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Nietzsche 3  -  Die Verherrlichung des Bösen  -  (Lebendigsein ist böse)

 

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Nietzsche betrachtet sich als Verfechter des Bösen nur in einem bestimmten Zusammenhang: als Gegensatz zu dem, was Menschen »gut« nennen. So schreibt er:

»Wenn das Herdentier im Glanze der reinsten Tugend strahlt, so muß der Ausnahme-Mensch zum Bösen heruntergewertet sein. Wenn die Verlogenheit um jeden Preis das Wort <Wahrheit> für ihre Optik in Anspruch nimmt, so muß der eigentlich Wahrhaftige unter den schlimmsten Namen wiederzufinden sein.« (Werke III, S. 601/602)

Und einige Zeilen weiter oben zitiert er Zarathustra:

»Falsche Künste und Sicherheiten lehrten euch die Guten, in Lügen der Guten wart ihr geboren und geborgen. Alles ist in den Grund hinein verlogen und verbogen durch die Guten... Die Guten — die können nicht schaffen, sie sind immer der Anfang vom Ende — sie kreuzigen den, der neue Werte auf neue Tafeln schreibt, sie opfern sich die Zukunft, sie kreuzigen aller Menschen-Zukunft! Die Guten — die waren immer der Anfang vom Ende ... Und was auch für Schaden die Welt-Verleumder tun mögen, der Schaden der Guten ist der schädlichste Schaden.« (Werke in, S. 601)

Daß dieses Wissen aus Nietzsches Kindheitserfahrung stammt, bestätigen die folgenden Sätze:

»Die Existenz-Bedingung der Guten ist die Lüge —: anders ausgedrückt, das Nicht-sehen-Wollen um jeden Preis, wie im Grunde die Realität beschaffen ist, nämlich nicht derart, um jederzeit wohlwollende Instinkte herauszufordern, noch weniger derart, um sich ein Eingreifen von kurzsichtigen, gutmütigen Händen jederzeit gefallen zu lassen.« (Werke III, S. 600)

Dieses Wissen führt zu einer grenzenlosen Einsamkeit, die von Anfang an das Schicksal dieses Menschen war. Je mehr er über seine Umgebung verstand, um so mehr fühlte er sich von ihr getrennt, weil er seine Beobachtungen und Erlebnisse niemandem mitteilen konnte. Nachdem er es schließlich in Also sprach Zarathustra getan hatte und seine Hoffnung auf Verständnis und auf Aufnahme enttäuscht worden war, schrieb er in Ecce homo die folgenden Zeilen:

»Abgesehen von diesen Zehn-Tage-Werken waren die Jahre während und vor allem nach dem Zarathustra ein Notstand ohnegleichen. Man büßt es teuer, unsterblich zu sein: man stirbt dafür mehrere Male bei Lebzeiten. — Es gibt etwas, das ich die rancune des Großen nenne; alles Große, ein Werk, eine Tat, wendet sich, einmal vollbracht, unverzüglich gegen den, der sie tat. Ebendamit, daß er sie tat, ist er nunmehr schwach — er hält seine Tat nicht mehr aus, er sieht ihr nicht mehr ins Gesicht. Etwas hinter sich zu haben, das man nie wollen durfte, etwas worin der Knoten im Schicksal der Menschheit eingeknüpft ist — und es nunmehr auf sich haben!... Es zerdrückt beinahe... Die rancune des Großen! - Ein andres ist die schauerliche Stille, die man um sich hört. Die Einsamkeit hat sieben Häute; es geht nichts mehr hindurch. Man kommt zu Menschen, man begrüßt Freunde: neue Öde, kein Blick grüßt mehr. Im besten Falle eine Art Revolte. Eine solche Revolte erfuhr ich, in sehr verschiedenem Grade, aber fast von jeder-

