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Kindheit und Kreativität  

 

 

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Diese Publikation knüpft unmittelbar an das vierte Kapitel meines Buches <Du sollst nicht merken> an, in dem ich meine Gedanken über Kreativität entwickelte. Ich habe dort darauf hingewiesen, daß die ins Unbewußte verdrängten traumatischen Erlebnisse der frühen Kindheit häufig in der schöpferischen Tätigkeit der Maler und Dichter ihren Ausdruck finden, ohne daß diese Tatsache von der Gesellschaft und von den Malern und Dichtern selber wahrgenommen wird. 

Sie wäre auch mir kaum aufgefallen, wenn ich nicht in meiner persönlichen Entwicklung mit dem Phänomen der Verdrängung des Kindheitsleidens und dem Ausdruck des Verdrängten in der Kunst konfrontiert worden wäre. Die Frage nach meiner Kindheit führte mich zu den Fragen nach der Kindheit überhaupt und zu neuen, von mir bisher nicht gesehenen Zusammenhängen.

Fünf Jahre, nachdem ich zu malen begann, schrieb ich meine Bücher – ohne den dank dem Malen in mir entstandenen Freiraum wären sie völlig undenkbar gewesen. Dann malte ich weiter, in allen möglichen Techniken, in Öl, Öl-Pastell, Gouache und Aquarell. Dieses Bändchen gibt einen kleinen Teil meiner in Postkartengröße gemalten Aquarelle aus den letzten zwei Jahren wieder.

Franz Kafka schrieb einmal in seinen Tagebüchern, daß sich der Schriftsteller an seinem Schreibtisch »mit den Zähnen« festhalten müsse, um dem Irrsinn zu entgehen, der ausbrechen könnte, wenn er aufhören würde zu schreiben. Das gilt vermutlich für jede kreative Tätigkeit, die uns erlaubt, die Dämonen der Vergangenheit irgendwie in den Griff zu bekommen, das Chaos zu gestalten und so die Angst zu bewältigen.

Ich hätte auch auf diesem Weg bleiben können, und die Tätigkeit des Schreibens hätte mich vor den Ängsten geschützt, die die Inhalte meiner Bilder manchmal in mir auslösten. Doch damit konnte und wollte ich mich nicht zufriedengeben. Ich wollte wissen, was hinter dem dunklen Vorhang meines Vergessens lag, wollte genau wissen, was geschehen war in der Zeit, aus der ich keine Erinnerungen besaß.

Ich hatte zwanzig Jahre lang zugesehen, wie Menschen die Traumen ihrer Kindheit leugneten, wie sie ihre Eltern idealisierten und sich gegen die Wahrheit ihrer Kindheit mit allen Mitteln wehrten. Dabei wurde es mir mit der Zeit klar, daß nur da eine wirkliche Befreiung möglich war, wo die Wahrheit ertragen und die Schmerzen der Kindheit erlebt werden konnten. Ich wäre meinem Leben und meinen Erfahrungen untreu geblieben, wenn ich nun die Inhalte, die meine Hand mit Hilfe von Farben formte, ignoriert und sie meiner Phantasie zugeschrieben hätte, ohne mich ernsthaft nach ihrem realen Hintergrund zu fragen.

Ich habe erst vor dreizehn Jahren zu malen angefangen, obwohl ich es mir mein ganzes Leben gewünscht hatte, ohne daß sich dieser Wunsch deutlich genug hätte durchsetzen können. Ich mußte zuerst sehr viel auf intellektuellen Wegen verstehen, vielen Ängsten begegnen, um endlich die Freiheit genießen zu können, ohne jede Absicht mit Farben zu spielen. Dieses Spiel offenbarte mir allerdings auch bald seinen bitteren Ernst, als ich in den Bildern, die vor mir entstanden, einer mir bis dahin unbekannten Welt begegnet bin: der Welt meiner frühen Kindheit.

Was mich am meisten überraschte, war die Tatsache, daß sie ganz anders war als die Version, mit der ich jahrzehntelang gelebt hatte.

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Zwar hatte ich an meine ersten fünf Lebensjahre keine, einzige Erinnerung und auch an die darauf folgenden nur sehr spärliche, was auf eine sehr starke Verdrängung, die niemals grundlos ist, hinweist. Doch das hinderte mich nicht, an der Vorstellung festzuhalten, daß meine Eltern liebevoll für mich gesorgt hätten und bemüht gewesen seien, mir all das zu geben, was ich in der Kindheit brauchte.

So hätte meine Mutter die Situation dargestellt, wenn jemand sie nach meiner Kindheit gefragt hätte. Und diese ihre Version hatte ich für Jahrzehnte übernommen, obwohl meine Ausbildung zwei Analysen umfaßte und obwohl mir in den Schicksalen meiner Patienten viele Ähnlichkeiten hätten auffallen müssen. 

Auch in meiner zweiten Analyse durfte meine Mutter nur als eine sehr bemühte, etwas überbesorgte Person mit den besten Absichten auftauchen. Zu sehen, daß ihre erzieherischen Bemühungen lediglich ihren Interessen und konventionellen Vorstellungen dienten und ihr Kind, das sie für ihr Eigentum hielt, vergewaltigten, entsprach nicht der Ausbildung und der Ethik meiner Therapeuten. Ich gab mir also auch in der zweiten Analyse Mühe, meine Mutter zu verstehen, ihr ihre subtile seelische Grausamkeit, von der meine Träume erzählten, zu verzeihen und deren Gründe meinen Fehlern zuzuschreiben. Die »Fehler«, das waren vor allem meine Fragen und meine natürlichen kindlichen Bedürfnisse nach Schutz, Nähe, Verständnis und Antwort.

Da sie eine brillante Pädagogin war, gelang es ihr, meine wahren Gefühle und Bedürfnisse zum Schweigen zu bringen, ohne daß ich oder irgend jemand anderer merken konnte, wie das geschah. Ich wurde sehr früh zu einer fürsorglichen, beschützenden, verstehenden Tochter, der das Wohlbefinden und die Sicherheit ihrer Mutter oberstes Ziel bedeuteten. Daß ich ein Recht auf eigene Bedürfnisse hatte, wußte ich dann jahrzehntelang nicht.

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War das etwas Außergewöhnliches? Durchaus nicht. Natürlich investiert nicht jede Mutter ihren ganzen Ehrgeiz nur in die Erziehung, glücklicherweise; und manchmal gab es ja Väter oder ältere Geschwister, die dem Kind beistehen konnten. Aber es war gar nicht außergewöhnlich, daß ein rechtloses, von ihren Eltern und Brüdern unterdrücktes Mädchen, wie meine Mutter es einst gewesen war, zu dem einzigen Mittel der Macht griff, das die Gesellschaft ihr als Frau immer schon als die einzige »Belohnung« für alle zugefügten Demütigungen bot. Mit der uneingeschränkten Herrschaft über den Körper und die Seele ihres kleinen Kindes schenkte sie ihr ein immenses Königreich.

Wie hätte meine Mutter darauf verzichten können? Wie hätte sie den Geist der damals noch durchweg anerkannten Pädagogik in Frage stellen können, jetzt, da er ihre lange unterdrückten Bedürfnisse nach Geltung, Respekt und Zuhörerschaft endlich befriedigte und diese Form von Befriedigung – die Erziehung ihres Kindes – rechtfertigte? Nur eine reale, in ihrem Körper gespeicherte und nicht bloß phantasierte Erinnerung an eine eigene liebevolle Mutter wäre stärker gewesen als die Versuchung, die eigene Not mit Hilfe der Macht über ihr Kind abzuwehren. Aber eine derartige Erinnerung besaß meine Mutter nicht, denn sie hatte selber keine Liebe erfahren. Sie wurde mit Worten großgezogen, mit Worten über Liebe, Moral und Pflicht, und diese standen ihr immer da reichlich zur Verfügung, wo ihr die Erfahrung der Liebe fehlte.

