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3. Die toten Engelchen der Mutter und die engagierten Werke der Tochter 

Käthe Kollwitz, 1867-1945  wikipedia  Käthe_Kollwitz 

 

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Die folgenden Ausführungen entstanden anläßlich meiner Teilnahme an einem Gespräch über Käthe Kollwitz während der Ausstellung ihrer Werke in Zürich im Jahre 1981. Die Werke dieser Malerin haben mich nie in der Tiefe so angesprochen, daß ich von mir aus das Bedürfnis gehabt hätte, mich mit ihr auseinanderzusetzen. 

Für mich hängt die politische Wirkung und Kraft eines Werkes nicht von seiner bewußten Thematik ab. Es gibt Bilder, die in mir Auflehnung, Zorn und Kampfbereitschaft wecken können, ohne daß sie als politisch zu gelten brauchen.. Doch beim Anblick der Bilder von Käthe Kollwitz sehe ich eher Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, aber keine politische Kraft.

Nachdem ich nun aber meine Mitarbeit dem Kunsthaus zugesagt hatte, versuchte ich mir Klarheit darüber zu verschaffen, weshalb die Bilder so deprimiert und deprimierend auf mich wirken und weshalb so häufig in ihnen eine um ihr totes Kind trauernde Mutter vorzufinden ist. 

Die Kunsthistoriker finden dafür angeblich befriedigende Gründe, die mir aber nicht genügend einleuchten. So machen sie zum Beispiel geltend, daß die Malerin als Arztfrau sehr oft mit dieser Tragik konfrontiert wurde und daß sie selbst 1914 ihren Sohn Peter verlor, einige Tage nachdem er freiwillig und zu ihrem großen Stolz in den Krieg gezogen war.

Doch Käthe Kollwitz war vom Thema des Todes und des toten Kindes in den Armen der Mutter bereits viele Jahre vor dem Tode ihres eigenen Sohnes besessen. Die Annahme einer einfachen Kausalität fiel also aus, und doch schien mir ein schicksalhafter Zusammenhang nicht ausgeschlossen. Ich fing an, mich zu fragen, wie sich diese Tatsachen zueinander verhielten und ob sie nicht in einem größeren, umfassenderen Zusammenhang einen neuen Sinn ergeben könnten. 

Bevor ich mich mit den Kindheitserinnerungen in Käthe Kollwitz' Tagebüchern befaßte, ging ich durch die Ausstellung und ließ die Inhalte auf mich wirken. Ich sah immer wieder ein totes Kind oder den personifizierten Tod, der kommt, um das Kind der Mutter zu entreißen, oder den Tod als Geliebten, als Tröster, als Freund, der sie von ihren lebenden, erschrockenen Kindern entführt. Ich sah auch den gewalttätigen Tod, der die Kinder überfällt. Dann sah ich traurige Gestalten, Gefangene, die mit Seilen gebunden waren, und Aufständische, deren Gesichter sehr selten Zorn, sehr oft aber Resignation und Hoffnungslosigkeit ausdrückten.

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Ich verließ die Ausstellung mit vielen offenen Fragen, wie zum Beispiel diesen: Was für Bilder haben die Augen des Kindes Käthe Kollwitz in ihrer damaligen Umgebung aufgenommen und gespeichert? Wer ist die gebückte, verlorene, depressive Frau, die man fast auf allen Bildern zu sehen bekommt? Es kann nicht das Selbstbildnis einer Malerin sein, die so viele Ausdrucksmöglichkeiten hatte und so viel Kraft in ihrem Strich zeigte. Könnte die depressive, gebückte Frau auf den Bildern die Mutter von Käthe Kollwitz gewesen sein, die diese Ausdrucksmöglichkeiten nicht hatte? Welche Rolle spielte der Tod in der Kindheit der Malerin? Welche konkreten Erlebnisse verbinden sich mit der Vorstellung des Todes, wie ein Kind sie hat? Welche Rätsel hatte das Kind zu lösen? Mit diesen Fragen schlug ich schließlich das Tagebuch von Käthe Kollwitz auf.

Die Angaben über die Kindheit waren sehr aufschlußreich. Käthe Kollwitz wuchs in Königsberg auf, in einer Art religiöser Sekte, Freie Gemeinde genannt, die ihr Großvater mütterlicherseits gegründet und geleitet hatte. Nach seinem Tod übernahm Käthes Vater diese Führung. Eine Mischung von Naivität, Zwang und Skrupelhaftigkeit des Vaters zeigen deutlich seine Aufzeichnungen. 