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mann der mir nahestand; es scheint, daß nichts tiefer beleidigt als plötzlich eine Distanz merken zu lassen, — die vornehmen Naturen, die nicht zu leben wissen, ohne zu verehren, sind selten. - Ein Drittes ist die absurde Reizbarkeit der Haut gegen kleine Stiche, eine Art Hilflosigkeit vor allem Kleinen. Diese scheint mir in der ungeheuren Verschwendung aller Defensiv-Kräfte bedingt, die jede schöpferische Tat, jede Tat aus dem Eigensten, Innersten, Untersten heraus zur Voraussetzung hat. Die kleinen Defensiv-Vermögen sind damit gleichsam ausgehängt; es fließt ihnen keine Kraft mehr zu. — Ich wage noch anzudeuten, daß man schlechter verdaut, ungern sich bewegt, den Frostgefühlen, auch dem Mißtrauen allzu offensteht — dem Mißtrauen, das in vielen Fällen bloß ein ätiologischer Fehlgriff ist. In einem solchen Zustande empfand ich einmal die Nähe einer Kuhherde durch Wiederkehr milderer, menschenfreundlicherer Gedanken, noch bevor ich sie sah: Das hat Wärme in sich... « (Werke m, S. ; 79/5 80)

Nicht die Armut, sondern die innere Not ist schuld an Nietzsches Einsamkeit, denn was er sagt, können nur sehr wenige aufnehmen, und die hört er vielleicht nicht einmal. So zieht er es vor, allein zu sein als zusammen mit Menschen, die ihn nicht verstehen; und in diesem Alleinsein entstehen neue Gedanken, neue Entdeckungen, die, da sie auf seinen persönlichsten Erfahrungen beruhen und diese doch verhüllen, wiederum nicht leicht mit anderen zu teilen sind und die Einsamkeit und die Kluft zur Umgebung noch mehr vertiefen. Ein Prozeß, der bereits in der Kindheit begann, die aus ständigem Geben bestand. 

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Das Kind war dazu da, um die andern zu verstehen, Geduld mit ihnen zu üben, ihnen alles nachzusehen, ihr Selbstgefühl zu bestätigen, aber niemals, um seinen Hunger nach Verständnis zu stillen. Die Tragik dieses Lösungsversuches, die Tragik des Schenkenden und des Durstenden beschreibt Nietzsche im Nachtlied:

»Licht bin ich: ach daß ich Nacht wäre! Aber dies ist meine Einsamkeit, daß ich von Licht umgürtet bin. Ach, daß ich dunkel wäre und nächtig! Wie wollte ich an den Brüsten des Lichts saugen!

Und euch selber wollte ich noch segnen, ihr kleinen Funkelsterne und Leuchtwürmer droben! — und selig sein ob eurer Licht-Geschenke.

Aber ich lebe in meinem eignen Lichte, ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen.

Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht; und oft träumte mir davon, daß Stehlen noch seliger sein müsse als Nehmen. Das ist meine Armut, daß meine Hand niemals ausruht vom Schenken; das ist mein Neid, daß ich wartende Augen sehe und die erhellten Nächte der Sehnsucht. O Unseligkeit aller Schenkenden! O Verfinsterung meiner Sonne! O Begierde nach Begehren! O Heißhunger in der Sättigung!

Sie nehmen von mir: aber rühre ich noch an ihre Seele? Eine Kluft ist zwischen Nehmen und Geben; und die kleinste Kluft ist am letzten zu überbrücken.

Ein Hunger wächst aus meiner Schönheit: wehetun möchte ich denen, welchen ich leuchte, berauben möchte ich meine Beschenkten - also hungere ich nach Bosheit. Die Hand zurückziehend, wenn sich schon ihr die Hand entgegenstreckt : dem Wasserfall gleich, der noch im Sturze zögert — also hungere ich nach Bosheit.

Solche Rache sinnt meine Fülle aus, solche Tücke quillt aus meiner Einsamkeit.

Mein Glück im Schenken erstarb im Schenken, meine Tugend wurde ihrer selber müde an ihrem Überflusse!« (Werke in, S. 583)

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Aus diesem Gedicht spricht der Neid auf diejenigen, die nehmen können, die als Kind Liebe bekommen konnten, die sich in einer Gruppe geborgen fühlen können, die nicht dazu verdammt sind, in der Einsamkeit neue Welten zu erschließen, sie den anderen zu schenken und dafür deren Feindseligkeit zu ernten. Aber das Schicksal läßt sich nicht ändern. Wer nicht ohne Wahrheit leben will, muß auch die Kälte der Einsamkeit auf sich nehmen. Nietzsche schreibt:

»Wieviel Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Wertmesser. Irrtum (- der Glaube ans Ideal -) ist nicht Blindheit, Irrtum ist Feigheit... Jede Errungenschaft, jeder Schritt vorwärts in der Erkenntnis folgt aus dem Mut, aus der Härte gegen sich, aus der Sauberkeit gegen sich... Ich widerlege die Ideale nicht, ich ziehe bloß Handschuhe vor ihnen an ... Nitimur in Petitum: in diesem Zeichen siegt einmal meine Philosophie, denn man verbot bisher grundsätzlich immer nur die Wahrheit. —« (Werke in, S. 512)

»Man verbot bisher grundsätzlich immer nur die Wahrheit.« Dieser Satz stimmt für die Menschheitsgeschichte wie für Nietzsches Elternhaus. Und weil er sich diesem Verbot nicht mehr fügen will noch kann, sucht er Zuflucht im Atheismus. Er will kein Nachbeter sein:

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».... — ich war vielleicht nie kindlich genug dazu? - Ich kenne den Atheismus durchaus nicht als Ergebnis, noch weniger als Ereignis: er versteht sich bei mir aus Instinkt. Ich bin zu neugierig, zu fragwürdig, zu übermütig, um mir eine faustgrobe Antwort gefallen zu lassen. Gott ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelikatesse gegen uns Denker —, im Grunde sogar bloß ein faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken!...« (Werke in, S. 528)

Das Verbot zu denken, das sich das Kind jeden Abend nach dem Gebet und vor dem Einschlafen einzuprägen versuchte, richtet sich gegen das Leben, denn die Lebendigkeit der Gedanken wird zerstört, wenn man sie ständig kontrollieren, nach Erlaubtem und Verbotenem sortieren und den Dogmen anpassen muß.

»Dieses letzte, freudigste, überschwänglich-übermütigste Ja zum Leben ist nicht nur die höchste Einsicht, es ist auch die tiefste, die von Wahrheit und Wissenschaft am strengsten bestätigte und aufrechterhaltene. Es ist nichts, was ist, abzurechnen, es ist nichts entbehrlich — die von den Christen und andren Nihilisten abgelehnten Seiten des Daseins sind sogar von unendlich höherer Ordnung in der Rangordnung der Werte als das, was der decadence-Iastinkt gutheißen, gut heißen durfte. Dies zu begreifen, dazu gehört Mut und, als dessen Bedingung, ein Überschuß von Kraft: denn genau so weit als der Mut sich vorwärtswagen darf, genau nach dem Maß von Kraft nähert man sich der Wahrheit. Die Erkenntnis, das Jasagen zur Realität, ist für den Starken eine ebensolche Notwendigkeit, als für den Schwachen, unter der Inspiration der Schwäche, die Feigheit und Flucht vor der Realität - das >Ideal<... Es steht ihnen nicht frei, zu erkennen: die decadents haben die Lüge nötig - sie ist eine ihrer Erhaltungs-Bedingungen.

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Wer das Wort >dionysisch< nicht nur begreift, sondern sich in dem Wort >dionysisch< begreift, hat keine Widerlegung Piatos oder des Christentums oder Schopenhauers nötig - er riecht die Verwesung... « (Werke in, S. ; 5 6) »Physiologen läßt ein solcher Wert-Gegensatz gar keinen Zweifel. Wenn innerhalb des Organismus das geringste Organ in noch so kleinem Maße nachläßt, seine Selbsterhaltung, seinen Kraftersatz, seinen >Egoismus< mit vollkommner Sicherheit durchzusetzen, so entartet das Ganze. Der Physiologe verlangt Ausschneidung des entarteten Teils, er verneint jede Solidarität mit dem Entarteten, er ist am fernsten vom Mitleiden mit ihm. Aber der Priester will gerade die Entartung des Ganzen, der Menschheit: darum konserviert er das Entartende - um diesen Preis beherrscht er sie... Welchen Sinn haben jene Lügenbegriffe, die Hilfsbe-gniie. der Moral, >Seele<, >Geist<, >freier Wille<, >Gott<, wenn nicht den, die Menschheit physiologisch zu ruinieren?... Wenn man den Ernst von der Selbsterhaltung, Kraftsteigerung des Leibes, das heißt des Lebens ablenkt, wenn man aus der Bleichsucht ein Ideal, aus der Verachtung des Leibes >das Heil der Seele < konstruiert, was ist das anderes, als ein Rezept zur decadence} — Der Verlust an Schwergewicht, der Widerstand gegen die natürlichen Instinkte, die > Selbstlosigkeit < mit einem Worte — das hieß bisher Moral... Mit der >Morgenröte< nahm ich zuerst den Kampf gegen die Entselbstungs-Moral auf. —« (Werke in, S.572)

Nietzsche meint, daß die Renaissance die große Chance gewesen war, sich von der lebensverneinenden christlichen Moral zu befreien, und daß diese Chance durch Luther verdorben wurde.