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Meine Mutter hatte ihre bewährten Vorstellungen, wie man sie damals zu haben pflegte, u.a. daß jede Mutter ex definitione nur »das Beste für ihr Kind wolle«, und diese Vorstellungen schützten sie vor jedem Zweifel, brauchten nie in Frage gestellt zu werden. Was sie für richtig hielt, war für ihr Kind sicher und fraglos das Richtige und brauchte gar nicht begründet zu werden, solange es durch die gesellschaftlichen Konventionen verbürgt war. Eine solche Bürgschaft stand damals jeder Mutter frei zur Verfügung, denn die Lebendigkeit des Kindes galt als eine Gefahr, die bekämpft werden sollte. Und sie wurde ja eifrig bekämpft, zumindest in dieser Zeit.

Muß man sich denn wundern, daß diese ihrer Gefühle beraubten Kinder ihre Lebendigkeit eingebüßt und mit ihr die Schlüssel zur Vergangenheit verloren haben? Daß ihr Wissen stumm geblieben ist und ihre Möglichkeiten, das Geschehene zu bezeugen, unerschlossen bleiben? Je mehr ich meine Mutter zu verstehen und zu rechtfertigen versuchte, desto weniger verstand ich mich selbst; denn um diese Aufgabe zu erfüllen, mußte ich lernen, meinen eigenen Schmerz nicht zu fühlen. Doch ohne zu fühlen, konnte ich mich nicht verstehen. Niemand kann das.

Ich konnte mir erst helfen, als ich das mir zugefügte Leid zu spüren begann. Das war erst möglich, als ich endlich aufhörte, mir selbst für dieses Leid die Schuld zu geben und die Not der ändern ernster zu nehmen als meine eigene Not. Nur auf diesem Weg kam ich immer wieder aus dem Nebel in die Klarheit und fand schließlich, was ich so lange gesucht hatte: die Bilder und die Geschichte meiner Vergangenheit, die mir niemand anderer hätte zeigen oder erzählen können, weil sie nur in mir gespeichert waren und weil nur ich sie kannte.

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Aus meiner heutigen Sicht würde ich sagen, daß ich die längste Zeit meines Lebens versucht habe, nicht zu fühlen, und auf dem besten Wege war, mein Selbst auf diese Weise umzubringen. Das änderte sich zuerst durch meinen Umgang mit Farben. Es geschieht nicht selten, daß Farben erstarrte Gefühle wecken. Meine Geschichte wirkte dabei in spezifischerweise mit: durch das Malen kam ich nämlich mit dem Kind in mir in Berührung, das bereits sehr früh zu zeichnen aufgehört hatte, um mit diesem Akt des »Untertauchens« ein Stück seines Selbst vor der Ausbeutung zu retten.

Hätte meine Mutter meine Bilder, wie meine Schulhefte, ihren Freundinnen als Beweis ihrer pädagogischen Talente zur Schau stellen können, hätte ich vielleicht später sogar eine Kunstschule absolviert. Aber das spontane Malen als Ausdrucksmittel, als Sprache, wäre mir verlorengegangen, wenn meine Mutter sich der Ergebnisse bemächtigt hätte. Sie konnte es nicht, weil mein Bedürfnis zu malen rechtzeitig zum Schutz vor jeglichem erzieherischen Zugriff und Mißbrauch im Untergrund verschwand. Dort hat es überlebt, und als ich es nach fünfund­vierzig Jahren wiederentdeckte und frei leben ließ, war ich erstaunt über die unversehrte kindliche Neugier und die intensive Freude am Schauen, die da zum Vorschein kamen.

Aber wie gesagt, es kam auch der seelische Terror meiner Erziehung zum Vorschein, unter dem ich als Kind gelitten hatte, ohne es später gewußt zu haben. Und dieser Terror breitete sich immer deutlicher vor meinen Augen aus.

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In meinen Bildern tauchten die bisher verdrängten Gefühle meiner Kindheit auf, die Angst, die Verzweif­lung, die totale Einsamkeit, und ich blieb zunächst allein mit der Aufgabe der Verarbeitung. Denn ich kannte damals keine Maler, die das Wissen über die Kindheit mit mir hätten teilen können, und auch keine Kollegen, denen ich das, was beim Malen in mir geschah, hätte erklären können. Ich wollte keine psychoanalytischen Deutungen, wollte nichts von jungianischen Symbolerklärungen hören, sondern nur das Kind in mir so lange reden und malen lassen, bis ich seine Sprache verstand. Das ist mir dann mit der Zeit gelungen, aber erst, als ich nach langem Suchen die geeignete seelische Begleitung fand und als ich mich mit der Zeit von einengenden Vorstellungen lösen konnte, die ich früher für selbstverständlich gehalten hatte und die man im allgemeinen für selbst­verständlich hält.

Ich mußte u.a. entdecken und immer wieder erfahren, daß es sich bei der Kreativität um einen Vorgang handelt, der vom Können unabhängig ist und der durch das Lernen nicht gefördert werden kann. In meinem Fall war es sogar so, daß jeder Versuch, etwas zu lernen, meine Ausdrucksfähigkeit blockierte. Anderer­seits genügte meine Freude an der gewonnenen Freiheit, um mir ein Können zu vermitteln, das ich vorher nicht besessen hatte. Dieses Können ergab sich aus dem Spielen, dem Ausprobieren, dem Staunen. All das zusammen fügte sich schließlich zu dem, was man gewöhnlich als Erfahrung bezeichnet und was mir immer nur indirekt und auf Umwegen zufiel.

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Ich ging z.B. auf meinen Reisen gelegentlich in verschiedenen Großstädten zum Aktzeichnen. Überall begegnete ich dort Menschen, die es schon lange zur Perfektion gebracht hatten, einen nackten Körper nach allen akademischen Regeln der Kunst zu zeichnen, und die fortfuhren, sich darin zu perfektionieren. Das langweilte mich, und ich spürte den größten Widerstand, auf diese Weise zu lernen. Trotzdem ging ich manchmal hin; ich genoß die Konzentration der Anwesenden auf das Sehen und die aufmerksame Stille, die dabei herrschte. Ich zeichnete den Akt in Pose je nach meiner Stimmung, und wenn ich nicht in Stimmung war, einen nackten Körper in Pose anzusehen, zeichnete ich die Gesichter der Zeichnenden. Was die Maltechnik betraf, mußte ich sie immer wieder neu für mich erfinden oder entdecken, je nachdem, wie ich mich gerade fühlte oder in welcher äußeren Situation ich mich gerade befand. Die dabei entstehende jeweils neue Technik war also das Ergebnis eines starken Dranges nach Ausdruck und der praktischen Möglichkeiten, die mir zur Verfügung standen.

Lange hatte ich kein eigenes Atelier und malte große Ölbilder an der Staffelei in der Ecke eines Zimmers. Da ich das Bedürfnis hatte, nicht tagelang an einem Bild zu bleiben, sondern mich schnell und spontan mitzuteilen, fing ich an, auf Malblöcken zu arbeiten. Aus meiner Zeitknappheit ergab sich damals die folgende Technik: Ich machte mit einem weichen, ziemlich breiten Pinsel und mit durch Terpentin stark verdünnter Ölfarbe große, schnelle Striche, gerade so, wie meine Hand es wollte. Dann drückte ich in diese nasse Farbe mit dem Spachtel andere unverdünnte Farben, die sich mit den nassen vermischten und teilweise ausliefen.

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Ich zeichnete mit dem Spachtel in diese Mischung verschiedene Formen ein, und manchmal war das Bild in einigen Minuten fertig. Einige Tage ließ ich diese Blätter trocknen, dann verschwanden sie in Schubladen, weil ich den Platz für die nächsten brauchte. Schließlich hatte ich Hunderte von Blättern, die ich mir manchmal ansehe, weil sie für mich eine Art Tagebuch aus dieser Zeit darstellen. Später, als ich ein eigenes Atelier bekam, verlor diese Technik für mich an Bedeutung, weil sich dort andere räumliche und technische Möglich­keiten ergaben.

