Nachwort 1981
388-389
Bevor ich das Manuskript an den Verlag abschickte, hatte ich es vier Kollegen, die in zahlreichen Diskussionen an der Entwicklung meiner Gedanken teilgenommen hatten, zum Lesen gegeben.
Der erste sagte, das Geschriebene sei ihm nach all den vielen Gesprächen nicht mehr neu und er könne meine Hypothesen aus seiner Praxis bestätigen. Diese Reaktion hat mich sehr gefreut, hat sie mir doch vermittelt, daß ich mit diesem Buch kaum allein unter den Analytikern dastehen werde.
Eine andere Kollegin sagte, es seien ihr Schuppen von den Augen gefallen, als sie die Falldarstellungen las, sie fühle sich erleichtert, den Ballast ihrer Ausbildung, zu dem sie nie voll stehen konnte, ablegen zu können und noch mehr als bisher ihren Erfahrungen und Wahrnehmungen zu folgen.
Die dritte Kollegin reagierte ähnlich wie manche Eltern auf meine früheren Bücher, nämlich mit Schuldgefühlen. Sie meinte, wenn meine Ausführungen stimmten, müßte sie ja bisher schwere Fehler begangen haben. Es kamen ihr Patienten in den Sinn, die, wie sie jetzt meinte, verzweifelt versucht hatten, ihre Traumen zu artikulieren, bei denen sie sich aber immer verpflichtet gefühlt hatte, das Erzählte als Ausdruck der Phantasien und Wünsche des Kindes zu sehen.
Ich konnte der Kollegin nur sagen, daß es auch mir lange so ergangen sei und daß ich ohne diese Erfahrung dieses Buch gar nicht hätte schreiben können; ich spreche hier nicht von »den anderen«, sondern von »uns«. Ob jemand mit Trauer oder Schuldgefühlen oder auch mit völliger Ablehnung darauf reagiert, gehört in seine eigene Geschichte.
Die vierte Kollegin sagte, sie fühle sich wie von Scheuklappen befreit, aber zugleich, da sie jetzt neue Zusammenhänge entdecke, in einen Loyalitätskonflikt mit ihren Lehrern versetzt, denen sie viel verdanke und die daran festhalten, daß die Triebtheorie das Kernstück der Analyse sei. Diese Bemerkung machte mich nachdenklich.
Ob wir den Einfluß der Schwarzen Pädagogik auf unsere Kindheit oder auf unsere Ausbildung erkennen, beides wird wohl ohne Trauer und Loyalitätskonflikte kaum zu bewältigen sein. Aber jenseits dieser Trauer erwartet uns die Freiheit zur eigenen Erfahrung und damit die Möglichkeit und das Recht, die eigenen Augen und Ohren zu gebrauchen und deren Wahrnehmungen ernstzunehmen.
Der Weg, den ich während des Schreibens zurücklegte, die unzähligen Kinderschicksale, von denen ich aus den Leserbriefen vernommen habe, führten mich zu der Frage, wie die Wahrheit auch vor mir selber so lange hatte verborgen bleiben können und welche Rolle hier die Triebtheorie spielte. Es war mir nicht wohl, daß mich auf diesem Wege so wenige Kollegen begleiten konnten, und auf der Suche nach den Gründen unter den gesellschaftlichen Faktoren fand ich ein Zusammenspiel von Triebtheorie, Viertem Gebot und Erziehung, die mir die kollektive Verleugnung des kindlichen Traumas erklärten. Doch das war mein persönlicher Weg.
Die Reaktionen der Kollegen haben mir gezeigt, daß die Art, wie man neues Material aufnimmt, sehr verschieden sein kann und daß das, was bei mir zu einer radikalen Änderung der Blickrichtung beim Verstehen der Neurose führte, bei anderen vielleicht andere Gedanken auslösen könnte. Es hängt vom Charakter, vom Alter und den gemachten Erfahrungen ab, wie man neue Erkenntnisse in das bestehende Wissen integriert. Der Weg, den ich gegangen bin, trägt meine individuellen Züge, kann daher gar nicht als Rezept empfohlen werden. Aber die Hypothesen, die ich aufstelle, können, ebenfalls in einer individuellen Weise, überprüft werden und als Grundlage neuer Erfahrungen dienen. Zu solchen eigenen Erfahrungen will dieses Buch anregen, nicht dazu, sich auf die meinigen zu stützen, weil das wiederum einer unkritischen Glaubenshaltung Vorschub leisten würde.
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389
Die Töchter schweigen nicht mehr
Zuerst erschienen im Oktober 1982 im Sonderheft Bücher der Zeitschrift Brigitte. Hier leicht gekürzt.
390-397
Rod McKuen, der 49jährige amerikanische Dichter und Sänger, sagte dieses Jahr vor dem Publikum auf einem Kongreß in Washington: »Ich bin mit sieben Jahren vor meiner Tante und von meinem Stiefvater sexuell mißbraucht worden. Es war eine schreckliche Zeit der Demütigung. Erst als ich gesagt habe, ich werde das der Mutter und allen Menschen in der Stadt erzählen, hörten sie damit auf.«
Diesem Kind ist es gelungen, sich mit Hilfe der Drohung von einer quälenden, weil beängstigenden und erniedrigenden Situation zu retten. Doch um eine solche Drohung auszusprechen, geschweige denn, sie auszuführen, bedarf es psychischer Stärke, die ein sexuell mißbrauchtes Kind selten entwickeln kann. Und vor allen bedarf es des Vertrauens, daß die »Leute aus der Stadt« ein Kind ernst nehmen, ihm zuhören und ihm Glauben schenken werden. Das würde die Situation unserer Kinder grundsätzlich verbessern. Aber wo gibt es diese aufgeklärten Menschen?
Ich kenne eine Frau, die mit sieben Jahren von einem Priester mißbraucht und von der Mutter später geschlagen wurde — für »solche bösen Lügen«. Wir sind gewohnt und dazu erzogen worden, den Mächtigen zu respektieren und ihn vor jedem Vorwurf zu schützen, hingegen den Schwächeren, Hilflosen, Abhängigen zu erziehen.