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»Luther, dies Verhängnis von Mönch, hat die Kirche, und, was tausendmal schlimmer ist, das Christentum wiederhergestellt, im Augenblick, wo es unterlag... Das Christentum, diese Religion gewordene Verneinung des Willens \um Leben!... Luther, ein unmöglicher Mönch, der, aus Gründen seiner Unmöglichkeit <, die Kirche angriff und sie — folglich! - wiederherstellte ... Die Katholiken hätten Gründe, Lutherfeste zu feiern, Lutherspiele zu dichten... Luther — und die >sittliche Wiedergeburt^« (Werke in, S. 594)

»Die Entselbstungs-Moral ist die Niedergangs-Moral par ex-celknce, die Tatsache, >ich gehe zugrunde < in den Imperativ übersetzt: >ihr sollt alle zugrunde gehn< - und nicht nur in den Imperativ!... Diese einzige Moral, die bisher gelehrt worden ist, die Entselbstungs-Moral, verrät einen Willen zum Ende, sie verneint im untersten Grunde das Leben. — Hier bliebe die Möglichkeit offen, daß nicht die Menschheit in Entartung sei, sondern nur jene parasitische Art Mensch, die des Priesters, die mit der Moral sich zu ihren Wert-Bestimmern emporgelogen hat... die in der christlichen Moral ihr Mittel zur Macht erriet... Und die Tat, das ist meine Einsicht: die Lehrer, die Führer der Menschheit, Theologen insgesamt, waren insgesamt auch de'cadents: daher die Umwertung aller Werte ins Lebensfeindliche, daher die Moral... Definition der Moral: Moral — die Idiosynkrasie von decadents, mit der Hinterabsicht, sich am Leben %u rächen — und mit Erfolg. Ich lege Wert auf diese Definition. -« (Werke in, S. 604) »— Hat man mich verstanden? - Ich habe eben kein Wort gesagt, das ich nicht schon vor fünf Jahren durch den Mund Zarathustras gesagt hätte. - Die Entdeckung der christlichen Moral ist ein Ereignis, das nicht seinesgleichen hat, eine wirkliche Katastrophe. Wer über sie aufklärt, ist eine force majeure, ein Schicksal - er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke. Man lebt vor ihm, man lebt nach ihm ... Der Blitz der Wahrheit traf gerade das, was bisher am höchsten stand: wer begreift, was da vernichtet wurde, mag zusehn, ob er überhaupt noch etwas in den Händen hat. Alles was bisher

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>Wahrheit< hieß, ist als die schädlichste, tückischste, unterirdischste Form der Lüge erkannt; der heilige Vorwand, die Menschheit zu >verbessern<, als die List, das Leben selbst auszusaugen, blutarm zu machen. Moral als Vampyrismus... Wer die Moral entdeckt, hat den Unwert aller Werte mit entdeckt, an die man glaubt oder geglaubt hat; er sieht in den verehrtesten, in den selbst heilig gesprochnen Typen des Menschen nichts Ehrwürdiges mehr.f.. .]Der Begriff >Gott< erfunden als Gegensatz-Begriff zum Leben — in ihm alles Schädliche, Vergiftende, Verleumderische, die ganze Todfeindschaft gegen das Leben in eine entsetzliche Einheit gebracht! Der Begriff >Jenseits<, >wahre Welt< erfunden, um die einzige Welt zu entwerten, die es gibt — um kein Ziel, keine Vernunft, keine Aufgabe für unsre Erden-Realität übrigzubehalten? Der Begriff >Seele<, >Geist<, zuletzt gar noch mnsterbliche Seele<, erfunden, um den Leib zu verachten, um ihn krank - >hei-lig< - zu machen, um allen Dingen, die Ernst im Leben verdienen, den Fragen von Nahrung, Wohnung, geistiger Diät, Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter, einen schauerlichen Leichtsinn entgegenzubringen! Statt der Gesundheit das >Heil der Seele< — will sagen eine folie circulaire zwischen Bußkrampf und Erlösungs-Hysterie! Der Begriff >Sünde< erfunden samt dem zugehörigen Folter-Instrument, dem Begriff >freier Wille <, um die Instinkte zu verwirren, um das Mißtrauen gegen die Instinkte zur zweiten Natur zu machen. Im Begriff des >Selbstlosen<, des >Sich-selbst- Verleugnenden < das eigentliche decadence-Abzeichen, das Gelocktwerden vom Schädlichen, das Seinen-Nutzen-nicht-mehr-finden-Können, die Selbst-Zerstörung zum Wertzeichen überhaupt gemacht, zur >Pflicht<, zur >Heiligkeit<, zum >Göttlichen< im Menschen! Endlich - es ist das Furchtbarste - im Begriff des guten Menschen die Partei alles Schwachen, Kranken, Mißrat-nen, An-sich-selber-Leidenden genommen, alles dessen, was zugrunde gehn soll —, das Gesetz der Selektion gekreuzt, ein Ideal