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Käthe wurde dazu erzogen, Vorschriften und Gebote wörtlich zu befolgen und ihre Gefühle im Dienste der religiösen Werte, vor allem der Selbstbeherrschung, zu unterdrücken. Da sie ein sehr waches und temperamentvolles Kind gewesen war, verlangte ihre Erziehung offenbar strenge Maßnahmen und schwerwiegende Strafen. Die Zeichnerin beschreibt, daß sie zur Strafe für ihr Schreien lange eingesperrt und isoliert wurde, ohne daß jemand mit ihr ins Gespräch kam. Einmal sei sogar ein Nachtwächter von der Straße, durch das Schreien des Kindes beunruhigt, erschienen. Wie es so üblich ist, übernahmen die älteren Geschwister die Methoden der Eltern und erzogen das jüngste Kind mit ähnlichen Mitteln.

»Auf Julie besinne ich mich aus jener Zeit wenig. Die Mutter erzählte später, daß sie ein sorgliches Kind gewesen sei, das, zwei Jahre jünger als Konrad, doch immer hinter ihm her gewesen sei, um ihn vor Unheil zu schützen. Schon damals begann ihr Bemuttern, gegen das wir uns später so auflehnten.

Die Mutter schickte sie und mich einmal zur Ernestine Castell. Als sie mit mir fortging, steckte sie aus der Dose ein Stück Zucker zu sich. <Warum?> fragte Tante Tina <Es der Käthe in den Mund zu werfen, wenn sie brüllen will.> Dies bockige Brüllen war gefürchtet. Ich konnte brüllen, daß es unerträglich war. Einmal muß es auch nachts gewesen sein, denn der Nachtwächter kam, um nachzusehen, was los sei. Ging die Mutter mit mir aus, so war sie froh, wenn ich nicht auf der Straße den Bock bekam und durch nichts zu bewegen war, weiterzugehen. Kam der Bock zu Hause über mich, so hatten die Eltern die Methode, mich allein in eine Stube zu sperren, bis ich mich ausgebrüllt hatte. Geschlagen wurden wir nie.« (K. Kollwitz 1983, S. 18/19)

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Die aufgestaute Wut führte zu körperlichen Symptomen, um deren Sinn sich niemand kümmern konnte.

»Diese Bauchschmerzen waren Sammelbecken für körperliche und seelische Schmerzen. Damals begann wohl schon mein Gallenleiden. Ich ging tagelang elend und gelb im Gesicht herum und legte mich mit dem Bauch platt auf einen Stuhl, weil mir das wohl tat. Die Mutter wußte, daß sich unter Bauchschmerzen auch Kummer versteckte. Sie ließ mich aber dann neben sich sitzen, ganz dicht.« (S. 18)

Käthe durfte bei der Mutter ganz dicht sitzen bleiben, aber brav und still und ja nichts von ihrem Kummer erzählen. Das führte zur Einsamkeit, zur Selbstbeschuldigung und zu depressiven Verstimmungen bereits in der Kindheit.

»Im ganzen war ich ein stilles, schüchternes Kind und auch ein nervöses. Später traten an Stelle dieser Anfälle von Eigensinn, die sich in Gestrampel und Gebrüll äußerten, Verstimmungen, die Stunden und Tage anhalten konnten. Ich konnte es dann nicht über mich bringen, mit Worten die Verbindung mit den anderen aufrecht zu erhalten, je mehr ich merkte, welche Last ich den anderen dadurch wurde, desto weniger konnte ich aus mir herauskommen.« (S. 19)

»Ich hatte das Bedürfnis, mich der Mutter anzuvertrauen, zu beichten. Da ich Lüge der Mutter gegenüber nicht kannte, auch nicht Ungehorsam, meinte ich, wenn ich täglich der Mutter Bericht über meinen Tag erstattete, würde ich an ihrem Mitwissen eine Stütze haben. Aber sie schwieg, und so schwieg ich auch.« (S. 23)

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»Es gibt ein Bild von ihr mit dem ersten Kind, das nach meinem Großvater Julius genannt war, auf dem Schoß. Es war das <Erstlings-Kind, das heilige>. Dies Kind verlor sie und das zweite danach. Wer das Bild ansieht, erkennt, daß sie als Rupps Tochter nie fassungslos im Schmerz gewesen ist. Aber das schwere Leid ihrer frühen Mutterzeit, dem sie sich nie hemmungslos hingegeben hat, hat wohl bewirkt, daß sie etwas von der Entferntheit der Madonna an sich gehabt hat. Vertraute, Kameradin, Genossin ist unsere Mutter uns nie gewesen. Aber wir liebten sie!« (S. 20)

Die Liebe zu ihrer Mutter beschreibt Käthe Kollwitz als »besorgt und zärtlich«. Sie fürchtete oft, die Mutter könnte »verunglücken«, sich »verirrt haben«, »wahnsinnig werden« oder sterben. Manchmal wünschte sie, die Eltern wären schon tot »und ich hätte es hinter mir« (S. 21). Daß sie bei all ihren verzweifelten Versuchen, ihre wahren Gefühle zurückzuhalten, nicht nur unter körperlichen, sondern auch seelischen Symptomen litt, war nicht zu vermeiden.