Mit der Zeit fand ich mich damit ab, daß ich beim Malen niemals planen und meinen Kopf gebrauchen konnte. Das Kind in mir rebellierte und trotzte sofort, wenn ich das versuchte. Erst als ich lernte, ihm zu folgen, statt es zur Leistung zu zwingen, schenkte es mir ein Wissen über mich und meine Geschichte, das mir neu und kostbar war und das mich immer mehr zu faszinieren begann. Es war schwer zu begreifen, daß ich an diesem Wissen mein Leben lang vorbeigelebt hatte.

Heute, rückblickend, ist mir klar, daß mein starker Widerstand gegen das Lernen, gegen das Denken und Planen im Bereich des Malens, etwas für mich sehr Bedeutsames, ja vielleicht sogar Lebensrettendes war. »Wenn du nur wolltest, könntest du viel bessere Noten haben«, sagt man zu dem Kind mit Schulschwierig­keiten.

Will das Kind keine guten Noten? Doch, natürlich will es sie, vor allem, weil es weiß, daß sie ihm das Wohlwollen der Eltern sichern können. Doch wenn es fühlt, daß dieses Wohlwollen nichts mit seiner Person zu tun hat und ebensowenig mit der Liebe, die es nötig hätte, dann kann es vorkommen, daß sich etwas in ihm weigert, gute Noten zu liefern. Es will nicht helfen, die Lieblosigkeit zuzudecken, und es protestiert mit Hilfe seiner schlechten Noten gegen die Lüge und für die Wahrheit, auch wenn diese nur die Ignoranz und Kälte der Eltern entlarven würden.

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Gute Noten würden für ein solches Kind sein Grab bedeuten, weil sie die einzige ihm zugängliche Sprache zum Verstummen bringen würden. Schlechte Noten eines Kindes sind ja ein Notruf und können ihm unter Umständen helfen, weil sie ein Leiden artikulieren, das zwar nur in der Symptomsprache ausgedrückt werden kann, aber doch immerhin in ihr zum Ausdruck kommt. Ein solches Symptom wird allerdings nur dann Erfolg haben, wenn die Eltern aufhorchen können und so dem Kind das verbliebene Vertrauen und die Hoffnung auf Hilfe belohnen. In meiner eigenen Kindheit gab es keinen Raum für eine solche Hoffnung und ein solches Vertrauen. Ich hatte deshalb nie jemandem Schwierigkeiten gemacht, ich war gut in der Schule und hatte offenbar keine andere Wahl, als perfekt zu funktionieren.

Mit dreiunddreißig erfuhr ich von meiner Mutter, daß ich mit fünf Monaten schon trocken war. Daß ein Kind ohne Dressur nicht zu solch einer Leistung gebracht werden kann, wußte ich mit dreiunddreißig noch nicht. Da ich von Anfang an gelernt hatte, Grausamkeit als Erziehung zu meinem Besten zu sehen, wußte ich nicht, daß es etwas anderes überhaupt geben könnte. Ich brauchte Jahrzehnte, um Grausamkeit als solche zu erkennen, über sie zu schreiben und mich nicht durch den Druck der Gesellschaft, die über Kindesmißhandlungen als etwas völlig Normales hinwegsieht, verunsichern zu lassen. Doch diese meine Haltung ist ein Ergebnis eines langen Prozesses.

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Im Laufe dieses Prozesses habe ich verstanden, daß die Ignoranz der Gesellschaft von ehemaligen Kindern getragen wird, die, wie ich, so stark, so geschickt und vor allem so früh von ihren Eltern eingeschüchtert wurden, daß sie auch noch als Erwachsene unter diesem Terror stehen und ihn verteidigen. Es ist daher begreiflich, daß sich die meisten Menschen meiner Generation von dem Zwang, die Eltern zu verteidigen und zu entschuldigen, ihr Leben lang kaum befreien können.

Vermutlich wäre auch ich in dem Zwang, die Eltern zu verteidigen, steckengeblieben und hätte ihn, weil er so allgegenwärtig ist, gar nicht als solchen feststellen können, wäre ich nicht mit dem Kind in mir in Berührung gekommen, das mir erst so spät in meinem Leben sein Geheimnis anvertrauen wollte.

Es kam sehr zaghaft, sprach zu mir sehr undeutlich, nahm mich an der Hand und führte mich in Räume, die ich mein Leben lang gemieden hatte und die mir Angst machten. Und doch mußte ich diese Räume betreten, konnte mich nicht mehr von ihnen abwenden, denn es waren meine Räume, die gleichen, die ich vor Jahrzehnten zu vergessen gesucht und in denen ich das Kind allein gelassen hatte. Dort mußte es überleben, mit all seinem Wissen allein bleiben und warten, bis endlich einmal jemand kommen, ihm zuhören und ihm glauben würde. Nun stand ich da, an der offenen Tür, kaum dafür ausgerüstet, mit der ganzen Angst des Erwachsenen vor der Dunkelheit und der Bedrohlichkeit vergangener Zeiten, und ich brachte es nicht fertig, die Tür wieder zu schließen und das Kind bis zu meinem Tode dort wieder alleine zu lassen. Hier faßte ich einen Entschluß, der mein Leben grundlegend verändern sollte: mich von dem Kind führen zu lassen und ihm, diesem beinahe autistischen Wesen, das Jahrzehnte der Isolierung überlebte, zu vertrauen.

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Wie hört man einem autistischen Kind zu, das nicht spricht? Jedes Kind spricht, auch das autistische, obzwar nicht immer mit Worten. Und unsere Fähigkeit, die Sprache seiner Mimik, seiner Gestik, seines Verhaltens zu verstehen, hängt davon ab, wie weit wir das Kind in uns hören können, das einst Qualen erlitten hat. Eben diesen ersten Schritt mußte ich bei mir selber tun, mit meinem Kind in mir, und das hat bedeutet, mich all den Schmerzen auszusetzen, die ihm einst zugefügt wurden und die es auf sich nehmen mußte, allein, ohne Zeugen, ohne Worte, ohne Hoffnung, jemals verstanden zu werden. Dieses Kind, das jahrelang dem Erziehungs­wahn seiner Mutter alleine ausgeliefert war, ohne ein einziges Mal von jemand anderem in Schutz genommen zu werden, war in höchstem Maß mißtrauisch. Es hatte ein ungewöhnliches Sensorium, das es befähigte, auch den winzigsten Anflug von Absicht, Manipulation und Unehrlichkeit zu spüren. Es war darin unbestechlich und unbeirrbar. Wollte ich den Kontakt nicht wieder verlieren, mußte ich mich voll darauf einlassen. Und ich ließ mich darauf ein.

Nachträglich würde ich sagen, daß das Kind in mir, das malen wollte, viel besser wußte, was es brauchte, um sich auszudrücken, als ich mit meiner langen Schulausbildung. Seine totale Weigerung, auf die Forderungen der Gesellschaft einzugehen, sich mit ihren Vorstellungen und Konventionen einzulassen, war ein Zeichen seines starken Dranges, nur in seiner eigenen Sprache zu reden, sei sie noch so ungeschickt und befremdend.

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Dieser Drang konnte nicht ohne Einfluß auf meinen Stil bleiben, den ich als Improvisieren bezeichnen würde. Ich muß immer wieder neu suchen, finden, tasten, ausprobieren und kann nie etwas langsam ausführen, mich auf Bekanntes stützen, etwas üben und zu Ende bringen. Ich muß mich einem Geschehen ausliefern, das eine eigene Gesetzlichkeit zu haben scheint und das sich jeder Kontrolle und Zensur entzieht. Sobald ich versuche, es zu steuern, zu überlegen, langsamer zu arbeiten, ist dieses Geschehen blockiert. Das Ergebnis kann dann gekonnt wirken, aber es langweilt mich, vermutlich weil in ihm die Sprache des Unbewußten fehlt, das sich naturgemäß meinem Wissen und Können entzieht.

