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5.  Despot oder Künstler? 

 wikipedia  Chaim_Soutine  1893-1943

 

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Vor etwa fünf Jahren besuchte ich eine Ausstellung der Bilder von Chaim Soutine. Ich fühlte mich schon früher von diesem Maler sehr angezogen und hatte stets den Eindruck, daß hier eine große Intensität zum Ausdruck kam, die unverkennbar ihre Wurzeln im Leid der Kindheit haben mußte. Die Ausstellung bestätigte meinen Eindruck und lieferte mir auch eine wichtige Information. Neben den vielen Porträts waren hier auch zahlreiche Landschaften zu sehen, die ich zunächst gar nicht beachtete, weil mich vor allem die Menschen, die merkwürdigen, verbogenen, gequälten Gestalten so stark in ihren Bann zogen. 

Als ich mich dann doch den Häusern, Plätzen, Straßen zuwandte, fiel mir auf, daß sie aussahen, als würden sie zittern. Aus dem Katalog erfuhr ich, daß Soutine ein russischer Jude war, der 1943 in Paris starb. Ich stellte mir die Frage, ob diese Situation der extremen Bedrohung durch den Massenmord Soutine dazu motivierte oder sogar zwang, das Auseinanderfallen, das Beben der Welt zu malen. Da fiel mir Kafka ein und meine bei ihm gemachte Entdeckung, daß Visionen der Zukunft etwas mit den frühesten Erfahrungen zu tun haben und daß die verdrängten Leiden der Kindheit der Darstellung eines Künstlers eine starke Intensität und Aussagekraft verleihen können, ohne daß er selbst weiß, was er zum Ausdruck bringt (vgl. A. Miller 1981, S. 307ff.).

 

 

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Plötzlich mußte ich mich fragen, wie es wohl einem kleinen Kind ergeht, das geschlagen wird, übers Knie gelegt wird, mit dem Kopf nach unten, so daß es die Welt verkehrt sieht. Und diese verkehrte Welt zittert, denn bei jedem Schlag erbebt sein Körper. So etwa erlebte ich Soutines Bilder, noch bevor ich aus dem Katalog erfuhr, daß Soutine von seinen beiden Eltern häufig blutig geschlagen wurde und mit regelrechter Verfolgung rechnen mußte, weil er so gerne zeichnete, was bei den orthodoxen Juden verboten war. Der Biograph, der diese Angaben machte, maß ihnen keine Bedeutung zu und vertrat die These, daß Soutine ein »narzißtischer und nekrophiler Charakter« gewesen sei und daher den Tod darzustellen liebte. 

Im Katalog fand sich folgende Stelle:

»Das litauische Dorf, in dem er als zehntes Kind des Dorfschneiders geboren wurde, war absolut ohne jede Kultur. Schon der Gedanke, Bilder zu malen, war in einer solch orthodoxen Gemeinde ketzerisch, und von Anfang an wurde Soutine deutlich gemacht, daß er sündigte: <Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist.> 

Sein Ringen um Wege, dieses zweite Gebot zu brechen, ist Teil seiner Legende: Er stahl sich etwas aus dem Haushalt, um einen Buntstift zu kaufen, und wurde zur Strafe in den Keller gesperrt; er machte eine Zeichnung vom Dorfirren und bat dann den Rabbi, ihm Modell zu sitzen. Die Nachwirkungen lesen sich wie eine Parabel: Der Sohn des Rabbis prügelte ihn heftig, der Rabbi zahlte Soutines Mutter für die Verletzungen, und mit diesem Geld konnte Soutine Smilowitschi verlassen, um an einer Kunstschule zu studieren.«  (A. Forge 1967, S. 7)

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Die Information über Soutines Kindheitstraumen brachte mich erneut zu der Frage, warum nicht alle geschlagenen Kinder zu Monstern wie Adolf Hitler werden, warum die einen zu brutalen, gefühllosen Verbrechern heranwachsen und die anderen zu hochsensiblen Menschen, zu Malern und Dichtern, die fähig sind, das Leiden zum Ausdruck zu bringen. Es fiel mir auf, daß in Soutines Geschichte die Gegenwart des helfenden Zeugen zu erkennen ist, der die Wahrnehmungen des Kindes bestätigt und ihm auf diese Weise erst die Erkenntnis ermöglicht, daß ihm ein Unrecht zugefügt wurde. 

