Nietzsche-2
Richard Wagner: Der Vater, die Verführung und die Enttäuschung
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Um die einzelnen Inszenierungen in Nietzsches Leben im Zusammenhang mit seiner Kindheit aufzuzeigen, wäre nicht nur ein sehr genaues Studium seiner Briefe notwendig, auch die bloßen Fakten müßten aus den zahlreichen Fälschungen durch die Schwester erst eruiert werden.
Ich könnte mir vorstellen, daß jeder, der sich nicht scheut, den Zusammenhang zur Kindheit herzustellen, sehr viel Neues bei einer solchen Aufgabe entdecken könnte. So könnte man zum Beispiel der Frage nachgehen, ob Nietzsches Beziehung zu Richard Wagner, dem um dreißig Jahre Älteren, nicht eine Neuauflage der verdrängten, tragischen Erfahrungen mit dem plötzlich erkrankten Vater war. Der Umstand, daß sich seine anfängliche Bewunderung und Begeisterung so plötzlich in Enttäuschung, Ablehnung und radikale Abwendung wandelte, legt diese Vermutung nahe. Die Enttäuschung setzte ein, als Wagner »Parzifal« komponierte und für Nietzsche dadurch die Werte des Altgermanischen zugunsten der ihm so suspekten christlichen »verriet«. Erst in diesem Moment wurden ihm schwache Seiten an Richard Wagner plötzlich klar bewußt, Seiten, die er bisher in seiner Idealisierung übersehen hatte.
In der umfangreichen Nietzsche-Literatur habe ich vergeblich nach Informationen gesucht, die beschreiben würden, wie das viereinhalbjährige, sehr intelligente Kind die Tatsache der elfmonatigen Gehirnerkrankung seines Vaters erlebt hatte. In Ermangelung der Angaben mußte ich mich also dem späteren Leben zuwenden und hier Anhaltspunkte suchen. Ich meine, daß ich sie in Nietzsches Beziehung zu Richard Wagner gefunden habe.
Wie groß auch die Enttäuschung des reifen Mannes Nietzsche am Werk Richard Wagners sein mochte, sie hätte niemals dieses Ausmaß an Spott und Verachtung heraufbeschworen (zumal Wagner Nietzsche persönlich nichts angetan hat und ihm sogar sehr zugetan war), wenn ihn Richard Wagners Persönlichkeit und Musik nicht an den Vater und an die Not seiner frühen Kindheit gemahnt hätten.
Das ganze Werk Richard Wagners und die Atmosphäre in Bayreuth, die ihm in seiner Jugend Heimat bedeutet haben, empfindet Nietzsche von einem bestimmten Zeitpunkt an als eine gigantische Lüge. Das einzige, was er Wagner nicht absprechen kann, ist seine schauspielerische Begabung, die er aber nicht als Kompliment versteht, denn er definiert die Psychologie und die Moral des Schauspielers folgendermaßen: »... Was als wahr wirken soll, darf nicht wahr sein. ... Wagners Musik ist niemals wahr. Aber man hält sie dafür; und so ist es in Ordnung.«*
* Werke III, S. 366
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Da werden, meint er, heilige, edle, große und gute Gefühle vorgespielt, Ideale vorgegaukelt, die mit den wahren Gefühlen eines lebendigen Menschen kaum etwas zu tun haben. Diese findet Nietzsche in Carmen von Bizet, in der Ambivalenz, im »Töten aus Liebe«. Er schaut sich die Oper mehrmals mit Begeisterung an. Er erlebt Carmen wie eine Befreiung von der Lüge, die seit den Jugendjahren in Bayreuth. aber auch schon seit der Kindheit an ihm klebte. Und nun ist der Angriff auf seinen einst bewunderten, väterlichen Freund, Richard Wagner, total. Er kann jetzt nichts Gutes mehr an ihm finden und haßt ihn von ganzem Herzen, wie ein tief verletztes Kind. Der Haß wird genährt von der Verzweiflung und Trauer, daß er sich so lange hatte täuschen lassen, daß er so lange jemanden bewundert hatte, der ihm jetzt verachtungswürdig vorkam. Wieso hatte er die hinter der Fassade liegende Schwäche nicht schon früher durchschaut, wie hatte er sich so täuschen lassen können?
Nietzsche erlebt sich als Opfer einer Verführung, die es jetzt mit allen Mitteln zu entlarven gilt. Er hält die anderen für naive Bewunderer und kann nicht begreifen, daß diese weiter nach Bayreuth reisen und sich dort von einer Lüge hypnotisieren lassen, nachdem er selbst sie durchschaut hatte. Dieser Schmerz kommt in seinen Anwürfen gegen Richard Wagner immer wieder zum Vorschein: er möchte die Welt vor einer großen Täuschung bewahren und die Wagnerianer aufrütteln; er möchte sie auf sich selbst und auf ihre eigenen echten Erlebnisse zurückführen, wie dies Zarathustra tut, als er es ablehnt, Jünger zu haben.
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Obwohl Nietzsches Angriffe aus der einst unterdrückten Wut auf den Vater und andere Bezugspersonen der Kindheit ihre Intensität beziehen, weisen sie keine logischen Schwächen auf, die ihre Wurzeln im kindlichen Ressentiment verraten würden.
Was er über Wagner schreibt und mit Beispielen belegt, ist derart überzeugend (wenn auch vermutlich nicht für Wagnerianer), daß es unabhängig von dem subjektiven, gefühlsbetonten Hintergrund der Beobachtungen Anspruch auf Objektivität behält. Ich meine, daß Nietzsches scharfe Beobachtungsgabe auch schon eine Vorgeschichte in der Beziehung zum Vater hat, dessen Musik das kleine Kind mit der größten Hingabe, Bewunderung und Begeisterung erlebte. Nun war aber dieser Vater nicht nur der Musiker am Klavier, sondern auch der Erzieher, der zwar bestimmte Gefühle (wie eben Begeisterung für sein Spiel) gutheißen konnte, andere aber schwer bestrafte.
