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2. Das Erdbeben in Malaga und die Maleraugen eines dreijährigen Kindes

(Pablo Picasso, 1881-1973)    wikipedia  Pablo_Picasso

 

 

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In der Basler Ausstellung der Spätwerke Picassos erschwert die Menschenmenge den Zugang zu den Bildern. Gruppen von Schülern werden von Experten instruiert, wie Picasso zu verstehen sei. Die Schüler versuchen angestrengt, etwas zu begreifen, was sie genausogut an Reproduktionen zu Hause lernen könnten, wie zum Beispiel Picassos Kompositionskunst. 

Viele gähnen, wenden sich von den Bildern ab, schauen auf die Uhr und denken wohl an den erlösenden Kaffee. Der Experte gibt nicht auf, versucht es mit der Farbenlehre, erklärt, wie das Orange das Blau noch stärker hervorhebt und wie gut Picasso die richtigen Farben einzusetzen verstand, um eine starke Wirkung zu bekommen. Auch das scheint die Schüler zu langweilen. Sie geben sich zwar sichtlich Mühe, sie versuchen, sich das Gesagte einzuprägen und es ja nicht zu vergessen, aber der hier erklärte Picasso bleibt irgendwie tot, ein großer Könner, ein Meister der Farbe und Form, wie es mehrere gibt.

Doch neben den vielen gelangweilten und gähnenden glaube ich auch neugierige, faszinierte und beunruhigte Gesichter zu sehen. Ich selbst empfinde so etwas wie Dankbarkeit für das große Farbenfest, an dem meine Augen hier teilnehmen dürfen, und für den Mut, von dem ich mich anstecken lasse. Der beinahe 90jährige Mann setzt sich über alle Konventionen und über sein eigenes Können hinweg und erreicht, was er sich sein ganzes Leben gewünscht hat: die Unbefangenheit und Freiheit, des Kindes, die ihm seine Perfektion in der Kindheit raubte.

Es mag genau diese ermutigende Kraft von Picassos späten Bildern gewesen sein, die mir geholfen hat, die große gelangweilte Menschenmenge um mich herum zunehmend zu vergessen und mich schließlich innerlich ganz auf dieses Abenteuer einzulassen. Es war mir, als spürte ich die letzten Anstrengungen eines Mannes, die verborgensten Geheimnisse seines Lebens mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zum Ausdruck zu bringen, bevor es zu spät ist, bevor ihm der Tod das Werkzeug aus der Hand nimmt. Es wurde viel über die sexuelle Thematik in Picassos Bildern geschrieben und dies immer als Zeichen seiner männlichen Vitalität verstanden. Daß die Darstellung der männlichen und weiblichen Genitalien im hohen Alter, sogar bis zum Tode, immer häufiger anzutreffen ist, deutete man als Zeichen der schwindenden Libido und der Sehnsucht nach nicht mehr erreichbaren Genüssen. 

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Wer sich aber die Mühe macht, den Gefühlsgehalt dieser letzten Bilder mit nackten Männern und Frauen auf sich wirken zu lassen, dem wird vermutlich ein Leiden spürbar, dessen Herkunft viel tiefer angesiedelt ist und dessen Wurzeln uns viel weiter in Picassos Leben zurückführen als die Erklärung, ein alternder Mann bedauere auf diese Weise das Nachlassen seiner sexuellen Vitalität. 

Doch worauf bezog sich das Leiden? Ich ging mit dieser Frage durch die Ausstellung und fand zunächst keine Antwort. Ich spürte das Leiden nicht nur in den Themen, sondern auch in der Wucht der Pinselbewegung, in der Art, wie die Farbe zuweilen hingeworfen worden war und neue Gefühle heraufbeschwor, die wieder gestaltet werden mußten. Ich hatte den Eindruck, daß sich in diesem Malen ein Kampf zwischen dem Müssen und dem Können ausdrückt, zwischen der Notwendigkeit, diese und nicht andere Bewegungen zu machen, diese und nur diese Farbe zu nehmen, und auf der anderen Seite dem bewußten, meisterlichen Blick, der die Gesetze der Farbenlehre und der Komposition nicht verlernen kann, auch wenn er es möchte. Die Wucht des Notwendigen nimmt im Spätwerk Picassos so stark an Intensität zu, daß das Können nebensächlich wird. Das Gefühl wird nicht mehr wie in seinem Gemälde »Guernica« gestaltet, sondern nur noch gelebt und ausgedrückt. Es werden keine Zeichnungen gemacht, es wird nicht mehr mit dem Verständnis des Zuschauers gerechnet, es bleibt nur noch die Eile, das Unsagbare herauszubringen, es mit Farben zu sagen. Aber was war das Unsagbare für Picasso?

