Nachwort
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Nachdem ich das Manuskript dieses Buches beendet und an den Verlag abgeschickt hatte, sprach ich mit einem jüngeren, sehr einfühlsamen Kollegen, dessen Arbeit ich sehr schätze und der selber Vater von zwei Kindern ist, über Probleme der Erziehung. Er meinte, es sei schade, daß die Psychoanalyse noch keine Richtlinien für eine humane Pädagogik ausgearbeitet habe.
Ich äußerte meine Zweifel darüber, ob es eine humane Pädagogik geben könne, da ich in meiner analytischen Arbeit gelernt hätte, auch die feineren und raffinierteren Formen der Manipulation, die sich als Pädagogik ausgibt, wahrzunehmen. So erläuterte ich dem Kollegen meine Überzeugung, daß jede Pädagogik völlig überflüssig ist, falls das Kind in der frühen Kindheit über eine konstante Person verfügen kann, sie auch im Sinne von Winnicott verwenden darf und nicht Angst haben muß, sie zu verlieren oder von ihr verlassen zu werden, wenn es seine Gefühle artikuliert.
Ein Kind, das ernstgenommen, geachtet und in diesem Sinne begleitet wird, kann seine eigenen Erfahrungen mit sich und der Welt machen und braucht keine Sanktionen des Erziehers. Mein Gesprächspartner war damit ganz einverstanden, meinte aber, daß es für Eltern wichtig wäre, noch konkretere Ratschläge zu bekommen. Daraufhin sagte ich ihm den Satz, den ich auf Seite 158 formuliert habe: »Wenn es den Eltern gelingen würde, ihrem eigenen Kind den gleichen Respekt entgegenzubringen, den sie immer schon ihren eigenen Eltern entgegengebracht haben, dann würde dieses Kind alle seine Fähigkeiten im besten Sinn entwickeln können.«
Nach einem spontanen, kurzen Auflachen schaute mich der Kollege sehr ernst an und sagte nach einer Weile des Schweigens: »Aber das ist doch nicht möglich .....«. — »Warum?« fragte ich. »Weil....., weil..... die Kinder stellen uns nicht unter Sanktionen, sie drohen nicht, uns zu verlassen, wenn wir böse sind. Und wenn sie es sagen, wissen wir, daß sie es nicht tun würden .....«
Der Kollege wurde immer nachdenklicher und sprach jetzt ganz langsam: »Wissen Sie, ich frage mich jetzt, ob das, was man als Pädagogik bezeichnet, nicht einfach ein Problem der Macht ist und ob wir nicht viel mehr über die verborgenen Machtverhältnisse sprechen und schreiben sollten, als uns über noch bessere Erziehungsmethoden den Kopf zu zerbrechen?« — »Gerade das habe ich in meinem letzten Buch versucht«, sagte ich.
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Die Tragik der gut erzogenen Menschen besteht darin, daß sie als Erwachsene nicht merken können, was ihnen angetan wurde und was sie selber tun, wenn sie es als Kinder nicht haben merken dürfen. Davon profitieren unzählige Institutionen und nicht zuletzt die totalitären Regime. In unserem Zeitalter des Machbaren kann auch die Psychologie verheerende Dienste zur Konditionierung des Einzelnen, der Familie und ganzer Völker anbieten. Die Konditionierung und Manipulation des Anderen ist immer eine Waffe und ein Instrument der Machtausübung, auch wenn diese mit Worten wie »Erziehung« oder »therapeutische Behandlung« getarnt wird. Da die Ausübung der Macht über andere Menschen und deren Mißbrauch meistens die Funktion haben, das Aufbrechen von Gefühlen eigener Ohnmacht zu verhindern, also oft unbewußt gesteuert werden, können ethische Argumente diesen Prozeß nicht aufhalten.
Wie die Technik im Dritten Reich helfen konnte, Massenmorde in sehr kurzer Zeit durchzuführen, so kann auch das genauere, auf Computerdaten und Kybernetik gestützte Wissen vom menschlichen Verhalten zum schnelleren, umfassenderen und effektiveren Seelenmord des Menschen beitragen als die frühere intuitive Psychologie. Gegen diese Entwicklung gibt es keine Mittel; auch die Psychoanalyse ist kein solches, ja, sie ist selber in Gefahr, in Ausbildungsinstituten als Machtmittel gebraucht zu werden.