In gewissem Sinn kann ich daher gar nichts anderes als improvisieren. Etwa vor zwölf Jahren wollte ich manchmal Bilder malen, von denen ich in der Nacht zuvor geträumt hatte. Aber das gelang mir nie. Ich kann nur immer aus dem Moment heraus malen. Sobald ich mir etwas vornehme, bin ich blockiert, selbst wenn es sich um meinen eigenen Traum, also auch um mein Unbewußtes handelt. Im Moment des Malens kann ich höchstens neue Träume träumen, aber nicht einen vergangenen darstellen. Auch kann ich mir nicht vornehmen, eine Leinwand so oder so zu gestalten, ohne meinen Plan in kurzer Zeit völlig zu verändern. Das gleiche geschieht, wenn ich Maler, die mir wichtig sind, zu kopieren versuche. Ich fange an, und nach ein paar Minuten entsteht daraus ein anderes Bild, das nur wenig mit seinen Anfängen zu tun hat.

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Mein Unvermögen zu kopieren gilt vor allem für gemalte Bilder. Zeichnungen habe ich eher kopiert, Gesichter von Leonardo da Vinci, Picasso, und Zeichnungen von Rembrandt, immer wieder Gesichter von Rembrandt. Neben den Aktstudien in Ateliers und dem verstohlenen Gesichterzeichnen in Restaurants und Hotels war das Kopieren meine Schule im Zeichnen. Doch es waren schnelle Skizzen, und auch diese waren unverkennbar meine Zeichnungen und keine richtigen Kopien. Wenn ich aber mit Farben zu tun hatte, gelang es mir nicht einmal, das einfachste Bild von Picasso oder Nolde bis zu Ende zu kopieren. Gerade Picasso regte mich dazu an, mich frei zu äußern und mit meinem Unbewußten seine Anregung zu beantworten. Sobald ich mir vornahm, bei seinem Vorbild zu bleiben, fühlte ich mich wie durch einen Zwang blockiert.

Die meisten Lehrer werden sagen, man müsse diese Blockierung überwinden, man könne erst lernen, wenn man die Gefühle des Unwillens »beherrscht« hat u.a. Ich konnte mit solchen Ratschlägen nie etwas anfangen. Denn meine Erfahrung zeigte mir, daß ich gerade von meinem Unwillen etwas lernen konnte, während mir bei der Überwindung dieses Unwillens etwas Wichtiges verlorenging: Die Freiheit, die Freude und schließlich auch die Energie. Mit der Zeit lernte ich aus dieser Erfahrung. Wenn ich z.B. Noldes Aquarelle kopierte, was ich am Anfang gerne tat, benutzte ich die Vorlage nur als Anregung. Es war, als ob ich Ermutigung bei einem Komplizen, nicht aber den Meister des Handwerks suchte. Sobald ich mich durch ihn freierfühlte, vergaß ich das Bild, von dem ich ausgegangen war.

Ich will damit nicht sagen, daß das Kopieren immer die Kreativität zerstören muß. Auch große Maler haben kopiert, und man sagt, die Schüler müßten sich zuerst das Werkzeug aneignen und verschiedene Techniken lernen, bevor sie an ein Werk gehen könnten. 

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Das hört man oft, und auch wenn dies für viele Menschen stimmen mag, stimmt es nicht für mich. Ich brauchte lange, um dies herauszufinden und mich gegen das etablierte Wissen zu wehren, das mich so hartnäckig vom Spielen mit den Farben abgehalten hatte. Nur so gelang es mir schließlich, etwas zu wagen, das im allgemeinen als falsch gilt und doch für mich richtig war. 

Die Beherrschung der Technik und das Können mögen für manche eine Hilfe sein, sind es aber nicht immer. Sie können sogar zu einem Gefängnis werden, wenn man Angst hat, sich auszudrücken, weil man sich dann u.U. am akademischen Können festhält und sich dahinter versteckt. Daher gibt es Zeichnungen, die genau nach der Natur ausgeführt sind, in denen kaum etwas fehlt, die aber leblos wirken, weil die Person, die sie ausführte, gar nicht in Erscheinung tritt. Ich empfinde ein Bild - auch ein abstraktes - als leblos, wenn ich den Menschen nicht spüre, der es gemalt hat. Es mag sein, daß solch ein Bild gerade die momentane Leblosigkeit des Malers ausdrückt, und insofern sagt auch dieses Bild etwas aus. (Ich denke hier z.B. an manche Bilder Mondrians, die ich als Gitter empfinde.)

Wer weiß, wie viele schöpferische Impulse an den Kunstakademien zerstört werden, weil sich dort Schüler mit Leistungen ausweisen müssen und nicht bei sich selber bleiben können. Es braucht sehr viel Eigenständigkeit und emotionale Sicherheit, um sich die eigenen Impulse nicht mit Hilfe des Könnens und zugunsten der Mode auszureden. Auch später noch, nach der Schule, kann das Können ein Gefängnis sein. Es gibt Künstler, die dieses Gefängnis ihrer eigenen Perfektion nicht länger aushielten, aus ihm ausbrachen und eine völlig neue Ausdrucksweise fanden. Zu ihnen gehörten z.B. Goya und Turner.

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Beide waren große Meister im Stil ihrer Epoche und wurden zuerst verachtet, als sie Wege beschritten, die den anderen nicht vertraut, für sie selber aber notwendig waren. Die meisten Menschen hängen am Gewohnten, sie halten sich an überlieferte Ansichten und fühlen sich bedroht durch alles, was sie nicht einordnen können. Wenn sie dieses dann verachten, finden sie wieder ihren Frieden und brauchen sich nicht damit auseinanderzusetzen. Cezanne wurde von seinen ersten Kritikern ausgelacht, und nach einer erfolglosen Ausstellung schrieb einer höhnisch, Cezanne trage jetzt seine Bilder wieder nach Hause wie Jesus das Kreuz.

Solche Informationen fielen mir manchmal ein, wenn ich Argumente über die Notwendigkeit des Lernens hörte. Wie sicher — dachte ich — war doch Cezannes Kritiker, daß er recht hatte, und dies nur, weil er über den Geschmack seiner Zeit so gut informiert war. Was er gelernt hatte, gab ihm seine von Scheuklappen geschützte Sicherheit. Denn niemals hätte er über die Welt Cezannes etwas lernen können, weil es diese Welt bisher noch gar nicht gegeben hatte. Nur Cezanne selber konnte sie entdecken und hatte gar keine Wahl, als sie gegen den Hohn und die Arroganz der vermeintlichen »Wisser« zu entfalten. Er mußte geboren werden in eine Welt, die nicht auf ihn gewartet hatte und die ihn ablehnte, weil sie sich durch ihn in Frage gestellt fühlte. Trotzdem mußte er diese Welt in Frage stellen, er mußte den Mutterleib der Konvention verlassen, um als Cezanne und nicht als Nachahmer irgendeines lebenden Malers geboren zu werden.

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Ich schrieb einmal, gestützt auf Beispiele von Turner und Goya, daß die Kunst mehr mit dem Mut, mehr mit dem Wagnis als mit dem Können zu tun hat. Doch heute muß ich diesen Satz präzisieren, weil das Wort »Mut« eine Tugend bezeichnet und mir daher verdächtig klingt. Vielleicht ist es richtiger zu sagen, daß es sich um eine Not und nicht um eine Leistung handelt, weil der Künstler oft gar keine andere Wahl hat, als die Ächtung, Verachtung, Ablehnung zu riskieren, wenn er seine Wahrheit artikuliert. Es ist eine Frage des Überlebens als der, der man ist, und da besteht gar keine Alternative. Viele Künstler wissen, daß es keinen anderen Weg für sie gibt.

Ähnlich hat das Kind im Geburtskanal keinen anderen Weg, um ans Licht zu kommen, als diesen einzigen. Es muß manchmal in Kauf nehmen, daß die Mutter es für die Schmerzen haßt, die es ihr mit seinen Bewegungen zufügen muß, solange sie sein Vorwärtskommen bremst und sein Leben gefährdet. Das Kind muß trotzdem weitermachen, wenn es nicht sterben will. Etwas von dieser Not empfinde ich manchmal beim Malen, obwohl ich das bisher nie reflektierte und mir der Vergleich mit der Geburt jetzt beim Schreiben zum ersten Mal in den Sinn kommt. Der Kampf um den eigenen Ausdruck jenseits von allem, was man bisher gelernt hat, das Risiko der Ablehnung, das Nichtwissen, weshalb und wohin, und das vollständige Aufgehen im Tun, im Augenblick, auch die Dringlichkeit dieser Tätigkeit — das alles läßt sich mit der Situation des Kindes vergleichen, das im Geburtskanal um sein Leben kämpft.