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Mit dieser Frage ging ich durch die Ausstellung der Spätwerke und fand dort keine Antwort. Ich blätterte in unendlich vielen Picasso-Biographien und suchte nach traumatischen Erlebnissen in Picassos Kindheit. Da die Leistungsfähigkeit der Abwehr im hohen Alter abnimmt, da die Verdrängung der Traumen weniger raffiniert arbeitet, wäre es möglich, dachte ich, daß erst hier, im Spätwerk, Spuren der Kindheitstraumen zu erkennen wären. Doch diese Spuren schienen zuerst unauffindbar: geliebtes Kind, glückliches Zuhause ... Obwohl ich weiß, daß sich Biographen selten für die Kindheit interessieren, fand ich es dennoch erstaunlich, daß ich unter so vielen Büchern über einen so berühmten Mann unserer Zeit nur ganz wenige und immer wieder die gleichen Angaben über die ersten Jahre Picassos fand: Er wurde in Malaga geboren, sein Vater war Zeichenlehrer, seine Mutter liebte ihn über alles, mit 10 Jahren kam er nach Barcelona, mit 14 Jahren wurde er in Madrid in die Kunstschule aufgenommen und war dort der Beste. Und als er 17 war, übergab ihm der Vater seine Palette und hörte auf zu malen. Diese Beschreibung wiederholt sich in allen Biographien. 

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Dann wird noch auf äußere Ereignisse im damaligen Spanien und in der ganzen Weltgeschichte ausführlich eingegangen. Auch die Geldsorgen der Vorfahren werden sehr genau erörtert, doch das Kind Pablo Picasso ist beinahe unauffindbar. Einzig in der Biographie von Josep Palau J.Fabre fand ich einige Seiten, die mir einen Einblick in Picassos Kindheit vermitteln konnten. Die Informationen waren zwar verstreut, hier und da eine, aber mit der Zeit ergaben sie einen Sinn und die von mir gesuchte Folgerichtigkeit. Ich las zum Beispiel mit Erstaunen über Picassos Verhalten in der Schule:

»Anscheinend ging Picasso so widerwillig zur Schule, daß er schließlich krank wurde. Der Arzt sagte, daß seine Nieren angegriffen wären und daß er jene Räumlichkeiten nicht mehr betreten sollte. Diese Auskunft wurde vom kleinen Pablo mit Freude aufgenommen, weil er glaubte, daß dies bedeute, er sollte überhaupt nicht mehr hingehen. Noch in seinem 86. Lebensjahr sagte Picasso, daß er das ABC nicht ohne zu stocken hersagen und sich nicht erklären könne, wie er überhaupt das Lesen und Schreiben und vor allem das Rechnen erlernt habe.« (J.P. J. Fabre 1981, S. 32)

Wenn wir aus der Perspektive eines berühmten Malers auf diese Kindheitssituation zurückschauen, scheint es uns verständlich, daß der Alltag einer Schule den Ansprüchen eines genialen Kindes nicht gewachsen war. Aber so einfach ist es nicht. Es mag sein, daß sich ein waches Kind für das Einmaleins oder die Orthographie nicht interessiert, weil es sie längst begriffen hat, während die andern damit noch Mühe haben. 