Sie berichtet:

»Wann zuerst sich bei mir die nächtlichen Beängstigungen eingestellt haben, weiß ich nicht [...] Nachts quälten mich entsetzliche Träume. [....1 Das war ein schlimmer Zustand, f) wenn die Gegenstände anfingen, kleiner zu werden. Wenn sie _ wuchsen, war es schon schlimm, wenn sie aber kleiner wurden, war es grauenvoll. Zustände gegenstandsloser Angst V" habe ich durch viele Jahre noch gekannt, sogar in München traten sie, aber geschwächt, noch auf. Ich hatte dauernd ein Gefühl, etwa als ob ich im luftleeren Raum wäre, oder als / sänke ich oder schwinde hin.« (S. 22)

 

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Schon ihr Glaube an ihre Schuld und an den Wert der strengen Erziehungsmaßnahmen für das spätere Leben eines Menschen würde genügen, um die depressive Note von Käthe Kollwitz' Bildern zu erklären. Wenn es nämlich einem Kind verboten ist, seine wahren Gefühle, Beobachtungen und Gedanken auszudrücken, weil in seiner Umgebung nur die guten, lieben und gottgewollten Gedanken erlaubt sind, bleibt alles, was in dieser »braven« Welt keinen Platz hat, dem Tod geweiht. Käthe Kollwitz träumte auch oft in der Kindheit, daß sie tot sei, weil sie die unbequeme, intensive Seite ihres Wesens nicht leben durfte. Da ich die Depression als Folge solcher Abtötungsversuche verstehe, neigte ich zuerst dazu, die zahlreichen Darstellungen des Todes im graphischen Werk als einen symbolischen Ausdruck dieser Not zu begreifen. Mit der Zeit stellte es sich aber heraus, daß die Todesthematik in diesem Werk noch andere Determinanten hatte.

Käthe Kollwitz war das fünfte und letzte Kind ihrer Mutter, das am Leben blieb. Die ersten zwei starben sehr früh an Meningitis, und das jüngste, sieben Jahre jünger als Käthe, starb einjährig, ebenfalls an Meningitis. Diese Information erhielt für mich ein großes Gewicht (vgl. A. Miller 1980, S.215-217). Erfahrungsgemäß spielt der Tod eines Kindes, besonders des Erstgeborenen, im, Leben der Mutter eine sehr wichtige Rolle. 

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Es läßt sich nicht vermeiden, daß die Geburt jedes Kindes in den Eltern Wünsche weckt oder neu erweckt, die irgendwie mit der Wiedergutmachung der eigenen Kindheit im Zusammenhang stehen. Entweder wird im Kind der Ersatz für die vermißten guten Eltern gesucht: »Endlich eine Person, die sich um mich kümmern wird, mir Beachtung und Respekt entgegenbringen wird«, oder aber es wird in ihm das Kind, das man einst war, gesucht: »Jetzt werde ich jemanden haben, dem ich alles geben kann, das meine Eltern mir versagen mußten.« 

Stirbt das Kind sehr früh, bevor es durch seine Autonomiewünsche die Bedürfnisse der Eltern enttäuschte, kann dessen Idealisierung und damit seine zentrale Bedeutung für das ganze spätere Leben der Mutter erhalten bleiben. Oft findet keine eigentliche, zeitlich abgegrenzte Trauer statt, sondern die Hoffnungen werden an ein »Wenn« geknüpft. Wenn das Kind nur am Leben geblieben wäre, denken die Eltern, hätte es alle ihre Erwartungen erfüllt. So wird der Glaube an die Erfüllbarkeit aller aus ihrer eigenen Kindheit stammenden Hoffnungen an die Person dieses Kindes geknüpft, dessen Grab jahrzehntelang gepflegt und besucht wird.

Dem verstorbenen Kind werden übermenschliche, ja göttliche Qualitäten zugeschrieben, und gleichzeitig wachsen im Schatten dieses Kultes die anderen Kinder, heran. 