In den Zehn Geboten heißt es: »Achte Vater und Mutter, damit es dir wohl ergehe«, es steht aber nirgends: »Achte dein Kind, so wird es auch später sich selbst und andere achten können.« Daher muß das hilflose Opfer bei uns damit rechnen, daß es nicht beschützt, sondern beschuldigt und beschämt wird, während der Täter Verteidigung findet. Diese Haltung der Gesellschaft läßt sich in der Gerichtspraxis in Sachen Vergewaltigung sehr genau beobachten und ist besonders verhängnisvoll, wenn es sich um Vergewaltigung von Kindern handelt, denn hier, gerade hier, werden sich die Wurzeln neuer Gewalt bilden.
Es ist ein alter Aberglaube zu denken, daß man dem Kind ohne Folgen Leid zufügen könne, weil es »noch so klein« sei. Das Gegenteil ist wahr, aber noch wenig bekannt: Das Kind vergißt nur scheinbar das, was man ihm angetan hat, denn in seinem Unbewußten hat es ein fotografisches Gedächtnis, das nachweisbar unter bestimmten Umständen reaktiviert werden kann. Wenn diese Umstände aber nicht vorhanden sind, wenn jede Erinnerung fehlt und die Kindheit stark idealisiert bleibt, wird der spätere Erwachsene häufig in Gefahr sein, andere Menschen oder sich selbst in einer ähnlichen Weise zu quälen, wie er einst gequält wurde, ohne sich allerdings an die Vergangenheit erinnern zu können.
Um die Täter, die »Respektspersonen«, vor den Vorwürfen ihrer Opfer zu schonen, wird in unserer Gesellschaft, auch von den Fachleuten, der Zusammenhang, zwischen dem in der Kindheit Erlittenen und den späteren Krankheitssymptomen hartnäckig geleugnet oder verwischt und bagatellisiert.
Die Schriftstellerin Virginia Woolf, die vielen Frauen als Autorin und Freiheitskämpferin bekannt ist, litt seit ihrem 13. Lebensjahr an schizophrenen Schüben und nahm sich 1941 das Leben, obwohl sie keinen äußeren Grund dazu hatte. Von ihrem vierten Lebensjahr an bis zur Pubertät wurde sie von ihrem viel älteren Halbbruder beinahe täglich sexuell manipuliert, ohne sich einem erwachsenen Menschen anvertrauen zu können. Der Ausbruch ihres späteren Verfolgungswahns ist zweifellos Folge dieser Situation, und doch wird über diesen Zusammenhang sorgfältig geschwiegen. Quentin Bell zum Beispiel schreibt in seiner Biographie über sie, er wisse nicht, ob Virginia in ihrer Kindheit ein Trauma erlitten hätte (vgl. oben, S. 159 f.).
391
Wie kann ein Autor, der sehr einfühlsam das Trauma und die ganze verlogene Atmosphäre beschreibt, zugleich am Vorhandensein eines Traumas zweifeln? Man könnte meinen, eine solche offensichtliche Spaltung im Wissen gehöre bereits der Vergangenheit an. Aber das Buch von Quentin Bell ist erst vor kurzem erschienen und spiegelt sehr genau unsere moderne Gesellschaft von heute. Doch kündigt sich bereits ein Wendepunkt an: Die bisher von der Gesellschaft sorgfältig verborgenen Zusammenhänge werden nun deutlicher erkennbar und bekanntgemacht.
Es kann für die Aufklärung und Entwicklung der jüngeren Generation von größter Bedeutung sein, daß sich in den letzten fünf Jahren auf dem amerikanischen Büchermarkt Publikationen zum Teil sehr erfolgreicher Schriftstellerinnen häufen, die ihre traumatische Kindheit den Mißbrauch ihres Körpers durch die Väter, mit Hilfe des Schreibens zu bewältigen suchen. Diese Berichte lenken die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Opferung des Kindes und deren Folgen im erwachsenen Leben und vor allem auf die Gefahren des Schweigenmüssens. Sie haben einen von der Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommenen verhängnisvollen Abgrund unserer Gesellschaft aufgedeckt. Zugleich aber haben sie bereits mit diesem Schritt sehr vielen Menschen geholfen. Es stellt sich nämlich heraus, daß es für unzählige Leserinnen ein große Erleichterung war, über ihre Erlebnisse nun auch endlich sprechen zu dürfen, sich nicht mehr zum Schweigen gezwungen zu fühlen, zu spüren, daß man mit seinem Schicksal nicht allein war.
»Das bestgehütete Geheimnis«, dessen Geschichte in unserer Kultur Florence Rush in ihrem erschütternden Buch erzählt, ist nun kein Geheimnis mehr. Frauen haben es herausgebracht, und sie wollen dem Opfer in seinem einsamen Kampf gegen die Verwirrung und Psychiatriesierung beistehen. Aber auch einzelne amerikanische Männer beteiligen sich jetzt an der Erforschung des bisher totgeschwiegenen Problems, weil sie einsehen, daß es nur durch seine Offenlegung und niemals im Verborgenen gelöst werden kann.
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Die Frauen erzählen in ihren Büchern, wie es ihnen ergangen ist, was sie befürchtet haben und was sie zu vermeiden suchten, während sie mehr oder weniger regelmäßig von ihren Vätern, Großvätern, Onkeln oder anderen Personen als kleine Mädchen, oft lange vor der Pubertät, sexuell mißbraucht worden waren. Die meisten lebten unter der ständigen Drohung umgebracht zu werden oder ins Gefängnis zu kommen, wenn sie irgend jemandem etwas sagen sollten. Die Beziehung zur Mutter war gestört, und auch Lehrer und Psychologen nahmen regelmäßig Partei für den Erwachsenen, falls einmal etwas herauskam. So blieb dem Kind und der Jugendlichen nichts anderes übrig, als die Wahrheit hinunterzuwürgen, bis sich diese dann in ihr als Erwachsener mit Hilfe der Symptome eine Ersatzsprache verschaffen konnte und mußte.
Die Schriftstellerin Charlotte Vale Allen zum Beispiel beschreibt in ihrem Buch Daddy's Girl ihre eigene Not. Sie erzählt, daß sie erst durch diese in erster Person geschriebene Autobiographie von dem schrecklichen Druck ihrer Vergangenheit zum großen Teil freigeworden ist. Sie mußte von ihrem siebten Jahr an jeden Dienstag- und Donnerstagabend, wenn die Mutter zum Kartenspiel auswärts war, ihrem Vater für seine sexuellen Spiele zur Verfügung stehen.