Vielleicht gelang es dem Kind, die zwei verschiedenen Seiten des Vaters hinzunehmen und die Strafen zu übersehen, solange er immer wieder zu ihm kommen durfte und dessen Musik in sich aufnehmen konnte.
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Als aber der Vater krank wurde, als sich das Kind vollständig von einem Tag auf den anderen von ihm fallengelassen fühlte, da hätten die überwältigenden Gefühle der Enttäuschung, der Wut, der Scham über das Verführtworden- und Verlassensein durchbrechen müssen, wenn... wenn das Kind nicht schon früher gelernt hätte, daß man solche Gefühle nicht zeigen darf. Und wenn es nicht jetzt lauter Erzieherinnen vor sich gehabt hätte (»Wagnerianerinnen«), die seine Gefühle verdammten und unter strengster Kontrolle hielten. Diese Gefühle mußten also jahrzehntelang warten, bis sie einem anderen Musiker gegenüber erlebt werden konnten.
Und nun sind die Schärfe und Treffsicherheit der Beobachtungen durch die Gefühle nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern sie scheinen im Gegenteil durch sie noch verstärkt. So hätte das Kind Nietzsche sprechen können, wenn man es ihm nicht unmöglich gemacht hätte:
Ich glaube deiner Musik nicht, wenn du mich zugleich für meine echten Gefühle schlagen und bestrafen kannst. Wenn diese Musik nicht trügt, wenn sie wirklich die Wahrheit ausdrückt, dann darf ich von dir erwarten, daß du die Gefühle deines Kindes respektierst. Sonst stimmt etwas nicht, sonst ist die Musik, die ich mit allen Poren in mich aufgenommen habe, eine Lüge. Ich will es in die Welt hinausschreien, damit nicht auch noch andere, zum Beispiel meine kleinen Geschwister, Opfer dieser Verführung werden.
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Wenn deine Theologie, deine Predigten, deine Worte die Wahrheit gesagt hätten, müßtest du mich ganz anders behandelt haben, hättest nicht verständnislos meinem Leiden zuschauen können, weil ich auch »der Nächste« bin, den man lieben soll. Du hättest mich nicht für meine Tränen bestraft, mich nicht allein mein Elend ohne Beistand ertragen lassen, mir nicht das Sprechen verboten, wenn du ein redlicher, glaubwürdiger Mensch gewesen wärest. Nach allem, was mir zugestoßen ist, sind deine Begriffe von Güte, Nächstenliebe, Erlösung leer und falsch; alles, was ich bisher geglaubt habe, ist nur Theater, in dem nichts Reales zu finden ist. Was ich erlebe, ist real, und was du gesagt hast, müßte sich an dieser Realität messen lassen. Aber gemessen an der Realität erweisen sich deine Worte als pure Schauspielerei. Du genießt es, ein Kind zu haben, das dir zuhört und dich bewundert. Es befriedigt deine Bedürfnisse. Das merken die anderen nicht und meinen, daß du ihnen wirklich etwas zu bieten hättest. Ich habe es aber gemerkt, ich habe deine Bedürftigkeit erraten, nur durfte ich es nicht sagen.
Das Kind durfte es nicht. Beim Vater nicht. Als Erwachsener aber sagt er es Richard Wagner, er schreibt es geradeheraus. Und die Welt nimmt das Geschriebene ernst. Aber sowohl Nietzsche als auch »die Welt« hinterfragen das Geschriebene leider nicht, und beiden entgeht dabei das Entscheidende.
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Nietzsches Frauenhaß
Im Gegensatz zur Gültigkeit seiner Kritik am Wagner-Betrieb, an der bürgerlichen Kultur und an der christlichen Moral sind Nietzsches Vorstellungen vom »weiblichen Wesen« oft groteske Verzerrungen; aber dies nur, solange die wahren Adressatinnen unerkannt bleiben. Friedrich Nietzsche stand in seiner Kindheit nur erziehenden Frauen gegenüber und mußte seine ganze Kraft aufwenden, um dies auszuhalten. Dies zahlt er ihnen dann zurück, doch bloß auf der symbolischen Ebene, indem er alle Frauen angreift, nur nicht Mutter und Schwester. Die wahren Verursacherinnen seiner Leiden bleiben für ihn unantastbar, um den Preis einer objektiven Sachlichkeit.
Nietzsches Frauenhaß wird zwar verständlich, wenn man bedenkt, wieviel Mißtrauen sich in diesem einst so häufig ausgepeitschten Kind ansammeln mußte. Doch das berechtigt nicht später den Erwachsenen in seiner blinden und verantwortungslosen Wut zu schreiben: »Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!«
In den Schriften der »Schwarzen Pädagogik«, die ich 1980 zitiert habe, wird ausführlich gezeigt, wie man ein Kind zu hintergehen, zu betrügen und zu manipulieren hat, wenn man es gut und fromm haben will. (A. Miller 1980, S. 17ff.)
