 3)

Der Sohn wuchs schließlich verwahrlost auf, galt im Alter von zehn Jahren als »geistesschwach«, war für Pestalozzi die Ursache vieler Schmerzen und Schuldgefühle und starb mit dreißig Jahren (vgl. H. Ganz, 1966 und M. Lavater-Sloman, 1977).

 

3)  Bei H. Ganz (1966) (S. 53) lesen wir: 
»Jakob soll einen eignen Garten besorgen, Pflanzen dreinsammeln, Puppen und Käfer mit Ordnung, Genauigkeit und Fleiß sammeln und aufbewahren.... - welcher Zaum für Trägheit und Wildheit. Jakob zählt nun dreieinhalb Jahre. Es mag ein Jahr später gewesen sein, als Jakob, der nicht schreiben konnte, seiner Mama zum Namenstag des Papa <halb singend, halb murmelnd> heiter diktierte:
<Ich wünsche meinem lieben Papa ... daß Du viel mehr erlebest und ich danke Dir hunderttausendmal für Deine Guttaten ... daß Du mich so lustig und so lieb aufgezogen hast. Jetzt will ich Dir sagen, wie's mir aus dem Herzen geht ... es freut mich schrecklich, wenn du kannst sagen, ich habe meinen Sohn zur Freud aufgezogen ... ich bin seine Lust und seine Freude, dann will ich erst danken für das, was Du in meinem Leben getan hast>.«

Und es ist Pestalozzi, der einmal gesagt haben soll: »Du kannst den Teufel aus deinem Garten verjagen, doch im Garten deines Sohnes findest du ihn wieder.« Psychoanalytisch würde man sagen: es sind die abgespaltenen, nicht integrierten Teile der Eltern, die vom Kind introjiziert werden.

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Schlussbemerkungen

 

Je mehr man Einsicht gewinnt in die ungewollte, unbewußte Manipulation der Kinder durch die Eltern, desto weniger bleiben einem Illusionen über die Veränderbarkeit der Welt und die Neurosen-Prophylaxe erhalten.

Es scheint mir: wenn wir überhaupt etwas tun können, dann unsere narzißtische Störung so zu verarbeiten, unsere abgespaltenen Teile so weit zu integrieren, daß wir es nicht mehr so nötig haben, unsere Patienten von unseren Theorien her unbewußt zu manipulieren, und sie das werden lassen können, was sie sind.

Erst das schmerzhafte Erlebnis und die Annahme der eigenen Wahrheit macht uns von der Hoffnung relativ frei, doch noch die verstehende, empathische Mutter – vielleicht im Patienten – zu finden und sie sich – mit klugen Deutungen – verfügbar machen zu können.

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Diese Versuchung ist nicht zu unterschätzen: selten oder niemals hat uns wohl die eigene Mutter mit der Aufmerksamkeit zugehört, wie ein Patient es meistens tut, und niemals hat sie uns so aufrichtig, und für uns verständlich ihr Inneres preisgegeben, wie es zuweilen die Patienten tun. Aber die nie abgeschlossene Trauerarbeit unseres Lebens wird uns helfen, dieser Illusion nicht zu verfallen.

Eine Mutter, wie wir sie einmal dringend gebraucht hätten – empathisch und offen, verstehend und verständlich, verfügbar und verwendbar, durchsichtig, klar, ohne unbegreifliche Widersprüche, ohne beängstigende Requisitenkammer –, eine solche Mutter haben wir nicht gehabt, und die kann es ja gar nicht geben, denn jede Mutter hat in sich ein Stück »unbewältigter Vergangenheit«, das sie dem Kind unbewußt vermittelt. Jede Mutter kann nur da empathisch sein, wo sie von ihrer Kindheit freigeworden ist, und muß unempathisch reagieren, sofern sie durch Verleugnungen ihres Schicksals unsichtbare Ketten trägt.

Was es aber gelegentlich gibt, sind solche Kinder: intelligent, wach, aufmerksam, hochsensibel und, weil ganz auf das Wohl der Mutter ausgerichtet, auch verfügbar, verwendbar und vor allem durchsichtig, klar, berechenbar, manipulierbar – solange ihr wahres Selbst (ihre Gefühlswelt) im Keller des durchsichtigen Hauses bleibt, in dem sie wohnen müssen ... zuweilen bis zur Pubertät oder bis zur eigenen Analyse und nicht selten, bis sie selber Eltern geworden sind.