Häufig fragen mich Männer verschiedener Berufe, weshalb sie nicht wie Hitler geworden sind, sondern als mehr oder weniger friedliche Ärzte, Juristen, Professoren leben, obwohl sie doch in der Kindheit wie Hitler täglich geschlagen wurden. Mit dieser Frage wollen sie gegen meine These argumentieren, daß eine brutale, gefühllose und durchwegs destruktive Behandlung des Kindes nicht zufällig, sondern notwendig Monster produziert. 

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In all diesen Fällen erkundige ich mich nach Einzelheiten aus der Kindheit, und bei näherer Betrachtung stellt es sich in jedem Fall heraus, daß einzelne Zeugen vorhanden waren, die dem Kind ein Stück weit das Erlebnis von Gefühlen ermöglichten. In Adolf Hitlers Kindheit fehlte ein solcher ausgleichender Zeuge vollständig. Ich habe die Struktur seiner Familie mehrmals mit einem totalitären Regime verglichen, wo es keine Rekursmöglichkeit gegen die Staatspolizei gibt (vgl. A. Miller 1980, S. 169 ff.).

Die Willkür des Vaters und seine Macht war für das Kind die herrschende Rechtsinstanz, eine andere gab es nicht. Wie genau Adolf Hitler dieses System verinnerlichte, zeigte er im Dritten Reich. Es gab keine humane Überlegung und kein Gefühl, die seiner Grausamkeit Grenzen gesetzt hätten, als er selbst an der Macht war. Genauso wurde er erzogen. Was auch immer die Eltern für angebracht hielten und beschlossen, wurde erbarmungslos mit allen Mitteln der Gewalt durchgesetzt. 

Das Kind durfte niemals an der Richtigkeit dieser Beschlüsse zweifeln, das hätte unerträgliche Folter zur Folge gehabt. Genausowenig konnte ein gewöhnlicher Bürger im Dritten Reich einen Beschluß des Staates oder der Gestapo in Frage stellen. Folterungen und Tod waren die unausweichliche Antwort darauf, wenn er es dennoch tat. Die brutale Gewalt als einzige und höchste Macht, die zudem mit einer »Rechtgebung« für »Ordnung« und angebliche »Legalität« der ausgeführten Verbrechen sorgte, war ebenfalls der Struktur der eigenen Familie entlehnt, wo alles doch im Namen der guten Erziehung geschah: die Abtötung der Gefühle und die Unterdrückung aller Bedürfnisse des Kindes, ja beinahe jeder menschlichen Regung. 

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Hitlers Raserei gegen die »entartete Kunst« zeigt ebenfalls, was ihm selbst widerfahren ist: Weil Farben im Menschen Gefühle wecken, mußte Hitler sie verbieten. Farben waren gefährlich, verpönt, beinahe jüdisch. Ebenfalls die unklaren Linien, die zum Phantasieren anregen. Alles Lebendige mußte im Keim ausgerottet werden, so gründlich, wie es in seinem Elternhaus mit dem Kind geschehen war. Eine Abiturientin ist den Ähnlichkeiten zwischen Hitlers Erziehung und der Idee der »entarteten Kunst« im einzelnen nachgegangen. Sie stützte sich auf meine Bücher und brachte mit Hilfe der Bilder, auch von Hitlers Hand, sehr überzeugende Beweise für die These, daß Hitlers Kampf gegen die moderne Kunst die Zerstörung des Lebens fortsetzte, die in seinem Elternhaus begann. (G. Bednarz, unveröffentl. Ms.) 

Die staatlich organisierten Massenmorde an Juden, Zigeunern und Behinderten waren direkte Konsequenzen des einst ausgeführten Zerstörungswerkes am Kind. Seine Helfer folgten dem Führer ohne Bedenken, weil auch für sie dieses System der Gewalt und des Gehorsams seit jeher das einzig richtige, wohlvertraute und nie angezweifelte war. Um Grausamkeit zu bekämpfen, muß man sie zuerst überhaupt wahrnehmen können. 

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Wenn in der ganzen Kindheit, wie im Falle Hitlers und seiner nächsten Anhänger, jede Alternative zu Härte, Gewalt, sturer Machtausübung und Kälte fehlt, wenn jede Art von Schwäche, Zärtlichkeit, Lebendigkeit verachtet wird, wird die ausgeübte Gewalt als vollkommen richtig empfunden. Das Kind glaubt, es hätte die Schläge verdient, idealisiert die Verfolger und sucht sich später Projektionsflächen, um auf andere Menschen oder Völker seine vermeintliche Schuld zur eigenen Entlastung abzuladen. So wird es selbst schuldig.

