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6   Wenn Isaak den Opfertisch verläßt 

 

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Ich war auf der Suche nach einem Bild für den Umschlag der britischen Ausgabe von Du sollst nicht merken, weil es mir wichtig war, den adäquaten bildhaften Ausdruck meines Hauptgedankens selbst zu finden. Mir fielen Rembrandts Darstellungen der Opferung Isaaks ein und die beiden Varianten davon aus Leningrad und München, auf denen die Hand des Vaters das ganze Gesicht des Sohnes verdeckt und diesen am Sehen, Sprechen, ja auch am Atmen hindert. 

Die Hauptlinien des Buches (Opferung des Kindes, das vierte Gebot und der Zwang zur Blindheit) schienen mir in der Geste Abrahams wie in einem Brennpunkt zusammenzulaufen. Ich war entschlossen, dieses Bilddetail meinem Verleger vorzuschlagen, und begab mich in ein Bildarchiv, um noch andere Darstellungen von Abraham und Isaak anzuschauen. Es gab deren dreißig, von sehr verschiedenen Malern ausgeführt, und mit wachsendem Erstaunen sah ich sie mir alle an. 

Schon bei den beiden Rembrandt-Darstellungen, die ich kannte, fiel mir auf, daß Abraham zwar mit der linken Hand den Kopf seines Sohnes hält und mit der rechten das Messer gegen ihn erhebt, sein Blick aber nicht zu seinem Sohn geht, sondern nach oben, als ob er Gott fragen wollte, ob er seinen Auftrag richtig ausführe. 

 

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Ich dachte zunächst, dies sei Rembrandts Interpretation, neben der es auch andere geben müßte, doch ich fand keine andere. In allen mir zugänglichen Darstellungen war entweder nur das Gesicht oder der ganze Kopf oder der ganze Körper Abrahams von seinem Sohn abgewandt und nach oben gerichtet. Lediglich die Hände waren mit der Opferung des Sohnes beschäftigt. Während ich diese Bilder anschaute, dachte ich: Da liegt der Sohn, ein erwachsener Mann auf dem Höhepunkt seiner Kraft, und wartet ruhig darauf, von seinem Vater ermordet zu werden; auf einigen Bildern gelassen, ruhig, folgsam, auf einem einzigen weinend, aber nirgends rebellierend. Auf keinem dieser Bilder sind in den Augen Isaaks die »Warum«-Fragen zu lesen. Fragen wie etwa: »Vater, warum willst du mich umbringen, warum ist dir mein Leben nichts wert? Warum schaust du mich nicht an, warum erklärst du mir nicht, was vor sich geht? Wie kannst du mir das antun? Ich liebe dich doch, ich hatte zu dir Vertrauen, warum sprichst du nicht mit mir? Was habe ich verbrochen? Womit habe ich das verdient?«

Zu solchen Fragen kann es gar nicht kommen, weil man sie erst stellen kann, wenn man sich gleichberechtigt fühlt, wenn eine Konfrontation möglich ist, wenn man dem anderen in die Augen schauen kann. 

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Wie kann aber ein Mensch Fragen stellen, der mit zusammengebundenen Händen auf dem Opfertisch bereit zum Abschlachten liegt, wenn er durch die Hand des Vaters am Sehen, Sprechen und Atmen gehindert wird? Dieser Mensch ist zur Sache gemacht worden. Seine Bestimmung zum Opfer hat ihn entmenschlicht, er hat kein Recht mehr, Fragen zu stellen, und die Fragen werden sich in ihm kaum noch formen können, weil in seinem Innern für nichts anderes mehr Platz ist als für die Angst.

Ich saß in dem Bildarchiv, betrachtete mir die Bilder und sah in ihnen plötzlich die symbolische Darstellung unserer heutigen Situation. Es werden Waffen produziert, unaufhaltsam, die eindeutig dafür bestimmt sind, die nächste Generation zu vernichten. Doch diejenigen, die durch die Produktion der Waffen,ihr Vermögen, ihr Prestige, ihre Macht vergrößern, bringen es fertig, an diese Konsequenz gar nicht zu denken. Wie Abraham sehen sie nicht, was ihre Hände tun, und sind voll damit beschäftigt, die Erwartungen von oben zu erfüllen, indem sie ihr Fühlen ausschalten. Sie haben als Kinder das Fühlen verlernt, wie sollten sie nun als Väter diese Fähigkeit zurückgewinnen können? Dafür ist es zu spät. Ihre Seelen sind inzwischen erstarrt und angepaßt, sie haben auch verlernt, Fragen zu stellen und Fragen zu hören. Ihre ganze Anstrengung richtet sich nun darauf, auch für ihre Söhne eine Situation zu schaffen, in der ihnen das Sehen und Hören vergeht. Das wäre die Situation eines neuen Krieges. 

