4. Theorien als Schutzschild
Alice Miller 1988
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Gerade die Meinungen werden meist am heftigsten verteidigt, die nicht richtig sind, aber doch mit unserem Erziehungssystem übereinstimmen.
Das Beweismaterial zu den in diesem Kapitel formulierten Erkenntnissen befindet sich in meinen vorangegangenen Büchern. Insbesondere meine Äußerungen über Freud und die Psychoanalyse werden dem Leser auf dem Hintergrund von Du sollst nicht merken, III. Teil, besser verständlich.
Die Dogmatisierung dieser unwahren Behauptungen schützt das Individuum vor dem schmerzhaften Erwachen (vgl. A. Miller 1988a, Kap. 7). Diese Funktionen erfüllen auch die Freudschen Theorien von der infantilen Sexualität, dem Ödipuskomplex und dem Todestrieb.
Freud hatte ursprünglich in den teilweise noch mit Hypnose durchgeführten Behandlungen entdeckt, daß alle seine Patientinnen und Patienten mißhandelte Kinder gewesen waren und ihre Geschichte in der Sprache der Symptome erzählten (vgl. S. Freud 1896). Nachdem er von seiner Entdeckung im Kreise der Psychiater berichtet hatte, sah er sich mit diesem Wissen, das keiner seiner Fachkollegen mit ihm teilen wollte, vollständig allein gelassen. Diese Einsamkeit hielt er nicht lange aus.
Einige Monate später, im Jahr 1897, bezeichnete er die Berichte der Patientinnen und Patienten über sexuelle Übergriffe als bloße Phantasien, die deren frühen Triebwünschen zuzuschreiben seien. Der für kurze Zeit gestörte Schlaf der Menschheit konnte nun fortgesetzt werden.
Jeder Mensch, der mit Kindesmißhandlungen konfrontiert wird und bei anderen beobachtet, in welchem Ausmaß diese Erfahrungen verdrängt und verleugnet werden, wird dadurch stark verunsichert, denn er muß sich notgedrungen fragen: Wie war es denn bei mir? Wenn offensichtliche Opfer von schwersten Mißhandlungen dies so vollständig leugnen können, wie kann ich sicher sein, daß mein Gedächtnis mich nicht täuscht? Diese Frage stellte sich auch für Freud, als er noch für Fragen offen und nicht mit Theorien gegen sie gewappnet war. Es tauchten verschiedene Hypothesen auf, unter anderem eine massive Beschuldigung des Vaters, wie sie in einem der Briefe an Fließ zu lesen ist:
»Leider ist mein eigener Vater einer von den Perversen gewesen und hat die Hysterie meines Bruders (dessen Zustände sämtlich Identifizierungen sind) und einiger jüngerer Schwestern verschuldet. Die Häufigkeit dieses Verhältnisses macht mich oft bedenklich.«
(Brief 120, in: S. Freud 1986, S. 245)Jeder kann bei sich selbst nachprüfen, welche Ängste derartige Vorwürfe an den eigenen Vater in ihm hervorrufen würden.
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Wieviel gefährlicher mußten solche Gedanken vor 100 Jahren gewesen sein. Vielleicht hätte Freud dennoch die Kraft gefunden, seine Hypothese über den Vater zu prüfen, wenn nur ein einziger Mensch ihn dabei unterstützt hätte. Doch sein nächster Vertrauter, Wilhelm Fließ, konnte mit Freuds Entdeckung nichts anfangen. Dessen Sohn aber, Robert Fließ, wurde später Psychiater und Analytiker und veröffentlichte drei leider immer noch nicht aus dem Englischen übersetzte Bücher mit sehr aufschlußreichem Material über sexuelle Mißhandlungen von Eltern an eigenen Kindern.
Robert Fließ brauchte viele Jahrzehnte, um herauszufinden, daß auch er im Alter von zwei Jahren von seinem Vater sexuell mißbraucht worden war und daß diese Begebenheit mit Freuds Abkehr von der Wahrheit zeitlich zusammenfiel. Er hat in seinem Buch seine persönliche Geschichte der Öffentlichkeit mitgeteilt, weil er überzeugt war, daß sein Vater Freud davon abgehalten hatte, die Traumatheorie weiterzuentwickeln. Sie hätte ihm, Wilhelm Fließ, Schuldgefühle verursachen müssen, nach allem, was geschehen war, meint sein Sohn (R. Fließ 1973). Wieweit dessen Vermutung zutrifft, läßt sich von außen schwer beurteilen.
Neben dieser gibt es noch eine ganze Reihe anderer Erklärungen für Freuds Verrat an der Wahrheit im Jahre 1897. Ihnen allen ist gemeinsam, daß einzelne Aspekte aus dem Privatleben Freuds für diesen folgenschweren Schritt verantwortlich gemacht werden.
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Es mag sein, daß alle diese Faktoren eine mehr oder weniger bedeutende Rolle gespielt haben und daß sie sich gegenseitig sogar stützten. Doch ihrer Wirkungskraft liegt das Gebot »Du sollst nicht merken« zugrunde, das uns auch heute noch verbietet zu sehen, was Eltern ihren Kindern antun. Trotz der starken Wirksamkeit dieses Gebotes gab es schon früher einzelne Therapeuten, wie zum Beispiel Sandor Ferenczi und Robert Fließ, die sich von diesem Gebot freizumachen versuchten.
Doch ohne die eigenen Eltern in Frage zu stellen, ohne die intensiven Schmerzen, die ein solches Aufgeben von Illusionen bewirkt, ohne Hilfe und Beistand anderer, die ebenfalls ihre Blindheit überwinden möchten oder es bereits geschafft haben, läßt sich diese Unabhängigkeit und Klarheit der Sicht kaum erreichen. Daher ist es im Grunde nicht erstaunlich (obwohl verhängnisvoll), daß sich Sigmund Freud vor 90 Jahren diesem Gebot, seiner Angst und seiner Verdrängung fügte. Das gleiche tat später auch Wilhelm Reich, indem er eine Theorie entwickelte, die ihm helfen sollte, den Schmerz des sehr früh und konstant sexuell ausgebeuteten Kindes, das er einst gewesen war, abzuwehren. Statt zu fühlen, wie weh es tut, wenn man von den Erwachsenen, denen man vertraut, betrogen wird und dies wehrlos hinnehmen muß, hat Wilhelm Reich sein Leben lang, bis zur Psychose, behauptet: das habe ich selber gewollt, das habe ich gebraucht, das braucht jedes Kind!
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Doch unser Verständnis für Reich und Freud darf uns nicht daran hindern zu sehen, daß Freud mit seiner Triebtheorie der Menschheit einen großen Schaden zugefügt hat. Statt seine persönliche Not ernst zu nehmen, hat er sich mit Hilfe von Theorien gegen diese Not abgeschirmt. Indem er darüber hinaus auch noch eine Schule gründete und seine Thesen dogmatisierte, schuf er eine Institutionalisierung der Verleugnung, die den Lügen der Pädagogik eine angeblich wissenschaftliche Legitimität verschaffte. Denn die Freudschen Dogmen deckten sich mit der verbreiteten Auffassung, daß das Kind von Natur aus böse und schlecht ist und von den Erwachsenen zum Guten erzogen werden muß. Diese perfekte Übereinstimmung mit der Pädagogik verschaffte wiederum der Psychoanalyse ein hohes Ansehen in der Gesellschaft, und die Unwahrheit ihrer Dogmen blieb lange unbemerkt (vgl. A. Miller 1981, Fußnote S. 9 und S. 19-61).
Der pädagogische Schutz dieser Theorien ist so groß, daß auch die Frauenbewegung die Verir-rung nicht durchschaute. So wurde es möglich, daß die Triebtheorie sogar von engagierten Frauen als Fortschritt und nicht als Verleugnung der Kindesmißhandlungen angesehen wurde.