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aus dem Widerspruch gegen den stolzen und wohlgeratenen, gegen den jasagenden, gegen den zukunftsgewissen, zukunftverbürgenden Menschen gemacht — dieser heißt nunmehr der Böse... Und das alles wurde geglaubt als Moral\ - Ecrase^ l'infäme! —« (Werke in, S. 604/60;)

Wüßte man nicht, daß Nietzsches Ahnen mehrere Generationen zurück auf beiden Seiten Theologen waren, so könnte zumindest das folgende Zitat zeigen, daß es sich hier nicht um pure Gedankenspiele eines Philosophen handelt, sondern um den bitteren Ernst von hautnahen Erfahrungen.

»Es ist notwendig zu sagen, wen wir als unsern Gegensatz fühlen — die Theologen und alles, was Theologen-Blut im Leibe hat — unsre ganze Philosophie... Man muß das Verhängnis aus der Nähe gesehn haben, noch besser, man muß es an sich erlebt, man muß an ihm fast zugrunde gegangen sein, um hier keinen Spaß mehr zu verstehn -.« (Werke in, S. 615)

Die Bücher der Theologen las Nietzsche erst als Erwachsener. Aber der Haß auf die Lüge hat tiefere Wurzeln und verbindet sich mit dem Haß auf die »Weiber«, die ihm als Kind das theologische Gut vermittelten.

[...] »... Darf ich anbei die Vermutung wagen, daß ich die Weiblein kenne} Das gehört zu meiner dionysischen Mitgift. Wer weiß? vielleicht bin ich der erste Psycholog des Ewig-Weiblichen. Sie lieben mich alle - eine alte Geschichte: die verunglückten Weiblein abgerechnet, die >Emanzipierten<, denen das Zeug zu Kindern abgeht. - Zum Glück bin ich nicht willens, mich zerreißen zu lassen: das vollkommne Weib zerreißt, wenn es liebt... Ich kenne diese liebenswürdigen Mäna-

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den... Ach, was für ein gefährliches, schleichendes, unterirdisches kleines Raubtier! Und so angenehm dabei!... Ein kleines Weib, das seiner Rache nachrennt, würde das Schicksal selbst über den Haufen rennen. - Das Weib ist unsäglich viel böser als der Mann, auch klüger; Güte am Weibe ist schon eine Form der Entartung... Bei allen sogenannten >schönen Seelen< gibt es einen physiologischen Übelstand auf dem Grunde — ich sage nicht alles, ich würde sonst medi-zynisch werden. Der Kampf •amgleiche Rechte ist sogar ein Symptom von Krankheit: jeder Arzt weiß das. - Das Weib, je mehr Weib es ist, wehrt sich ja mit Händen und Füßen gegen Rechte überhaupt: der Naturzustand, der ewige Krieg zwischen den Geschlechtern gibt ihm ja bei weitem den ersten Rang.« (Werke in, S. 551)

Doch das wütende Kind bleibt nicht bei den »Weibern« stehen, es greift deren Idol an. Denn alles, was die Frauen mit ihm gemacht haben, geschah ja im Namen Gottes.