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Und es besteht kein Zweifel, daß Nietzsche nach den Prinzipien der »Schwarzen Pädagogik« erzogen worden war. Daher kann er den Manipulationen und Unehrlichkeiten seiner Schwester gegenüber nur selten sein Unbehagen zeigen, er darf nicht sehen, wie sie wirklich ist. Tut er es, dann nimmt er das Gesagte schnell wieder zurück. Er kann zwar einmal sagen, er würde ihre Stimme schlecht ertragen, fügt aber gleich hinzu, daß er im Grunde nie an ihrem Wohlwollen, an ihren Absichten, an ihrer Liebe zu ihm, an ihrer Glaubwürdigkeit wirklich gezweifelt hätte. Er kann es nicht, weil er nur diese eine Schwester hat, weil er unbedingt glauben möchte, daß sie ihn liebt und daß diese Liebe mehr bedeutet als Ausbeutung und Geltungsbedürfnis um jeden Preis. Hätte er zu sehen gewagt, wie die Frauen seiner Kindheit wirklich waren, dann hätte er die Verallgemeinerung nicht nötig gehabt. Er hätte nicht alle Frauen an sich global als Hexen und Schlangen erlebt und sie nicht allesamt zu hassen brauchen.
Der Faschismus
( Die blonde Bestie )
Es geht mir hier nicht darum, Nietzsches Leben aus seiner Kindheit zu erklären, sondern seine Philosophie als den Kampf gegen die Wahrheit seiner Kindheit sichtbar zu machen. Die prägende Erfahrung bestand in der Verachtung des Schwachen und dem Gehorsam gegenüber dem Machtausübenden. Dieses scheinbar harmlose, so vielen Menschen aus der Kindheit bekannte Prinzip, ist der Kern jeder faschistischen Ideologie.
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Die Erfahrung der Brutalität in der Kindheit führt beim Anhänger des Faschismus, egal welcher Prägung, zur Blindheit seinem Führer gegenüber und zur Brutalität gegenüber Schwächeren. Daß sich damit auch die Sehnsucht nach der Befreiung der schöpferischen Kräfte, die im System der »Schwarzen Pädagogik« bei jedem Kind unterdrückt werden, verbünden kann, sehen wir an Nietzsche sehr deutlich, aber auch zum Beispiel an bestimmten Äußerungen von C.G. Jung (vgl. A. Miller 1981, S. 113-115).
Der Drang der menschlichen Kreatur nach dem Leben und dem Sich-entfalten-Dürfen ist hier gekoppelt mit der Stimme des introjizierten einstigen Verfolgers. Wie einst der Schrei des Kindes in den Prinzipien der »Schwarzen Pädagogik« erstickte, so erstickt auch der Ruf nach dem Leben in der Brutalität des Faschismus. Das introjizierte System verbündet sich mit dem Anliegen des Kindes und führt zu destruktiven Ideologien, die jeden faszinieren können, sofern er eine ähnliche Erziehung genossen hat. Nietzsches Schriften waren daher nicht ungefährlich, denn sie waren verwirrend wie das Erziehungssystem, aus dem er und seine Leser hervorgegangen sind. Seine Leser haben seine scheinbare Philosophie des Lebens in die Ideologie des Todes umwandeln können, weil sie im Grunde nie vom Tod getrennt war.
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Es ist kein Zufall, daß gerade Also sprach Zarathustra zum berühmtesten Werk Nietzsches wurde, weil der verwirrte Leser im Stil Zarathustras zumindest einen äußeren Rahmen gefunden hat, der ihm seit seiner Kindheit vertraut war: der Stil des Predigers. Wie vertraut, wenn auch in neuem sprachlichem Gewande, mußte ihm der Kampf ums Leben gegen die Abtötung im Gehorsam gewesen sein. Immer wieder kreist Nietzsche um diese Alternative (F. Nietzsche 1976):
»Dem Lebendigen ging ich nach, ich ging die größten und die kleinsten Wege, daß ich seine Art erkenne.« (Seite 116)
»Mit hundertfachem Spiegel fing ich noch seinen Blick auf, wenn ihm der Mund geschlossen war: daß sein Auge mir rede. Und sein Auge redete mir.
Aber, wo ich nur Lebendiges fand, da hörte ich auch die Rede vom Gehorsame. Alles Lebendige ist ein Gehorchendes. Und dies ist das zweite: dem wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann. So ist es des Lebendigen Art. Dies aber ist das dritte was ich hörte: daß Befehlen schwerer ist als Gehorchen. Und nicht nur, daß der Befehlende die Last aller Gehorchenden trägt, und daß leicht ihn diese Last zerdrückt: —
Ein Versuch und Wagnis erschien mir in allem Befehlen; und stets, wenn es befiehlt, wagt das Lebendige sich selber dran. Ja noch, wenn es sich selber befiehlt auch da noch muß es sein Befehlen büßen. Seinem eignen Gesetze muß es Richter und Rächer und Opfer werden.
Wie geschieht dies doch! so fragte ich mich. Was überredet das Lebendige, daß es gehorcht und befiehlt und befehlend noch Gehorsam übt?« (S. 117, Hervorhebungen AM)
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»Und dies Geheimnis redete das Leben selber zu mir: >Siehe<, sprach es, >ich bin das, was sich immer selber überwinden muß.
Freilich, ihr heißt es Wille zur Zeugung oder Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferneren, Vielfacheren: aber all dies ist eins und ein Geheimnis. Lieber noch gehe ich unter, als daß ich diesem Einen absagte; und wahrlich, wo es Untergang gibt und Blätterfallen, siehe, da opfert sich Leben - um Macht!
Daß ich Kampf sein muß und Werden und Zweck und der Zwecke Widerspruch: ach, wer meinen Willen errät, errät wohl auch, aufweichen krummen Wegen er gehen muß! Was ich auch schaffe und wie ich's auch liebe, - bald muß ich Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille. Und auch du. Erkennender, bist nur ein Pfad und Fußtapfen meines Willens: wahrlich, mein Wille zur Macht wandelt auch auf den Füßen deines Willens zur Wahrheit! Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoß vom >Willen zum Dasein<: diesen Willen — gibt es nicht!
Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen! Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern - so lehre ich's dich - Wille zur Macht! Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber heraus redet - der Wille zur Macht!< -
Also lehrte mich einst das Leben: und daraus löse ich euch, ihr Weisesten, noch das Rätsel eures Herzens.
Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Böses, das unvergänglich wäre - das gibt es nicht! Aus sich selber muß es sich immer wieder überwinden.
Mit euren Werten und Worten von Gut und Böse übt ihr Gewalt, ihr Wertschätzenden; und dies ist eure verborgene Liebe und eurer Seele Glänzen, Zittern und Überwallen.
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Aber eine stärkere Gewalt wächst aus euren Werten und eine neue Überwindung: an der zerbricht Ei und Eierschale.
Und wer ein Schöpfer sein muß im Guten und Bösen; wahrlich, der muß ein Vernichter erst sein und Werte zerbrechen.
Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische. -
Reden wir nur davon, ihr Weisesten, ob es gleich schlimm ist. Schweigen ist schlimmer; alle verschwiegenen Wahrheiten werden giftig. (Hervorhebung AM) Und mag doch alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zerbrechen - kann! Manches Haus gibt es noch zu bauen! Also sprach Zarathustra.« (S. 118/119)
Es gibt aber auch Stellen im Zarathustra, die diese tragische Vermengung von Gut und Böse zu überwinden scheinen und eindeutig die Erkennenden zum »Zerbrechen der alten Tafeln« aufrufen.
»Sie geben nach, diese Guten, sie ergeben sich, ihr Herz spricht nach, ihr Grund gehorcht: wer aber gehorcht, der hört sich selber nicht!
Alles, was den Guten böse heißt, muß zusammenkommen, daß eine Wahrheit geboren werde: o meine Brüder, seid ihr auch böse genug zu dieser Wahrheit? Das verwegene Wagen, das lange Mißtrauen, das grausame Nein, der Überdruß, das Schneiden ins Lebendige – wie selten kommt das zusammen! Aus solchem Samen aber wird – Wahrheit gezeugt!
Neben dem bösen Gewissen wuchs bisher alles Wissen! Zerbrecht, zerbrecht mir, ihr Erkennenden, die alten Tafeln!« (S. 201)
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Wie böse und hart muß sich ein Kind vorkommen, das sich treu bleibt und das, was es wahrnimmt und sieht, nicht verrät.
»Warum so weich, so weichend und nachgebend? Warum ist so viel Leugnung, Verleugnung in eurem Herzen? So wenig Schicksal in eurem Blicke?
Und wollt ihr nicht Schicksale sein und Unerbittliche: wie könntet ihr mit mir – siegen?
Und wenn eure Härte nicht blitzen und scheiden und zerschneiden will: wie könntet ihr einst mit mir – schaffen? Die Schaffenden nämlich sind hart. Und Seligkeit muß es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, –
Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, - härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart ist allein das Edelste.
Diese neue Tafel, o meine Brüder, stelle ich über euch: werdet hart! –« (S. 217)
Wie schwer und wie notwendig zugleich ist es, nein sagen zu können:
»Mit dem Sturme, welcher >Geist< heißt, blies ich über deine wogende See; alle Wolken blies ich davon, ich erwürgte selbst die Würgerin, die »Sünde < heißt.
O meine Seele, ich gab dir das Recht, nein zu sagen wie der Sturm, und ja zu sagen, wie offner Himmel ja sagt: still wie Licht stehst du und gehst du nun durch verneinende Stürme.
O meine Seele, ich gab dir die Freiheit zurück über Erschaffnes und Unerschaffnes: und wer kennt, wie du sie kennst, die Wollust des Zukünftigen?
O meine Seele, ich lehrte dich das Verachten, das nicht wie ein
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Wurmfraß kommt, das große, das liebende Verachten, welches am meisten liebt, wo es am meisten verachtet.
O meine Seele, ich lehrte dich so überreden, daß du zu dir die Gründe selber überredest: der Sonne gleich, die das Meer noch zu ihrer Höhe überredet.
O meine Seele, ich nahm von dir alles Gehorchen, Kniebeugen und Herr-Sagen; ich gab dir selber den Namen >Wende der Not< und >Schicksal<.« (S. 225, Hervorhebungen A.M.)
Aber das gesuchte Leben ist voller Gefahren, die schönsten Phantasien durch früheste Erfahrungen und Drohungen verdunkelt:
»Zweimal nur regtest du deine Klapper mit kleinen Händen — da schaukelte schon mein Fuß vor Tanz-Wut. — Meine Fersen bäumten sich, meine Zehen horchten, dich zu verstehen: trägt doch der Tänzer sein Ohr — in seinen Zehen! Zu dir hin sprang ich: da flohst du zurück vor meinem Sprunge; und gegen mich züngelte deines fliehenden fliegenden Haars Zunge!
Von dir weg sprang ich und von deinen Schlangen: da standst du schon, halbgewandt, das Auge voll Verlangen.
Mit krummen Blicken — lehrst du mich krumme Bahnen; auf krummen Bahnen lernt mein Fuß — Tücken!
Ich fürchte dich nahe; ich liebe dich ferne; deine Flucht lockt mich, dein Suchen stockt mich — ich leide, aber was litt ich um dich nicht gerne!
Deren Kälte zündet, deren Haß verführt, deren Flucht bindet, deren Spott - rührt:
— wer haßte dich nicht, dich große Binderin, Umwinderin, Versucherin, Sucherin, Finderin! Wer liebte dich nicht, dich unschuldige, ungeduldige, windseilige, kindsäugige Sünderin!