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Aber Picasso hatte ja gerade Mühe mit dem ABC. Die Beschreibung seines Verhaltens in der Schule zeigt, daß ihn etwas ganz anderes beschäftigt hatte. Aber was? Ich blätterte weiter und stellte fest, daß seine zweite Schwester zur Welt kam, als er sechs war und gerade eingeschult wurde. Das allein muß doch keine Schulschwierigkeiten mit sich bringen, könnte man hier einwenden, denn die Mutter vergötterte Pablo und der Vater förderte ihn in überaus hohem Maße. Aber was bedeutete für Pablo die Geburt seiner zweiten Schwester? Könnte dieses Ereignis ihn an ein anderes, früheres, erinnert haben? Man müßte wissen, unter welchen Bedingungen die erste Schwester zur Welt gekommen war, dachte ich. Ich suchte weiter und war verblüfft, als ich die Antwort fand. Wie ist es möglich, fragte ich mich, daß diese Information nicht in alle Picasso-Bücher Einzug gefunden hat, daß sie nie mit »Guernica« in Zusammenhang gebracht wurde? Fabre berichtet:

»An einem Spätnachmittag Mitte Dezember 1884, das heißt, als Pablo drei Jahre alt war, gab es ein Erdbeben in Malaga. Jose saß im Hinterraum einer Apotheke gemütlich mit einigen Freunden zusammen, als er die auf den Regalen aufgereihten Fläschchen zu Boden fallen sah. Sofort löste sich die Gesellschaft auf und jeder eilte heim. Jose stürzte nach Hause zu seiner Frau: >Diese Zimmer sind zu groß, Maria, zieh dich schnell an, und du, Pablo, komm mit mir.< 

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Picasso erzählt Sabartes: >Meine Mutter trug ein Tuch auf ihrem Kopf; ich hatte sie nie so gesehen. Mein Vater nahm seinen Umhang, warf sich ihn um die Schultern, und wickelte mich in den Mantel ein, nur mein Kopf schaute heraus. < So verließen sie ihr Haus und gingen zu Antonio Munoz De-grain, der an der Calle de la Victoria, 60, wohnte. Die Calle de la Victoria ist eine der längsten Straßen von Malaga und läuft parallel zu der westlichen Flanke des Gibralfaro-Berges. In Wirklichkeit ist die Straße nicht direkt an den Berg gebaut, wie man gesagt hat, sondern die Fundamente der Häuser sind auf seine Felsausläufer gesetzt. Das sind die evidenten Gründe, die Jose bewogen, für sich und die Seinen in jenem Haus Unterschlupf zu suchen. Antonio Munoz Degrain war damals mit Moreno Carbonero in Rom auf einer Kunstreise.

Einige Tage nachdem sie sich dort eingerichtet hatten, genauer am 28. Dezember 1884, wie es in der Geburtsurkunde steht, wurde das zweite Kind von Jose geboren, ein Mädchen, dem man den Namen Lola (Kosename für Dolores) gab. Jenes Erdbeben dürfte ziemlich stark gewesen sein, weil König Alfons XII. wenige Tage danach Malaga besuchte, um sich ein Bild von den entstandenen Schäden zu machen.« (S. 29)

Das genaue Datum dieses Erdbebens fand ich in keiner der zahlreichen Biographien, aber nach einigen telephonischen Anfragen erhielt ich schließlich die Information, daß am 25.12.1884 ein starkes Erdbeben mit sechs Erdstößen zwischen 21 und 23 Uhr Spanien erschütterte, mit dem Epizentrum in Arenas del Rey, das nur 30 Kilometer von Malaga entfernt lag. Seinem Freund Sabartes erzählt Picasso viel später:

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»Mein Vater ist der Meinung, daß wir auf dem Felsen sicherer sind. Wir verbringen dort angstvolle Tage und warten, bis sich die Erde wieder beruhigt.« (j.Sabartes 1956, S. 11/12)

Die Geburt der Schwester fand also zwei Tage nach dem ersten Schock statt, und möglicherweise wurden die Wehen durch die erlebten Schrecken ausgelöst. Das würde heißen, daß der dreijährige Picasso in zwei Tagen den Schock des Erdbebens und die Geburt der Schwester in einer ganz ungewohnten Situation und einer ihm fremden Umgebung zu verkraften hatte.