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Das einzige, was bleibt, ist, wie mir scheint, das Objekt dieser Manipulation in seinen Wahrnehmungen zu bestätigen, zu stützen, und ihm durch das Bewußtwerden seiner Fügsamkeit zu helfen, sich mit eigenen Kräften, durch die Artikulierung eigener Gefühle, gegen den drohenden Seelenmord zu wehren.
Es sind nicht die Psychologen, sondern die Dichter, die der Zeit vorausgehen. In den letzten zehn Jahren häuften sich autobiographische Publikationen, und es ist sehr leicht zu beobachten, wie mit dem jüngeren Jahrgang des Autors die Idealisierung der Eltern deutlich abnimmt. Die Bereitschaft, sich der Wahrheit der eigenen Kindheit auszusetzen, und die Möglichkeit, sie auszuhalten, sind in der Nachkriegsgeneration entschieden größer. Schilderungen der Eltern, wie sie z.B. in den Büchern von Christoph Meckel (1980), Erika Burkart (1979), Karin Struck (1975), Ruth Rehmann (1979), Brigitte Schwaiger (1980) und in den von Barbara Frank (1979) und Margot Lang (1979) herausgegebenen Berichten zu finden sind, wären vor dreißig, ja sogar noch vor zwanzig Jahren kaum denkbar gewesen. Ich sehe darin eine große Hoffnung auf dem Wege zur Wahrheit und zugleich eine Bestätigung dafür, daß bereits eine minimale Lockerung der Erziehungsprinzipien Früchte tragen kann, indem es zumindest den Dichtern möglich wird, %u merken. Daß die Wissenschaft ihnen nachhinken muß, ist eine altbekannte Tatsache.
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Im gleichen Jahrzehnt, in dem die Dichter die Bedeutung der Kindheit emotional entdecken und die verheerenden Folgen der als Erziehung bezeichneten verborgenen Machtausübung entlarven, lernen die Studenten der Psychologie an den Universitäten vier Jahre lang, den Menschen als Maschine zu betrachten, um sein Funktionieren besser in den Griff zu bekommen.
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Wenn man bedenkt, wie viel Zeit und Energie im besten Alter des Lebens dafür verwendet wird, die letzte Chance der Adoleszenz zu vergeuden und die in diesem Alter besonders stark auftretenden Gefühle mit wissenschaftlichem Intellekt auf Sparflamme zu halten, dann wird man sich nicht wundern, wenn die Menschen nach diesem Opfer ihre Patienten und Klienten auch zu Opfern machen, sie als Instrument ihres Wissens und nicht als eigenständige, kreative Wesen behandeln.
Es gibt sogenannte objektive, wissenschaftliche Publikationen auf dem Gebiet der Psychologie, die in ihrer Eifrigkeit und ihrer konsequenten Selbstvernichtung an den Offizier aus der Strafkolonie Kafkas erinnern. Die ahnungslose, vertrauensvolle Haltung des verurteilten Sträflings hingegen läßt sich im heutigen Studenten wiederfinden, der so gerne glauben möchte, daß er im vierjährigen Studium nur seine Leistung und nicht seine Substanz hergeben müsse.
Die expressionistischen Maler und Dichter, die sich am Anfang unseres Jahrhunderts artikulierten, haben vom Sinn der damaligen Neurosen mehr verstanden (auf jeden Fall unbewußt mehr zum Ausdruck gebracht), als die damaligen Professoren für Psychiatrie. In ihren hysterischen Symptomen inszenierten die Patientinnen unbewußt die Traumatisierungen ihrer Kindheit. Freud gelang es, ihre für die Ärzte unverständliche Sprache zu entziffern, womit er nicht nur Dankbarkeit, sondern auch Feindseligkeit erntete, weil er es gewagt hatte, Tabus der damaligen Zeit zu berühren.
Kinder, die zuviel merken, werden dafür bestraft und verinnerlichen die Sanktionen so stark, daß sie als Erwachsene nicht mehr merken müssen. Da manche aber trotz aller Sanktionen dieses »Merken« nicht aufgeben können, besteht berechtigte Hoffnung, daß trotz der fortschreitenden Technisierung des psychologischen Wissens Kafkas Vision der Strafkolonie nur für manche Bereiche unseres Lebens und vielleicht nicht für immer Geltung haben wird. Denn die menschliche Seele ist praktisch unausrottbar, und ihre Chance, vom Tod aufzuerstehen, bleibt, solange der Körper lebt.
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