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Mit der Mobilmachung verstummen alle Fragen der jungen Generation. Die Entscheidung des Staates anzuzweifeln gilt bereits als Verrat am Vaterland. Alle Diskussionen und Erwägungen von Alternativen erlöschen mit einem Schlag. Es gibt nur noch praktische Fragen: Wie gewinnt man den Krieg, wie überlebt man ihn? Ist es einmal soweit, werden die jungen Menschen vergessen, daß der Krieg lange von arrivierten älteren Männern vorbereitet wurde. Sie werden marschieren, Lieder singen, töten, sich töten lassen und sich einbilden, daß sie nun einen hochwichtigen Auftrag erfüllen. Es wird tatsächlich eine vom Staat sehr angesehene und mit Verdienstkreuzen belohnte Aktivität sein, aber ihre Seele, der kindliche, lebendige, fühlende Teil ihrer Persönlichkeit, wird zur äußersten Passivität verurteilt bleiben. Diese Seele wird Isaak gleichen, wie er in allen Opferungsszenen dargestellt wird: mit gefesselten Händen und mit verbundenen Augen, als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt wäre, daß man in dieser Lage fraglos darauf wartet, vom Vater geschlachtet zu werden (in meiner Übersetzung der Bibel wird das Wort »schlachtet« benutzt).

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Auch der Vater stellt keine Fragen. Er fügt sich dem göttlichen Befehl mit der gleichen Selbstverständlich­keit, wie sein Sohn sich ihm fügt. Er muß und will beweisen, daß sein Gehorsam stärker ist als das, was er seine Liebe zum Kind nennt, und mit der Ausübung der Tat erlöschen seine Fragen. Er bittet Gott nicht um Gnade, sucht keinen Ausweg. Hätte der Engel nicht im letzten Moment eingegriffen, wäre er zum Mörder seines Sohnes geworden, einfach weil die Stimme Gottes das von ihm verlangte. Auf dem Gesicht Abrahams ist in den mir zugänglichen Bildern ebenfalls kein Schmerz zu sehen, kein Zögern, kein Suchen, kein Fragen, kein Anzeichen dafür, daß ihm die Tragik seiner Situation bewußt ist. Er wird von allen Malern, sogar von Rembrandt, als ein folgsames Werkzeug Gottes dargestellt, das nur sorgsam auf sein richtiges Funktionieren bedacht ist. 

Es ist auf den ersten Blick erstaunlich, daß keiner der an sich eigenwilligen und heterogenen Maler versucht war, dieser dramatischen Szene sein individuelles, persönliches Gepräge zu geben. Wohl wechseln die Kostüme, die Farben, die Umgebung, die Haltungen der Körper, aber der psychologische Gehalt dieser Szene ist von einer auffallenden Gleichartigkeit. Die Erklärung liegt nahe, daß sie sich alle an den Text aus dem Alten Testament gehalten haben, aber die Frage stellt sich dennoch: Warum? Warum gab es in der Psyche dieser Maler keinen Ort, an dem Zweifel an der Selbstverständlichkeit des Bibeltextes erwacht wären? Warum wurde dieser von allen Malern als gültig erlebt? 

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Ich finde keine andere Antwort darauf als die Erwägung, daß es sich hier um die symbolische Darstellung einer Grundsituation unseres Daseins handelt, die viele Menschen in den ersten Jahren ihres Lebens kennengelernt haben und die so schmerzhaft ist, daß das Wissen von ihr nur in den Tiefen des Unbewußten überdauern konnte. Das Wissen von der Opferung des Kindes ist so tief in uns verwurzelt, daß uns die Geschichte von Abraham und Isaak in ihrer Ungeheuerlichkeit bisher noch kaum aufgefallen zu sein scheint. Sie hat beinahe die Legitimität eines Naturgesetzes. Doch wenn diese Legitimität zu einer so großen Gefahr wie der Atomkrieg führen soll, dann ist sie nicht wie ein Naturgesetz hinzunehmen, sondern muß hinterfragt werden. Wenn wir unser Leben mehr lieben als den Gehorsam und nicht bereit sind, für den Gehorsam und die Kritiklosigkeit unserer Väter zu sterben, können wir nicht länger wie Isaak mit verbundenen Augen und gefesselten Händen darauf warten, daß unsere Väter den Willen ihrer Väter ausführen.

Doch wie läßt sich ein jahrtausendealter Zustand ändern? Würde er sich ändern, wenn die jungen Menschen die alten umbringen würden, damit sie nicht in den Krieg müßten? Wäre damit nicht der grauenhafte Krieg, den man vermeiden wollte, bereits vorweggenommen? Und wäre nicht mit dieser Tat im Grunde der alte Zustand wieder stabilisiert, nur daß das Messer Abrahams in die Hände Isaaks käme und daß der Alte dem Jungen zum Opfer fiele? Bliebe die alte Grausamkeit dann nicht bestehen?