An diesem Beispiel wurde mir wieder einmal klar, wie ergebnislos historische Forschungen sein können, wenn man die psychische Bedeutung der äußeren Ereignisse nicht sieht, weil der Erwachsene selten die Gefühle des Kindes nachvollziehen kann. Versuche man sich vorzustellen, was es für ein dreijähriges Kind bedeutet, im Dunkeln während des Erdbebens vom Vater mit der schwangeren Mutter durch die Stadt in eine fremde Wohnung geführt zu werden und dort der Geburt seiner Schwester beizuwohnen. Dazu kommen in Picassos Fall zwei zusätzliche Faktoren: nämlich die Förderung des Sehens durch den Vater und das Gebot des Schweigens, das von der Mutter ausging. Das Sehen wurde von klein auf perfektioniert, man durfte aber über das Gesehene nicht in Worten berichten. Picasso war sein Leben lang stolz auf seine »Diskretion«, weil eine der frühesten Erinnerungen die Mahnung seiner Mutter war, »über niemanden und über nichts etwas zu sagen«. (P. O'Brian 1979, S. 26) 

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Picassos Mutter pflegte zu erzählen, daß ihr Sohn schon zeichnen konnte, bevor er laufen lernte. Sein erstes Wort war »piz, piz«, was in der Kindersprache auf spanisch auch Bleistift heißt. Der Vater hatte die größte Freude an den Fortschritten seines Sohnes im Zeichnen, was dem Kind sicherlich nicht entging. Wenn es zeichnete, bekam es zweifellos die intensivste Zuwendung und Aufmerksamkeit seines Vaters, die in einem Haushalt mit ansonsten lauter Frauen natürlich sehr wichtig war. Der große Wunsch des Vaters war, sein Sohn möge die Anerkennung als Maler erlangen, die er selbst so schmerzlich vermißte. Und der Wunsch des Sohnes war, vom Vater geliebt zu werden. 

Mit drei Jahren zeichnete Picasso schon nach den Modellen des Vaters; er zeichnete vornehmlich Tauben, und der Vater überließ ihm das ausführliche Zeichnen der Füße, das ihn langweilte. Bei dieser Gelegenheit lernte das Kind sehr genau hinzuschauen, den Gegenstand ganz genau zu beobachten und die Vielfalt der Formen voneinander zu unterscheiden, je früher ein Kind etwas lernt, um so tiefer prägt sich ihm das Gelernte ein und um so sicherer ist der Erfolg für das ganze Leben. Darum sind auch die negativen Botschaften und Erfahrungen so schwer zu verlernen.

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Picasso war im Oktober 1884 gerade drei Jahre alt geworden. Was geschieht aber mit einem Kind, das so früh und so genau gelernt hat, seine Augen zu gebrauchen, seine Umwelt ganz genau zu beobachten, also auch jede Veränderung zu registrieren, wenn es einem so entsetzlichen Trauma wie einem Erdbeben ausgesetzt wird? Das folgende Spanien-Gedicht aus dem Jahre 1936 gibt vielleicht einen schwachen Eindruck davon:

»Kinderschreie Schreie von Frauen Vogelschreie Blumenschreie Schreie von Gebälk und von Steinen Schreie von Ziegeln Schreie von Möbeln von Betten von Stühlen von Vorhängen von Bratpfannen von Katzen und von Papieren Schreie von Gerüchen die sich gegenseitig kratzen Schreie von Rauch der den Schreien die im Topf kochen im Hals brennt und Schreie von Vogelregen die das Meer überschwemmen welches den Knochen zernagt der sich die Zähne bricht... « (in:W.Wiegand 1986, S. 105).

Da ich in diesen Worten die verbale und in »Guernica« die bildhafte Darstellung des Erdbebens durch ein Kind sah, meinte ich, daß diese Entdeckung für andere ebenfalls aufregend sein müßte. Aber ich hatte mich getäuscht. Picasso-Experten meinten, das würde ja so lange zurückliegen, und im Werk eines so großen Malers hätte die Biographie keine Bedeutung. Immer wieder kommt es vor, daß mich Fakten erschüttern, die für andere nicht zählen — zunächst. Doch nach Jahren, wenn die Abwehr irgendwie abgeschwächt ist, geschieht es zuweilen, daß das, was früher so heftig bestritten wurde, auch für andere zur Selbstverständlichkeit wird.