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Immer noch sind viele Menschen der Meinung, es dürfe Freud nicht angelastet werden, wenn einzelne Psychoanalytiker realitätsfremd, ungenau und unverbindlich sind, denn Freud sei schließlich ein genialer Entdecker gewesen. Ähnliches wird von C. G. Jung behauptet — die Väter werden auf Kosten der »Söhne« und »Töchter« idealisiert. Aber nicht diese haben die Psychoanalyse erfunden; erfunden hat sie der »Vater«, und indem er die Verleugnung der Wahrheit dogmatisierte, machte er es den »Söhnen« und den »Töchtern« schwer, ihre Augen und Ohren zu gebrauchen. Sie hatten wenig Chancen, mit Hilfe ihrer Erfahrungen seine Behauptungen zu widerlegen, weil ein Dogma nicht widerlegt werden kann.
Ein Dogma lebt aus der Angst seiner Anhänger vor dem Verlust der Gruppenzugehörigkeit. Aus dieser Angst schöpft es seine Macht, und dieser Macht ist es zuzuschreiben, daß Menschen 30 und 40 Jahre lang täglich mit Opfern von Kindesmißhandlungen »arbeiten«, ohne diese Tatsachen überhaupt wahrzunehmen, so daß auch die Patienten zu ihrer Wahrheit nicht durchdringen können. Da sich das Spiel mit Worten, Assoziationen und Spekulationen an den »Phantasien« der Patienten orientieren will und an deren realem Hintergrund in der Kindheit uninteressiert bleibt, entbehren die Resultate nicht nur der notwendigen Präzision und Verbindlichkeit, sondern können auch nicht überprüft werden (vgl. A. Miller 1981, S. 320-325).
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Die Dogmatisierung der Triebtheorie ist meiner Meinung nach dem Gründer der Psychoanalyse selbst anzulasten. Wenn ein Mensch die Abkehr von der Realität als einen großen wissenschaftlichen Schritt bezeichnet und eine Schule gründet, die die Schüler in der Blindheit unterstützt, dann ist das keine private Angelegenheit mehr. Es ist ein Verstoß gegen die Interessen der Menschheit, auch wenn er unbewußt verübt wird. Doch das ist ja im Grunde die Voraussetzung für Verstöße: Es gäbe sie nicht, wenn sich Menschen ihrer Situation, ihrer Geschichte und ihrer Verantwortung voll bewußt wären.
In den letzten Jahren lernte ich mehr als in meinem ganzen Leben vorher über die Situation des Kindes in unserer Gesellschaft und über die Blockierungen im Denken und Fühlen der psychoanalytisch ausgebildeten Menschen. Diese Blockierungen führen häufig dazu, daß die Patienten einer langdauernden Behandlung unterzogen werden, die die ehemalige Beschuldigung des Kindes zementiert, was kaum zu etwas anderem als zu Depressionen führen kann. Den erfolgreichsten Ausweg aus solchen chronischen Depressionen bietet die Entscheidung, selbst den psychoanalytischen Beruf zu ergreifen; so kann die Zementierung durch Theorien, die vor der Wahrheit schützen, weiter betrieben werden — dann allerdings auf Kosten anderer.
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Die Psychoanalyse trägt zu Unrecht die Bezeichnungen »fortschrittlich« und »revolutionär«, an denen sie festhält, ähnlich wie an ihren Dogmen. Ein junger Mensch würde sich heute kaum von einem 90jährigen Urgroßvater sagen lassen, was fortschrittlich ist. Er läßt sich das aber von seinem Analytiker in Freuds Namen sagen und realisiert nicht, daß die Ansichten, die er übernimmt, zumindest 90 Jahre alt sind und seitdem nie modifiziert wurden, weil ein Dogma nicht modifiziert werden kann. Und durch den Einfluß der Analytiker auf ihre Patienten verbreitet sich die Wirkung dieser Dogmen, auch außerhalb der Fachkreise, und verhindert den Zugang zu Realitäten.
Ich höre häufig die Meinung, der Psychoanalyse sei die Entdeckung der Kindesmißhandlung zu verdanken. An solchen Irrtümern fällt mir auf, welche Konfusion auf diesem Gebiet herrscht. Denn gerade die Psychoanalyse hielt und hält dieses Wissen zurück. Ich wundere mich nicht über diese Konfusion, weil auch ich sie so lange nicht durchschaute. Ich habe zwar nicht an Dogmen geglaubt, doch ich habe nicht gemerkt, welche Funktion sie ausüben: daß sie verbieten, neue Fakten ernst zu nehmen und alte Versäumnisse einzusehen.
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Unter den vielen Briefen, die ich erhalte und die diese Behauptung bestätigen, befindet sich das Schreiben eines bekannten Analytikers, der mir mitteilte, daß er in seiner langen 40jährigen psychoanalytischen Praxis nur selten einem Opfer des sexuellen Mißbrauchs begegnet sei. Manche Frauen hätten zwar von sexuellen Übergriffen erzählt, doch im Laufe der analytischen Arbeit »stellte sich heraus«, daß es sich hier um Phantasien handelte, die auf infantilen Wünschen beruhten, den Vater zu einem solchen Akt zu verführen und ihn gegen die Mutter auszuspielen. Weiter behauptete dieser Analytiker, indem er sich auf psychoanalytische Autoren wie Fenichel und Nunberg berief, daß jedes Kind sexuelle Beziehungen mit den Eltern genießen würde, wenn Inzest nicht verboten wäre.
Schuldgefühle und Neurosen stellten sich nur ein, weil die Gesellschaft diese Art von Beziehungen verbiete und gerade mit diesem Verbot Schwierigkeiten schaffe. Diese Korrespondenz und viele andere Briefe zeigen mir mit erschreckender Deutlichkeit, wie weit die klassische Psychoanalyse in der Verleugnung der Realität gegangen ist. Denn laut den Angaben des amerikanischen Psychohistorikers Lloyd de Mause schätzte man bereits im Jahre 1986, daß mehr als die Hälfte der amerikanischen Frauen in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht wurden (L. de Mause 1987).
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Viviane Clarac erzählt in ihrem Buch (1985), daß sie als Fünfjährige von ihrem Vater, einem hochgestellten Diplomaten, vergewaltigt und anschließend 10 Jahre lang sexuell mißbraucht worden ist. Als sie 25 Jahre alt ist, hält sie es nicht länger aus, mit diesem Geheimnis allein zu sein, und sucht eine Beratungsstelle für vergewaltigte Frauen auf. Die Helferin versucht ihr klarzumachen, daß »inzestuöse Beziehungen« häufig vorkommen und daß sie sich ihrer Lust nicht zu schämen braucht. Die Hoffnung Vivianes auf Verständnis bricht zusammen, sie läßt sich zwar noch einen Beratungstermin geben, kommt aber nicht wieder. Wofür auch? Aber viele kommen wieder und lassen sich weiter verwirren, ihr Leben lang.
Ich weiß nicht, warum gerade diese Therapeutin nach Formulierungen gegriffen hat, die einen schweren Kindesmißbrauch unkenntlich machen und das Opfer betrügen. Ich weiß nicht, welche persönlichen Faktoren ihre Blindheit bewirkten, aber ich weiß, warum sie sie nicht durchschauen kann und woher sie ihre Meinungen bezieht. Denn ich kenne diese Meinungen aus meiner eigenen Erziehung und aus der Ausbildung zur Psychoanalytikerin : die Eltern waren immer unschuldig. Man ist so stark von dieser Sicht beherrscht, daß es vielen Menschen nicht klar ist, was es heißt und welche Konsequenzen es für das Opfer hat, wenn die Machtausübung und der Betrug als inzestuöse »Beziehung« oder als Phantasie bezeichnet werden. Kein Mensch ist imstande, sich mit Hilfe der Phantasie das Grauen vorzustellen, das Kindern täglich und real zugemutet wird.