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Die Entstehung des Kunstwerkes wird oft mit der Geburt verglichen, und zwar so, daß der Künstler sich mit der Mutter identifiziert, die ihr »Kind«, das Werk, zur Welt bringt. In Kafkas Tagebüchern gibt es eine entsprechende Stelle über das Entstehen der Kurzgeschichte »Das Urteil«. Doch in meiner Vorstellung identifiziere ich mich nicht mit der gebärenden Mutter, sondern mit dem um sein Leben ringenden Kind. Ähnlich ging es mir auch beim Schreiben. Ich werde manchmal gefragt, woher ich den Mut nahm, »Du sollst nicht merken« zu schreiben. Auch dort hatte ich den Eindruck, daß ich gar keine Wahl hatte. Nachdem ich die kinderfeindliche Haltung der Gesellschaft entdeckt hatte und niemanden fand, der meine Sicht teilen konnte, mußte ich einfach weitermachen, um zu verstehen, warum ich allein war, um mich in der Welt zu orientieren.

Ich war in der Situation eines Menschen, der schwimmen muß, um ans Ufer zu kommen, aber den man — nur weil er das Schwimmen nicht aufgibt — kaum als mutig bezeichnen wird. Aufgeben würde Tod bedeuten, und »Du sollst nicht merken« nicht zu schreiben hätte für mich geheißen, das, was ich gefunden hatte, zu vernichten, also auch einen großen Teil von mir selbst damit zu töten. So geht es vermutlich jedem Menschen, der aus einer inneren Notwendigkeit malt oder schreibt. Wir stecken häufig im Laufgitter des eigenen Könnens und der Routine, das uns Sicherheit gibt und aus dem auszubrechen uns Angst macht. Und doch müssen wir nach Luft schnappen und den Weg immer wieder finden, vermutlich immer wieder aufs neue, wenn wir nicht im Mutterleib des Vertrauten und Gewohnten ersticken möchten und mit unserem neuen Werk geboren werden wollen. 

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Für mich hat der schöpferische Moment etwas mit diesem Unter-Druck-Sein zu tun, aber natürlich niemals in demselben Ausmaß wie für das zur Welt kommende Kind. Wenn man sich vorstellt, wie lange die Geburt dauert, wie lange bei einer schweren Geburt das noch ungeborene Wesen der Angst, der Ungewißheit und Verzweiflung ausgesetzt ist, dann ist alles, was wir später im Leben erfahren, an Intensität kaum damit zu vergleichen: Denn das Ungeborene hat eben noch keine Alternativen und keinen Intellekt, der ihm helfen würde, sich zurechtzufinden und zu verstehen, was mit ihm geschieht. Es kann nur fühlen. Doch daß es fühlt, wissen wir heute nicht nur dank der Berichte von Menschen, die ihre Geburtsschmerzen als Erwachsene erlebten, sondern auch dank Beobachtungen des intrauterinen Lebens mit Hilfe modernster elektronischer Apparate. Ich ahne, daß ich beim Malen mancher Bilder etwas von meiner frühen Not erlebte, die ich als Kampf um die Befreiung bezeichnen kann. Und manchmal war am Ende das beglückende Gefühl des Gelingens, aber nicht im Sinne der Leistung, sondern im Sinne der Freude: Ich konnte mein Bedürfnis zu spielen, mich auszudrücken und die sinnliche Freude an Farben zu genießen, befriedigen, und ich hatte überlebt.

Inzwischen habe ich die Erfahrung gemacht, daß die Aufhebung der Verdrängung und mein waches Bewußtsein in bezug auf die traumatischen Erlebnisse meiner Kindheit die Kreativität nicht nur nicht blockiert, sondern vertieft und bereichert haben. Das überrascht mich nicht, denn Kreativität ist für mich nichts anderes als die Freiheit zu spielen, die durch Verdrängung eher eingeschränkt als gefördert wird.*

 

* Vgl. A. Miller, »Du sollst nicht merken« S. 309 f.

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Beim Malen brauche ich niemanden zu überzeugen, daß zwei und zwei vier sind und nicht fünf; ich kann sogar selber mit der Idee spielen, zwei und zwei seien fünf, weil ich beim Malen an keine Gesetze gebunden bin. Das gibt mir ein Gefühl von Freiheit, das ich mit nichts anderem vergleichen kann und das ich — angesichts meiner Vergangenheit — brauche und genieße. Ich weiß, daß es verschiedene Farbenlehren gibt, an die ich mich nicht halte, und daß mir hier niemand Vorschriften machen kann, und genau das befreit meine Spontaneität. Welche Farbe ich wähle, wieviel ich davon nehme, wo ich sie hinsetze, welches Werkzeug ich im Moment gerade dazu benütze, welche Formen mir im Moment einfallen, über all das entscheidet nur noch der »Zufall«, den ich mein Unbewußtes nenne, und meine Freude, mich mit dem Zufall einlassen zu können. Ich weiß nicht, ob es anderen Menschen ähnlich geht, aber mir bedeutet dieser Spielraum sehr viel, weil ich ihn als Kind, außer vielleicht beim Schlittschuhlaufen, nie hatte.

Nur wenn ich der Stimme des Kindes in mir Raum verschaffe, empfinde ich mich als wirklich echt und kreativ. Ich benütze alle mir jetzt zur Verfügung stehenden Mittel, beim Malen die Erfahrung mit meiner Technik, beim Schreiben meine psychotherapeutische Erfahrung, um dem Kind zu helfen, seinen adäquaten Ausdruck zu finden und verstanden zu werden. Ich gebe ihm das, was es früher nie gehabt hat: die Begleitung einer erwachsenen Person, die seine Stimme ernst nimmt, statt es mit Gemeinplätzen zu beherrschen und seine Kreativität zu zerstören.

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Es besteht für mich kein Zweifel mehr, daß während des spontanen Malens das verdrängte Wissen von weit zurückliegenden Geschehnissen aus mir heraus will. Die schnell gemalten Aquarelle sind wie Moment­aufnahmen in einem bestimmten Augenblick meines Lebens und meines »technischen Könnens«. In einem andern Moment wird das gleiche vergangene Ereignis eine ganz andere Form finden. Außerdem ist die Bereitschaft, das Leiden meiner Kindheit zuzulassen und es nicht abzuwehren, nicht immer gleich, und das Unbewußte kann nicht immer mit der gleichen Deutlichkeit sprechen. 

Mich fasziniert dieser ständige Dialog zwischen mir als erwachsener Frau und dem kleinen Kind in mir, der dank den Farben erwachte und später, auch mit Hilfe des Schreibens, seine Fortsetzung fand. Das schweigende Kind von einst erhielt von mir das Recht auf seine Sprache und seine Geschichte. Es hört nun nicht auf, sich zu erinnern, die Realität wahrzunehmen und mit stets steigender Deutlichkeit darüber zu berichten. Zu diesen Berichten gehört auch ein Teil meiner Bilder. 

Wenn ich als erwachsene Frau die Gesellschaft über das Leiden der Kindheit aufklären und dafür sensibilisieren will, gebrauche ich eher Worte und schreibe. Doch ich schließe es nicht aus, daß Bilder eine ähnliche Auslösefunktion haben können wie geschriebene Kindheitsberichte und daß auch sie helfen können, die Mauern der Ignoranz zu durchbrechen. Damit meine ich die Ahnungslosigkeit, mit der die Menschheit täglich ihre Kinder empfängt und sie vom ersten Moment an — häufig völlig unnötig — einem Martyrium aussetzt, nur weil sie nicht weiß, daß ein Kind fühlt und was später daraus entsteht. 