Wohin ziehst du mich jetzt, du Ausbund und Unband? Und
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jetzt fliehst du mich wieder, du süßer Wildfang und Undank!« (S. 228, Hervorhebungen AM)
»Ich tanze dir nach, ich folge dir auch auf geringer Spur. Wo bist du? Gib mir die Hand! Oder einen Finger nur!
Hier sind Höhlen und Dickichte: wir werden uns verirren! -
Halt! Steh still! Siehst du nicht Eulen und Fledermäuse schwirren?
Du Eule! Du Fledermaus! Du willst mich äffen? Wo sind wir? Von den Hunden lerntest du dies Heulen und Kläffen. Du fletschest mich lieblich an mit weißen Zähnlein, deine bösen Augen springen gegen mich aus lockichtem Mähnlein! Das ist ein Tanz über Stock und Stein: ich bin der Jäger -willst du mein Hund oder meine Gemse sein? Jetzt neben mir! Und geschwind, du boshafte Springerin! Jetzt hinauf! Und hinüber — Wehe! Da fiel ich selber im Springen hin!O sieh mich liegen, du Übermut, und um Gnade flehn! Gerne möchte ich mit dir — lieblichere Pfade gehn!
- der Liebe Pfade durch stille bunte Büsche! Oder dort am See entlang: da schwimmen und tanzen Goldfische!
Du bist jetzt müde? Da drüben sind Schafe und Abendröten: ist es nicht schön, zu schlafen, wenn Schäfer flöten? Du bist so arg müde? Ich trage dich hin, laß nur die Arme sinken! Und hast du Durst - ich hätte wohl etwas, aber dein Mund will es nicht trinken! —
— O diese verfluchte flinke gelenke Schlange und Schlupfhexe!
Wo bist du hin? Aber im Gesicht fühle ich von deiner Hand zwei Tupfen und rote Klexe!
Ich bin es wahrlich müde, immer dein schafichter Schäfer zu sein! Du Hexe, habe ich dir bisher gesungen, nun sollst du mir — schrein! —Nach dem Takt meiner Peitsche sollst du mir tanzen und schrein! Ich vergaß doch die Peitsche nicht? — Nein!« (S. 229)
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Die Schlange und die Hexe dürfen gehaßt und gepeitscht werden, aber nicht Mutter, Großmutter oder Tanten. Die Gefühle von Zorn, Empörung und Mißtrauen sind dennoch unüberhörbar. Sie können sich auch auf den Pöbel be2iehen, der die gleiche symbolische Funktion wie die Schlange und Hexe hat.
»Ist dies Heute nicht des Pöbels? Pöbel aber weiß nicht, was groß, was klein, was gerade und redlich ist: der ist unschuldig krumm, der lügt immer.
Habt heute ein gutes Mißtrauen, ihr höheren Menschen, ihr Beherzten! Ihr Offenherzigen! und haltet eure Gründe geheim! Dies Heute nämlich ist des Pöbels.
Was der Pöbel ohne Gründe einst glauben lernte, wer könnte ihm durch Gründe das – umwerfen?
Und auf dem Markte überzeugt man mit Gebärden. Aber Gründe machen den Pöbel mißtrauisch.
Und wenn da einmal die Wahrheit zum Siege kam, so fragt euch mit gutem Mißtrauen: >welch starker Irrtum hat für sie gekämpft?<« (S. 292).
Und immer wieder versucht Nietzsche, sich aus dem Nebel der verwirrenden moralischen Prinzipien zur Klarheit durchzuringen. Und immer wieder taucht er erneut in den Nebel.
»Laßt euch nichts vorreden, einreden! Wer ist denn euer Nächster? Und handelt ihr auch <für den Nächsten> – ihr schafft doch nicht für ihn!
Verlernt mir doch dies >Für<, ihr Schaffenden: eure Tugend gerade will es, daß ihr kein Ding mit >für< und >um< und >weil< tut. Gegen diese falschen kleinen Worte sollt ihr euer Ohr zukleben.
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Das >für den Nächsten< ist die Tugend nur der kleinen Leute: da heißt es >gleich und gleich< und >Hand wäscht Hand< – sie haben nicht Recht noch Kraft zu eurem Eigennutz!
In eurem Eigennutz, ihr Schaffenden, ist der Schwangeren Vorsicht und Vorsehung! Was niemand noch mit Augen sah, die Frucht: die schirmt und schont und nährt eure ganze Liebe.
Wo eure ganze Liebe ist, bei eurem Kinde, da ist auch eure ganze Tugend! Euer Werk, euer Wille ist euer >Nächster<: laßt euch keine falschen Werte einreden!« (S. 295)
Der Aufruf zum Krieg hat für Nietzsche im Grunde auch nur eine symbolische Bedeutung. Er meint nichts anderes als Kampfansage an den tötenden Zwang, die Lüge, die Feigheit, die sein Leben in der Kindheit so schmerzhaft eingeengt haben. Da er es aber nicht deutlich genug sagt, öffnet er die Türen für den willkürlichen Gebrauch seiner Worte.
»Frei steht noch großen Seelen ein freies Leben. Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt sei die kleine Armut!
Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist: da beginnt das Lied des Notwendigen, die einmalige und unersetzliche Weise.« (S. 54, Hervorhebung AM)
Und der Mensch, der sein ganzes Leben von der Mutter und der Schwester abhängig war, schreibt:
»Wollt ihr hoch hinaus, so braucht die eigenen Beine, laßt Euch nicht empor tragen, setzt Euch nicht auf fremde Rücken und Köpfe.« (S. 292)
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In seinen Gedanken saß Nietzsche nicht auf den Rücken anderer, aber in seinem Leben erlaubte er den nächsten Menschen, bis an sein Ende auf seinem Rücken zu sitzen. Und somit hat er das Leben für die Weisheit eingetauscht (»Damals aber war mir das Leben lieber, als je alle meine Weisheit«, S. 251). Nachdem er nun aber die Weisheit besaß und seinen Verlust realisierte, schrieb er in einem Brief an Franz Overbeck vom 22.2.1885: »Nein! Dieses Leben! Und ich bin der Fürsprecher des Lebens!« (Werke IV, S. 794) Er war es nur theoretisch, im Schreiben. Das Leben leben durfte er nicht.