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Freud hat die Türen zum Wahrnehmen des Kindesmißbrauchs fest verschlossen und die Schlüssel zu ihnen so gründlich verborgen, daß sie für Generationen unauffindbar geworden sind. Und noch heute hört man kaum einen Freudianer sagen: »Wie war es nur möglich, das alles nicht zu sehen? Wir haben 90 Jahre lang den einst mißhandelten Kindern zugehört und sie in ihrer Verdrängung bestätigt. Sie wollten glauben, daß ihnen nichts geschehen war, und behielten die Symptome. Wir haben uns mit der Lüge verbündet!« Statt dessen sagen sie fast alle wie im Chor das gleiche: »Freud hat nie bestritten, daß sexueller Mißbrauch manchmal neben dem phantasierten (!) auch real stattfinden kann, aber diese Opfer kommen selten zum Analytiker.« Leider kommen sie doch. Sie kommen in Scharen, und sie bleiben. Sie bleiben lange und bezahlen viel dafür, daß die Wahrheit nicht erkannt wird und die Eltern geschont werden. Sie legen sich auf die Couch, viermal pro Woche, erzählen ihre Einfälle und warten auf das Wunder, das niemals geschieht und das auch gar nicht geschehen darf. Denn das Wunder käme mit der Wahrheit, und gerade diese ist verboten.
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Eine 79jährige Frau schrieb mir aus den USA, daß sie 40 Jahre lang wegen schwerer Depressionen in Analyse war, bei acht verschiedenen Analytikern. Erst als sie meine Bücher las, begriff sie, daß sie in ihrer Kindheit schwer mißhandelt worden war. Das durfte sie in all ihren Analysen nicht sehen. Ihre Analytiker suchten die Gründe für das grausame Verhalten der Eltern im Triebleben der Patientin und verteidigten die Eltern. Die Frau zitierte den letzten Satz meines Buches Am Anfang war Erziehung: »Denn die menschliche Seele ist praktisch unausrottbar, und ihre Chance, vom Tod aufzuerstehen, bleibt, solange der Körper lebt«, und sie schrieb weiter: »Ich fühle mich zum ersten Mal wirklich lebendig, seitdem ich diese Schuldgefühle losgeworden bin, seitdem ich mir nicht mehr Mühe gebe, unfaßbare Grausamkeiten zu verzeihen.«
Die Triebtheorie und die schwerwiegenden Konsequenzen, die sich daraus ergaben, sind nur einige von vielen Beispielen für die Verleugnung der Realität. Die Gesellschaft hat sich schon immer vor dem Wissen über Kindesmißhandlungen geschützt. Im 18. Jahrhundert war es eine Zeitlang Mode, Autobiographien zu schreiben. Was aus diesen Berichten über die Kindheit zu erfahren ist, ist erschreckend. Aber es ist bezeichnend, daß diese Berichte schnell aus der Mode kamen und durch psychologische, soziologische und vor allem irreführende und lebensfeindliche pädagogische Theorien ersetzt wurden.
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Der Pädagoge Carl-Heinz Mallet hat in seinem spannenden Buch (1987) eine Menge pädagogischer Schriften herangezogen, um die verbrecherischen Konsequenzen dieser Theorien aufzuzeigen. Vieles, was wir heute den Kindern zufügen, wäre absolut vermeidbar, wenn unsere erwachsene Gesellschaft, Eltern, Ärzte, Lehrer, Sozialarbeiter und andere, besser über die Situation des Kindes, über die Folgen von Mißhandlungen und vor allem über konkrete Fakten informiert wäre.
Es war eine große Zäsur in meinem Leben, als ich erkannte, daß auch die psychoanalytischen Theorien die Verbreitung dieser Informationen verunmöglichen und so dazu beitragen, daß Kindesmißhandlungen gar nicht erkannt werden können.
Freuds Argumentation wäre niemals so erfolgreich gewesen, wenn nicht die meisten Menschen in der gleichen Tradition aufgewachsen wären. Seine Nachfolger hätten vielleicht bald gemerkt, daß das, was wie ein Argument aussieht, überhaupt keines ist. Wenn Freud schreibt, es sei unwahrscheinlich, daß es so viele perverse Väter gebe, und er deshalb die Berichte seiner Patientinnen als Phantasien bezeichnet, dann ist das kein Argument, sondern eine kindliche Verleugnung der Realität, die in dem Satz gipfelt: »Mein Papa, den ich liebe, ist groß und gut und kann gar nichts Böses getan haben, weil das für mich unfaßbar wäre, weil ich zum Leben den Glauben brauche, daß er mich liebt, beschützt, mich nicht mißbraucht und seine Verantwortung wahrnimmt.«
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Wer ein wenig Einblick hat in Familien mit sexuell mißbrauchten Kindern, weiß, daß die Väter, die ihre Kinder sexuell mißbrauchen, nach außen hin nicht als pervers auffallen müssen. Ihre Perversion beschränkt sich oft ausschließlich auf die eigene Familie. Nur kinderlose Pädophile werden von der Gesellschaft bestraft. Da das eigene Kind als Eigentum gilt, kann jedes abartige, absurde, perverse Verhalten ungehindert das Leben anderer zerstören, ohne daß das jemandem auffällt. Wenn die mißbrauchte Tochter später mit Schizophrenie in eine Klinik kommt und von ihrem Psychiater mit hohen Dosen von Medikamenten behandelt wird, um noch weniger zu wissen als bisher, dann wird sie nie erfahren, daß es im Grunde das Verhalten ihres Vaters war, das sie in den Wahnsinn trieb. Denn um sein Bild zu retten, um irgend etwas Gutes an ihrer Kindheit zu sehen, darf sie die Wahrheit nicht wissen. Sie »verliert« lieber den Verstand.
Bevor ich mein erstes Buch publizierte, hielt ich einen Vortrag über die Anpassung der Psychoanalytiker und ihre vermutliche Kindheitsgeschichte. Nach diesem Vortrag wurde ich gefragt: »Aber Sie meinen doch nicht im Ernst, daß alle Psychoanalytiker mißbrauchte Kinder waren?«
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Ich sagte: »Das kann ich nicht wissen, sondern nur vermuten. Ich würde aber sagen, daß man nicht Psychoanalytiker sein kann, wenn man den Mißbrauch in der eigenen Kindheit, der ja so verbreitet ist, selbst erfahren hat und ihn nicht mehr zu leugnen braucht. Dann verlieren nämlich die psychoanalytischen Theorien ihren Sinn.«
Später hat sich meine Vermutung verstärkt, als ich erfuhr, daß es Analytiker gibt, die sich an die ersten 17 Jahre ihres Lebens überhaupt nicht erinnern können und gar nichts Auffallendes darin sehen. Daß man bei einer so massiven Verdrängung der eigenen Kindheit und Pubertät alles tut, alles tun muß, um nicht durch seine Patienten an die eigenen Schmerzen erinnert zu werden, ist die Folge. Freud lieferte dazu die nötigen Mittel, und Analytiker in Not greifen zu diesen Mitteln wie ein Süchtiger zur Droge. Sie bezahlen für diese Droge mit ihrer Blindheit.
Eine Journalistin erzählte mir, daß ein pensionierter Psychiater, früherer Chefarzt einer großen Klinik, zu ihr sagte: »Sie brauchen sich nicht so über Kindesmißhandlungen aufzuregen; was Sie Mißhandlungen nennen, überlebt ein Kind ohne große Schwierigkeiten, Kinder sind Künstler im Überleben.« Mit diesem Satz hatte der Arzt zweifellos recht, aber das Tragische ist, daß er den Preis dieses Überlebens offenbar nicht kannte. Ebensowenig wußte er, daß er selbst auch diesen Preis bezahlt hat und andere bezahlen ließ.