Charlotte schreibt:
»Jedesmal, wenn es zu Ende war, rannte ich ins Badezimmer und schrubbte mich, ich versuchte das schlechte Gefühl von mir wegzukratzen. Ich wollte meinen Körper umbringen, damit ich irgendwie nur mit meinem Gehirn weiterleben konnte. Mein Körper war schuld, daß das alles passierte. Wenn ich den nicht hätte, könnte mich Vati nicht mehr anrühren.«
Selbstmordgedanken, wiederholte Unfälle, Stimmenhören, körperliche Krankheiten waren die äußeren Anzeichen der wachsenden Verzweiflung und des steigenden Selbsthasses. In ihrem Innern herrschte eine vollkommene Verwirrung, gepaart mit Angst, sich zu verraten oder entdeckt und dann umgebracht zu werden. Sie beschreibt, was in ihr vorgeht, wenn sich eine freundliche Lehrerin nach ihrem Ergehen erkundigt.
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Am liebsten hätte sie sagen wollen:
»Ich möchte tot sein, Miß Redfield. Oder irgendwohin mitgenommen werden. Ich brauche Rettung. Werden Sie es tun? Werden Sie Ihr ruhiges und friedliches Leben riskieren, um zu uns nach Hause zu kommen, und mit meiner Mutter reden, die mit mir böse ist? Meine Mutter wird Ihnen kein Wort glauben, sie wird vermutlich sogar verrückt werden ... Würden Sie das für mich tun, Miß Redfield? Würden Sie zu den Autoritäten gehen und mich verteidigen ... mich vor Vati beschützen, so daß ich nie mehr diese Dinge tun muß und aufhören kann, mich so furchtbar zu hassen?«
Charlotte stellt sich vor, was passieren würde, wenn sie diese Worte laut ausspräche: die Lehrerin wäre entsetzt, erzählte es den andern, die anderen gingen zu den Eltern, die ungläubig den Kopf schüttelten. Der Vater würde ganz ruhig seine Rolle spielen und lügen. Man würde sie, Charlotte, aus der Schule nehmen und ins Gefängnis stecken. So bleibt dem Kind nichts anderes übrig, als auf die Frage der Lehrerin freundlich zu antworten: »Danke, es geht mir gut.«
Es wäre viel leichter, sich von dem quälenden Druck des Geheimnisses zu befreien, ohne krank werden zu müssen, wenn der mißbrauchende Erwachsene nicht zugleich der geliebte und oft Mitleid erregende Vater wäre. Dem Kind bleibt ja kaum etwas anderes übrig als die Hoffnung, dieser beängstigende und kranke Vater könne dank der Fügsamkeit des Kindes doch eines Tages zu dem Vater werden, den es so dringend braucht: zum zärtlichen, aber nicht ausbeutenden, wahrhaftigen und vertrauenswürdigen Menschen.
So fährt das Kind fort, alles von ihm Erwartete zu erfüllen und das Geheimnis zu hüten. Es versucht, dabei »normal« und »ruhig« zu wirken und alles zu verzeihen, wobei sein wahres Selbst, die Ganzheit seiner Gefühle, unter denen auch Gefühle von Wut, Empörung, Ekel, Scham, Rachsucht enthalten sind, abgetötet bleibt.
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Da der Seelenmord nicht vollständig gelingen kann, bleiben die abgespaltenen Gefühle im Unbewußten und werden erst aktiv, wenn das Kind im erwachsenen Alter einem Partner begegnet, dem es ohne Angst diese Gefühle zumuten kann. Sollte dies beim Partner nicht möglich sein, weil er solche Gefühlsausbrüche mit ähnlichen quittieren könnte, so wird es auf jeden Fall mit dem eigenen Kind ohne Schwierigkeiten gelingen. Das eigene Kind wird mit Sicherheit alle Affektausbrüche und Mißhandlungen wehrlos hinnehmen und alles verzeihen. Doch diese tragische Toleranz des Kindes ist zugleich dafür verantwortlich, daß es sich nicht verteidigen, den Mißbraucher nicht anzeigen und oft die Gewalttat nicht als solche erkennen kann.
In der Geschichte der Wissenschaften gab es eine kurze Zeit, in der ein junger Mann in seiner ersten Begegnung mit dem Unbewußten der Kranken zu den gleichen Ergebnissen kam. Dieser Mann hieß Sigmund Freud, und er veröffentlichte seine Entdeckung 1896 in der Schrift »Zur Atiologie der Hysterie«.
Doch schon einige Jahre später weigerte er sich zu glauben, daß der sexuelle Mißbrauch in der Kindheit, von dem seine Patientinnen immer wieder berichteten, wirklich stattgefunden habe. Mit andern Worten: Freud erschrak vor der Realität, die sich ihm auftat, und solidarisierte sich von nun an mit der patriarchalischen Gesellschaft (besonders nachdem er selber über vierzig und als Familienvater eine Respektsperson geworden war). Er gründete die psychoanalytische Schule, die sich zwar gern als revolutionär bezeichnet, aber im Grunde im Einklang mit der alten Einstellung bleibt, weil sie das hilflose Kind beschuldigt und die mächtigen Eltern in Schutz nimmt. Kommt eine Patientin, die als Kind sexuell mißbraucht wurde, in eine psychoanalytische Behandlung, wird sie dort zu hören bekommen, daß das, was sie erzählt, ihre Phantasien und Wünsche seien, denn im Grunde habe sie in der Kindheit davon geträumt, ihren Vater sexuell zu verführen.
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So wird mit Hilfe des Märchens vom »sexuell begierigen Kind«, das der Phantasie des Patriarchen Freud entstammt, die absurde Situation der Kindheit wiederholt, indem der Patientin die Wahrheit so ausgeredet wird, wie einst dem Kind seine Wahrnehmungen ausgeredet wurden. Was man ihm angetan hat, legt man ihm zur Last.
Die »Patientinnen« fangen nun an, diesen gesellschaftlich sanktionierten und in komplizierte Theorien verpackten Betrug zu durchschauen. Einzelne Frauen haben erkannt, daß der Kampf gegen das in ihnen aufgespeicherte Wissen über erniedrigende Vorgänge aus der Kindheit ihre oft schweren Krankheitssymptome verursachte. Sie gaben diesen Kampf auf, fingen an, über ihre Erlebnisse zu sprechen und zu schreiben, verloren ihre Depressionen und gewannen zunehmend an Kraft, Selbstachtung und Mut. Das klingt vielleicht wie ein Märchen, aber nicht, wenn man bedenkt, daß der größte und eben der krankmachende Anteil dieser Kindheitstraumata gerade im totalen Verbot bestand, mit irgend jemandem über das Vorgefallene zu sprechen. Man kann sich leicht vorstellen, wie ein solches, in der Kindheit empfangenes Verbot die Seele eines Menschen zerstört.
