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4. Lachsalven bei Kindesmißhandlungen und die Kunst der Selbstbeherrschung 

 wikipedia  Buster_Keaton  1895-1966     wikipedia  Flitterwochen_im_Fertighaus 

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Buster Keaton, ein berühmter Komiker der 20er und 30er Jahre, konnte mit seinen Streichen die Zuschauer zu Lachsalven hinreißen, ohne selbst dabei das Gesicht zu verziehen. Ich kann mich erinnern, daß mich als Kind diese Diskrepanz beschäftigte und daß ich all die Streiche nicht lustig finden konnte, wenn ich zugleich dieses traurige Gesicht anschauen mußte. Nun stieß ich zufällig auf seine Biographie und fand dort die Erklärung für mein Unbehagen (W. Tichy 1983). 

Bereits mit drei Jahren begleitete Buster Keaton seine Eltern, die fahrende Künstler waren, auf der Bühne und verhalf ihnen zu Ruhm, indem er sich vor dem Publikum von ihnen schwer mißhandeln ließ, ohne dabei mit der Wimper zu zucken. Das Publikum kreischte vor Vergnügen, und wenn Behörden wegen der erlittenen körperlichen Verletzungen eingreifen wollten, spielte die Familie bereits in einer anderen Stadt. Keatons eigene Worte schildern seine Situation deutlich genug, aber sie schildern nur die Fakten, deren Bedeutung ihm ganz verborgen blieb.

Daß dies so war, läßt sich aus der folgenden Stelle ablesen.

»Meine Eltern waren mein erster Glückstreffer. Ich kann mich an kein einziges Mal erinnern, daß sie sich wegen Geld oder irgend etwas anderem gestritten hätten, während ich heranwuchs... Seit meinem zehnten Geburtstag haben sowohl sie als auch alle anderen, die mit uns auftraten, mich nicht als kleinen Jungen behandelt, sondern als Erwachsenen und vollgültigen Artisten.« (S. 17, Hervorhebung AM)

Hätte Buster Keaton spüren dürfen, daß ihn die Eltern schamlos ausgebeutet hatten, zudem nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele brutal verstümmelten, er hätte sicher nicht sein Leben damit verbracht, andere Leute zu amüsieren, wenn ihm nicht zum Lachen war. Wie er zu dem geworden ist, was er schließlich war, zeigen die folgenden Stellen:

»[....] einem Kind, das hinter der Bühne geboren wurde, schmieren die Eltern Schminke ins Gesicht, sobald es laufen kann... manchmal nur aus Spaß, zum eigenen Vergnügen, oder um zu sehen, ob das Kind schon Publikum verträgt... Mein Vater zog mir ulkige Sachen an, ähnliche wie die, die er selbst trug. Ich hatte also von Anfang an große Hosen und Schuhe. Sie setzten mich ein, als ich ungefähr drei war, zunächst in Matinees. Als ich gerade vier war, sagte ein Theafer-besitzer: >Wenn ihr ihn in der Abendvorstellung einsetzt, kriegt ihr 10 Dollar mehr<... Von da an war ich dabei, für 10 Dollar pro Woche... Meine erste bezahlte Woche war also 1899.« (S. 15)

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»Ich... erschien vor den verschiedensten Kommissionen, in manchen Städten sogar vor dem Bürger­meister. In zwei Staaten sah mich der Gouverneur persönlich genau an, ob ich von meiner Bühnenarbeit Verletzungen davongetragen hatte. Manchmal wurde mein Auftreten verboten, aber da unsere Engagements nie lange dauerten, spielten wir bald darauf in einer anderen Stadt, wo die Gesetze weniger streng waren. In den meisten Städten und Staaten verboten die Gesetze ausdrücklich, daß ein Kind unter sechzehn jonglierte, auf dem Seil tanzte oder andere Arten von Akrobatik praktizierte. Dies bot mir ein Schlupfloch, denn ich war kein Akrobat. Ich tat nichts außer zu dulden, daß ich herumgestoßen wurde. Wenn ich das Theater verließ, trug ich lange Hosen, einen Derby-Hut und einen Stock. So täuschte man manche, die mich für einen Zwerg hielten.« (S. 16)