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Denn er hat 40 Jahre lang Patientinnen und Patienten behandelt, ihnen Medikamente verschrieben, ihnen gut zugeredet und niemals begriffen, daß die schweren psychotischen Zustände, die er täglich beobachtete, nichts anderes waren als Versuche, in der Symptomsprache über die Mißhandlungen und Verwirrungen der Kindheit zu erzählen.
Die Gerichtsmedizinerin Elisabeth Trube-Becker (1987) behauptet aufgrund neuester Untersuchungen, daß auf einen gemeldeten Fall von sexueller Kindesmißhandlung mit 50 nicht gemeldeten Fällen gerechnet werden müsse. Wenn man die physischen und psychischen Mißhandlungen dazuzählt, die nicht in erster Linie sexueller Natur sind, dann ergibt sich daraus der zwingende Schluß, daß Verbrechen an Kindern die häufigste Art von Verbrechen überhaupt darstellen. Ein weiterer Schluß führt unausweichlich zu der erschreckenden Erkenntnis, daß Millionen von Fachleuten (Mediziner, Juristen, Psychologen, Psychiater und Sozialarbeiter) mit den Folgen dieser Delikte zu tun haben, ohne zu realisieren oder sagen zu dürfen, um was es sich handelt.
Wenn ich diese Zustände mit wachen Augen ansehe, bin ich froh, daß ich nicht unter dem Fluch stehe, zur Salzsäule erstarren zu müssen, sondern als Mensch der Moderne die Möglichkeit habe, die krankmachenden, zerstörerischen Tatsachen immer wieder aufzuzeigen, ja sogar die zunehmende Wachheit anderer zu bewirken.
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Diese Möglichkeit scheint auch Elisabeth Trube-Becker wahrzunehmen. Sie scheut sich nicht, eindeutig zu bleiben und die Tatsachen, mit denen sie täglich konfrontiert wird, öffentlich zu benennen. Sie macht keinen Gebrauch von abstrusen Theorien oder gefälligen Ideologien, die dazu dienen würden, sich vor der Wahrheit abzuschirmen und Fakten zu vernebeln.
Sie schreibt:*
»Die Dunkelziffer ist beim sexuellen Mißbrauch von Kindern noch weitaus größer, als bei anderen Formen der Mißhandlung. Auf jeden angezeigten Fall von sexuellem Kindesmißbrauch kommen 20 Fälle, die nicht aufgedeckt werden. Bei Taten im engsten Familienkreis soll das Verhältnis sogar 1:50 betragen.
Auch in der Fachliteratur wird kaum oder gar nicht über Sittlichkeitsdelikte gegenüber Kindern berichtet, und wenn, dann das Ereignis als selten und das Kind als Verführer angesehen. Man verweist auf die Sexualität und Phantasie des Kindes, im übrigen auf Freud und den sog. Ödipuskomplex, der von Forschern neuester Zeit mit Recht in Frage gestellt wird.
Es wird behauptet, das Kind lüge, obwohl ein Kind in der Vorpubertät, das häufigste Opfer sexueller Handlungen, so gut wie nie lügt, schon weil es überhaupt nicht in der Lage ist, etwas zusammenzuphantasieren, was es nicht erlebt hat. Sicher, auch ein Kind ist kein asexuelles Wesen. Es hat Empfindungen und Regungen. Es ist neugierig. Es wünscht und braucht Zuneigung, Hautkontakt und Zärtlichkeit. Das natürliche Verlangen eines Kindes nach menschlicher Wärme und Zuwendung, auch nach materiellen Vorteilen, darf vom Er-
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wachsenen in keiner Weise zu sexuellen Handlungen mißbraucht werden. Die Verantwortung für das Geschehen liegt stets beim Erwachsenen und nicht beim Kind, wie es kürzlich sogar in einem Urteil des LG Kempten (Juli 1984) behauptet worden ist. Der Richter hielt dem Angeklagten zugute, daß die Initiative zur Tat >bis zu einer gewissen Grenze von seinem frühreifen Opfer ausgegangen sei< - und das bei einem 7Jähri-gen Mädchen.
Warum aber bleiben so viele dieser Straftaten im Verborgenen?
Warum wird der sexuelle Mißbrauch von Kindern immer noch als äußerst seltenes Ereignis angesehen, das zu erwähnen kaum lohnt?
Die Ursachen dafür sind vielgestaltig.
1. Häufig ist das Kleinkind Opfer der Tat, oder der sexuelle Mißbrauch beginnt schon im Säuglings- und Kleinkindesalter, zu einem Zeitpunkt, zu dem das Kind noch nicht in der Lage ist, sich zu äußern.
Wenn Väter an den Genitalien ihrer Kinder manipulieren, oder Mütter einen Säugling für pornographische Aufnahmen mißbrauchen (eigener Fall), handelt es sich dabei um den Beginn zunehmender sexueller Gewalt, die sich über viele Jahre unentdeckt hinstrecken kann. Kein einigermaßen sachlich denkender Mensch wird davon ausgehen, daß es sich beim Bohren mit dem Finger in die Vagina eines 6 Monate alten Mädchens, um nachzusehen, >ob die Kleine wohl auch schon könne<, wie in der Serie >Sexualität Heute< gezeigt, um ein einmaliges Ereignis handeln wird.
2. Das größere Kind scheut sich Angaben zu machen, vor allem dann, wenn der Vater der Täter ist. Die Autorität des Vaters und seine Drohungen verhindern, daß das Kind sich hilfesuchend anderen anvertraut. An wen auch soll das Kind sich wenden, wenn der Mensch, der es schützen soll, sein Vertrauen so sträflich mißbraucht.
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3. Wenn es dem Kind gelingt, sich zu offenbaren, wird es als TTügner (90 % der Opfer sind Mädchen) abqualifiziert und als der schuldige Teil angesehen - es fühlt sich auch so - oder sogar als >kleine Hure< beschimpft. Es wird von den nächsten Verwandten bedrängt, seine Beschuldigungen zurückzunehmen, anderenfalls sei die Familie ruiniert und habe keinen Ernährer mehr.
Die psychische Kraft, unter diesen Umständen Angaben zu machen, wird ein sexuell mißbrauchtes Kind nur selten aufbringen, zumal sich bei vielen Kindern ein Haß auf den eigenen Körper, der an allem >schuld< ist, entwickelt. >Mein Körper war schuld an allem. Wenn ich den nicht hätte, könnte mich Vati nicht mehr anrühren< {Charlotte Vale Allen nach Miller, 1983).
Selbst Mitarbeiter von Jugendämtern, unerfahren in diesem Problemkodex, äußern auf entsprechende Mitteilungen: <Das Kind wird schon selbst schuld daran haben.>
4. Auch das Verhalten der Mutter, die Sorge hat, den Ernährer Familie zu verlieren, oder Angst vor ihrem Ehemann, spielt eine Rolle beim Aufdecken der Tat, zumal sie häufig eine untergeordnete Stellung in der Familie einnimmt oder auch weil sie völlig ahnungslos ist über das, was sich während ihrer Abwesenheit abspielt.
5. Wird ein Arzt zu Rate gezogen, wird er Folgen sexuellen Mißbrauchs kaum in seine diagnostischen Möglichkeiten einbeziehen. Ärzte zeigen sich dem sexuellen Mißbrauch eines Kindes völlig ahnungslos und ungläubig gegenüber und erkennen auch Verhaltensstörungen nicht als Folge sexueller Mißhandlung.
Psychologen und Psychotherapeuten werden in erster Linie die Angaben des Kindes in den Bereich der Phantasie verbannen, so wie es Freud getan hat, >Freud erschrak vor der Realität< (Miller 1983).
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6. Die allgemeine Gleichgültigkeit dem Schwächeren gegenüber, aber auch die Hilflosigkeit der Erwachsenen, die nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen, sind weitere Faktoren, die ein Aufdecken der Tat verhindern.