Aber ist das Redeverbot der Kindheit einmal aufgehoben, entfällt auch die Macht der sogenannten »Helfer«, die einem die Wahrheit auszureden versuchen. Das in der kranken Seele eingesperrte, mißhandelte Kind darf erzählen, und man hört ihm zu. Die erwachsene Frau, die von diesen Tatsachen hört und sie ernst nimmt — Geschichten, wie sie zum Beispiel das Buch von Louise Armstrong, Kiss Daddy Good Night füllen —, wird gegen neue Manipulationen, ob sie nun im erzieherischen oder therapeutischen Gewande auftreten, immun bleiben. Sie wird aus ihnen die Kraft schöpfen, die sie braucht, um sich mit dem Kind, das sie einst war und das in ihr lebt, zu verbünden und ihm Glauben zu schenken.
Nicht alle Autorinnen, die sich mit dem sexuellen Mißbrauch der Kinder beschäftigen, gingen von eigenen Erfahrungen aus. Sandra Butler zum Beispiel (Conspiracy of Silence — The Trauma of Incest) wollte zunächst nur die Frage untersuchen, warum so viele Jugendliche ihr Elternhaus verlassen und im Elend der Kriminalität, der Drogensucht und der extremen Verwahrlosung landen. Sie sprach mit vielen Jugendlichen der Randgruppen von San Francisco, deren Vertrauen sie gewann. Mit wachsendem Erstaunen entdeckte sie, daß in den meisten Fällen diese Mädchen und Jungen jahrelang von ihren Vätern mißbraucht worden waren. Als sie diese Erniedrigung nicht mehr ertrugen und groß genug waren, davonzulaufen, hofften sie, ihr Leben an einem anderen Ort verändern zu können, doch sie landeten meistens auf dem Strich. Wenn sie dann, von der Polizei erwischt, ihre wahre Geschichte erzählten — in der Hoffnung, hier, bei den Vertretern der Ordnung, Schutz zu finden —, wurden sie beschuldigt, Märchen erfunden zu haben, und zu den Eltern zurückgeschickt.
Nach der von Florence Rush publizierten Statistik sind 70 Prozent der Prostituierten und 80 Prozent der weiblichen Drogenabhängigen in ihrer Kindheit sexuell schwer mißhandelt worden, und 85 Prozent aller an Kindern begangenen Verbrechen waren sexueller Natur. Wir können aus diesen Zahlen nichts lernen, solange wir unter dem Gebot des Nicht-Merkendürfens, des Schweigenmüssens stehen.
Ist aber einmal das Schweigen gebrochen, werden unsere Töchter ihre Mütter nicht fürchten müssen, sondern sich in deren Schutz begeben können und frei und offen erzählen, wenn ihnen ein Unrecht geschehen ist, das, sollte es weiter im geheimen fortgesetzt werden, ihr ganzes Leben zerstören könnte. Die Zerstörung seines Kindes kann die Krankheit des Erwachsenen nicht heilen, sie kann sie nur zudecken. Wie hoch auch die Zahl der sexuell mißbrauchenden Väter sein mag, sie wird sich zweifellos eher verringern, wenn einmal die Konsequenzen bekannt sind.
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Nachwort 1983
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Der Aufsatz Die Töchter schweigen nicht mehr entstand ein Jahr nach der Niederschrift von Du sollst nicht merken. Inzwischen wurde das Schweigen auch in Europa gebrochen, zunächst dank der vermehrten Meldungen der Medien, denen nun auch authentische Berichte von Betroffenen folgen (vgl. L. Armstrong, »Brigitte«, S. Butler, P. Rush, J. Herman).
Diese Situation ist neu und ohne Beispiel in der Geschichte: nicht weil der sexuelle Mißbrauch der Kinder ein neues Problem wäre (er ist, wie Florence Rush in ihrem Buch Das bestgehütete Geheimnis gezeigt hat, so alt wie unsere Kultur), sondern weil es neu ist, daß darüber öffentlich geschrieben wird. Diese Entwicklung gibt zu der Hoffnung Anlaß, daß mit ihr die Betroffenen mehr Chancen als bisher bekommen, ihre Verwirrung, Isolierung und ihren gestörten Bezug zur Realität aufzuarbeiten. Auf den letzten Punkt werde ich weiter unten genauer eingehen.
Noch Ende des letzten Jahrhunderts war die Tatsache des sexuellen Mißbrauchs des Kindes »undenkbar« (obwohl erfahr- und feststellbar), zumindest in bürgerlichen Kreisen, wo dieses Thema als peinlich und unanständig galt. Da die Vertreter der Humanwissenschaften (Ärzte, Psychiater, Psychologen) den Umgangsformen dieser Kreise verpflichtet waren, reagierten sie auf die Freudsche Entdeckung, daß alle seine hysterischen Patientinnen und Patienten in der Kindheit sexuell mißbraucht worden waren, mit Entrüstung und konnten sie nicht in ihr Wissen aufnehmen.
In den weniger privilegierten Schichten waren zwar die intimen Geheimnisse offenbarer, aber da gab es keine Instanz, die die Frage, welche Verhaltensmuster ein in der Kindheit sexuell mißbrauchter Mensch in die Gesellschaft trägt, auch nur hätte formulieren können.
Solche Fragen konnten bisher auch von Wissenschaftlern kaum gestellt werden, weil über die reale Situation des Kindes wenig bekannt war. Die Opfer selber glauben ja. sich für das Geschehene beschuldigen zu müssen. Und auch in der psychoanalytischen Lehre von der infantilen Sexualität werden die an Kindern begangenen Grausamkeiten verleugnet. So ist die Frage, was das Kind mit seinen unbewältigten Traumen macht, wie es als Erwachsener die einst erlittene Grausamkeit später gegen sich selbst oder andere richtet, bisher weder in den Sozialwissenschaften noch in der Psychologie wirklich aufgetaucht.