»Der christliche Gottesbegriff — Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist — ist einer der korruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind; er stellt vielleicht selbst den Pegel des Tiefstands in der absteigenden Entwicklung des Götter-Typus dar. Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges/« zu sein! In Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben die Feindschaft angesagt! Gott die Formel für jede Verleumdung des >Diesseits<, für jede Lüge vom >Jenseits<! In Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen! ... « (Werke in, S. 624)

Nietzsche darf seine Gefühle, seine Wut, Empörung, Rachsucht, seinen Spott, seine Verachtung, die aus konkreten, tragischen Erfahrungen hervorgegangen sind, nicht auf Menschen richten, die

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ihm Leiden zufügten. Er darf nur Ideen angreifen oder abstrakte Menschen wie zum Beispiel »die Weiber«.

Obwohl es unschwer zu erkennen ist, aus welchen Erfahrungen sein Zorn stammte, ihm selbst war dies nicht bewußt. Daher kann er auch schreiben: »Wenn ich dem Christentum den Krieg mache, so steht dies mir zu, weil ich von dieser Seite aus keine Fatalitäten und Hemmungen erlebt habe; die ernstesten Christen sind mir immer gewogen gewesen. Ich selber, ein Gegner des Christentums de rigueur bin ferne davon, es dem einzelnen nachzutragen, was das Verhängnis von Jahrtausenden ist.« (Werke in, S.525)

Tragischerweise darf Nietzsche dem einzelnen nicht nachtragen, was er »am Allgemeinen« beobachtet hat. Denn die lebendigen Wurzeln seiner Beobachtungen sind seinem Bewußtsein trotz allem Anschein verborgen geblieben. Im Labyrinth seiner Gedanken steckengeblieben, durfte er diese Wurzeln nicht finden. Der einzige erlaubte Ausweg war die geistige Umnachtung.

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Philosophie als Schutz vor der Wahrheit  

 

Wenn ich in den Werken Nietzsches, vor allem in der Schrift Der Antichrist, den nie gehörten Schrei des zornigen Kindes Nietzsche höre, den stummen, verzweifelten, aber doch auch gigantischen Kampf des verletzten, ausdrucksstarken Kindes mit der Verlogenheit, Stumpfheit, Leblosigkeit, Verworrenheit, Dummheit, Widersprüchlichkeit, Kraftlosigkeit seiner Erzieher wahrnehme, dann sollen damit Aussagen, die sich auf das Christentum beziehen, keineswegs in ihrem Gehalt relativiert, sondern nur deren lebendige Wurzeln aufgezeigt werden. 

Man könnte sich wie bei den Dichtern die Frage stellen: Hätte Nietzsche die Schrift Der Antichrist so schreiben können, wenn er das Leiden unter seiner Erziehung bewußt hätte erleben dürfen? Vermutlich hätte er dies nicht in dieser Form, nicht aus den aufgestauten Affekten heraus schreiben müssen, aber er hätte sicherlich eine andere ihm dann entsprechende Form gefunden, um das zu sagen, was er mit Hilfe seiner Gefühle entdeckt hatte. Wenn es nicht als eine abstrakte Analyse des Christentums geschrieben worden wäre, sondern als ein Bericht über das eigene, subjektive Leiden, hätten sich viele Menschen in diesem Bericht wiederentdeckt. Er wäre Anklage und Zeugnis über Zustände gewesen, die den meisten Menschen aus Erfahrung gut bekannt sind, ohne für sie greifbar zu sein. Denn nicht viele Menschen besitzen die Voraussetzungen Nietzsches, die Gefühle des Widerwillens, der Verachtung, des Ekels so einfühlbar zu schildern und deren Berechtigung so überzeugend herauszuarbeiten, wie Nietzsche es tat.

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Vermutlich wäre das Ergebnis dann kein philosophisches Werk gewesen, sondern ein autobiographischer Bericht, der anderen die Augen für Realitäten geöffnet hätte. Es wäre auch nicht möglich gewesen, Nietzsche ideologisch zu mißbrauchen, wenn seine Schriften direkt das Erfahrene erzählt hätten und es nicht in die symbolische Form (als Kampf gegen das abstrakte Christentum zum Beispiel) hätten verkleiden müssen (vgl. A. Miller 1988b, Kap. 1, 4 u. 11, 4).