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Wir wissen nicht genau, was sich gerade zu dem Zeitpunkt auf der Calle de la Victoria ereignet hat, als der kleine Pablo von seinem Vater diese lange Straße entlang getragen wurde, aber wir können es uns gut vorstellen. Zweifellos sah er gestürzte Pferde, verzerrte Gesichter, herumirrende Kinder und hörte entsetzliche Schreie der Angst. Leider haben bisher noch keine Forscher versucht herauszufinden, wie stark das Erdbeben in Malaga war, ob auch Häuser eingestürzt sind und welche Bilder des menschlichen Elends und Leidens sich vor den aufmerksamen Kinderaugen eines späteren Genies abgespielt haben. Solange es diese Forschungen nicht gibt, können wir uns vom Bild »Guernica« informieren lassen, in dem Picasso das Elend des Krieges, an dem er nie teilgenommen hat, darstellte. Er hat es so gemalt, daß jeder Mensch eigene Gefühle des Entsetzens, der Angst, des Schauderns und der Ohnmacht vor der totalen Vernichtung angesichts dieses Bildes erleben kann, vorausgesetzt, daß er sich nicht mit kunstkritischen Bemerkungen von diesen Gefühlen ablenken läßt.

Diese unmittelbare, emotionale Wirkung auf den Zuschauer verdankt »Guernica«, wie es mir jetzt scheinen will, den Erlebnissen während des Erdbebens in Malaga 1884, die Picassos Vorstellungswelt so geprägt haben, daß sie in seiner Kunst ständig wirksam waren. 

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Die weinenden, verzerrten Frauengesichter, die er in den Jahren nach »Guernica« malte, könnten sogar direkt thematisch auf diese Erlebnisse zurückführen. Es sind nicht, wie im »Schrei« von Edvard Munch oder bei verschiedenen anderen expressionistischen Malern, Versuche, in den gemalten Gesichtern den eigenen Seelenzustand auszudrücken. Es sind vielmehr Darstellungen von schreienden und weinenden Frauen, die man beobachtet und deren Gesichtszüge nicht auszumachen sind, deren Leiden, Geschichte und Biographie uns so unverständlich sind wie einem Kind ein fremder, auf der Straße schreiender Mensch unverständlich sein muß, weil es die Gründe für dessen Entsetzen nicht kennt. 

In diese Perspektive des ratlosen, nicht verstehenden, desorientierten, aber neugierigen, interessierten Kindes fühlte ich mich oft versetzt, wenn ich Picassos Bilder betrachtete. Wir versuchen bei seinen Akten die einzelnen Glieder auszumachen: Wo ist der Fuß? Wo ist die Hand? Warum sind die Augen so gesetzt, daß sie uns nicht anschauen, daß sie niemanden anschauen können? Wir hören von den Kunsthistorikern, daß Picasso die Vorder- und die Hinterseite eines Kopfes gleichzeitig dem Zuschauer zeigen wollte, weil das damals zu seinem »Programm« gehörte. Aber warum? War Picasso ein Mensch, der sich an Programme halten mußte?

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Er hat doch immer wieder jeden Stil verlassen, den er einmal entwickelte, weil ihn diese Bindung an einen Stil langweilte. Aber das Thema der entstellten Menschenkörper ließ ihn sein Leben lang nicht los. Es kommt mir vor, als sei hier sein Pinsel einer Notwendigkeit gefolgt, die er selbst nicht kannte, nicht verstand, nicht erklären konnte, weil sie aus dem Unbewußten stammte, das von den frühesten Kindheitserlebnissen geprägt war. Wäre Picasso unter dem Zwang gestanden, Beweise seines Könnens erbringen zu müssen, dann wäre er in irgendeiner seiner erfolgreichen Perioden, vielleicht in der kubistischen, steckengeblieben. Aber er hatte sein Können längst bewiesen, bereits als kleines Kind. So war er im Alter frei, das zu malen, was ihm seine verdrängte Erfahrung diktierte, ohne sich als guter Zeichner, Kolorist oder ähnliches bewähren zu müssen; erst jetzt konnte er das in seinem Unbewußten Gespeicherte mit Farben sprechen lassen.

Kleine Kinder zeichnen sehr oft ihre Traumen, sobald sie einen Pinsel in die Hand bekommen. Sie wissen nicht, was sie darstellen, und die Erwachsenen sind leider auch darin geübt, das Wesentliche zu übersehen. Picasso aber hatte als Kind diese Möglichkeit des spontanen Ausdrucks nicht. Er sagte selbst, daß er als Kind nur Erwachsenenbilder malte und vierzig Jahre seines Lebens brauchte, um wie ein Kind malen zu können, das heißt, das Unbewußte sprechen zu lassen.