Männer haben Probleme, den sexuellen Mißbrauch von Kindern zur Sprache zu bringen, aus Sorge, als präsumtive Täter angesehen zu werden, eine Angst, die ich bei verschiedenen Besprechungen gespürt habe.
Das angesprochene Thema wird sogleich <abgeblockt>. Es ist peinlich, sexuelle Kindesmißhandlung überhaupt in den Bereich der Möglichkeiten einzubeziehen.
7. Kommt es zu einem Gerichtsverfahren, entsteht häufig der Eindruck, als handele es sich beim Inzest um ein sehr seltenes Ereignis.
Es ist erstaunlich, mit welcher Diskretion nach wie vor der Täter behandelt wird. An das Kind als Opfer wird kaum gedacht. Es wird allen nur möglichen Untersuchungen unterzogen und dann noch als unglaubwürdig hingestellt. Die Tendenz geht sogar dahin, insbesondere den Vater zu rechtfertigen und das Kind zu belasten, um das Delikt zu bagatellisieren.
1uDie Tat soll angeblich gewaltlos verlaufen - ohne Täter und ohne Opfer. Der große Anteil der Kinder, die pädosexuelle Handlungen erleben, soll sogar deutlich machen, daß es sich dabei um ein recht alltägliches Vorkommnis handelt, und daß schädliche Folgen gewöhnlich nicht erkennbar sind. M. E., weil man sich nicht darum kümmert.
Es mag zutreffen, daß in den wenigsten Fällen körperliche Zeichen sexuellen Mißbrauchs nachzuweisen sind, anders als bei der körperlichen Mißhandlung, Verhaltensstörungen aber, die mehr oder weniger gravierend sein und das spätere Leben belasten können, zeigen, daß sexueller Mißbrauch, insbesondere, wenn der Vater der Täter ist, nicht ohne Folgen erlebt werden.
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Arzt und Rechtsmediziner werden mit dem sexuellen Kindesmißbrauch nur bei Verletzungen der Genitalorgane, im Falle einer Schwangerschaft, die heute häufig abgebrochen wird, bei venerischen Erkrankungen oder sonstigen Spuren der Mißhandlung und im Fall des Todes des Kindes befaßt. £9!) Nach Ansicht auch deutscher Autoren und vieler Psychotherapeuten soll das Verhalten junger Mädchen - für Säuglinge und Kleinkinder schon gar nicht zutreffend, es sei denn, daß ihnen ihre molligen Oberschenkel oder das Strampeln auf dem Wickeltisch angelastet würden — häufig Anlaß zur Tat geben. Es wird u.a. behauptet, kindliche Opfer von Sexualdelikten seien ungewöhnlich stark an Sexualität interessiert, oft charmant, attraktiv und verführerisch.
Der arme Täter. Wie kann ihm da noch eigene Schuld beigemessen werden?
Dazu nur, daß das Verhalten junger Mädchen, die in der Sicherheit ihres Familienkreises ihre Verführungskünste ein wenig ausprobieren, ganz normal ist und weder zum Inzest noch zu sexuellem Mißbrauch durch fremde Personen berechtigt und erst recht nicht eine Aufforderung an Erwachsene zu sexuellen Handlungen darstellt, die in der Regel nicht vom Kind, sondern vom erwachsenen Mann in Gang gesetzt werden, der auch allein die Verantwortung trägt. Das natürliche Verlangen eines jeden Kindes nach Zärtlichkeit, menschlicher Wärme und Zuwendung, nach Schmusekontakt oder auch materiellen Vorteilen darf niemals vom Erwachsenen zu sexuellen Handlungen mißbraucht werden. Trotzdem wird die Schuld für das Geschehen nicht beim Täter, sondern stets beim Kind oder auch bei seiner Mutter gesucht und natürlich auch gefunden.
Gerade von Seiten der Psychologen wird der Versuch gemacht, die Täter-Opfer-Beziehung umzukehren, also den Täter zum Opfer der Verführung durch das Kind zu machen, eine Verlagerung der Verantwortung, die — ich muß es nochmals hervorheben — stets beim Erwachsenen liegt.
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10. Schließlich wird behauptet, staatliche Institutionen seien nicht berechtigt, in die Intimsphäre der Familie einzudringen. Die Familie ist tabu. Sie soll unter allen Umständen - selbst zu Lasten des Kindes - erhalten bleiben. Das Kind sei immer noch im Schutz der Familie am besten aufgehoben. Dem kann zugestimmt werden dann, wenn die Familie das Kind wirklich schützt und es sich frei entfalten und den übrigen Familienmitgliedern uneingeschränkt vertrauen kann und wenn sein Recht auf physische und psychische Integrität von den Familienmitgliedern akzeptiert wird. Nicht aber, wenn die Macht des Erwachsenen mißbräulich eingesetzt und das Kind gezwungen wird, sexuelle Bedürfnisse der Eltern oder anderer Personen zu befriedigen.
Beim Inzest handelt es sich um die häufigste Form sexueller Mißhandlung von Kindern, welche mit der größten Dunkelziffer belastet ist, wozu das Gebot zu schweigen, die Verleugnung der Tat und das Schweigen auch der übrigen Familienangehörigen mit beitragen......
Ausgehend von wenigen Einzelfällen ist gerade bei Psychologen fälschlicherweise der Eindruck entstanden, Inzest sei sehr selten, spiele sich nur in sozioökonomisch schlecht gestellten Kreisen, im Unterschichtmilieu ab, verbunden mit Gewalttätigkeit, Alkoholismus, Arbeitslosigkeit etc. Dem kann aus rechtsmedizinischer Sicht nicht zugestimmt werden. Inzest kommt in allen sozialen Schichten ohne Rücksicht auf Religion oder Volksgruppe vor, wird aber von keiner Kriminalstatistik erfaßt. Opfer sind in den ersten Lebensjahren Kinder beiderlei Geschlechts. . .
Nach Baurmann (1983) sind 90% der Vergewaltigungsopfer Mädchen oder Frauen, zwei Drittel von ihnen im Alter von 5-13 Jahren.....
Nach Kempe (1980) haben in den USA Inzestfälle erheblich zugenommen, was auch für den europäischen Raum gilt. Wahrscheinlich aber ist, daß diese Fälle in der heutigen Zeit
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leichter bekannt und aufgedeckt werden. Man beginnt, sich Gedanken darüber zu machen und <die Töchter schweigen nicht mehr> (Miller 1983). Gerade Inzestfalle können sich über viele Jahre hinstrecken und werden erst dann bekannt, wenn der Vater sich dem Wunsch des Mädchens, die elterliche Wohnung zu verlassen, entgegenstellt, es prügelt, würgt oder sogar tötet.
Mit dem Heranwachsen gelingt es in der Regel der Tochter, auch außerhalb der Familie Verbindungen anzuknüpfen, Freunde zu gewinnen und sich ihnen anzuvertrauen, wenn überhaupt noch genügend Selbstwertgefühl vorhanden ist, um sich aktiv zu verhalten. In ihrem Entschluß bestärkt, findet sie dann den Mut, die väterliche Wohnung zu verlassen, wodurch die inzestuösen Handlungen zwischen Vater und Tochter zwangsläufig aufhören. Es wird nie mehr von der Tat gesprochen, die dann natürlich auch in keiner Statistik auftaucht und erst recht nicht strafrechtlich verfolgt werden kann.
Manchmal findet das Mädchen nach Verlassen des Elternhauses den Mut, über den jahrelangen Mißbrauch zu sprechen, das auferlegte Schweigen zu brechen und dann noch Anzeige zu erstatten.