Die Information der Öffentlichkeit über die täglich real stattfindenden sexuellen Mißhandlungen der Kinder berührt zwar nur einen kleinen Teil des Problems; denn sowohl die Auswirkungen solcher Ereignisse auf unser Zusammenleben und auf die nächste Generation, als auch die Fragen, wie hier entstandene Schäden zu therapieren seien, bleiben damit unberührt. Trotzdem bringt die jetzt beginnende Orientierung der Bevölkerung die Chance mit sich, daß mit der Zeit auch Humanwissenschaftler und Psychotherapeuten über diese Tatsachen besser als bisher informiert werden und ihrer Bedeutung mehr Aufmerksamkeit schenken werden.
Sie werden sich notgedrungen früher oder später fragen müssen: »Was geschieht mit den Gefühlen des Kindes, die bei einer solchen Behandlung entstehen und die das Kind verdrängen oder abspalten muß? Wo gehen diese Energien hin? Wie entwickeln sich diese Kinder als Erwachsene und was geschieht ihnen, wenn sie selber Eltern geworden sind?« Oder anders: »Was hat es zu bedeuten, daß 80 % der weiblichen Drogensüchtigen und 70 % der Prostituierten sexuell mißhandelte Kinder waren?«
Mein Zugang zum Problem des sexuellen Mißbrauchs des Kindes ergab sich nicht aus den Informationen über reale, feststellbare Ereignisse, wie sie heute glücklicherweise aufgedeckt werden, sondern aus den unbewußten Mitteilungen der in der Kindheit schwer verletzten Menschen, die diese Verletzungen zunächst leugneten. Ihre Symptomsprache, ihre Art, Kindheit und Eltern zu idealisieren, sich für alles Erlittene zu beschuldigen, das Geheimnis vor anderen und sich selber zu hüten, aber auch ihr ebenso starker Wunsch, aus der Verwirrung herauszukommen und mit der Wahrheit leben zu können, führten mich zu Vermutungen, die sich leider als wahr herausgestellt haben.
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Aufgrund dieser Erfahrungen habe ich angenommen, daß das Ausmaß des sexuellen Mißbrauchs der Kinder in allen Schichten der Gesellschaft größer sein müsse, als allgemein geschätzt wird. Doch bereits die statistisch erfaßten Fälle, von denen ich erst in den letzten zwei Jahren erfuhr, übertrafen bei weitem meine Annahmen.
Ich hatte in meinen Büchern die Hypothese formuliert, daß wir als Kinder viel häufiger als wir es wissen durften, für Bedürfnisse der Erwachsenen, auch für sexuelle Bedürfnisse, gebraucht und mißbraucht wurden. Es stellte sich für mich auch immer deutlicher heraus, daß die damit zusammenhängenden, blockierten Gefühlsreaktionen zu psychischen und körperlichen Störungen führen müssen. Zunächst versuchte ich diese Erkenntnisse auf dem Boden des psychoanalytischen Gedankengutes zu integrieren, bis mir die Unmöglichkeit dieses Vorhabens schmerzlich bewußt wurde. Ich brauchte Zeit, um zu akzeptieren, daß auch die Psychoanalyse notwendigerweise die Tabus der Gesellschaft teilt, zu der sie gehört, und wollte verstehen, woher diese Tabus ihre ungewöhnliche Macht beziehen.
Von der Psychoanalyse ging ich aus, weil ich mich hier am besten auskannte, aber die Antworten, die ich fand, betreffen die Grundlagen unserer Gesellschaft überhaupt. In allen Bereichen unseres Lebens fand ich die Tendenz, den Mißbrauch des Kindes für die Bedürfnisse des Erwachsenen zu ignorieren und dessen Auswirkungen zu leugnen. Dieser Einstellung kann man nicht nur in der Psychoanalyse, wo sie zusätzlich theoretisch mit Hilfe der Triebtheorie untermauert wurde, begegnen, sondern auch innerhalb der neueren therapeutischen Schulen, weil sie den ungeschriebenen Gesetzen unserer Gesellschaft entspricht und unbewußt bleibt, solange sie nicht ausdrücklich reflektiert wurde.
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Aus diesem Grund erschien es mir notwendig, diese Tendenz so genau wie möglich zu beschreiben, damit sie für Therapeuten verschiedener Richtungen, aber auch für deren Patienten und Klienten leichter zu erkennen ist; denn erst, wenn die Therapeuten es nicht mehr nötig haben, die Erwachsenen vor dem Vorwurf des verletzten Kindes zu schützen, weil sie ihre eigenen unbewußten kindlichen Vorwürfe erlebt und akzeptiert haben, werden sie andere Menschen bei der Aufarbeitung ihrer schmerzlichen Vergangenheit adäquat begleiten können.
Ich will im folgenden versuchen zu erklären, warum mir eine solche Begleitung gerade im Falle des sexuellen Mißbrauchs von entscheidender Bedeutung zu sein scheint. Es ist seit Jahrtausenden üblich und erlaubt, daß Kinder zur Befriedigung verschiedener Bedürfnisse gebraucht werden. Sie sind billige Arbeitskräfte, sie eignen sich zur Entladung aufgestauter Affekte, als Container für ungewollte eigene Gefühle, als Projektionsscheiben der eigenen Konflikte und Ängste, als Prothesen für das angeschlagene Selbstwertgefühl, als Quelle der eigenen Macht und Lust.
Unter all diesen Formen des Mißbrauchs des Kindes kommt dem sexuellen Mißbrauch eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie ergibt sich aus der überragenden Rolle des Sexuellen in unserem Organismus und aus der Verlogenheit, die das Sexuelle in unserer Gesellschaft immer noch umgibt.
Da das Schlagen, Quälen, Entwürdigen und Demütigen der Kinder bis jetzt als Erziehung zu ihrem eigenen Wohl verstanden wurde, fanden solche Aktionen meistens nicht im Geheimen, sondern in aller Öffentlichkeit statt. Noch heute gibt es viele Menschen, die von diesen Erziehungsprinzipien voll überzeugt sind, und daher scheut das Schlagen des Kindes nicht das Tageslicht; es läßt sich überall beobachten.
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Das kann die Chance mit sich bringen, daß das Kind im glücklichen Fall einen Zeugen findet, der genug Mut hat, um ihm beizustehen und es zu verteidigen, weil er weiß, wie eine solche Demütigung wehtut. Diese Stütze kann dem Kind helfen wahrzunehmen, daß ihm ein Unrecht geschah, und ihm dadurch ermöglichen, dieses traurige Stück der Realität in seine Geschichte zu integrieren.