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Wie die Erwachsenen oft den Hilferuf des Kindes überhören und sich statt dessen über schöne Farben und großzügige Striche freuen, so empfing auch das Publikum Picassos unverständliche Werke mit Wohlwollen, denn schließlich war er bereits als großer Künstler und Könner bekannt. 

Wenn man es unbedingt muß, kann man die verdrehten, verkrümmten, entstellten, nackten Frauenkörper auch noch des 90jährigen ruhig als Zeichen des sexuellen Interesses sehen. Ich ziehe es vor, mir das dreijährige Kind vorzustellen, das im ganzen Aufruhr des Erdbebens und der Flucht auch noch Zeuge der Geburt seiner Schwester wurde. Selbst wenn die Erwachsenen an die Möglichkeit einer Traumatisierung gedacht hätten, was in der damaligen Zeit wohl kaum der Fall war, hätte wohl niemand dieses lebhafte, neugierige Kind davon abhalten können, in dieser Notwohnung einem Geschehen beizuwohnen, um das sich nun alles drehte. Wie sieht aber eine gebärende Frau aus der Perspektive eines dreijährigen Jungen aus, und was geschieht in seiner Seele, wenn diese Frau, die sich in Schmerzen windet, auch noch die eigene Mutter ist? Und all das in einer Umwelt, die gerade durch ein Erdbeben erschüttert wurde. Das Kind mußte die Gefühle verdrängen, aber manche Bilder blieben zweifellos in seinem Gedächtnis haften — von dem Zusammenhang getrennt.

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Es bleibt offen, wieviel von dem Geschehen aus der frühen Kindheit ein Zuschauer in den Bildern Picassos wiedererkennen kann. Das soll keineswegs zu einem Programm gemacht werden. Ich wollte hier nur aufzeigen, daß auch ein so schweres Trauma wie ein Erdbeben nicht vollständig der Verdrängung anheimfallen muß und zur Darstellung in der Kunst gelangen kann, wenn das trau-matisierte Kind, im Moment der Katastrophe, die Liebe und den Schutz seiner Eltern erfahren hat. Außerdem wollte ich darauf hinweisen, wieviel wir uns entgehen lassen, wenn wir diese Dimension der frühkindlichen Erlebnisse außer acht lassen. 

Die Einsamkeit des Künstlers bleibt bestehen wie die Einsamkeit des Kindes: die Nachwelt kümmert sich nicht um seine Traumen, sondern nur um seine Leistung. Die Bilder können hohe Preise erzielen wie einst die Leistungen des Kindes. Je mehr die Bilder gepriesen werden, um so mehr bleibt der Künstler mit seiner Wahrheit allein, wie dies in der Basler Ausstellung so deutlich zu spüren war. Erdbeben in Malaga 1884? Wen kümmert das heute schon? Zeuge bei der Geburt der kleinen Schwester? Wer mußte das nicht auch erleben? Wenn man aber alles zusammennimmt, das Erdbeben und die Geburt, den Zustand der Eltern und der Stadt, die Erziehung zum Sehen und zum Schweigen —, ergibt sich eine ganz besondere Konstellation, die für dieses einzelne Individuum Pablo Picasso von unauslöschlicher Bedeutung war.

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Hätte Picasso nicht den Weg durch die Calle de la Victoria auf dem Arm des geliebten Vaters zurücklegen dürfen, wäre er vielleicht psychotisch geworden, oder er hätte das Trauma so total verdrängen müssen, daß er zu einem braven, zwanghaften Funktionär der Gesellschaft im Franco-System geworden wäre. Nur wäre es dann kein Zufall gewesen, wenn er sich besonders für die Herstellung von Waffen interessiert hätte, die ganze Städte auf einen Schlag zerstören können.