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Diese müssen pflichtbewußt betreut und erzogen werden, damit sie ihre Unarten verlieren und in der Zukunft etwas taugen. Ihnen zuviel Zärtlichkeit zu zeigen wäre gefährlich, denn sie könnten durch zuviel Liebe verdorben werden. Zärtlichkeit und Zuneigung wollen angeblich im Interesse des Kindes gut dosiert sein. So fühlt sich die arme, gut erzogene Mutter ihren lebenden Kindern gegenüber verpflichtet, sie gut zu erziehen und deren wahren Gefühle zu unterdrücken. Nur beim toten Kind ist es anders, da dieses Kind nichts mehr von ihr braucht. Es weckt in ihr keine Minderwertigkeitsgefühle, keine Konflikte, keine Kränkungen und keinen Haß. Da sie nicht Angst haben muß, es durch ihre Liebe zu verwöhnen, fühlt sie sich an seinem Grab in ihrer Trauer echt und innerlich frei. 

Verglichen mit diesem Gefühl kann das Zusammensein mit den anderen Kindern zur Qual werden, weil diese, gemessen an der phantasierten Güte und Weisheit des verstorbenen Kindes, eindeutig Versager sind. Deren Lebendigkeit, deren Forderungen und Ansprüche können eine in ihr totes Kind verliebte Mutter spürbar verunsichern. Sie können in ihr Gefühle von Ohnmacht und Verzweiflung auslösen, wenn sie ihre Erziehungsprinzipien in Frage stellen. Das heißt nicht, daß sich diese Mutter den Tod ihrer Kinder bewußt wünscht, ganz im Gegenteil, sie ist sogar ängstlich darum besorgt, daß ihnen nichts passiert, malt ihnen die ständigen Gefahren aus und behält damit scheinbar recht, denn es ist bereits etwas so Schlimmes in ihrem Leben passiert. 

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Sie muß ihre Kinder immer unter Aufsicht haben, quält sie mit ihrer Kontrolle und schränkt sie in ihrer Freiheit ein. Daß sie selbst dabei ihre Lebendigkeit und Spontaneität längst eingebüßt hat und in ihren Depressionen im Grunde dem Tode dient, ist nicht zu vermeiden. So könnte man sich etwa das Schicksal der Mutter von Käthe Kollwitz vorstellen. Wie sah aber die ganze Situation aus der Perspektive des Kindes aus? Die mütterliche Sorge um das physische Überleben ihrer Kinder begleitete Käthe beim Spielen unentwegt. In ihren Erinnerungen erwähnt sie eine Grube, in der man »blind werden sollte«, wenn man hineinfallen würde. So muß sie die Warnungen ihrer Mutter aufgenommen haben. Gleichzeitig aber war sie ständig bemüht, die Erziehungswünsche ihrer Eltern zu befriedigen und endlich ein ruhiges, braves, kritikloses, ja seelisch totes Mädchen zu werden. Auch ohne tote Geschwister wird ein solches Bemühen die depressive Komponente des Kindes verstärken, weil die Depression den Verlust der Lebendigkeit signalisiert (vgl. A. Miller 1979, S. 17-53). 

Wenn aber, wie im Falle Käthe Kollwitz, drei tote Geschwister das Vorbild darstellen, wenn gerade an ihnen sichtbar wird, über welche Reserven an Liebesfähigkeit die eigene Mutter angeblich verfügt, wird das Kind alles, was

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in seiner Macht steht, tun, es wird opferwillig alle seine Gefühle abtöten, um sich doch einmal der Liebe der Mutter »würdig« zu erweisen. So bekommt der um den Preis der Depression erkaufte seelische Tod eine doppelte Bedeutung: Er verheißt die unbedingte, uneingeschränkte Liebe der Mutter, wie man sie nur aus Beobachtung kennt, und er befriedigt die Todessehnsucht der Mutter, deren verklärtes, weiches, ja beinahe glückliches Gesicht man nur vom Friedhof kennt. An diesem Punkt war ich mit meinen Gedanken angelangt, als ich noch einmal die Graphikausstellung im Zürcher Kunsthaus besuchte. Nun hatte ich das Gefühl, daß ich meinen ganz persönlichen, wenn man so will, rein subjektiven Schlüssel zu diesen Bildern gefunden habe. Denn was mir vorher starr und schwer einfühlbar erschien, bekam nun Leben und Bedeutung. Und meine auf Grund der Biographie aufgestellten Hypothesen fanden hier eine volle Bestätigung in Bildern. Auf einem Bild streckt die Mutter ihre Hand aus, um den Tod zu empfangen, von dem man nur seine rechte Hand sieht. An ihre Rockfalten klammern sich zwei kleine Kinder mit erschrockenen Gesichtern, deren Ausdruck in einem auffallenden Gegensatz zum Gesichtsausdruck der Mutter steht. 