Ein Künstler wie Soutine konnte unmöglich aus einem derart zerstörerischen totalitären Regime hervorgegangen sein. Schon der Umstand, daß der Junge eine Geldentschädigung für die Schläge erhalten hat und daß die Mutter sie ihm aushändigte, zeigt, daß in seiner Kindheit trotz der primitiven Verhältnisse doch irgendwo noch jemand da war, der ihm half, einen Sinn für Gerechtigkeit zu entwickeln. So mußte er sich nicht selbst für das erlittene Leiden beschuldigen, geschweige denn diese Schuld später global auf andere abladen. Dank dem Sühnegeld konnte sich Soutine sogar den heißersehnten Wunsch erfüllen, Zeichenstunden zu nehmen und später Maler zu werden. 

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Doch zwischen Chaim Soutines und Adolf Hitlers Kindheit mußten noch andere Unterschiede vorhanden gewesen sein. Obwohl beide geschlagene Kinder waren und für ihren Wunsch, Künstler zu werden, schwer gestraft wurden, ist es völlig undenkbar, daß ein Mensch wie Adolf Hitler in der Familie eines armen jüdischen Schneiders in Odessa hätte aufwachsen können. Ebenso undenkbar ist, daß der Maler Soutine sein differenziertes Farbempfinden und seine Fähigkeit, Leiden auszudrücken, als Sohn eines Alois Hitler in Braunau hätte entwickeln können. Die Lebensfeindlichkeit und Zerstörungsmacht der Familie Hitler spricht aus allen Dokumenten, die in Fülle vorhanden, sind. Deren Aussagekraft ist inzwischen einem weiten Publikum durch ein Theaterstück zugänglich gemacht worden, das anhand vieler Beispiele zeigt, wie jede Freude am Spiel, an Einfällen, am Erfinden durch die Ausrichtung auf Gehorsam, Drill und Sturheit im Keim erstickt wurden (vgl. N. Radström, 1985).

Der Maler Soutine ist nicht in einer derartigen emotionalen Wüste aufgewachsen. Seine Erziehung war auf jeden Fall weniger systematisch und konsequent, weniger auf Gehorsam ausgerichtet, denn die jüdischen Väter in Europa waren nicht auf Härte und Brutalität gedrillt. Sie waren nicht wie die deutschen Väter gezwungen, die weiche und hilflose Seite in sich von Kind auf zu unterdrücken. Es war ganz natürlich, kleine Kinder zu küssen und zu liebkosen, und dies wurde kaum als »Affenliebe« bezeichnet. 

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Deshalb durften Kinder jüdischer Väter wohl eher Zärtlichkeit empfangen, was zweifellos zur Relativierung ihrer Verletzungen beigetragen hat. Dank dieser Zärtlichkeit und affektiven Zuwendung kann das Kind überhaupt ein Gefühl von Lust erleben, die ihm zeigt, was Leben ist und daß es sich lohnt, um die Lebendigkeit zu kämpfen. Diese Lust ist anderer Art als die Lust an Tierquälereien, an denen ein gequältes Kind die erlittenen Demütigungen abreagieren kann. 

Auch wenn ein Kind keine selbstlose, verantwortungsvolle, bergende und schützende Liebe erfährt — dank der körperlichen Nähe, dank Liebkosungen, dank der affektiven Zuwendung können in ihm Gefühle entstehen: Gefühle wie Sehnsucht, Schmerz, Einsamkeit, Empörung, Zorn, aber auch Freude an der Natur, am eigenen Körper, am Körper des anderen und vor allem Freude am Leben. Gewiß, diese Freude kann durch die Machtausübung des Erwachsenen getrübt oder verstümmelt werden, doch wiederum ist es ein Unterschied, in welchem emotionalen Klima sich das abspielt und wie sich die anderen Bezugspersonen verhalten. 

Ich will versuchen, dies am Beispiel von Paul Celan zu illustrieren, über dessen Kindheit ich die folgenden Passagen gefunden habe:

»Pauls Vater übte im Hause strenge Zucht. Er war kein gütiger Mensch, er stellte hohe Ansprüche an seinen Sohn, bestrafte ihn, schlug ihn oft für jedes kleine kindliche Vergehen. Leo war von kleinem Wuchs, etwa ein Kopf kleiner als seine Frau.