Der Wunsch nach Trennung kann aber auch tödliche Folgen haben, ebenso wie das Wehren gegen den Mißbrauch: Ein Bruder tötet seine 16jährige Schwester, weil sie sich wehrte, mißbraucht die Tote und erwürgt anschließend noch den 10jährigen Bruder, weil er Zeuge des Geschehens geworden ist.
Nicht nur in der Antike lebte das Kind in seinen ersten Lebensjahren in einer Atmosphäre sexuellen Mißbrauchs, sondern bis ins 19. Jahrhundert hinein. Küssen und Saugen an der Brust des Kleinkindes, Berühren der Hoden, der Brustwarzen und der Genitalorgane, Ablecken der Haut mit der Zunge, Analverkehr mit Knaben, Verkaufen der Kinder an Kinderbordelle und vieles kaum Vorstellbare waren an der Tagesordnung, pädophile Manipulationen, die wir nicht noch durch die Aufhebung der Strafbestimmungen fördern sollten.
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Im übrigen gibt es auch in der heutigen Zeit nicht nur in asiatischen Ländern Bordelle, in denen kleine Mädchen systematisch sexuell ausgebeutet und mißhandelt werden. Thai-Mädchen werden in Bordellen gefangengehalten und mit Schlägen und Aufputschmitteln zur Prostitution gezwungen. Nach Aussagen von 7 kleinen Mädchen, die einen Brand in einem Bordell am 30.1.84 überlebt hatten, wurden sie wie Sklavinnen gehalten. Die Kinder durften das Haus niemals verlassen und wurden aneinandergekettet, wenn eines einen Fluchtversuch gemacht hatte. Ein Kind berichtete einem Arzt im Krankenhaus, es sei täglich von 18.00-5.00 Uhr zum Geschlechtsverkehr mit mindestens 12 Männern gezwungen worden, seit es vor 2 Jahren aus seinem Dorf verschleppt worden sei. Hauptkunden der Bordelle sind vor allem Touristen aus Europa, auch aus der Bundesrepublik Deutschland, die sich zur Befriedigung ihres Geschlechtstriebs zur Prostitution gezwungener Kinder bedienen.
In Hongkong gibt es sogar 5 jährige Prostituierte. Was sind das nur für Männer, die sich zur Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse der Kinder bedienen.
Auch in den Industriestaaten stellt die Kinderprostitution ein Problem dar. UNICEF schätzt, daß etwa 2 Mio. Kinder beiderlei Geschlechts weltweit sexuell ausgebeutet werden. Dabei ist der sexuelle Mißbrauch, der sich in der Familie abspielt, nicht miterfaßt.«
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Elisabeth Trube-Becker zählt die gravierenden Folgen der in der Kindheit erlittenen Mißhandlungen auf und bringt erschütternde Beispiele. Ihre Liste müßte man noch ergänzen und auf den inneren Zwang des Opfers hinweisen, das Verdrängte später an Wehrlosen zu wiederholen, wenn kein wissender Zeuge ihm hilft, die Verdrängung aufzuheben.
Ich habe in meiner Therapie an mir selbst gelernt, daß die mir anerzogenen Schuldgefühle bei jeder inneren Konfrontation mit meinen Eltern meine Verdrängung verstärkten, den Zugang zur Realität versperrten und das Erlebnis der Schmerzen blockierten. Erst als ich meine angebliche Schuld in Frage stellen konnte, kamen die Gefühle. Und erst als ich fühlen konnte, daß ich ohne eigene Schuld von meinen Eltern mißachtet, nicht ernstgenommen, nicht wahrgenommen wurde, konnte ich realisieren, was geschehen war. Ich begriff, daß es nicht meine Aufgabe war, ihnen Verantwortungsgefühl beizubringen, daß es nicht in meiner Macht lag, als Säugling meine Eltern liebesfähig zu machen. Das einzige, was ich tun konnte, war, ihnen zu zeigen, daß ich brauchbar war, daß man mich ausbeuten konnte und daß ich nie mit Vorwürfen darauf reagieren würde. Eine andere Chance hat mir das Leben damals nicht gegeben.
Sobald ich die blockierende Funktion dieser Schuldgefühle einmal erkannt hatte, merkte ich, daß sie immer dann auftraten und mich am Schlaf hinderten, wenn ein Fragment einer traumatischen Erinnerung auftauchte. Am nächsten Tag wollte ich alles wieder negieren, was ich am Tag zuvor selbst entdeckt hatte.
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Ich habe es entweder vergessen oder mußte es leugnen oder fühlte mich miserabel, weil ich etwas so Abscheuliches über meine Eltern hatte denken können. Hier war wieder einmal die gleiche Gesetzmäßigkeit wirksam, die Freud zwang, seine Entdeckung zu verraten. Viele Therapeuten beobachten häufig diesen Widerstand bei ihren Patienten und verstehen ihn fälschlicherweise als Beweis dafür, daß die Realität doch nicht auszumachen ist. Und schließlich ist sich der Patient selbst nicht sicher, ob er tatsächlich Erinnerungen oder nur Phantasien beschreibt. Der innere Kampf des Kindes um das Bild des guten Vaters oder der guten Mutter kann so intensiv sein, daß nicht nur der Patient selbst, sondern auch seine ganze Umgebung der Verwirrung zum Opfer fällt. Freuds Meinung, man könnte etwas erfinden, das schlimmer ist als die erfahrene Realität, hat auch bei mir sehr viel Unheil angerichtet. Wie gerne wollte ich doch glauben, daß mich alle Signale täuschten, daß alles nicht so schlimm war und daß nur mein Verdacht böse und ungerecht ist. Wie sehr wünschte ich, die Psychoanalyse möge recht haben, weil ich mir die Illusion der liebenden Eltern erhalten wollte.
Mit der Zeit habe ich begriffen, daß die Idee, Kinder würden Traumen erfinden, absurd ist. Jeder kann das Naturgesetz nachprüfen, daß der Mensch dem Schmerz ausweicht und ihn nicht sucht.
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Er sucht Lust, Freude, Beruhigung. Der Masochismus ist da keine Ausnahme von dieser Regel, weil er ein Zwang ist, sich neues Leid zuzufügen, damit früheres Leid in der Verdrängung bleibt. Der Masochist, der sich von einer Prostituierten für teures Geld auspeitschen läßt und darauf besteht, bei dieser Handlung auf einem Nachttopf zu sitzen, steht unter dem Zwang, das Trauma seiner Reinlichkeitserziehung zu reproduzieren und die Erinnerung um jeden Preis verdrängt zu halten. Ein anderes Gesetz des Lebens besteht darin, daß die Idealisierung der Eltern mit Hilfe der Phantasie und der Verdrängung dem Kind hilft zu überleben. Der geliebten, nächsten Bezugsperson Schlechtes zuzuschreiben würde also der natürlichen Abwehr und dem Gesetz des Lebens widersprechen. Daraus folgt, daß ein Kind niemals Traumen erfindet. Im Gegenteil: Es muß, um überleben zu können, mit Hilfe der Phantasie den Schmerz erträglich machen.
Ein lehrreiches Beispiel hierfür ist ein Fall, über den im Jahre 1985 amerikanische Zeitungen monatelang berichteten: In einer Tagesschule wurden die meisten von über 300 Kindern von sieben Lehrern längere Zeit für sexuelle und sadistische Spiele benutzt. Man sagte den Kindern, ihre Eltern würden sterben, wenn die Kinder etwas erzählen würden. Man zeigte ihnen umgebrachte kleine Tiere und sagte: So kann es dir ergehen, wenn du zu Hause berichtest, was wir hier machen.
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Die Kinder schwiegen und ertrugen lange diesen Terror, weil sie keinen Ausweg sahen. Als die Sache 1985 aufflog, kamen die sieben Lehrer, auch die Direktorin, vor Gericht. Die Anwälte quälten die Kinder in monatelangen Befragungen, bis sie die meisten Lehrer frei bekamen, obwohl die Kinder übereinstimmende Aussagen machten. Trotzdem wurde der Beweis erbracht, die Kinder hätten gelogen, weil die Sprache des Kindes und die Rolle der Phantasie nicht verstanden wurden.