Es braucht sich dann nicht sein Leben lang für das Geschehen zu beschuldigen. Doch im Falle des sexuellen Mißbrauchs, der sich, im Gegensatz zum Schlagen, meistens im Schutz der Dunkelheit und im Verborgenen abspielt, ist die Chance, einen mutigen, helfenden Zeugen zu finden, der die Integration des Erlebten ermöglicht, viel geringer. Diese Integration kann vom Kind allein nicht geleistet werden.
Es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als diese Erinnerung aus dem Gedächtnis zu verdrängen, weil die Schmerzen der Angst, der Isolierung, der betrogenen Liebeserwartung, der Hilflosigkeit, der Scham- und Schuldgefühle nicht auszuhalten sind. Die rätselhafte Sprachlosigkeit des Erwachsenen und der Widerspruch zwischen seinem Tun und seinen bei Tageslicht verkündeten moralischen Prinzipien und Verboten erzeugt im Kind zusätzlich eine unerträgliche Verwirrung, die es mit Hilfe der Verdrängung loswerden muß.
Wird ein größeres Kind, das in der frühen Kindheit das Glück hatte, sich bei seiner ersten Bezugsperson auf seine Wahrnehmungen verlassen zu dürfen, sexuellen Angriffen ausgesetzt, kann es unter Umständen den Angriff wahr- und ernstnehmen, die Erinnerung im Bewußtsein behalten und das Geschehen mit der Zeit verarbeiten. Haben aber diese Voraussetzungen gefehlt, wie es sehr häufig vorkommt, d.h. wurden dem Kinde seine Wahrnehmungen ausgeredet, dann bleibt auch das später Erlebte in diffusem, nebelhaftem Licht, seine Realität bleibt schillernd, ohne feste Konturen, mit Schuld- und Schamgefühlen behaftet, und der spätere Erwachsene wird entweder nichts von ihr wissen oder an seinen Erinnerungen zweifeln.
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Um so mehr wird das der Fall sein, wenn der Mißbrauch an einem sehr kleinen Kind verübt wurde. Da das ganz kleine Kind weder eine Stütze im eigenen Selbst, noch einen Spiegel in den Augen des Zeugen hatte, muß es diese Realität verleugnen. Später wird der Patient gerade diese Realität unbewußt ständig in Szene setzen, sie mit Symptomen, auch körperlicher Art, erzählen und hoffen, daß es sich lediglich um Phantasien handelt. Ich habe diese Entwicklung am Beispiel des »Wolfsmanns«, eines Patienten von Sigmund Freund, in diesem Buch geschildert.
»Wolfsmann«, der vermutlich im zweiten Lebensjahr von seiner Kinderfrau und später wiederholt von seiner Schwester sexuell mißbraucht worden war, kämpfte sein Leben lang gegen den Mißbrauch seiner Person und geriet immer wieder in Situationen, in denen er tatsächlich real mißbraucht wurde. Er mußte diese Situationen unbewußt inszenieren, um in ihnen das Trauma der frühen Kindheit ständig zu wiederholen, weil er es nicht erinnern und nicht erzählen konnte. Es war ein Trauma ohne Zeugen, im zartesten Alter, und trotz unendlicher Analysen fand sich in seinem ganzen Leben niemand, der sich in die Situation des kleinen Kindes hätte einfühlen können, was notwendig gewesen wäre, weil die eigene Verdrängung dem Patienten diese Einfühlung unmöglich machte.
Sogar Sigmund Freud mißbrauchte den Wolfsmann, um seine Theorien an ihm behaupten zu können, und er konnte ihm die so nötige Einfühlung in die Situation des sexuell früh mißbrauchten Kindes nicht geben. Er konnte es nicht, weil er selber einst ein solches Kind gewesen war und die damit zusammenhängenden Gefühle nicht spüren durfte. Er näherte sich zunächst diesen Erlebnissen in seinen Träumen, konnte sie aber ohne Begleitung nicht durchstehen und verarbeiten, verdrängte sie abermals und schuf anschließend eine Theorie, die ihm half, sie abzuwehren. Mit dieser Theorie schuf er eine ganze Armee von abwehrenden Analytikern, die den Patienten helfen, sich ihr Trauma auszureden, statt es zu erleben, so daß sich die Geschädigten für das Geschehene nach wie vor selbst verantwortlich fühlen.
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Diese Ideologie schafft es, daß sich der Patient nicht den unerträglichen Schmerzen der Verwirrung und Hilflosigkeit des sexuell mißbrauchten kleinen Kindes auszusetzen braucht und sich in der Illusion des »ödipal« Schuldigen mächtig fühlen kann. Wenn diese illusionäre Macht nicht mit schweren Symptomen zu bezahlen ist, ist sie immer noch besser als das Wiederaufleben frühkindlicher Gefühle ohne Begleitung, die begreiflicherweise noch schwer zu finden ist, solange die Gesellschaft das Geschehen des sexuellen Mißbrauchs des Kindes entweder ignoriert oder bagatellisiert.
Die psychoanalytische Triebtheorie hat zu dieser Haltung sehr viel beigetragen. Vor mehr als 80 Jahren schrieb Sigmund Freud, er hätte »festgestellt«, daß es sich bei den Erinnerungen seiner Patientinnen an in der Kindheit erlittene sexuelle Angriffe von Erwachsenen nicht um eigentliche Erinnerungen an reale Vorgänge gehandelt habe, sondern um Phantasien. Doch wie konnte er das feststellen?
Erst seit mir die Umstände des sexuellen Mißbrauchs besser bekannt sind (vgl. Armstrong, Butler, Rush), ist es mir aufgefallen, daß dieser Satz, der eine wichtige Prämisse der Freudschen Triebtheorie bildet und seit Freud unzählige Male von Studenten in Prüfungen in gutem Glauben wiederholt worden ist, von Feststellungen spricht, wo es sich ja nur um vom Wunschdenken diktierte Behauptungen handeln kann: denn es läßt sich zwar mit Hilfe mehrerer Zeugen feststellen, daß eine Tat stattgefunden hat, niemals aber können wir sicher sein, daß etwas nicht stattgefunden hat, wenn beide Beteiligte an der Geheimhaltung des Geschehenen interessiert sind. Und das ist beim sexuellen Mißbrauch meistens der Fall, weil auch das Opfer aus Angst-, Scham- und Schuldgefühlen die eigentliche Wahrheit nicht ertragen kann. Nicht zufällig hat Freud gerade bei diesen Opfern das Phänomen der Verdrängung entdeckt.