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Man hatte den Eindruck, daß er seine unansehnliche Gestalt und seine Mißerfolge im materiellen Leben durch die Tyrannei im Hause zu kompensieren versuchte. Aber mit seiner Frau hatte er keine Streitigkeiten — er war ihr sehr ergeben! Der Sohn hingegen hatte seine Herrschaft am meisten zu spüren bekommen. Paul war ein sehr empfindsames Kind und litt wohl sehr unter der väterlichen Strenge.« »Der kleine Paul lernte frühzeitig zu gehorchen und sich zu benehmen, wie es der Vorstellung seiner Eltern von <guter Kinderstube> entsprach. Er mußte auf peinlichste körperliche Sauberkeit achten, durfte bei Tisch nichts vom vorgesetzten Essen zurückweisen und keine überflüssigen Fragen stellen. 

Wenn Paul sich dennoch Widerrede und Aufbegehren oder kindlichen Trotz erlaubte, wurde er vom Vater heftig gerügt oder bekam sogar Schläge. Schien das <Vergehen> Pauls besonders groß, sperrte ihn der Vater in eine leere Kammer und zog den Schlüssel ab. Zum Glück hatte die Kammer ein Fenster, das in den Hinterhof führte. So konnten die Frauen im Haus den bitterlich weinenden Jungen aus seiner Zelle befreien, sobald der Vater das Haus verlassen hatte, um seinen Geschäften nachzugehen. Gewöhnlich tat das die Mutter, manchmal auch eine der Tanten.«

»Überall stieß der kleine Paul auf Grenzen der Bewegungsfreiheit: an den Türen der Zimmer, die er nicht öffnen, und an der Wohnungstür, durch die er nur in Begleitung eines Erwachsenen hinausgehen durfte. So war es ihm auch verwehrt, sich allein in der stillen Wassilkogasse mit den Kastanienbäumen aufzuhalten. Manchmal, selten genug, erlaubte man ihm, mit der fast gleichaltrigen Tochter eines im selben Haus wohnenden Musiklehrers zu spielen. Und das war auch nur im Hinterhof gestattet, wo einige Bäume und spärliches Gras wuchsen. Zwischen den dort aufgestapelten Holzvorräten für den Winter, zwischen Zaun und Haustor lag das Sommerparadies der ersten drei Lebensjahre Pauls. Nicht zufällig beginnt ein Jugendgedicht Celans mit dem Satz: Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.« 

(I. Chalfen 1983, S. 36-38)

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Paul Celans Vater behandelte zwar seinen Sohn tyrannisch und ließ ihn seine eigene Unsicherheit schmerzhaft spüren, aber er war seiner Frau gegenüber sehr ergeben, und dies setzte der Tyrannei bereits Grenzen. Die Mutter und die Tanten konnten Paul zu Hilfe kommen und ihn aus dem Gefängnis, aus der Kammer, befreien. Dies waren die rettenden Zeugen, die dem Kind die Erfahrung vermittelten, daß es in dieser Welt neben Grausamkeit, Sturheit und Dummheit auch Erbarmen und Güte geben kann und daß es nicht schuldig und böse, sondern sogar liebenswert ist, auch wenn der Vater dies nicht merkt (vgl. A. Miller 1988b, Kap. II, 2).

Dank der rettenden Frauen konnte das Kind auch das erfahrene Unrecht, die Qualen des Gefangenen und Gefolterten in sein Bewußtsein aufnehmen, ohne sie vollständig zu verdrängen. Doch da er ein streng erzogenes Kind war, durfte er nicht sehen, daß er vom eigenen Vater verfolgt und am Leben gehindert wurde. Er mußte das Bild des Vaters heilighalten und seine Gefühle auf andere Personen und Situationen verschieben. Alle Dichter tun das, müssen es tun. So kam es, daß Paul Celan sein Leben lang vom Thema der Konzentrationslager nicht loskam. 

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Er schrieb Gedichte über Gefangenschaft, die bezeichnenderweise gerade in der Nachkriegszeit, der Zeit der starken intellektuellen Abwehr in der Literatur und Kunst, sehr bewundert wurden. Die Gedichte halfen Celan, in einer gekonnten, verhaltenen und distanzierten Sprache das Leiden der anderen zum Ausdruck zu bringen. Doch das Leiden seiner Kindheit, das ihm emotional nicht zugänglich war, blieb ihm selbst verborgen.