 

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Wie stark unsere Gesellschaft von kinderfeindlichen Tendenzen beherrscht wird und dies ignoriert, habe ich eigentlich erst durch meine Bücher erfahren. Ich hatte zwar in »Am Anfang war Erziehung« diese Tendenzen in ihrer krassesten Erscheinungsform beschrieben, als ich versuchte, das Quälen, Foltern, Vergasen und Verbrennen von hilflosen Menschen zu verstehen. Nur wenn ich mir vorstellte, daß die Täter unter dem Zwang standen, die Kinder, die sie einst waren und deren Seelen nicht leben durften, stellvertretend in den hilflosen Gefangenen immer wieder neu umzubringen, offenbarte mir das absurde Verhalten seine tragische Logik. Doch in den letzten Jahren wurde mir klar, daß Kinderfeindlichkeit in zahlreichen Formen nicht nur in den Vernichtungslagern, sondern überall anzutreffen ist, in allen Schichten der Gesellschaft, in allen wissenschaftlichen Bereichen, ja sogar in den meisten therapeutischen Schulen.

Als ich nun anfing, in meinen Büchern nicht »über« das Kind zu schreiben, sondern dem Kind selber eine Stimme zu verleihen, kam ich mit dieser Feindseligkeit in Berührung. So haben z.B. namhafte Zeitschriften, die unbedingt von mir einen Artikel wünschten, ihr ganzes Interesse verloren, als ich ankündigte, ich würde über die Gewalt in der Familie schreiben.* 

Zuerst konnte ich das nicht verstehen und wollte es kaum glauben, weil ich die Stimme des Kindes, die aus meinen Büchern sprach, sei es in den Worten von Kafka oder Flaubert, sei es in den Darstellungen der Patienten, für sehr überzeugend hielt. Erst später habe ich verstanden, daß es gerade diese Überzeugungs­kraft des sprechenden Kindes ist, die den Erwachsenen irritiert und seine ablehnende Haltung hervorruft.

 

* Eine Ausnahme bildete die Zeitschrift »BRIGITTE«, in deren Sonderheft ich den Aufsatz »Die Töchter schweigen nicht mehr« publizieren konnte. Vgl. »Als Kind mißbraucht«, Mosaik-Verlag, 1983

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Wenn man heute Partei nimmt für die Arbeiter, für die Frauen, ja sogar für die gequälten Tiere, dann befindet man sich immer noch in einer Gruppierung. Nur mit der radikalen Parteinahme für das Kind gegen die als Erziehung bezeichneten Lügen der Gesellschaft setzt man sich einer Isolierung aus. Diese Tatsache ist schwer zu begreifen, wenn man bedenkt, daß jeder Mensch einmal Kind war. Ich kann sie mir nur damit erklären, daß diese eindeutige Parteinahme für das Kind für die meisten Erwachsenen eine Bedrohung darstellt. Wenn es nämlich möglich ist, das Kind reden zu lassen und den Schilderungen seiner Erfahrungen, die wir ja alle einmal gemacht haben, zu glauben, dann wird dem Erwachsenen sein eigener Verlust an Wahrnehmungsfähigkeit, an Empfindungen, Gefühlen und Erinnerungen schmerzhaft bewußt. Nur wenn das Kind zum Schweigen gebracht wird, läßt sich dieser Schmerz vermeiden, und wir können wieder an das glauben, was man uns in der Kindheit gesagt hat, nämlich daß es notwendig, sinnvoll und gut für uns war, die emotionalen Opfer zu bringen, die von uns im Namen der Erziehung verlangt wurden. Die Arroganz des Erwachsenen den kindlichen Gefühlen gegenüber züchtet das angepaßte, schweigende Kind, aus dem wiederum arrogante und blinde Erwachsene hervorgehen.

Ist es denn nicht sinnlos, Kinder sprechen zu lassen, ihnen zu helfen, sich in einer arroganten Erwachsenen­welt zu artikulieren, wenn die Hoffnung, von diesen Erwachsenen gehört zu werden, kaum bestehen kann und wenn die Gefahr der Vernichtung dieser echten Stimme droht, sobald sie zu hören ist? 

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Ich meine, es ist nicht nur nicht sinnlos, sondern sogar notwendig, diese Stimmen, die Stimmen der Betroffenen, sprechen zu lassen, wenn wir die totale Vernichtung der in jeder Kindheit verborgenen Quelle des Wissens und der Kreativität verhindern möchten. Gerade die Berichte der ehemaligen Opfer von Kindesmißhandlungen werden der Entstellung der Wahrheit entgegenwirken, der wir auf verschiedenen Gebieten unseres Lebens häufig begegnen können.

Ein mir gut bekanntes Beispiel für das Einwirken der gesellschaftlichen, kinderfeindlichen Haltung bis in die Wissenschaft ist die Theorie der »infantilen Sexualität«. Die Idee, daß das Kind seine Eltern sexuell begehre und im Laufe der Kindheit »lernen müsse, diese Wünsche aufzugeben«, konnte sich trotz ihrer Absurdität etablieren und fast ein Jahrhundert lang überleben, weil der sexuelle Mißbrauch der Kinder durch Erwachsene so gut verborgen blieb.

Der Projektionscharakter dieser Idee ist den Wissenschaftlern nicht aufgefallen, weil auch sie, der Pädagogik ihrer Urgroßeltern entsprechend, in der Meinung aufgewachsen sind, das Kind käme auf die Welt mit bösen Trieben, und wir, die guten Erwachsenen, müßten ihm die richtigen Normen beibringen. Daß wir von den Kindern über die Verlogenheit unserer Normen und über die Grausamkeit der von uns angewandten Mittel einiges lernen könnten, wußten unsere Großeltern nicht. Auch wir heute beginnen es erst zu ahnen. 

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Daher konnten Psychoanalytiker jahrzehntelang, die echten Bedürfnisse des Kindes übersehend, ohne Schwierigkeiten annehmen, das Kind erfinde in seiner Phantasie unehrenhafte Geschichten über die unschuldigen Erwachsenen, die es sexuell begehre und die es umbringen wolle, nicht weil sie es quälen und mißbrauchen, sondern weil sie ihm die Befriedigung der »inzestuösen Wünsche« vorenthalten.

Eine so krasse Projektion der sexuellen Perversionen des Erwachsenen auf das Kind innerhalb der Wissen­schaft und die damit verbundene Beschuldigung der Opfer konnte sich nur erhalten, solange die Opfer durch die Macht der Täter eingeschüchtert waren und schwiegen. Nun, da sie ihre Stimme gebrauchen und erzählen, was ihnen geschehen ist, werden andere Betroffene ermutigt, sich ebenfalls mit ihrer Wahrheit zu konfrontieren und so die falschen Behauptungen und die pädagogischen Vorurteile der Wissenschaftler zu korrigieren.*

 

* * *

 

Wir sind gewohnt, in abstrakten, zusammenhanglosen Kategorien zu denken und geistige Aktivitäten in bestimmte abstrakte Bereiche einzuteilen, wie z.B. Literatur, Kunst, Wissenschaft, Politik, Erziehung, usw. Jeder verbindet diese Begriffe mit Bildern, die seiner Erfahrung entstammen. Mit der Vorstellung des Dichters oder Künstlers verbindet sich oft in einer vagen und diffusen Weise der Rückzug vom äußeren Geschehen zur »inneren Welt«, und mit dem Begriff des Politikers z.B. ein voluminöser Terminkalender, ein Reiseplan von gigantischen Ausmaßen und ständig wechselnde Konferenztische. Wir pflegen die Konferenzen, an denen über das Löschen von Feuersbrünsten mit Hilfe von Eimern diskutiert wird, als politisch zu bezeichnen, vorausgesetzt, daß nach den Ursachen dieser Feuersbrünste nicht gefragt wird.

* Vgl. Alice Miller, »Du sollst nicht merken«, S. 390, Nachwort 1983.

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Solche Fragen bleiben Einzelgängern vorbehalten, die sich aus irgendwelchen Gründen die Möglichkeit des Fragens noch erhalten haben. Manchmal stoßen diese Menschen völlig unerwartet auf Entdeckungen, die von höchst politischer Tragweite sind, weil sie tatsächlich Möglichkeiten bieten, die Gesellschaft zu verändern und die Eskalation der Gewalt abzuschwächen, wenn nicht mit der Zeit ganz aufzuhalten. Um Kriege in der Zukunft zu vermeiden, brauchen wir nämlich nicht neue Waffen und Konferenztische, sondern die größtmögliche Verbreitung der Erkenntnis über die Brutstätten der Gewalt, über die Orte, an denen sie gezüchtet wird.