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Der Ausdruck und die Handbewegung der Mutter sind ruhig und konventionell freundlich, etwa so, als ob sie einem vertrauten Menschen, einem Freund oder Nachbarn und nicht dem Tod die Tür geöffnet hätte mit den Worten: »Guten Abend, Herr Schmidt, kommen Sie doch bitte herein.« Das Thema »Mutter mit dem toten Kind« taucht in verschiedenen Variationen immer wieder auf. Daneben aber zeigt sich der Tod auch als Erlöser (der das Kind aus der Position des getadelten in die des geliebten Kindes rettet), als Tröster (wie es das Grab für die Mutter war) und als Geliebter. So mußte sich das Kind den Tod vorstellen, phantasierte ich, wenn es die Mutter von ihm sprechen hörte und ihr Gesicht sah. 

Jetzt schien es mir auch klar, daß die gebückte, leblose Frau, die man immer wieder, auch in Gruppendarstellungen sah, nicht Käthe Kollwitz war, sondern ihre Mutter in den Augen eines ihrer lebenden Kinder. Ich fing auch an zu begreifen, warum die Gruppenszenen so viel Resignation und Hoffnungslosigkeit ausstrahlten und den echten Zorn vermissen ließen, den man von ihrem Thema her erwartet hätte: dem Kind Käthe Kollwitz drohten schon sehr früh Strafen, wenn es einmal seinen Zorn zeigte. Das zornige Kind Käthe ist eigentlich das tote Kind, das sie beweint.

Die erwachsene Frau spürt überall das Unrecht der Unterdrückung, des Gefangenseins, der Ausbeutung, aber ihr Schrei darf nicht ertönen, wie er in der Kindheit nicht ertönen durfte. Ihr Sozialismus ist kein revolutionärer Schritt, ihr Vater, ihr Bruder und ihr Mann waren schon Sozialisten. 

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Wenn sie es auch ist, steht sie keineswegs im Widerstand zur Familie, sondern im Einklang mit ihr. Auch in der frommen Umgebung ihrer Kindheit versuchte sie fromm zu bleiben. Von dieser Abhängigkeit hat sie sich nie befreit. Ihre Bilder drücken die Hoffnungslosigkeit und Resignation eines Menschen aus, der seine starken, für die Umgebung unbequemen Gefühle nicht artikulieren durfte. Und weil ihnen die Erfahrung des Zornes fehlt, spricht aus ihnen nicht Trauer, sondern Depression. Auch die übermenschlich große Figur der trauernden Mutter über Peters Grab zeigt diese gebückte, depressive Haltung, aber nicht Schmerz. Der Vater drückt in Käthe Kollwitz' Bildern kaum etwas anderes aus als Selbstbeherrschung. 

Da ich mir auf meine Weise meine Fragen beantworten konnte, hatte ich kein Bedürfnis mehr, das Leben dieser Künstlerin in allen Einzelheiten zu verfolgen. Ihr Tagebuch, aus dem ich nur die Erinnerungen über die Kindheit gelesen hatte, wollte ich gerade in die Bibliothek zurückschicken, als mein Auge auf eine Stelle fiel, die meine Vermutungen bestätigte. In den Erinnerungen an die Mutter las ich:

»Oft auch spricht sie von dem ersten Kindchen, das nach einem Jahr starb. [...] Der Tod des ersten Kindes ist doch wohl das Stärkste in ihrem Leben gewesen, darum ist er jetzt nach 55 Jahren noch gegenwärtig.« (S. 34)

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Und eine Seite weiter hieß es noch deutlicher:

»Daß ihr eignes Kind jetzt tot ist, empfindet sie wie durch einen Schleier. Sie sieht die Bilder ihrer Kinderchen an, spricht mit zärtlicher Stimme von den <Kinderchen>, bekommt nasse Augen, wenn sie vom ersten gestorbenen spricht. Das ist fast 60 Jahre her, sie kann noch nicht von ihm sprechen, ohne gerührt zu sein — und Julie stirbt und sie faßt es nur momentweise.« (S. 36)

Die Mutter bekommt nasse Augen, wenn sie an ihr vor so vielen Jahrzehnten verstorbenes Kind denkt. Eine andere Tochter stirbt gerade, aber diese Tatsache dringt kaum in ihr Bewußtsein. Und im Schatten dieser Mutter lebte Käthe Kollwitz und malte ihre Bilder vom toten Kind, die die Nachwelt einzig als Ausdruck ihres sozialen und politischen Engagements verstanden haben möchte.

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