Die bergenden Arme des Vaters haben es dem kleinen Jungen ermöglicht, die frühe Erfahrung des Grauens optimal zu bewältigen. Dank diesem Schutz konnte er das Gesehene so speichern, daß er es immer wieder in neuen Formen in der Kunst auszudrücken vermochte. Es gelang ihm sowohl der Psychose als auch der totalen emotionalen Selbstentfremdung zu entgehen, wie sie das Leben vieler Menschen charakterisiert, obwohl er nicht nur mit drei Jahren, sondern bereits bei der Geburt ein sehr schweres Trauma erlitt. Die meisten Biographen berichten, daß seine Geburt mit großen Komplikationen verbunden gewesen sein soll,

»man glaubte das Kind sei bereits tot zur Welt gekommen. Dies meinte jedenfalls die Hebamme, die kurz danach das Kind auf einen Tisch legte, um ihre Aufmerksamkeit ganz auf seine Mutter zu konzentrieren. Nur dank der Geistesgegenwart von Salvador, seinem Onkel, der Arzt war, erwachte das Kind.« (J.P.J. Fabre 1981, S. 32) 

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So war es auch Picasso nicht vergönnt, bei der Geburt von den Armen der Mutter empfangen zu werden, in ihnen Trost und Beruhigung nach dem überstandenen Kampf ums Leben zu finden und in diesem entscheidenden Moment Zärtlichkeit und Vertrauen zu speichern. Aber die spätere Zuwendung seiner Eltern, Tanten und Kusinen half ihm, den Schritt vom Tod zum Leben immer wieder neu zu vollziehen. Viele Zeitgenossen und Freunde Picassos erzählen übereinstimmend, daß er sich nur ^ann ganz lebendig fühlte, wenn er malte. Weil er beim Malen die Möglichkeit hatte, aus den tödlichen Zwängen der Leistung in die Freiheit der Eingebung, der Gefühle, der Impulse, das heißt ins Leben hinauszutreten.

Das Trauma der eigenen Geburt wurde mit dem Erdbeben, mit dem Entsetzen der Umgebung, der Nähe des Todes und der Geburt der Schwester aufs stärkste angemahnt. Doch die Erschütterungen legten sich, weil sich der Junge zu Hause wohl fühlte und spielen durfte. Erst durch die Disziplin und die Zwänge der Schule erwachten wieder die Ängste, zumal erneut eine Geburt, die der zweiten Schwester, an das eigene Trauma erinnerte. Das sehr intelligente Kind reagierte zuerst mit Lernschwierigkeiten und einer schweren Erkrankung. 

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Aber dank der Liebe und der Unterstützung seiner Familie mußte es sich nicht aufgeben, es durfte gegen die stumpfen Zwänge rebellieren, und es gelang ihm sogar im damaligen Spanien, seine Bedürfnisse auszudrücken:

»Wenn man ihn in die Schule brachte, verlangte Pablo vor allem von seinem Vater, daß er ein Lieblingsspielzeug mitnehmen durfte, sehr oft war es die Taube, die jenem als Modell diente. Und der Lehrer seiner Klasse (einer Kinderklasse) duldete es, daß Pablo seine Taube auf das Pult stellte und sie nach Lust und Laune zeichnete. Der kleine Junge zeigte sich in seinem Charakter so unabhängig und war so ungefügig, daß er, wenn es ihm paßte, aufstand, zum Balkon ging und an die Glasscheibe klopfte, damit die Passanten es merken und irgendeiner ihn besuchen sollte. Sein Onkel Antonio Suarez Pizarro, der im Haus gegenüber wohnte, beobachtete ihn und besuchte ihn nach einer Stunde. Diese Zahl — ein oder eine - schien Picasso entsprechend dem, was man ihn lehrte, das kleinste Maß zu sein, und sie wurde von ihm selbst verlangt... Aber, wie lang erschien ihm das Warten, wie lang war eine Stunde!« (J.P.J. Fabre 1981, S. 31)

Noch heute, hundert Jahre später, meinen die Eltern, sie müßten ihren kleinen Kindern Disziplin beibringen, damit diese in der Schule nicht »leiden« müssen, weil sie bereits an den Gehorsam gewöhnt sind. Glücklicherweise gibt es Kinder, die wie Picasso an der Sturheit leiden, weil sie sie nicht von zu Hause her kennen. Pablos Revolte gegen die Schule hat niemandem geschadet, auch wenn sie einigen Erwachsenen Kopfzerbrechen machte. Sie war der erste Schritt auf dem langen Weg des Künstlers, der ihn aus einengenden Konventionen in die Freiheit des Gestaltens, des Denkens und Fühlens führte.

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