Zu den einsamen Entdeckern und Informanten unserer Zeit gehört der französische Frauenarzt und Künstler Frederick Leboyer.* Millionen Menschen, die bisher Geburten beigewohnt haben (Ärzte, Hebammen, Krankenschwestern und Angehörige), nahmen es als selbstverständlich an, daß das Neugeborene notwendiger­weise schreien müsse, und nahmen erstaunlicherweise das Naheliegendste nicht wahr, nämlich daß das schmerzverzerrte Gesicht und die Schreie des kleinen Wesens nichts anderes ausdrückten als seelischen Schmerz. Leboyer war der erste, der sich die längst fällige Frage stellte, wie sich das Kind fühlt, wenn es nach einem häufig schweren Kampf ums Überleben an den Füßen hochgezogen und brutalen Prozeduren ausgesetzt wird, statt beruhigt zu werden.

* Vgl. F. Leboyer, »Geburt ohne Gewalt«, München 1981

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Er hat bewiesen, daß nach einer behutsamen Behandlung, die der seelischen Situation des Neugeborenen Rechnung trägt, das Kind schon einige Minuten nach der Geburt lächeln kann und nicht schreit. Seit dieser Feststellung hatten viele Menschen Gelegenheit, diese Erfahrung an ihren Kindern selber zu machen. Einiges hat sich dadurch in der Geburtspraxis verändert, obwohl auch dies immer wieder gegen den größten Widerstand der Fachleute geschehen muß, die sich von dem, was sie vor Jahren gelernt haben, nicht abbringen lassen.*

Auch ich habe in den Arbeiten Leboyers längere Zeit lediglich das Problem der Geburtspraxis gesehen und war selber erstaunt, als mir erst vor wenigen Jahren die politischen Konsequenzen dieser Entdeckung aufgefallen sind. Erst als ich herausfand, daß die seelischen und körperlichen Grausamkeiten unserer Erziehungspraxis im Kind eine ohnmächtige Wut von höchster Intensität erzeugen und ihm zugleich deren Ausdruck verbieten, begriff ich, daß sich in dieser Praxis, die zur massiven Verdrängung und Verleugnung des Kinderschicksals führen muß, die Wurzeln der späteren Gewalt verbergen. Diese Erkenntnis brachte mich zu der Frage, was mit den sehr intensiven Gefühlen eines noch ganz kleinen Kindes geschieht, das in grausamer Weise behandelt wird. 

 

* Abgesehen von diesen Prägungen haben Geburtshelfer inzwischen gelernt, ihre geregelte Freizeit zu schätzen, und preisen den werdenden Müttern in zunehmendem Maße die »Vorteile« der künstlichen Einleitung der Geburt an.

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Ich fragte mich: Sind diese frühen Verdrängungen der Schmerzen und der Wut nicht noch gefährlicher für die Betroffenen und für die Gesellschaft als die späteren, weil sie dem Bewußtsein noch schwerer zugänglich sind? Werden die Folgen dieser Verdrängung je im Zusammenhang mit ihren Ursachen gesehen und verstanden werden können? Mit diesen Fragen stieß ich nochmals auf die Arbeiten Leboyers, und erst jetzt begriff ich, daß tatsächlich bereits in der Behandlung des Neugeborenen, wie sie bis vor kurzem praktiziert wurde, d.h. in den ersten Minuten des Lebens, der erste der vielen Beiträge der Gesellschaft lag und liegt, das zur Welt kommende Wesen mit destruktiven und/oder selbstdestruktiven Tendenzen auszustatten.

Meine Vermutung fand ich bestätigt in den Berichten von Patienten der Primärtherapie. Sie sind für mich ein Beweis dafür, daß die traumatischen Erfahrungen des Menschen von Anfang an in ihm gespeichert werden und daß die einst verdrängten Erinnerungen zugänglich gemacht werden können, sobald die Bedingungen dafür geschaffen sind. In diesen Berichten ist ein Wissen verborgen, das von den meisten Fachleuten noch nicht entdeckt zu sein scheint, das aber unser Bild vom Menschen vermutlich schon in den nächsten Jahren grundlegend verändern wird.

Eine von Erziehungsmeinungen freie und daher erfolgreiche Primärtherapie ist heute leider noch eine Seltenheit. Solange in der Therapie der Ansatz zur radikalen Veränderung eingeschränkt und nicht unterstützt wird, werden die destruktiven Reaktionsformen erhalten bleiben. Als besonders schädlich erachte ich die sog, gemischten Therapieformen mit erzieherisch gefärbten Verfahren, wie z.B. die Verbindung von Transaktionsanalyse und »Primärtherapie«.

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Doch unabhängig von der praktischen Frage, wie viele Menschen die Möglichkeit haben, schon heute eine gute Primärtherapie für sich zu beanspruchen oder ihr Kind ohne Gewalt entbinden zu lassen, stellt sich für mich die allgemeine Frage, welche Konsequenzen für das Bewußtsein der Menschheit die neuesten Entdeckungen über die frühe Kindheit mit sich gebracht haben. 

Ein wichtiger Teil dieser Frage läßt sich für mich jetzt schon beantworten: 1) Indem Primärpatienten begonnen haben, ihre Wahrheit zu entdecken, begannen, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit, die Opfer von Kindesmißhandlungen ihr Leiden zu artikulieren. 2) Indem uns Leboyer und andere das lächelnde, einige Minuten alte Neugeborene in Filmen zeigten, widerlegten sie empirisch eine ganze Menge alter Märchen über die »destruktiven Triebe«, mit denen wir angeblich auf die Welt kommen.

Der Vergleich zwischen dem schmerzverzerrten und dem lächelnden Gesicht des Neugeborenen genügt mir, um mit Grauen zu erkennen, was wir aus Gefühlsstumpfheit und Ahnungslosigkeit unseren Kindern angetan haben. Doch dieser Vergleich genügt auch, um in mir die Hoffnung zu wecken, daß wir diese ungewollte Saat der Gewalt in Zukunft einmal vermeiden können, sobald wir die neuen Erkenntnisse integriert haben. Darin sehe ich ihre soziale und politische Tragweite, wenn sie einmal der breiten Öffentlichkeit zugänglich sind.

Auf der anderen Seite wird nun die in den aufdeckenden Therapien erwachte Stimme des ehemaligen, bedrohten, zum Schweigen gebrachten Kindes zur Aufklärung und Humanisierung der Gesellschaft beitragen, sobald sie sich nicht mehr wie bisher lediglich in der symbolischen, also verschleiernden Form wie Literatur und Kunst, sondern auch direkt, mit vollem Bewußtsein und in voller Verantwortung erhebt.

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Die folgenden Zeilen, einem noch unpublizierten Artikel von Hans R. Böttcher, Professor für Psychologie in Jena, entnommen*, veranschaulichen mit Hilfe von Bildern, was ich hier meine und weshalb meine Thesen statistisch nicht leicht bestätigt werden können, auch wenn sie richtig sind. Das Beispiel zeigt auch die spezifische Art der Traumatisierung, die sich aus der Tatsache ergibt, daß kein wissender Zeuge dem Kind beigestanden ist, als es grausam behandelt wurde. Denn die Verursacher des Leidens verstanden nicht und können es noch heute häufig nicht verstehen, was sie dem Kind angetan hatten.

Prof. Böttcher schreibt:

»Zum Schluß möchte ich noch eine eigene Erfahrung als Psychologe mit klinischen Psychologen und Ärzten mitteilen. Sie werden durch Millers Bücher aufgewühlt, was sie entweder zu theoretischer Abwehr oder zu einer Flut eigener schrecklicher Erinnerungen veranlaßt. Im zweiten Fall machen einige den Versuch, im Gespräch mit ihren Eltern nachzuprüfen, ob diese das Kindheits- und Elternbild ihres Sohnes/ihrer Tochter an den subjektiv entscheidenden Stellen bestätigen können. 