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In den <Lettres de Mon Moulin> von Alphonse Daudet habe ich eine Erzählung gefunden, die etwas bizarr klingen mag, aber viel Gemeinsames mit diesen Ausführungen hat. Zum Abschluß möchte ich ihren Inhalt verkürzt wiedergeben. 

 

Es war einmal ein Kind mit einem goldenen Gehirn. Die Eltern merkten es erst zufällig, bei einer Kopfverletzung, als statt Blut etwas Gold aus seinem Kopf herausfloß. Sie fingen an, das Kind sorgsam zu behüten und verboten ihm den Umgang mit anderen Kindern, damit es nicht bestohlen werde. Als der Junge groß war und in die Welt hinaus wollte, sagte die Mutter: »Wir haben so viel für dich getan, wir sollten doch auch an deinem Reichtum teilhaben.« Da nahm der Sohn ein großes Stück Gold aus seinem Gehirn und gab es der Mutter.

Er lebte von seinem Reichtum auf großem Fuß, mit einem Freund zusammen, der ihn aber nachts einmal bestahl und sich davonmachte. Da beschloß der Mann, fortan sein Geheimnis zu hüten und zu arbeiten, weil sich die Vorräte zusehends verminderten. Eines Tages verliebte er sich in ein schönes Mädchen, das ihn auch liebte, aber nicht minder die schönen Kleider, die es von ihm in Fülle bekam. Er heiratete das Mädchen und war glücklich, aber die Frau starb nach zwei Jahren, und für ihr Begräbnis, das großartig sein mußte, gab der Mann sein ganzes restliches Vermögen aus.

Einmal schlich er durch die Straßen, schwach, arm und unglücklich; da sah er im Schaufenster schöne Stiefelchen, die seiner Frau genau gepaßt hätten. Er vergaß, daß die Frau nicht mehr am Leben war – vielleicht, weil sein entleertes Gehirn nicht mehr arbeiten konnte –, und trat in den Laden ein, um die Stiefelchen zu kaufen. Aber in dem Moment stürzte er, und der Verkäufer sah einen Toten auf dem Boden liegen.

 

Daudet, der selbst an einer Rückenmarkkrankheit sterben sollte, schreibt am Schluß: 

»Diese Geschichte scheint erfunden zu sein, aber sie ist wahr vom Anfang bis zum Ende. Es gibt Menschen, die für die geringsten Dinge im Leben mit ihrer Substanz und ihrem Rückenmark zu bezahlen haben. Das ist für sie ein immerwieder­kehrender Schmerz. Und dann, wenn sie des Leidens müde sind ...«

Gehört nicht die Mutterliebe zu den »geringsten«, aber auch unentbehrlichsten Dingen im Leben, die viele Menschen – paradoxer­weise – mit dem Verzicht auf ihre Lebendigkeit bezahlen müssen?

 

  Nachtrag  

 

In verschiedenen Zuschriften, die ich im Anschluß an diesen Vortrag erhalten habe, spiegelt sich ein gemeinsames Schicksal der zwischen 1939 und 1945 geborenen* Menschen. Die meisten dieser Kinder haben die ersten Jahre ihres Lebens neben einer Mutter verbracht, die durch den Krieg oder Verfolgung noch mehr als sonst verunsichert und verängstigt und auf die Einfühlung ihres Kindes in hohem Maße angewiesen war.

Diese narzißtisch besetzten Kinder mußten all ihre Qualitäten einsetzen, um der Mutter beizustehen und ihr Sorgen zu ersparen, worunter die Entwicklung ihres wahren Selbst beträchtlich gelitten hat. Sie stehen jetzt im Alter zwischen dreißig und vierzig Jahren, und es geschieht zuweilen, daß sie einige Jahre Analyse brauchen, um selber Gefühle von Angst, Zorn oder Verwirrung bewußt erleben zu können. Es ist, als ob bisher nur der Mutter das Recht auf solche Gefühle hat zugesprochen werden können.

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* (d-2006:) Vergleiche auch: Sabine Bode, 2005, Kriegskinder  

 

 

 

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