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Die Wichtigkeit dieses Punktes kann nicht genug betont werden, weil es von dessen Verständnis abhängt, ob der Patient in der Gesellschaft, wie das Kind in der Familie, mit dem Trauma alleingelassen wird oder im Therapeuten das nötige Wissen findet: das Wissen nämlich, daß die Realität tragischer ist als alle Phantasien, die zwar einzelne Motive der erlebten Realität enthalten, aber im Grunde dazu dienen, die unerträgliche Wahrheit zu verbergen. Eine besondere Schwierigkeit, ja eine eigentliche Schranke auf dem Wege zur Erinnerung bildet in der Therapie die sehr rasch gegen die Erinnerung einsetzende, einst im Dienste des Überlebens notwendige Abwehrtätigkeit, die sich im Produzieren von Phantasien, im Aufgreifen von Märchenbildern oder in handfesten Perversionen manifestieren kann. Perversionen, Süchte und selbstschädigende Inszenierungen übernehmen, ähnlich wie Phantasien, die Funktion des Verbergens. Sie organisieren — genau nach dem Muster der Vergangenheit — ein Leiden an der Gegenwart und garantieren so, daß das ehemalige unerträgliche Leiden verdrängt bleibt.
Die Therapie von Mariella Mehr (vgl. oben, S. 586) zeigt, wie entscheidend es für ihr Gelingen war, daß der Therapeut die kaum faßbare Wahrheit ertragen konnte. Wie ich inzwischen erfahren habe, hat ihm die Bewältigung des eigenen Traumas diese — heute noch seltene — eindeutige Haltung ermöglicht. Es gibt zwar heute zahlreiche Techniken, die in kurzer Zeit frühkindliche Gefühle an die Oberfläche treten lassen und im Moment auch Erleichterung bringen können. Die Anwendung dieser Techniken ist erlernbar, aber sie ist noch lange keine Therapie, sofern nicht gleichzeitig die adäquate Begleitung gewährleistet werden kann. Die bloße Anwendung von angelernten Techniken kann sich sogar verhängnisvoll auswirken, so daß der Patient in der Depression oder im Chaos der geweckten Gefühle steckenbleibt. Solche Ausgänge sind nicht selten, auch wenn technisches Können und eine gutmeinende und bemühte Haltung beim Therapeuten vorhanden sind, solange elternschonende, erzieherische Tendenzen in der Therapie ausgelebt werden.
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Zu der adäquaten Begleitung gehört also Wissen und Selbsterfahrung. Ich bemühe mich um die Verbreitung eines Teils dieses Wissens, der sich auf die reale Situation des Kindes in unserer Gesellschaft bezieht, weil es mir als eine notwendige (wenn auch nicht ausreichende) Bedingung der erfolgreichen Therapie erscheint. Wo es fehlt, nützt die beste Methode nichts, und wenn die Behandlung scheitert, muß es nicht an der Methode liegen. Aber dieses theoretische Wissen allein genügt noch nicht. Nur wenn man selber die Chance hatte, seine traumatische Vergangenheit zu verarbeiten, wird man den ändern zu seiner Wahrheit begleiten können und ihn nicht von ihr abhalten. Man wird ihn nicht verwirren, ängstigen, erziehen, mißbrauchen, belehren, verführen, weil man bei sich den Einbruch der einst abgewürgten Gefühle nicht mehr fürchten muß und deren heilende Kraft aus Erfahrung kennt.
Eine Gesellschaft, die ihre Kinder durch eine neue Gesetzgebung beschützt, hat die Chance, aus den Opferberichten zu lernen und mit der Zeit ihre Ignoranz zu verlieren. Dies mag wohl mit der Grund sein, weshalb die skandinavischen Länder, die früher als andere die Körperstrafe abgeschafft haben, auch viel mehr Aufgeschlossenheit und Verständnis für Informationen über die langfristigen Schäden der Kindermißhandlungen zeigen.
Die Opfer des Unrechts, die die Wahrheit nicht ganz vergessen können, da ihr Körper sie seit der Kindheit speichert, werden durch ihr Wissen, durch ihre Zeugschaft, die Gesellschaft notgedrungen verändern. Mit der Aufdeckung ihrer eigenen Geschichte sensibilisieren sie uns für die Wahrheit auch unserer Kindheit, machen uns wacher und bewußter. Dieser Prozeß hat bereits begonnen und ist nicht mehr aufzuhalten. Von dem, was wir täglich erfahren, gibt es keinen Weg mehr zurück, und die psychohistorischen Forschungen über die Kindheit bestätigen, was die Betroffenen heute erzählen, was sie erst heute erzählen können.
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Auch wenn verschiedene Gruppierungen die sich daraus ergebenden Schlüsse noch nicht nachvollziehen können, weil sie immer noch in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts leben, die Wahrheit wird sich ohne diese Gruppierungen durchsetzen, vermutlich auch abseits von etablierten Institutionen. Die beiden Bücher von Florence Rush und mir, die bezeichnenderweise ähnliche Titel tragen (»Das bestgehütete Geheimnis« und »Du sollst nicht merken«) und beinahe im gleichen Jahr erschienen sind, wurden von zwei Frauen geschrieben, die nichts voneinander wußten, verschiedene Berufe ausübten, auf verschiedenen Kontinenten lebten und trotzdem auf die gleiche Wahrheit gestoßen sind. Was ich als Psychoanalytikerin im Unbewußten meiner Patientinnen fand, konnte Florence Rush in der äußeren Realität entdecken und in ihren historischen Studien bestätigt finden. Ihre Informationen sind auch für die künftigen Therapieformen von Bedeutung, denn erst auf dem Boden der Wahrheit kann eine wirksame Therapiemethode entwickelt werden.
Doch diese Entwicklung vollzieht sich nicht in einer monokausalen linearen Bewegung, sondern zumindest in einer Wechselwirkung oder in einer Spirale. Denn jetzt brauchen die Opfer Hilfe von Therapeuten, die ihrem im Körper gespeicherten stummen Wissen verhelfen würden, sich zu artikulieren. Da jeder Mensch alles lieber tut, als die eigenen Eltern anzuklagen, und daher als Kind das Schweigen und sich Beschuldigen gelernt hat, müssen wir den Geschädigten und früh Verletzten helfen, ihre Sprache zu suchen und zu finden. Doch sobald die Überlebenden des Mißbrauchs ihre Stimme wieder gefunden haben, werden die Therapeuten von diesen Menschen mehr lernen und erfahren, als sie je von ihren Lehrern erfahren konnten, und werden gleichzeitig leichter viele von den irreführenden Ansichten aufgeben, die auf der Pädagogik früherer Jahrhunderte beruhen.