»In dieser rauhen Nummer schlugen mein Vater und ich uns immer mit Besen, was mich zu merkwürdigen Purzelbäumen und Stürzen veranlaßte. Wenn ich einmal grinste, war der nächste Schlag ein gutes Stück härter. All meine elterliche Erziehung, die ich je erhielt, fand vor interessiertem Publikum statt. Ich konnte nicht einmal winseln. Als ich älter war, fand ich dann selbst heraus, daß ich nicht zu den Komikern gehörte, die mit einem Publikum scherzen und lachen können. Mein Publikum muß über mich lachen. (S. 17) 

»Eines der ersten Dinge, die ich herausfand, war der Umstand, daß das Publikum jedesmal, wenn ich grinste oder mir anmerken ließ, wie sehr das Spaß machte, nicht so stark lachte wie gewöhnlich. Ich vermute, die Leute erwarten einfach nicht, daß sich ein menschlicher Mop, Spüllappen, Bohnensack oder Fußball über das freut, was ihm geschieht. [.....] Wenn mich etwas kitzelte und ich zu grinsen anfing, zischte mein Alter: <Gesicht! Gesicht!> Das hieß: <Mund einfrieren>. Je länger ich das aushielt, um so eher war es wahrscheinlich, daß mein ausdrucksloses Gesicht oder mein starrer Mund das Gelächter noch verdoppelten. Er war stets hinter mir her und ließ nie nach, und in wenigen Jahren war es automatisch. Wann immer ich auf die Bühne oder vor die Kamera ging, konnte ich einfach nicht lächeln. Bis heute nicht.« (S. 17, Hervorhebungen AM)

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Angesichts der ungebrochenen Idealisierung der eigenen Eltern wird wohl kaum jemand zweifeln können, daß sich die von Buster Keaton selbst beschriebenen Szenen wirklich abgespielt haben. Niemand könnte einen solchen Horror erfinden, und schon gar nicht ein Kind, das beteuert, eine ideale Kindheit gehabt zu haben. Aber die Bedeutung dieser Szenen für sein ganzes Leben und für seine »Kunst« entging ihm vollständig; Sie entgeht auch dem Biographen, der, nachdem er selbst die Fakten zusammengetragen hat, schreibt:

»Sicher ist, daß Keatons Eltern ihren Sohn nicht weniger liebten als andere und ihn so behandelten, wie sie dies im allseitigen Interesse subjektiv für richtig hielten.« (S. 16, Hervorhebung AM)

Der gleiche Biograph berichtet über zahlreiche körperliche Verstümmelungen, die der Vater dem Kind zufügte und von denen er sogar prahlend erzählte, stolz, daß sein Sohn all dies ohne Wehleidigkeit überstanden hat.

Trotz der Erinnerung an die Fakten ist das ganze Trauma der Mißhandlung und Entwürdigung für Buster Keaton zweifellos verdrängt geblieben. Deshalb mußte er sein Trauma unzählige Male wiederholen, ohne es je gefühlt zu haben, denn die frühe Lektion, daß seine Gefühle verboten sind und ignoriert werden sollen, blieb für ihn wirksam.

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Kinder, die ebenfalls solche Lektionen gelernt haben mußten, sind mir in Cafes und Bars einer Kleinstadt aufgefallen. Sie starrten stumpf vor sich hin, mit der Zigarette in der Hand, mit etwas Alkohol im Glas, wenn das Geld dafür reichte, und bissen an ihren Fingernägeln. Alkohol, Zigaretten, Nägelbeißen — all das dient dem gleichen Zweck: um jeden Preis soll verhindert werden, daß Gefühle auftauchen, weil diese Kinder nicht lernen durften, Gefühle zu leben, mit ihnen umzugehen und sie zu verstehen. Sie fürchten Gefühle wie den Teufel und können doch nicht ganz ohne sie leben, also täuschen sie sich vor, der Rausch in der Diskothek unter dem Einfluß der Droge könne für all das herhalten, was sie verloren haben. 