Der Grund für Celans Selbstmord lag nicht in den Kriegserlebnissen, die er ja mit vielen Überlebenden teilte. Wenn sich keine Hoffnung mehr aufbauen läßt, dann hat das mit weit zurückliegenden und ins Unbewußte verdrängten Gründen zu tun. Mit seinem Selbstmord beendete Paul Celan das Zerstörungswerk des Vaters, der dem Kind die einfachsten, die harmlosesten Freuden nicht gönnte, auch wenn sie nichts gekostet hätten, aus purer Schikane, ohne jeden ersichtlichen Grund. 

Das ist bei jedem Kind so leicht möglich, weil das Kind wehrlos ist und den Launen des Erwachsenen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert bleibt. Eltern, die als Kinder verletzt wurden, haben es schwer, dieser Versuchung zur Machtausübung zu widerstehen. Wenn sie selbst als Kinder nicht frei spielen durften, finden sie immer wieder Gründe, um ihren Kindern diese lebenswichtige Freude zu verunmöglichen. Oder sie verwandeln sie in Leistung, bei Sport, Kunsteislauf, Musikübungen, und töten die Kreativität des Kindes durch den Leistungszwang ab.

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Celan hat die Rechtlosigkeit des Schwächeren als Kind erfahren, aber über diese Realität durfte er nichts wissen. Statt dessen beschrieb er in kunstreichen Worten die Situation des Lagerinsassen, der von den Wächtern ebenfalls am Leben gehindert wurde, ohne daß Gründe dafür hätten angeführt, werden müssen. Die Zerstörung der Freude und Würde beim Wehrlosen war für die Wächter so selbstverständlich, weil auch sie diese Lektionen so früh gelernt hatten. Daher ist Celans Dichtung wahr, auch wenn sie in ihrer ganz persönlichen Dimension dem Dichter selbst und den meisten Lesern unzugänglich geblieben ist. Wäre es nicht so, er hätte das Weiterleben nicht als sinnlos empfunden.

Die Verschiebung von der eigenen Kindheit auf die Situation des Lagerinsassen half Celan, sein Leiden zu artikulieren, aber sie rettete ihn nicht vor dem Selbstmord. Wäre sein Vater nicht 1942 in einem Lager ermordet worden, vielleicht hätte Paul Celan zu den Gefühlen seiner Kindheit gefunden, vielleicht sich mit diesem Vater innerlich auseinandersetzen können, um sein eigenes Leben zu retten. Aber es ist sehr schwer, einen grausam ermordeten Vater in Frage zu stellen und die Beziehung zu klären. Es ist einfacher, den Ausweg in der Mystik zu suchen, wo es darum geht, die Augen zu schließen und in beredten symbolischen Darstellungen die Wahrheit zu verschweigen.

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Doch manchmal ist auch dies kaum mehr auszuhalten, weil die Macht der ganz prosaischen Wahrheit, der Wahrheit des von den Mystikern so verachteten »kleinen Selbst« unerbittlich sein kann. Gerade bei Menschen, die in der Kindheit irgendwann einmal Zuwendung erfahren haben, läßt sich diese Wahrheit nicht vollständig zum Schweigen bringen, auch nicht mit Hilfe der Dichtung, der Philosophie oder mystischer Erfahrungen. Sie drängt darauf, angehört zu werden, wie jedes Kind, dessen Stimme nicht vollständig zerstört wurde. 

Das Fehlen oder die Gegenwart eines helfenden Zeugen in der Kindheit entscheidet darüber, ob ein mißhandeltes Kind zum Despoten wird oder zum Künstler, der über sein Leiden berichten kann. Eine Fülle von weiteren Beispielen läßt sich dafür anbringen. Ich kann hier nur einige erwähnen und dies auch nur andeutungsweise tun. Ich muß es dem Leser überlassen, meine Behauptungen nachzuprüfen, meine Beweise mit neuem Material zu ergänzen oder sie gegebenenfalls zu widerlegen. 

Man weiß über den Vater Dostojevskijs, daß er die Kinder zum obligaten Bibellesen zwang und mit seinem Geiz quälte. Ob er sie körperlich mißhandelt hat, ist mir nicht bekannt, und ich bin nach der Kenntnis der Romane auf meine Vermutungen angewiesen. Aber es ist bekannt, daß er nach dem Tod seiner Frau »das Leben eines Wüstlings, Trunkenbolds und Tyrannen führte. Er mißhandelte seine Leibeigenen so brutal, daß er 1839 von ihnen auf die grausamste Weise erschlagen wurde.« (J. Lawrin 1963, S. 9)

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Im damaligen Rußland gehörte Grausamkeit den Leibeigenen gegenüber beinahe zur Regel. Es muß also eine besonders brutale oder besonders perfide Behandlung gewesen sein, wenn sie die Leibeigenen zu einem derartig gefährlichen Racheakt herausfordern konnte. Wie hat wohl dieser Vater seine eigenen Söhne behandelt? Vielleicht ließe sich vieles aus den Brüdern Karamasov ableiten. Aber dieser Roman zeigt auch, wie schwer es den Söhnen fällt, die Bosheit des eigenen Vaters ohne Schuldgefühle und ohne Tendenz zur Selbstbestrafung zu erkennen.  