Am 14. Januar 1880 schreibt Nietzsche an Malwida von Meysenbug: »Denn die furchtbare und fast unablässige Marter meines Lebens läßt mich nach dem Ende dürsten, und nach einigen Anzeichen ist mir der erlösende Hirnschlag nahe genug, um hoffen zu dürfen.« (Werke IV, S. 752)
Und im Jahre 1887 sagte er zu Paul Deussen die sehr bezeichnenden Worte: »Ich glaube, daß es nicht mehr lange mit mir dauern wird. Ich bin jetzt in den Jahren, in welchen mein Vater starb und ich fühle, daß ich demselben Leiden erliegen werde wie er.« (P. Deussen 1901)
Die medizinische Diagnose seiner Erkrankung lautete »progressive Paralyse«, und die Biographen scheint es zu beruhigen, wenn sie »feststellen« können, daß die späte Erkrankung Nietzsches mit seinen früher belegten Krankheiten aus der Schulzeit »überhaupt nichts zu tun hatte«.
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Die 118 Anfälle in einem Jahr (1879) waren offenbar reine »Zufälle«, denn Nietzsche war doch nach der Meinung vieler Biographen bis zum Ausbruch seiner progressiven Paralyse kerngesund. Mögen die Biographen ihre Meinungen auch »wissenschaftlich-medizinisch« belegen, mir ist selten die Folgerichtigkeit eines Lebens von seinem Anfang bis zum Ende so deutlich vor Augen getreten, wie Nietzsches Briefe und Werke sie vermitteln können.
»Warum ich so weise bin«
Aus Nietzsches Texten spricht zuweilen etwas, das als Größenwahn bezeichnet werden könnte und das leicht eine abstoßende Wirkung ausübt. Ein Autor nannte dies Nietzsches Gotteskomplex, und es gibt Stellen in Ecce homo und in den Briefen, die tatsächlich auf einen solchen Komplex hinweisen. Wie läßt sich diese »Überheblichkeit« bei einem so kritischen und selbstkritischen Geist wie Nietzsche verstehen? Wer die autobiographischen Aufzeichnungen des zwölf- und vierzehnjährigen Nietzsche gelesen hat, wird es kaum für möglich halten, daß diese von dem gleichen Menschen geschrieben worden sind, dessen spätere Werke er kennt. Nicht weil sie so kindlich, sondern weil sie so erwachsen sind.
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Vieles, was in diesen Aufzeichnungen steht, hätte auch von Nietzsches Tanten, seiner Großmutter oder seinem Vater geschrieben werden können, und im gleichen Stil.
Es ist farblos und bescheiden, wie es sich gehört. Die Gefühle wirken unecht, kraftlos, manchmal theatralisch, aber meistens unwahr. Man spürt, daß das, was wirklich erlebt wird, völlig im Untergrund bleiben muß, ohne sich auch nur mit einem Satz oder auch nur mit einem Wort zu verraten.
Aber dieser Junge, der mit zwölf Jahren wie ein Erwachsener schreibt, ist auch zu anderen Dingen fähig. Und er weiß es. Doch hätte Nietzsche damals seine Gewißheit, daß er mehr versteht als seine Umgebung, zum Ausdruck gebracht, so hätte er gegen eine wichtige christliche Tugend, die Bescheidenheit. gesündigt. Er hätte mit Sicherheit Ablehnung und Entrüstung geerntet. So muß er als Kind das gesunde, begreifliche Gefühl der Freude an seinem Wissen und der Trauer über das Alleinsein mit diesem Wissen unterdrücken und kann es erst viel später, zum Beispiel in Ecce homo, zum Ausdruck bringen. Aber auch hier, im Wiederholungszwang, tut er das in einer Art, die die Umgebung nicht tolerieren kann. Damit bringt er sich in die Lage des »Sünders«, eines Menschen, der gegen die Normen der Gesellschaft, zum Beispiel die Norm der Bescheidenheit, verstößt.
Zweifellos erntet er die moralische Entrüstung sowohl der Zeitgenossen als auch der Nachwelt, was er aber gerne in Kauf nimmt, vermutlich sogar genießt, weil er sich durch dieses Wagnis befreit fühlt.
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Eine andere Art der Befreiung, das Wissen in der Gemeinschaft, kennt er nicht. Er hat nie erfahren, daß man die Wahrheit sagen kann, ohne sich zu bestrafen, ohne den Mitmenschen Mittel an die Hand zu geben die ihnen erlauben, das Gesagte mit dem Wort »Größenwahn« zu entwerten.
Nietzsche war das älteste Kind, und auch später, nach der Geburt seiner Schwester, konnte er nicht damit rechnen, daß jemand seine Erlebnisse und Wahrnehmungen, vor allem im Zusammenhang mit dem durch die Krankheit veränderten Vater, teilen würde. So fühlt er sich mit seinen Entdeckungen allein und konnte nicht die Erfahrung machen, daß man Entdeckungen mit der Umgebung gefahrlos teilen kann. Hätte er ältere Geschwister gehabt, so wären ihm vielleicht seine Wahrnehmungen nicht zum Verhängnis geworden. Vielleicht hätte er ab und zu zumindest mit einem verständnisvollen Blick eines Bruders oder einer älteren Schwester rechnen können. So aber war er immer nur der Alleinwissende, das heißt auch soviel wie der mit dem Wissen Alleingelassene, was nicht unbedingt nur Stolz hervorruft, sondern auch Gefühle von Trauer bewirken kann.