So behaupteten zum Beispiel einige Kinder, sie hätten ein Baby umgebracht, ohne daß sich diese Erzählungen bestätigen ließen. Also wurden sie als Lügner bezeichnet und alle ihre Berichte als ungültig erachtet. Die Richter kamen gar nicht auf die Idee, daß die Kinder ihr erzwungenes Einverständnis mit den sexuellen Spielen als einen Mord an dem Baby erlebten, das sie einst gewesen waren, und daß sie ihre innere Situation schilderten. Die Phantasie vom umgebrachten Baby war ein Ausdruck des realen Geschehens, und zwar ein Ausdruck, der das reale Trauma abschwächte. Denn es ist leichter,, immernoch leichter, sich als Täter zu 9_rI?k?Si,M?..zu. wissen und zu spüren, daß man ein unschuldiges Opfer war und ist, das jederzeit mit Folter und Verfolgung zu rechnen hat. Teder Pa-tient hängt an Phantasien, in denen er sich in der aktiven Rolle erlebt, um dem Schmerz der Wehr- und Hilflosigkeit zu entgehen. Dafür nimmt er die Schuldgefühle in Kauf, die ihn aber an die Neurose binden.
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Die erinnerten und mit Dokumenten belegten Tatsachen zeigen oft nur einen kleinen Teil des Schicksals, das ein Kind erleiden mußte. Der größte Bereich besteht aus den verdrängten Erfahrungen, die nicht erzählt werden können, weil sie bisher nie bewußt erlebt wurden. Und mit einem Therapeuten, der vor der Realität der Kindesmißhandlungen Angst hat, bleiben sie unauffindbar. Die Versicherung: »Ich glaube immer meinen Patienten« schließt nicht aus, daß der Therapeut deren Verdrängung und Verleugnung nicht durchschaut. Gewiß kann er nicht mehr über die konkrete Vergangenheit des Patienten wissen, als dieser selbst imstande ist, herauszufinden.
Die Fakten muß der Patient mit Hilfe seiner Gefühle entdecken, er muß seine Entdeckungen prüfen, seine Behauptungen in Frage stellen, so lange, bis er die Sicherheit hat: Das und das ist tatsächlich geschehen. Aber der Bereich des Möglichen ist unendlich, und das muß der Therapeut wissen. Es gibt nichts, was man einem Kinde nicht antun könnte. Dieses Wissen verleiht dem Therapeuten die Fähigkeit, den Patienten auf seiner Reise zu begleiten, einer Reise, die oft durch Höllen und Folterkammern führt. Diese müssen immer wieder aufgesucht werden, bis alle Details der traumatischen Szene erlebt werden konnten, damit die Wirkung des Traumas sich auflöst und die Verletzung endlich heilen kann.
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Doch die meisten Therapeuten, die ich kannte, wußten gar nichts von der Existenz dieser Folterkammern. Sie begnügten sich damit, zuzugeben, daß jede Kindheit auch schwere Momente enthält, zum Beispiel Trennungen von den Eltern oder Geburten jüngerer Geschwister, oder irgendwelche anderen »unumgänglichen Frustrationen«. Wenn sie das Verhalten der Eltern nicht mehr als unumgängliche Frustrationen bezeichnen können, sprechen sie von einer »latenten Psychose« der Mutter oder des Vaters, und damit umgehen sie wieder das Problem der realen Kindesmißhandlung.
Es kann sich sehr wohl um psychotische Verhaltensweisen der Eltern gehandelt haben, aber wichtig ist zu wissen, daß diese von der Gesellschaft unbeachtet bleiben, solange sie auf Kosten der eigenen Kinder ausgetragen werden. Dieses Wissen ist unerläßlich, damit man den Patienten wirklich begleiten und verstehen kann, besonders in den Momenten, in denen er sich mit allen Mitteln gegen die Wahrheit sträubt, weil sie so unfaßbar, so lebensfeindlich ist. Doch wenn man weiß, daß ein Kind praktisch nur dank der Verdrängung seine Foltern überlebt, wird man dem Patienten so beistehen können, daß er die Arbeit an der Verdrängung auf sich nehmen kann.
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In Gesprächen über sexuelle Kindesmißhandlungen taucht immer wieder die Frage auf, weshalb die Mutter des Mädchens die Signale ignoriert oder es der Tochter durch ihre Haltung unmöglich macht, ihr die Wahrheit anzuvertrauen. Besonders unverständlich scheint dieses Verhalten der Mutter, wenn man erfährt, daß sie selbst als Kind mißbraucht worden war. Doch gerade in dieser Information liegt der Schlüssel zum Verständnis. Besonders die Mütter, die einer ähnlichen Verletzung in ihrer Kindheit zum Opfer fielen und dies in der Verdrängung halten, sind blind und taub für die Situation ihrer Töchter. Sie ertragen es nicht, an ihre eigene Geschichte erinnert zu werden, und lassen das Kind im Stich.
Leider stößt an diesem Punkt auch die Frauenbewegung, die sehr viel dazu beitrug, daß die Öffentlichkeit endlich von Kindesmißhandlungen Kenntnis genommen hat,. an ihre ideologischen Grenzen. Sie sieht ausschließlich im Patriarchat, in der Machtausübung der Männer, das Problem. Bei dieser vereinfachenden Sicht bleiben viele Fragen offen. Vielleicht dürfen diese Fragen noch nicht gestellt werden, weil sie das Bild der idealisierten Mutter gefährden würden. Und doch muß man sich fragen: Wie kommt ein Mann dazu, Frauen und Kinder zu vergewaltigen? Wer hat ihn so böse gemacht? Nach meiner Erfahrung sind es nicht immer die Väter allein.
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Man müßte sich auch fragen, welche Möglichkeiten eine erniedrigte Frau hat, um ihr kleines Kind nicht für ihre Bedürfnisse zu mißbrauchen. Denn sogar in Kulturen, in denen eine Frau nichts zählt, schenkt ihr die Gesellschaft die unbegrenzte Gewalt über ihr kleines Kind. Weiter stellt sich die Frage, wieviel Verantwortung eine erwachsene Frau für ihr Kind übernehmen wird, wenn sie als kleines Mädchen von ihrem Vater mißbraucht wurde, und was sie ihren Sohn spüren läßt, wenn sie das Ereignis verdrängt hält.
Es ist mir aufgefallen, daß manche Feministinnen solche Fragen nicht gerne hören. Sie sind aber ratlos, wenn sie immer wieder feststellen müssen, daß die Mütter ihre sexuell mißbrauchten Töchter nicht schützen, sondern ihrem Schicksal überlassen oder sie sogar bestrafen. Die einfache Erklärung lautet dann, es sei die Angst vor dem Ehemann. Man weicht der Erkenntnis aus, daß eine Frau mit einer geschützten Kindheit und einer schützenden Mutter nicht in die Lage kommt, einen Mann zu heiraten, den sie fürchtet und der ihr Kind mißhandelt. Denn ihre Antennen würden sie vor beiden Gefahren warnen.
Diese Überlegungen sollen die Verdienste der Frauenbewegung, was Kindesmißhandlung angeht, nicht schmälern, sondern nur dazu anregen, die bisherigen Grenzen zu sprengen. Das Aufdecken von Lügen ist ein Prozeß, der nicht durch neue ideologische Unwahrheiten, durch Illusionen und Idealisierungen zum Stillstand kommen darf.