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Nur die Befreiung von pädagogischen Tendenzen führt zu Einsichten in die tatsächliche Situation des Kindes. Diese Einsichten lassen sich in den folgenden Punkten zusammenfassen:
1. Das Kind ist immer unschuldig.
2. Jedes Kind hat unabdingbare Bedürfnisse, unter anderem nach Sicherheit, Geborgenheit, Schutz, Berührung, Wahrhaftigkeit, Wärme, Zärtlichkeit.
5. Diese Bedürfnisse werden selten erfüllt, jedoch häufig von Erwachsenen für ihre eigenen Zwecke ausgebeutet (Trauma des Kindesmißbrauchs).
4. Der Mißbrauch hat lebenslängliche Folgen.
5. Die Gesellschaft steht auf der Seite des Erwachsenen und beschuldigt das Kind für das, was ihm angetan worden ist.
6. Die Tatsache der Opferung des Kindes wird nach wie vor geleugnet.
7. Die Folgen dieser Opferung werden daher übersehen.
8. Das von der Gesellschaft allein gelassene Kind hat keine andere Wahl, als das Trauma zu verdrängen und den Täter zu idealisieren.
9. Verdrängung führt zu Neurosen, Psychosen, psychosomatischen Störungen und zum Verbrechen.
10. In der Neurose werden die eigentlichen Bedürfnisse verdrängt und verleugnet und statt dessen Schuldgefühle erlebt.
11. In der Psychose wird die Mißhandlung in eine Wahnvorstellung verwandelt.
12. In der psychosomatischen Störung wird der Schmerz der Mißhandlung erlitten, doch die eigentlichen Ursachen des Leidens bleiben verborgen.
15. Im Verbrechen werden die Verwirrung, die Verführung und die Mißhandlung immer wieder neu ausagiert.
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14. Therapeutische Bemühungen können nur dann erfolgreich sein, wenn die Wahrheit über die Kindheit des Patienten nicht verleugnet wird.
15. Die psychoanalytische Lehre der »infantilen Sexualität« unterstützt die Blindheit der Gesellschaft und legitimiert den sexuellen Mißbrauch des Kindes. Sie beschuldigt das Kind und schont den Erwachsenen.
16. Phantasien stehen im Dienste des Überlebens; sie helfen, die unerträgliche Realität der Kindheit zu artikulieren und sie zugleich zu verbergen bzw. zu verharmlosen. Ein sogenanntes »erfundenes« phantasiertes Erlebnis oder Trauma deckt immer ein reales Trauma zu.
17. In Literatur, Kunst, Märchen und Träumen kommen oft verdrängte frühkindliche Erfahrungen in symbolischen Formen zum Ausdruck.
18. Aufgrund unserer chronischen Ignoranz hinsichtlich der wirklichen Situation des Kindes werden diese symbolischen Zeugnisse von Qualen in unserer Kultur nicht nur toleriert, sondern sogar hochgeschätzt. Würde der reale Hintergrund dieser verschlüsselten Aussagen verstanden, würden sie von der Gesellschaft abgelehnt werden.
19. Die Folgen eines begangenen Verbrechens werden nicht dadurch aufgehoben, daß Täter und Opfer blind und verwirrt sind.
20. Neue Verbrechen können verhindert werden, wenn die Opfer zu sehen beginnen; damit wird der Wiederholungszwang aufgehoben oder abgeschwächt.
21. Indem sie die im Geschehen der Kindheit verborgene Quelle der Erkenntnis unmißverständlich und unwiderruflich freilegen, können die Berichte Betroffener der Gesellschaft im allgemeinen und insbesondere der Wissenschaft helfen, ihr Bewußtsein zu verändern.
Viele weitere Frauen und Männer werden sich durch diese Berichte ermutigt fühlen, der Geschichte ihrer eigenen Kindheit zu begegnen, sie ernst zu nehmen und von ihr zu berichten. Damit werden sie wiederum weitere Kreise der Menschheit darüber informieren, was ein Mensch am Ursprung seines Lebens in den meisten Fällen ertragen mußte, ohne daß er es selber später weiß, auch ohne daß irgend jemand anderer es weiß — einfach weil es bisher nicht möglich war, es zu merken, und es auch kaum Berichte von Betroffenen zu lesen gab, die nicht idealisierend waren. Doch jetzt gibt es sie, und sie werden weiter erscheinen, in steigender Zahl.
Die Betroffenen von gestern und heute sind die Informanten von morgen.
Ich habe keine neue psychoanalytische Schule, kein Institut und keine Gruppen gegründet, und ich bin nicht in der Lage, Adressen von Therapeutinnen und Therapeuten zu vermitteln. Meine Absicht war, das Gesetz zu beschreiben, das uns verbietet, die Situation des Kindes in unserer Gesellschaft zu sehen. Ist diese Sicht einmal frei, werden sich die bestehenden therapeutischen Möglichkeiten hilfreicher als bisher anwenden lassen, und die Gefahr, daß sie sich zur Unterwerfung von Menschen (z.B. in Sekten) gebrauchen lassen, wird dadurch verringert. Auch die wissenschaftliche Forschung wird den Therapeuten mehr als bisher helfen können, sobald sie die Wahrheit akzeptiert hat, die zwar sehr schmerzhaft, aber nichtsdestoweniger wahr ist und daher heilsam und klärend wirkt.
Die Wahrheit unserer Kindheit ist in unserem Körper gespeichert, und wir können sie zwar unterdrücken, aber niemals verändern. Es kann gelingen, unseren Intellekt zu betrügen, unsere Gefühle zu manipulieren, unsere Wahrnehmungen zu verwirren und unseren Körper mit Medikamenten zu belügen. Aber irgendwann präsentiert er uns doch seine Rechnung: denn unser Körper ist unbestechlich wie ein noch nicht gestörtes Kind, das sich auf keine Ausreden und Kompromisse einläßt und das erst aufhört, uns zu quälen, wenn wir der Wahrheit nicht mehr ausweichen.
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