In der Regel geht das aber negativ aus. Nicht nur hat die junge, zum Nichtmerken angehaltene Generation allzulange an einem geschönten Kindheitsbild und Elternbild festgehalten. Auch die Eltern erinnern sich viel mehr dessen, was sie Gutes wollten und tatsächlich leisteten, als daran, was sie Schlimmes taten und anrichteten. 

* Eingereicht bei der »Zeitschrift für Jugendpsychologie«

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Ein älterer Kollege, der schon als Jugendlicher vom Elternhaus Distanz bekam, sich ein kritisches Bewußtsein für seine eigenen Entwicklungsbedingungen erkämpfte und eine Zeitlang Lehranalyse erfuhr, ehe er selber Psychotherapeut wurde, versuchte wiederholt mit seiner Mutter, einer freundlichen, etwas kühlen, etwas verschlossenen Frau, ein ihn traumatisierendes Kindheitserlebnis zu klären: als die Mutter etwa 50,60, 70 und 80 Jahre alt war. Vergebens, sie erinnerte sich nicht.

Als noch nicht Siebenjähriger hatte er sich von einem Mitschüler erst zum Drachensteigen und dann zur Doppellüge verleiten lassen; zu Hause: Wir haben keine Schularbeiten auf, in der Schule: Ich habe sie vergessen. Da der Lehrer das Nachholen, später die Unterschrift verlangte, geriet das Kind in Angst und Not sowie tiefer in sein Lügendilemma, warf den Brief des Lehrers an die Eltern über einen Zaun in Richtung Bach, faktisch nur bis in die Brennesseln. 

Lehrer und Mutter verständigten sich nach einigen Tagen direkt. Nach der Entlarvung wurde das Kind von der Mutter beschimpft, in die Nesseln getrieben, mit Pantoffeln geschlagen. Dann legte sich die Mutter mit der jüngeren Schwester des Übeltäters aufs Sofa, um, wie sie damals sagte, aus Enttäuschung für den mißratenen Sohn zu sterben. Dieser flehte, mitsterben zu dürfen. Er wurde zurückgewiesen. 

Die gefürchteten Schläge des Vaters am Abend waren vergleichsweise erleichternd. Dem folgte, daß das begabte, schultüchtige Kind einige Wochen lang Hausarrest bekam und jeden Tag nach den Schularbeiten die Rückseite eines großen Plakats vollschreiben mußte mit dem Satz: >Ich soll meine Eltern und Lehrer nicht belügen<, was Stunden dauerte. 

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Nochmals: Dies erinnerte der Psychologe sein Leben lang mit größter Prägnanz, besonders wenn er auf Verlassenwerden oder <selbstverschuldeten> sozialen Verlust depressiv reagierte. Aber seine nun in menschlichen Zusammenhängen sehr urteilsfähige Mutter wußte davon gar nichts mehr. Weil es bloß das Abreagieren eines Enttäuschungsaffekts war, weil sie gemeint hatte, erzieherisch richtig zu handeln! Weil sie die ihr peinliche Szene später verdrängt hat! 

Miller würde die Vermutung hinzufügen, daß sie wohl als Kind ähnlichen Härten ausgesetzt war. Auch davon weiß sie aber wenig. Indessen war sie erst ein <von Eltern und vier Brüdern geliebter Nachzügler, doch mit 14 Jahren eine Vollwaise, die zu guten Bekannten gegeben werden mußte>. Wieviel können Eltern überhaupt vom <Urschmerz> (Janov) ihrer Kinder wissen?

Man kann sich vorstellen, wie wenig weit wir kämen, würden wir, im Interesse einer statistischen Urteilsbildung, mit zwangsläufig oberflächlichen Lebensereignis-Fragebogen Kinder, Eltern und Großeltern untersuchen und dabei hoffen, die Richtigkeit unserer Hypothesen am Grad der Aussagenübereinstimmung zu prüfen.« 

 

Den Mangel an Vorstellungsvermögen und an emotionalem Verständnis für die wahre Situation des mißhandelten Kindes, den Böttcher am Bild einer Mutter so eindrucksvoll schildert, stelle ich immer wieder auch in Gesprächen mit Therapeuten fest, sogar bei manchen, die sich zu den modernsten Richtungen bekennen. Es scheint vielen absolut nicht klar zu sein, daß allein das so schön weil moralisch klingende Wort »Selbstverantwortung« die Macht hat, einen gewaltigen Befreiungsprozess, zu dem der Patient an sich fähig wäre, mit einem Schlag nachhaltig zu blockieren.

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Statt die Geschichte seiner Mißhandlung mit Hilfe des Therapeuten Schritt für Schritt emotional aufzudecken, um sich von ihrer fortdauernden Wirkung zu befreien, wird der Patient seine ihm übriggebliebenen Energien verbrauchen müssen, um die sogenannten »destruktiven Tendenzen« (also auch seine Vitalität!) auf Sparflamme zu halten und nicht zu merken, daß seine unterdrückte Wut im Grunde die normalste Reaktion auf das ihm zugefügte Unrecht sei. Vieles von diesem Unrecht würden wir in unserer Rechtssprache ohne weiteres als Verbrechen bezeichnen, wäre es nur voll ausgewachsenen Personen und nicht Kindern zugefügt worden. Doch die gleiche Tat, am ehemaligen Kind verübt, läßt die meisten der mir bekannten Therapeuten erstaunlich gleichgültig reagieren.

Aber der Durchbruch zum Merken hat bereits stattgefunden. Die täglichen Medienberichte über Kindesmißhandlungen werden zunehmend dazu beitragen, daß die bisher in Familien verborgenen Brutstätten der Gewalt ans Tageslicht kommen.*

Gleichzeitig werden einzelne, die das Glück hatten, von Anfang an ohne Heuchelei und Grausamkeit aufzuwachsen, der Menschheit die Vorahnung dessen geben, wie die Menschen an sich sein könnten, nämlich: kritisch, aufmerksam, einfühlsam und ohne das Bedürfnis, andere oder sich selber zu verletzen. Das hat nicht nur private, sondern weittragende soziale Konsequenzen,** weil die Mitmenschen, wie Partner, Untergebene und vor allem die eigenen Kinder, nicht für die Sünden anderer werden herhalten müssen.

Menschen, die ihre Wahrheit nicht zu fürchten brauchen, die ihre Eltern nicht oder nicht mehr mit Hilfe von Selbstbetrug schützen müssen, können nicht die Wahrheit anderer abwehren und deren Leiden leugnen. Wenn sie als Kinder nicht belogen wurden, werden sie als Erwachsene jede Art von Lüge und Heuchelei mühelos erkennen und sich nicht dafür gebrauchen lassen. Sie werden daher niemals imstande sein, wie die Eichmanns von gestern und heute, die Verantwortung für ihr Tun auf abstrakte Zahlen und Computer abzuwälzen. Ihr Denken, verbunden mit Gefühlen, Bildern und Erinnerungen, die nicht abgespaltet werden mußten, wird sie vor dieser Blindheit schützen.

Wenn die geschlagenen Kinder wie z.B. Hitler, Eichmann, Höß etc. in dem Maße menschliches Leben zerstören konnten und können, wie es sich an der Geschichte deutlich ablesen läßt, ist es nur eine logische Konsequenz zu fragen, wie stark die nicht geschlagenen und nicht mißbrauchten Kinder die Welt wohl beeinflussen können. Diese Kinder werden mit Sicherheit auch keinen Grund haben, sich mit Drogen, Alkohol, Zigaretten zu zerstören und sich von der Gesellschaft um ihre Seele betrügen zu lassen. Auf jeden Fall werden sie kaum wie ich 45 Jahre warten müssen, um den Pinsel in die Hand zu nehmen, der ihnen ihre Wahrheit erzählen könnte. Denn sie werden ihre Wahrheit nicht zu fürchten brauchen. 

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* Vgl. dazu: Louise Armstrong, Kiss Daddy Goodnight, suhrkamp taschenbuch 995, 1985.  
** Vgl. A. Miller, »Du sollst nicht merken«, S. 252 ff.

 

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