Wie Nietzsche seine Umgebung empfunden hat, läßt sich an den zahlreichen Stellen erkennen, in denen er das Christentum charakterisiert.
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Man muß nur für das Wort »Christentum« »meine Tanten« oder »meine Familie« einsetzen, und die massiven Angriffe bekommen plötzlich einen Sinn:
»Im Christentume kommen die Instinkte Unterworfner und Unterdrückter in den Vordergrund: Es sind die niedersten Stände, die in ihm ihr Heil suchen. Hier wird als Beschäftigung als Mittel gegen die Langeweile die Kasuistik der Sünde, die Selbstkritik, die Gewissensinquisition, geübt; hier wird der Affekt gegen einen mächtigen >Gott< genannt, beständig aufrechterhalten (durch das Gebet); hier gilt das Höchste als unerreichbar, als Geschenk, 'als >Gnade<. Hier fehlt auch die Öffentlichkeit; der Versteck, der dunkle Raum ist christlich. Hier wird der Leib verachtet, die Hygiene als Sinnlichkeit abgelehnt; die Kirche wehrt sich selbst gegen die Reinlichkeit ... Christlich ist ein gewisser Sinn der Grausamkeit gegen sich und andre; der Haß gegen die Andersdenkenden; der Wille, zu verfolgen. Düstere und aufregende Vorstellungen sind im Vordergrunde; die höchstbegehrten mit den höchsten Namen bezeichneten Zustände sind Epilepsoiden; die Diät wird so gewählt, daß sie morbide Erscheinungen begünstigt und die Nerven überreizt. Christlich ist die Todfeindschaft gegen die Herren der Erde, gegen die > Vornehmen < — und zugleich ein versteckter, heimlicher Wettbewerb ( — man läßt ihnen den >Leib<, man will nur die >Seele<...). Christlich ist der Haß gegen den Geist, gegen Stolz, Mut, Freiheit, libertinage des Geistes; christlich ist der Haß gegen die Sinne, gegen die Freuden der Sinne, gegen die Freuden überhaupt... «
(Werke III, S. 626/627)
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Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie sehr das Kind Nietzsche unter den Meinungen und Behauptungen seiner Umgebung gelitten hat, vor allem als Kind unter der Ablehnung seiner sinnlichen Bedürfnisse, seiner Leiblichkeit; unter ständigen moralischen Forderungen wie Reue, Frömmigkeit, Nächstenliebe, Keuschheit, Gottesfurcht, Treue, Reinheit, Hingebung. Für ihn waren das, und mit Recht, nur leere Begriffe, die sich allem entgegensetzten, was ihm Leben bedeutete, was jedem Kind Leben bedeutet, und in denen er den »Haß gegen das Natürliche (- die Wirklichkeit! -)« sah. (Werke in, S. 621).
Nietzsche meint, die christliche Welt sei eine Fiktionswelt, sie sei....
»der Ausdruck eines tiefen Mißbehagens am Wirklichen ... Aber damit ist alles erklärt. Wer allein hat Gründe, sich wegzulügen aus der Wirklichkeit? Wer an ihr leidet. Aber an der Wirklichkeit leiden heißt eine verunglückte Wirklichkeit sein...«
(Werke III, S. 621).Könnten das nicht auch Spekulationen des Kindes über seine unverheirateten, wohltätigen Tanten gewesen sein, deren Erziehung vor allem darauf ausgerichtet war, im Kind das Lebendige abzutöten, das in ihrem eigenen Leben getötet worden war? Wenn man hinter der von Nietzsche beschriebenen »verschlagenen« Moral des Christentums die Prinzipien seiner eigenen Erziehung sieht, dann kann man unschwer im »vornehmen Herrenmenschen« das noch in seinen Gefühlen verwurzelte und dadurch starke, lebendige, lautere Kind sehen, das in Gefahr ist, seine Lebendigkeit den Prinzipien der Erziehung opfern zu müssen. Liest man mit diesem Schlüssel den Antichrist, gewinnen die vorher verwirrenden Sätze ihre klare Bedeutung.