Die Leibeigenen konnten sich von diesem Gutsbesitzer befreien, nicht aber seine Kinder. Fjodor Dostojevskij litt an Epilepsie und suchte Gott, den er nicht finden konnte. Warum wurde er nicht zum Verbrecher und Hasser? Weil er in der Person seiner Mutter einem liebenden Menschen begegnet ist. Weil er dank ihr die Erfahrung der Liebe gemacht hat, die für sein Leben bestimmend wurde. Kann die Erklärung so einfach sein? Ja. Aber die Realität hätte um ein Haar ganz anders aussehen können.

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In der Kindheit Stalins zum Beispiel fehlte die Erfahrung der schützenden und nicht besitzergreifenden Liebe vollständig. In deren Beschreibung ist nirgends die Gegenwart einer Person zu finden, die ihn vor den exzessiven Schlägen des Vaters jemals in Schutz genommen oder ihm durch ihre Liebe und wache Präsenz einen Ausgleich dafür gegeben hätte. Die Mutter wird als sehr religiös, verwirrt und innerlich absorbiert beschrieben. Im Buch von Robert Payne über Stalin (1981) fand ich die folgenden Informationen:

»Die Familie von Joseph Wissarionowitsch Dschugaschwili war auf ihre eigene Art unglücklich. Der Vater des Jungen war ein Trinker und Verschwender, ein jähzorniger Mensch, ohne jedes Gefühl für seine Frau oder seinen Sohn, die er erbarmungslos prügelte. Von Beruf war er Schuhmacher und besaß eine kleine Werkstätte in einem obskuren Gäßchen am Rande von Gori. Die Mutter war eine stille, verschlossene, tief religiöse Frau, die in ihrer Jugend sehr schön gewesen war; ihr größtes Vergnügen fand sie darin, dem Gottesdienst beizuwohnen und aus ihrem spärlichen Verdienst zum Unterhalt der Geistlichen beizutragen. Sie erwarb ein wenig Geld durch niedere Arbeiten in den Häusern der Reichen — Waschen, Brotbacken, Botendienste. Sie verstand auch zu nähen. Einer der Kindheitsfreunde ihres Sohnes, der eine gewisse Sympathie für ihn besaß, wußte sich zu erinnern, daß sie gelegentlich ihren Unterhalt bestritt, indem sie Unterwäsche anfertigte und zum Waschen übernahm. Sie war eine stolze Frau, die niemals über ihr Los klagte.« (S. 19)

»Als Jekaterina Geladse im Jahr 1874 Wissarion Dschugaschwili heiratete, war sie ein Mädchen von siebzehn Jahren, und ihr Mann war zweiundzwanzig Jahre alt. Die drei ersten Kinder aus dieser Ehe sind angeblich bei der Geburt gestorben. Joseph, der am 21. Dezember 1879 das Licht der Welt erblickte, war das einzige Kind, das sie großzogen. Wissarion starb, als der Junge noch nicht elf Jahre alt war. Jekaterina überlebte ihren Gatten um fast fünfzig Jahre. Sie war eine kleine, zarte Frau von unbezwinglichem Charakter; ihr ganzes Leben lang blieb sie tief religiös und trug stets ein schwarzes, nonnenartiges Gewand.« (S. 20)

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»Stalins Familie könnte aus Gorkis <Nachtasyl> stammen. Sie war grausam unglücklich. Sie lebten in zermürbender Armut und waren ständig verschuldet. Gelegentlich erbarmten sich die Nachbarn der abgequälten Näherin und ihres schlecht genährten Jungen — und ihr Mitleid hat Joseph vielleicht größeren seelischen Schaden zugefügt als die Prügel, die er von seinem Vater bekam. Das Elend brachte die arme Jekaterina manchmal dem Wahnsinn nahe; wir hören, daß sie mit wirrem Haar, weinend, betend, singend und vor sich hin murmelnd durch die Straßen irrte. Ihr Sohn lernte schon in sehr jungen Jahren, was es heißt, allein auf der Welt zu sein.« (S.21)