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Die Situation der erwachsenen Frau einem brutalen Mann gegenüber ist nicht die gleiche wie die eines kleinen Kindes. Die Frau kann sich zwar auf Grund ihrer Kindheit genauso hilflos erleben und dadurch ihre Verteidigungsmöglichkeiten übersehen; aber wirklich hilflos ist sie nicht mehr. Auch wenn ihre Rechte ungenügend, auch wenn die Gerichte auf der Seite des Mannes sind: eine erwachsene Frau kann sprechen, erzählen, Verbündete suchen, sie kann auch schreien (wenn sie es als Kind nicht verlernen mußte). Aber vor allem muß sie das Geschehene nicht mehr verdrängen, sie kann Schmerzen und Kränkungen erleiden, ohne daß daraus neue Verletzungen entstehen. Nur beim Kind müssen Traumen zu Verletzungen führen, weil sie den im Wachstum begriffenen Organismus schädigen. Diese Verletzungen können heilen, wenn man sie zu sehen wagt, oder unausgeheilt bleiben, wenn man sie weiter ignorieren muß. Im Kapitel 6 werden diese Gedanken am Beispiel einer Familie ausführlich illustriert.
Die Frauenbewegung wird nicht an Kraft verlieren, wenn sie endlich zugibt, daß auch Mütter ihre Kinder mißbrauchen. Nur die Wahrheit, auch die unbequemste, verleiht einer Bewegung die Kraft, die Gesellschaft zu verändern, und nicht das Ausweichen, nicht die Verleugnung der Wahrheit.
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Wenn Männer ihre Frauen mißhandeln und die Frauen das duldsam erleiden, dann ist sowohl die Gewalttätigkeit der Männer als auch die Duldsamkeit der Frauen eine Folge von frühkindlichen Mißhandlungen. Daher können kleine Kinder, sowohl männliche als auch weibliche, Opfer von Erwachsenen beiderlei Geschlechts werden. Wenn sensible, nicht brutale Frauen (und Männer) unfähig sind, ihre Kinder vor der Brutalität ihres Partners zu schützen, dann ist diese Unfähigkeit ihrer eigenen in ihrer Kindheit erfahrenen Erblindung und Einschüchterung zuzuschreiben. Das ist die schlichte Wahrheit. Nur wenn diese Wurzeln jeglicher Gewalt aufgedeckt werden, lassen sich die Phänomene ohne Retouchen und Beschönigungen untersuchen.
Wenn eine Therapeutin gelernt hat, nur die Männer seien am ganzen Übel der Welt schuld, dann wird sie zwar ihren Patientinnen beistehen können, wenn sie endlich entdecken, daß sie von ihren Vätern, Großvätern oder Brüdern sexuell mißbraucht worden sind. Sie wird ihnen diese Wahrheit nicht mehr — wie es Anhänger der Triebtheorie tun — ausreden. Doch solange die Wahrheit über die Mutter, die den Mißbrauch geschehen ließ, die das Kind nicht beschützte und seine Not ignorierte, ausgeblendet bleibt, darf die volle Realität der Kindheit nicht wahrgenommen, nicht für wahr genommen werden.
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Und solange die Gefühle des Kindes nicht erlebt werden können, bleibt die bereits erlebbare Wut auf die Männer machtlos. Sie kann sogar mit der unaufgelösten Treue und Anhänglichkeit dem Vater oder anderen mißbrauchenden Männern gegenüber gekoppelt bleiben (vgl. A. Miller 1981, S. 94-102).
Wenn die Mütter als arme Opfer verteidigt werden, kann die Patientin auch nicht entdecken, daß sie mit einer liebenden, schützenden, sehenden und mutigen Mutter niemals von einem Bruder oder vom Vater hätte mißhandelt werden können. Wenn ein Kind von seiner Mutter vermittelt bekommen hat, daß es des Schutzes würdig ist, wird es den Schutz auch bei Fremden finden und sich selbst wehren können. Wenn es gelernt hat, was Liebe ist, wird es nicht einer vorgetäuschten Liebe zum Opfer fallen.
Aber ein Kind, das nur abgeschoben und erzogen wurde, das niemals beruhigende Zärtlichkeit erfuhr, weiß nicht, daß es auch eine nicht ausbeutende Zärtlichkeit geben kann. Es muß unbedingt jede Nähe annehmen, die sich ihm bietet, um nicht zugrunde zu gehen. Es wird unter Umständen den sexuellen Mißbrauch in Kauf nehmen, um wenigstens etwas Zuwendung zu finden und nicht vollkommen zu erfrieren. Wenn die erwachsene Frau später realisiert, daß sie um ihre Liebe betrogen wurde, wird sie sich vielleicht ihrer einstigen Bedürfnisse schämen und sich deswegen schuldig fühlen. Sie wird sich selbst beschuldigen, weil sie es nicht wagt, die Mutter zu beschuldigen, die die Bedürfnisse des ehemaligen Kindes unbefriedigt ließ oder sie sogar verdammt hat.
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Psychoanalytiker schützen den Vater und verbrämen den sexuellen Mißbrauch des Kindes mit dem Oedipus- beziehungsweise Elektrakomplex, während manche feministischen Therapeutinnen die Mütter idealisieren und damit den Zugang zu den ersten traumatischen Erfahrungen mit der Mutter erschweren können. Beides kann zur Sackgasse werden, weil die Auflösung der Schmerzen und Ängste erst möglich ist, wenn die volle Wahrheit der Fakten gesehen und akzeptiert werden kann.
Aber auch ohne ideologische Hintergründe kann es in Therapien zur Ausklammerung der Wahrheit kommen, wenn dem Patienten kein Instrumentarium zur Verarbeitung seiner Gefühle und zur systematischen Infragestellung und Prüfung seiner Hypothesen zur Verfügung steht. Denn auch die intensivsten Vorwürfe an die Eltern werden ihm nicht zur Befreiung verhelfen, solange die Wahrheit immer noch verstellt bleibt.
Dies wird der Fall sein, wenn das Kind zum Beispiel einen Vater hatte, in dessen Gegenwart es kaum ein Wort herausbringen konnte, ohne unterbrochen und angeherrscht zu werden. Diesem Patienten wird es unter Umständen sehr lange unmöglich sein, sich innerlich mit dem Vater zu konfrontieren und seine Vorwürfe zu formulieren. Die befreiten Gefühle richten sich zunächst gegen die Mutter, die das Kind weniger massiv terrorisierte.
Es kann auch umgekehrt vorkommen, daß der Vater dem Kind weniger Angst einflößte als die Mutter und daß der Patient dem Vater Dinge vorwirft, die er bei der Mutter erfuhr, ohne es zu wissen, weil die früheren Erlebnisse noch unzugänglich bleiben. So ergibt sich, aus Selbstschutz, aus Angst, ein verzerrtes Bild der Vergangenheit. Im Lauf der Therapie können diese Verzerrungen korrigiert werden, wenn die Therapie darauf ausgerichtet ist, die Realität zu entdecken. Dann weiß der Therapeut, daß sein Patient nur dem Elternteil Vorwürfe machen kann, zu dem er noch ein Minimum an Vertrauen hatte, und nicht dem, bei dem er vor Angst erstarrt war.
Er wird ihn die Wahrheit seiner Geschichte entdecken lassen, damit er nicht die falschen Menschen beschuldigt, sondern nur diejenigen, die es wirklich verdient haben, und nur wegen Taten, die wirklich begangen wurden. Denn niemand wird frei, indem er Menschen beschuldigt, die ihm in Wahrheit nichts angetan haben. Mit diffusen, unspezifischen und nicht belegten Schuldzuschreibungen an Ersatzpersonen erlangt der Patient keine Besserung seines Befindens, sondern bleibt oft in einer verhängnisvollen Verwirrung (vgl. A. Miller 1988a, S.9-78). Aber man wird frei, wenn man sich da wehren kann, wo es nötig und angebracht ist. Je realer, je freier von ideologischen und theoretischen Verbrämungen ein Mensch wird, um so besser wird ihm das gelingen.
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