Aber diese Rechnung geht nicht auf, die um ihre Gefühle betrogenen Kinder fangen an, Häuser auszurauben, Güter zu zerstören und Gefühle anderer und deren Rechte zu ignorieren. Sie wissen nicht, daß man einst das gleiche mit ihnen getan hat: ihre Seele ausgeraubt, ihre Gefühle zerstört, ihre Rechte mißachtet und sich an ihnen, den unschuldigen Opfern, für die einst erlittenen Demütigungen schadlos gehalten hatte. Weil ein Kind keine Rechte hat.

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Auch die Gesellschaft weiß es nicht. Sie steckt diese Jugendlichen in Besserungsanstalten, in denen sie ihre Zerstörungsmethoden auf Kosten der anderen perfektionieren können, aber auch indem sie sich selbst weiter zerstören. Man hört heute häufig die Meinung, der Vandalismus hätte zugenommen, die Jugend wäre früher nicht so gewalttätig, rücksichtslos und brutal gewesen wie heute. Es ist schwer zu sagen, ob dies tatsächlich zutrifft, weil heute bestimmte Formen von staatlich organisierter Brutalität, wie zum Beispiel der Krieg, zumindest in Europa ausfallen. 

Aber wenn es tatsächlich so ist, daß die Haltlosigkeit der Jugend zunimmt, dann frage ich mich, ob dies nicht etwas mit der, fortschreitenden Technisierung der Geburtspraxis und der Manipulation des Babys mit Hilfe von Medikamenten zu tun hat, die es dem Kind von Anfang an verunmöglichen, seine Gefühle zu leben und sich an ihnen zu orientieren. Zwischen einem mit Beruhigungstropfen ruhiggestellten Säugling, der in seinem späteren Leben keine besseren Erfahrungen machen konnte, und dem Jugendlichen in der Bar, wie ich ihn oben beschrieb, sehe ich einen direkten Zusammenhang. 

Wohin sollten sich die jungen Menschen mit ihren verdrängten, aber im Unbewußten ungeheuer aktiven Gefühlen wenden, wenn doch die ganze Gesellschaft deren Ursprung und Berechtigung in der Kindheit leugnet? In Friedenszeiten bietet wohl die Erziehung der eigenen Kinder den meisten Menschen einen legalen Weg zum Abreagieren der aufgestauten Wut.

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Solange dieser Weg den kinderlosen Jugendlichen noch verwehrt bleibt, suchen sie einen anderen. Suizid, Sucht, kriminelles Verhalten, Terroraktionen, Beteiligung an organisierter sexueller Ausbeutung — all das kann ehemals mißhandelten Kindern einen Ausweg aus ihrer Not, aus der emotionalen Falle bieten, _oder aber der Betreffende findet ihn in der Kreativität. Doch Kreativität ist keine Therapie. Sie hilft zwar mit den psychischen Schäden zu leben, aber deren Wirkung aufzulösen, die selbstdestruktiven Muster aufzulösen, hilft sie nicht, weil hier die Wahrheit über die Kindheit eher verhüllt als bewußt ausgedrückt wird.

Nietzsche brauchte seine ganze Philosophie, um nicht wissen und nicht sagen zu müssen, was ihm wirklich geschehen ist. Buster Keaton lernte, das spontane Lachen zu unterdrücken und damit Leute zu unterhalten. Keiner von beiden wurde kriminell oder endete im Gefängnis, aber sie bezahlten einen hohen Preis für die Verleugnung ihrer Wahrheit — den Preis des Bewußtseins. Hätten sie das Bewußtsein über das in ihrer Kindheit Erlittene erlangen können, sie wären vielleicht imstande, anderen Menschen die Augen zu öffnen und die gefährliche diesbezügliche Ignoranz der Gesellschaft zu vermindern.

Künstler bringen, meistens unbewußt, viele verdeckte Wahrheiten an die Öffentlichkeit, aber in Verkleidungen, in Symbolen. So erlangen sie die Gunst der Liebhaber ihrer Art. Doch die Wurzeln des Leidens und des zerstörerischen Verhaltens werden auf diese Weise nicht offengelegt. Nur mit Hilfe des erlangten Bewußtseins wäre dies möglich.

 

 

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