»Nach den Berichten von Iremaschwili, der die Familie gut kannte und ständig im Haus ein und aus ging, prügelte der Vater seinen Sohn rachgierig, unbarmherzig, mit einer Art finsterer, bedachtsamer Leidenschaft, ohne Vergnügen daran zu finden, aber auch ohne jeden Begriff, daß er etwas Böses täte, einfach nur um etwas Anregung in sein ansonsten leeres und sinnloses Dasein zu bringen. Das Resultat war vorauszusehen. Der Junge lernte hassen. Vor allem haßte er seinen Vater, aber allmählich erweiterte sich dieser Haß, bis er alle anderen Väter, alle anderen Menschen mit einschloß. 

<Ich sah ihn niemals weinen>, berichtete Iremaschwili, und diese Behauptung klingt glaubwürdig. Die Prügel verhärteten den Jungen, und er wurde zum Schluß erschreckend unempfindlich gegen Grausamkeit. Sein Gesicht und sein Körper waren von Striemen bedeckt, doch er war entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Irgendwie würde er seinen Vater überleben, aber um zu überleben, mußte er ebenso brutal werden wie der Vater. Er war zu schwach, um zurückzuschlagen, aber er konnte sich mit einer Rüstung von brutaler Gleichgültigkeit und Verachtung umgeben. >Diese unverdienten, fürchterlichen Prügel<, sagt Iremaschwili, >machten den Jungen ebenso hart und herzlos, wie es sein Vater war.<« (S. 22)

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»Die Kirche war ein Trost, denn dort schlug ihn niemand, und niemand verachtete oder bemitleidete ihn. Als Chorknabe nahm er an Prozessionen teil, sang Kirchenlieder, trug glänzende Gewänder, und in der Nähe des Geistlichen war er auch der Quelle des Mysteriums näher. Sein frühester Ehrgeiz war es, Priester zu werden, und seine Mutter freute sich auf die Zeit, da ihr eigener Sohn ihr den Segen erteilen würde. Sein größter Trost aber war die Mutter, die sich für ihn zu Schanden arbeitete und einzig für ihn lebte.« »Sie liebte ihren Sohn mit einer Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit, die ganz von ihm Besitz ergriff.«

(In den Augen der meisten Biographen ist es offenbar immer noch möglich, zerstörerische Besitzansprüche und vollkommene Blindheit der Situation des Kindes gegenüber als Liebe zu ihm zu bezeichnen.)

»Mit sieben Jahren erkrankte er an den Pocken, deren Narben ihn lebenslänglich entstellten. Es muß ein schwerer Fall gewesen sein, denn die Narben waren groß und zahlreich. Das Resultat war, daß tausende Fotografien von ihm sorgfältig retuschiert werden mußten, als er später zur Macht kam. Ein noch schwereres Leiden befiel ihn, als er etwa zehn Jahre alt war. Er hat darüber nur einmal gesprochen und auch da nur ganz kurz, als er erklärte, weshalb er während seiner sibirischen Verbannung im ersten Weltkrieg nicht zum Militärdienst einberufen wurde. 

Er erzählte die Geschichte seiner Schwägerin, Anna Allilujewa, die sie in ihren Memoiren veröffentlicht hat:

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>Stalins linker Ellbogen war schwer verkrümmt. Als Kind hatte er eine Verletzung erlitten. Eine Infektion trat ein, und da er nicht ärztlich behandelt wurde, kam es zu einer Blutvergiftung. Stalin war dem Tode nahe.

>Ich weiß nicht, was mir das Leben rettete<, sagte er zu uns. >Entweder mein gesunder Organismus oder die Salbe, die mir der Dorfbader darauf schmierte, aber jedenfalls wurde ich wieder gesund. Die Spuren dieser Verletzung sind bis zum heutigen Tage gebliebene« (S. 23)

»Infolge dieser Verletzung war Stalins linker Arm um etwa acht Zentimeter kürzer als der rechte, und er erlangte niemals die vollständige Kontrolle über die Muskeln der linken Hand. Zeitweise trug er eine Schiene, um den Ellbogen zu stützen; die Umrisse des Apparats sind auf mehreren Bildern zu erkennen. Ein hervorragender orthopädischer Chirurg hat auf Grund des Berichtes der Allilujewa und einer Anzahl fotographischer Aufnahmen die Diagnose gestellt, Stalin hätte einen komplizierten Knochenbruch mit daraus resultierender Osteomyelitis und anschließender Deformierung der Hand als sekundäre Folge einer Wachstumsstörung im Arm erlitten, wobei die Deformierung der Hand auf eine Volkmansche Kontraktur infolge unzulänglicher Behandlung des Knochenbruchs zurückzuführen sei<.