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Wie wäre es aber, wenn Isaak nicht zum Messer greifen müßte, wenn er die ganze Kraft seiner Muskeln dafür aufbringen würde, seine Hände zu entfesseln und sein Gesicht von der Hand Abrahams zu befreien? Das würde seine ganze Situation verändern. Er würde nicht mehr wie ein Opferlamm liegen, sondern aufstehen, er würde wagen, seine Augen zu gebrauchen und seinen Vater so zu sehen, wie er ist: unsicher und zitternd darauf bedacht, einen ihm unbegreiflichen Befehl auszuführen. Auch Isaaks Mund und Nase wären nun frei, er könnte endlich tief Atem holen und seine Stimme gebrauchen. Er könnte sprechen und Fragen stellen, und Abraham, dessen linke Hand nicht mehr den Sohn am Sehen und Sprechen hindern kann, müßte sich dem Dialog mit seinem Sohn stellen. An dessen Ende würde er möglicherweise dem jungen Mann begegnen, der er selbst einmal war und der nie Fragen hatte stellen dürfen. 

Und nun, nachdem die Szenerie sich gewandelt hat und Isaak nicht mehr ein selbstverständliches Opfer ist, muß es zu einer Konfrontation kommen, die zwar keine konventionellen Vorbilder hat, aber trotzdem oder vielleicht daher eine große Chance für uns darstellt. 

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Isaak fragt: »Vater, warum willst du mich umbringen?« und bekommt zur Antwort: »Es ist Gottes Wille.« — »Wer ist Gott?« fragt der Sohn. — »Unser aller größter und gütigster Vater, dem wir gehorchen müssen«, antwortet Abraham. »Tut es dir weh«, möchte der Sohn wissen, »diesen Befehl auszuführen?« — »Ich habe nicht nach meinen Gefühlen zu fragen, wenn Gott etwas befiehlt.« — »Wer bist du dann«, fragt Isaak, »wenn du die Befehle ohne Gefühle ausführst, und wer ist Gott, der das von dir verlangt?«

Es könnte sein, daß Abraham zu alt ist, daß es für ihn zu spät ist, die Botschaft des Lebens zu vernehmen, die ihm sein Sohn bringt. Es kann auch sein, daß er sagt: »Halt den Mund, davon verstehst du nichts.« 

Es kann aber auch sein, daß er sich den Fragen öffnet, weil es auch seine Fragen sind, die seit Jahrzehnten unterdrückt geblieben waren. Aber auch im ersten Fall ist die Auseinandersetzung nicht zum Scheitern verdammt, solange Isaak nicht bereit ist, seine Augen wieder zuzumachen, weil er entschlossen ist, den Anblick seines realen Vaters zu ertragen. Wenn Isaak sich nicht wieder fesseln und blind machen läßt, um sich die Illusion eines starken, weisen und gütigen Vaters zu erhalten, sondern den Mut hat, seinem realen Vater in die Augen zu sehen und auch dessen »Halt den Mund« auszuhalten, ohne sich zum Schweigen bringen zu lassen, geht die Auseinandersetzung weiter. Dann werden junge Leute nicht in Kriegen umkommen müssen, um das Bild der weisen Väter am Leben zu erhalten.

Wenn diese Männer sehen dürfen, daß ihre Väter unentwegt, beharrlich und gedankenlos ein gigantisches Waffensystem aufbauen, von dem sie hoffen, daß es nicht sie, sondern erst ihre Kinder vernichtet, dann werden sich diese Kinder nicht freiwillig wie ein Lamm auf den Opfertisch legen. Doch diese Weigerung hat zur Voraussetzung, daß man bereit ist, das Gebot »Du sollst nicht merken« nicht mehr zu befolgen.

Warum dieser Schritt so schwer zu vollziehen ist, erklärt das Gebot selbst. Trotzdem ist die Entscheidung die erste Vorbedingung einer Veränderung. Wir können unser Schicksal abwenden, wenn wir nicht auf die Rettung durch den Engel warten, der Abraham für seinen Gehorsam entschädigt. Es gibt immer mehr Menschen, die die Rolle Isaaks als Opfer in der künftigen Geschichte ablehnen. Und es gibt vielleicht auch Menschen, die Abrahams Rolle ablehnen, die es ablehnen, Befehle auszuführen, die ihnen absurd vorkommen, weil sie sich gegen das Leben richten. Ihre Fähigkeit, Fragen zu stellen, und ihre Weigerung, Sinnloses hinzunehmen, kann der Anfang einer längst fälligen Umorientierung werden, die unserem »Ja« zum Leben und »Nein« zum Tode wirkliche Überzeugungskraft verschaffen würde. Denn mit seinen Fragen, mit seinem Merken, mit der Weigerung, sich töten zu lassen, rettet Isaak nicht nur sein eigenes Leben, sondern er rettet auch seinen Vater vor dem Schicksal, ein gedankenloser Mörder seines Kindes zu werden.

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