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Dafür nur einige Beispiele:
»Wenn zum Beispiel ein Glück darin liegt, sich von der Sünde erlöst zu glauben, so tut als Voraussetzung dazu nicht not, daß der Mensch sündig sei, sondern daß er sich sündig fühlt. Wenn aber überhaupt vor allem Glaube not tut, so muß man die Vernunft, die Erkenntnis, die Forschung in Mißkredit bringen: Der Weg zur Wahrheit wird zum verbotnen Weg. – Die starke Hoffnung ist ein viel größeres Stimulans des Lebens als irgendein einzelnes wirklich eintretendes Glück. Man muß Leidende durch eine Hoffnung aufrecht erhalten, welcher durch keine Wirklichkeit widersprochen werden kann – welche nicht durch eine Erfüllung abgetan wird: eine Jenseits-Hoffnung.« (Werke III, S. 629)
»Um Nein sagen können zu allem, was die aufsteigende Bewegung des Lebens, die Wohlgeratenheit, die Macht, die Schönheit, die Selbstbejahung auf Erden darstellt, mußte hier sich der Genie gewordne Instinkt des resscntiment eine andre Welt erfinden, von wo aus jene Lebens-Bejahung als das Böse, als das Verwerfliche an sich erschien.« (Werke III, S. 650)»Psychologisch nachgerechnet, werden in jeder priesterlich organisierten Gesellschaft die >Sünden< unentbehrlich: sie sind die eigentlichen Handhaben der Macht, der Priester lebt von den Sünden, er hat nötig daß >gesündigt< wird... oberster Satz:
>Gott vergibt dem, der Buße tut< — auf deutsch; der sich dem Priester unterwirft«. (Werke III, S. 634)Anders ist der Ton, wenn Nietzsche über die Person Jesu spricht:
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»Ich wehre mich, nochmals gesagt, dagegen, daß man den Fanatiker in den Typus des Erlösers einträgt ...; der Glaube, der hier laut wird, ist kein erkämpfter Glaube – er ist da, er ist von Anfang, er ist gleichsam eine ins Geistige zurücktretende Kindlichkeit... Ein solcher Glaube zürnt nicht, tadelt nicht, wehrt sich nicht: er bringt nicht >das Schwert< — er ahnt gar nicht, inwiefern er einmal trennen könnte. Er beweist sich nicht, weder durch Wunder noch durch Lohn und Verheißung, noch gar »durch die Schrift<: er selbst ist jeden Augenblick sein Wunder, sein Lohn, sein Beweis, sein >Reich Gottes <. Dieser Glaube formuliert sich auch nicht – er lebt, er wehrt sich gegen Formeln.« (Werke in, S. 640)
Die Bejahung der Person des Erlösers schließt aber nicht aus, daß Nietzsche gegenüber den Priestern und der Kirche Ekelgefühle äußert:
»[...] die Begriffe >Jenseits<, >Jüngstes Gericht<, >Unsterblichkeit der Seele<, die >Seele< selbst: es sind Folter-Instrumente, es sind Systeme von Grausamkeiten, vermöge deren der Priester der Herr wurde, Herr blieb ... Jedermann weiß das: und trotzdem bleibt alles beim alten.« (Werke III, S. 645)
Von Anfang an bedienten sich die Priester des Erlösers für ihre Machtbedürfnisse:
»[...] mit Paulus wollte nochmals der Priester zur Macht – er konnte nur Begriffe, Lehren, Symbole brauchen, mit denen man Massen tyrannisiert, Herden bildet. Was allein entlehnte später Mohammed dem Christentum? Die Erfindung des Paulus, sein Mittel zur Priester-Tyrannei, zur Herden-Bildung: den Unsterblichkeits-Glauben; das heißt die Lehre vom >Gericht<... « (Werke III, S. 650).
»Die große Lüge von der Personal-Unsterblichkeit zerstört jede Vernunft, jede Natur im Instinkte – alles, was wohltätig, was lebenfördernd, was zukunftsverbürgend in den Instinkten ist, erregt nunmehr Mißtrauen.
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So zu leben, daß es keinen Sinn mehr hat zu leben, das wird jetzt zum >Sinn< des Lebens... daß kleine Mucker, und Dreiviertels-Verrückte sich einbilden dürfen, daß um ihretwillen die Gesetze der Natur beständig durchbrochen werden — eine solche Steigerung jeder Art Selbstsucht ins Unendliche, ins Unverschämte kann man nicht mit genug Verachtung brandmarken. Und doch verdankt das Christentum dieser erbarmungswürdigen Schmeichelei vor der Personal-Eitelkeit seinen Sieg.« (Werke III, S. 651)
»Der Priester kennt nur eine große Gefahr: das ist die Wissenschaft — der gesunde Begriff von Ursache und Wirkung.« »Der Mensch soll nicht hinaus –, er soll in sich hineinsehn, er soll nicht klug und vorsichtig, als Lernender, in die Dinge sehn, er soll überhaupt gar nicht sehn: er soll leiden... Und er soll so leiden, daß er jederzeit den Priester nötig hat... Ein Priester-Attentat! Wenn die natürlichen Folgen einer Tat nicht mehr >natürlich< sind, sondern durch Begriffs-Gespenster des Aberglaubens, durch >Gott<, durch >Geister<, durch >Seelen< bewirkt gedacht werden, als bloß >moralische< Konsequenzen, als Lohn, Strafe, Wink, Erziehungsmittel, so ist die Voraussetzung zur Erkenntnis zerstört.« (Werke III, S. 660)
Ich habe diese Zitate unter verschiedenen Gesichtspunkten ausgesucht. Sie scheinen mir deutlich die Gefühle des Erwachsenen Nietzsche gegenüber dem Christentum zum Ausdruck zu bringen und vermitteln auch dem dafür sensibilisierten Leser die unbewußten, weil in der Kindheit verdrängten Gefühle den ersten Bezugspersonen gegenüber. Außerdem zeigen diese Zitate die Methoden und Prinzipien der Erziehung, die Nietzsche als Kind bereits erfahren haben mußte, ohne sie benennen zu können.
Es ist immer wieder zunächst die Verachtung des Lebendigen, der Sinnlichkeit, des Kreativen und die Bekämpfung des Wohlbefindens im Kinde zugunsten der Reue und der Schuldgefühle. Dazu kommt die Unterdrückung des eigenen Denkens, der Kritikfähigkeit, des Bedürfnisses, in Zusammenhängen zu verstehen (Wissenschaft) und des Bedürfnisses nach Freiheit und Spontaneität. Nicht nur Gehorsam und Unterwerfung wurden gepredigt, sondern auch noch die sogenannte »Wahrheitsliebe«, was ja pure Heuchelei ist, denn das Kind, dem es verboten ist, sich kritisch zu äußern, wird ja auch noch zur ständigen Lüge gezwungen. Diese Pervertierung der Werte ist es, die Nietzsches Zorn immer wieder bewirkte und die er mit seinen paradoxen Formulierungen fühlbar machen möchte, um mit diesem Zorn nicht mehr allein zu sein.
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