Eine solche Diagnose beruht natürlich weitgehend auf theoretischen Überlegungen. Ärztliche Aufzeichnungen über Stalin sind niemals veröffentlicht worden, und es ist nicht anzunehmen, daß sie in absehbarer Zeit veröffentlicht werden. Fest steht nur, daß der linke Arm verkrümmt war, daß ihm die Kraft des rechten Arms fehlte und daß er seinem Besitzer lebenslänglich Schmerzen und Unbehagen verursachte. Die störende Versteifung der Schulter mußte ihn ständig an seine unheilbare Verunstaltung mahnen, und er brauchte nur seine linke Hand anzusehen, die er niemals ganz zu öffnen vermochte, um sich zu erinnern, daß er nicht wie andere Menschen war.

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Er nahm beträchtliche Unannehmlichkeiten auf sich, um die Verkrüppelung zu verbergen, was nur gelang, wenn er einen dicken Mantel mit übermäßig langen Ärmeln trug. Der verkrüppelte Arm hatte vermutlich einen weitgehenden Einfluß auf Stalins Charakterentwicklung. Wir haben keinen Anhaltspunkt, wie es zu der Verletzung kam. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sie mit den grausamen Prügeln zusammenhängt, die sein Vater ihm zu versetzen pflegte.« (S. 24)

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Unbehandelte Frakturen am linken Arm sind häufig bei mißhandelten Kindern vorzufinden, weil der Erwachsene in seiner rechten Hand die Besen und Kleiderbügel hält, die er in seinem Frontalangriff auf das vor ihm stehende Kind benutzt. Es versteht sich von selbst, daß dann der linke Arm des Kindes den größten Gefahren ausgesetzt ist.

Stalins Familie war sehr arm, und die Mutter mußte arbeiten. Doch auch die Mutter Charlie Chaplins war arm. Sie mußte das Kind sogar ins Waisenhaus bringen, aber sie besuchte es dort und vermittelte ihm die Sicherheit, daß es geliebt wurde, daß es für jemanden wertvoll und bedeutungsvoll war. Diese Erfahrung des Geliebtwerdens ist in allen Chaplin-Filmen spürbar. Trotz des Hungers, Elends und trotz der größten Misere gibt es doch immer wieder den Raum für Gefühle, für die Tränen, für die Zärtlichkeit, für das Leben. 

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Im Leben Stalins, der wie Hitler nach drei toten Kindern zur Welt kam, gab es nur die Einsamkeit, die ständige Bedrohung, die Gewißheit der eigenen angeblichen Wertlosigkeit und Schuld und nirgends einen Menschen, der ihn vor der konstanten Verfolgung und Mißhandlung in Schutz genommen hätte, der ihm gesagt oder gezeigt hätte, daß er nicht schuld war. Es gab ringsum gar keine Instanz, die sein Schicksal abwenden konnte. wie es auch später für die Millionen Häftlinge im Archipel Gulag keine Gnade gab. Sie konnten ohne ein Urteil gepeinigt, gefoltert, getötet oder aus der Haft entlassen werden, ohne jeden ersichtlichen Grund. Alles geschah aus der Willkür eines Tyrannen, der überall Angriffe und Feinde witterte, weil er so früh ständige Bedrohung erlebt hat und weil kein Zeuge da war, der ihm die Erfahrung vermittelte, daß nicht die ganze Welt so ist wie sein Vater: böse, gefährlich, unberechenbar, furchteinflößend. 

Wenn diese grenzenlose Ohnmacht eines Kindes niemals bergende Arme findet, kann sie sich nur in Härte und Gnadenlosigkeit verwandeln. Wenn sie zudem vom Ehrgeiz der Mutter angespornt wird, kann sie sich zu einer großen Karriere entwickeln, die alle Elemente des erfahrenen, aber verdrängten Elends in die Weltgeschichte trägt. Dann müssen Millionen von Menschen auf die Katorga oder in die Gaskammern marschieren, ohne zu wissen warum. Weil es einst der kleine Junge auch nicht wußte. Doch wie lange wollen wir diese sinnlosen Märsche tolerieren, wenn wir doch nun endlich wissen könnten, wo sie ihre Ursachen haben?  

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