Doch Nietzsche hatte gar keine Möglichkeit, einen solchen Bericht zu schreiben, weil die Inhalte, die er nur symbolisch zum Ausdruck bringen konnte, seinem Bewußtsein gar nicht zugänglich, also ihm in der direkten Form ohnehin gar nicht verfügbar waren. Sollte sich aber einmal unser Erziehungssystem lockern, sollte einmal das Gesetz »Du sollst nicht merken, was man dir in der Kindheit angetan hat« keine Gültigkeit mehr haben, dann wird sich zweifellos die Zahl der bisher so geschätzten »Kulturprodukte« verringern - angefangen bei unnötigen, unbrauchbaren Dissertationen bis zu den berühmtesten philosophischen Werken. Dafür aber gäbe es viel mehr ehrliche Berichte über das, was wirklich geschehen ist, die auch anderen Menschen Mut machen könnten, Realitäten zu sehen und das, was sie selbst erfahren haben und bisher nicht benennen konnten, zum Ausdruck zu bringen. Es scheint mir, daß solche Berichte den komplizierten

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Spekulationen vorzuziehen wären, weil sie nicht der Verschleierung, sondern der lebenswichtigen Aufdeckung der allgemein menschlichen Realitäten dienen würden.

Ich bin weit davon entfernt, das Genie Nietzsches dadurch anzweifeln zu wollen, daß ich den Inhalt, die Intensität und die Kraft seiner Gedanken mit den Erlebnissen in seiner Kindheit in Verbindung bringe. Daß mir eine solche Tendenz unterstellt werden wird, ist trotzdem nicht zu vermeiden, weil im allgemeinen die Bedeutung der Kindheitserlebnisse leider bagatellisiert wird und diese als belanglos abgetan werden. Um so wichtiger erscheint es dann, die Gedanken der »Großen«, der Erwachsenen als pures Gold ohne Beimischungen der Kindheit zu sehen, zu bewundern und zu interpretieren. Sowohl die Nietzsche-Forschung als auch die faschistische Adaption Nietzsches haben niemals diesen Rahmen überschritten. Gerade hier zeigt sich die Gefahr der Wirksamkeit einer Theorie, die die Tatsachen verleugnet.

Was meine Sicht betrifft, so würde ich im Gegenteil meinen, daß die meisten Schriften Nietzsches ihre Klarheit und Überzeugungskraft gerade dem sehr früh gespeicherten Erlebnisinhalt verdanken. Wie bei Kafka (vgl. A. Miller 1981, S. 3oyff.) und anderen großen Dichtern setzt sich hier die Wahrheit so evident durch, daß ihr kaum etwas entgegengehalten werden kann. 

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Das Verständnis, das sich bei Sätzen von Nietzsche spontan einstellen kann, ist nicht Ergebnis einer Suggestion, die von ihm ausgeht, sondern der Überzeugungs­kraft eines Autors, der vom Erlittenen, Erfahrenen, Wahrgenommenen berichtet und dessen Wahrnehmungen Zustände betreffen, in denen sich auch viele andere Menschen befanden oder immer noch befinden. 

Er selbst schreibt über die Quelle der Dichtung folgendes :

»Wenn ich meine höchste Formel für Shakespeare suche, so finde ich immer nur die, daß er den Typus Cäsar konzipiert hat. Dergleichen errät man nicht — man ist es oder man ist es nicht. Der große Dichter schöpft nur aus seiner Realität - bis zu dem Grade, daß er hinterdrein sein Werk nicht mehr aushält ... Wenn ich einen Blick in meinen Zarathustra geworfen habe, gehe ich eine halbe Stunde im Zimmer auf und ab, unfähig, über einen unerträglichen Krampf von Schluchzen Herr zu werden. -« (Werke in, S. 535)

Hätte Nietzsche als Kind nicht lernen müssen, daß man Herr werden soll über den »unerträglichen Krampf von Schluchzen«, hätte er als Kind einfach schluchzen dürfen, die Menschheit wäre um einen Lebensphilosophen ärmer, aber dafür wäre der Mensch Nietzsche um sein ganzes Leben reicher geworden.

Und wer weiß, was dieser lebende Nietzsche der Menschheit dann hätte geben können?

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