Start   Weiter

5  Als ob man wissen wollte    

 

 Alice Miller 1988b  

 

 

112-129

Eine Journalistin hatte meine Bücher aufmerksam gelesen und wollte eine Fernsehsendung über Ursachen und Folgen von Kindesmißhandlungen machen. Obwohl sie in ihrem Team sehr geschätzt war und bereits mehrere Sendungen zu verschiedenen Themen vorbereitet hatte, traf dieser Plan auf die größten Widerstände aller Beteiligten. Sie gab ihre Idee trotzdem nicht auf, und nach mehreren Monaten erreichte sie ihr Ziel: Sie durfte Gespräche mit Betroffenen (Eltern und Kindern) filmen, doch räumte man ihr pro Gespräch nur fünf Minuten Sendezeit ein. 

Diese fünfminütigen Interviews wurden dann auf vier einstündige Sendungen verteilt, in denen sehr verschiedene Probleme zur Sprache kamen, die nichts mit dem Thema Kindesmißhandlung zu tun hatten. Zwischendurch wurden Chansons gesungen, Sänger interviewt, die neuesten elektronischen Entdeckungen demonstriert und dergleichen mehr. Aber es wurde auch eine Telefonnummer eingeblendet, die die Zuschauer anwählen konnten, wenn sie ein Problem mit Kindesmißhandlungen hatten. Ein im Studio anwesender Psychiater und Psychoanalytiker stand für ihre Fragen zur Verfügung. Und dieses Angebot nutzten sehr viele Zuschauer, der Andrang war so groß wie noch bei keinem anderen Thema vorher. 

Der Experte meinte unter anderem, man solle vor allem keine Schuldgefühle haben, wenn man sein Kind schlage, man könne einen Therapeuten anrufen und über diese »Probleme« sprechen. Daß derartige Gespräche über »Probleme« in den meisten Fällen eine Sackgasse sind, sagte er nicht. Vielleicht wußte er es auch nicht, noch nicht. 

In der vierten und letzten Folge dieser Sendereihe versuchte die Journalistin, die Konsequenzen der Kindesmißhandlungen für unsere Zukunft zur Sprache zu bringen. Sie fragte: Zu was für Menschen werden sich die Babys entwickeln, die man heute mit Hilfe von Schlafmitteln am Schreien hindert und so ihre Gefühle in ihnen abtötet? Beinahe mitten im Satz wurde sie vom Moderator unterbrochen, der mit seinem maskenhaften Lächeln den Eltern krampfhaft versicherte, daß alles, was da gezeigt und besprochen wurde, doch gar nicht so schlimm sei, und wenn, dann gäbe es ja so viele Telefonnummern, die man anrufen könne. Er wich jeder Betroffenheit aus, hatte seine Verantwortung bereits auf die Telefonnummer delegiert und lenkte die Zuschauer durch immer neue Spektakel ab, die bestens dazu geeignet waren, deren eigene Betroffenheit zum Schweigen zu bringen. 

Wollte man wirklich wissen, wie man Mißhandlungen vermeiden kann, oder wollte man es im Grunde nicht wissen? Weshalb tut man so viel, um angeblich Leute zu informieren, und unternimmt gleichzeitig alles, um diese Informationen nicht durchkommen zu lassen, indem man die Aufmerksamkeit und die Gefühle der Betroffenen mit anderen Themen ablenkt und es ihnen so unmöglich macht, von den wenigen Informationen zu profitieren? 

113


Die Antwort ist immer die gleiche: Die Organisatoren dieser Sendung hatten auch eine Kindheit und haben auch Eltern. Würden sie vollständige Informationen liefern, die auch aufgenommen werden könnten, geriete ihre eigene Verdrängung ins Wanken. Das erzeugt große Ängste. Kann man den Organisatoren der Sendung sagen, sie hätten Angst vor diesem Thema? Das würden sie auf jeden Fall bestreiten, denn sie spüren ja keine Angst. Könnten sie dieses Gefühl fühlen, müßten sie gar nicht soviel für Ablenkung sorgen. Doch Menschen, deren Gefühle in der Kindheit abgetötet wurden, wissen nichts von ihrer Angst, Sie wissen nicht, daß sie vieles veranstalten, nur um dem Gefühl der Angst aus dem Wege zu gehen. Wenn sie aber mit Medien arbeiten, dann kann das, was sie tun, eine große, positive oder negative Wirkung haben — für sie und vor allem für andere.

Aus der gleichen verdrängten, also unbewußt gebliebenen Angst entwickeln Gynäkologen und Hebammen eine große Geschäftigkeit während der Geburt. Das Kind wird gewogen, gemessen, gespritzt, als ob sein Überleben von all diesen Tätigkeiten abhängen würde. 

114


Das wird auch sogar häufig behauptet. Daß das nicht der Fall ist, hat vor «ungefähr fünfzehn Jahren der französische Arzt Frederick Leboyer mit seinen Filmen und Büchern gezeigt. Das auf natürliche Art zur Welt gekommene Neugeborene schreit nicht und liegt zufrieden, ja lächelnd auf dem Bauch der Mutter. Es wird eben nicht wie ein Stück Holz behandelt, nicht im grellen Licht bei zu starken Geräuschen gemessen, gebadet und gewogen, sondern man trägt seinen Gefühlen, seinem Schockerlebnis Rechnung und behandelt es wie ein überaus zartes menschliches Wesen.

Der wissenschaftliche Wert dieser Filmaufnahmen hätte unsere Geburtspraxis radikal verändern müssen, doch davon sind wir noch weit entfernt. Die Technisierung im Geburtssaal nimmt sogar weiter erschreckend zu. Die seelischen Leiden des Neugeborenen und die Folgen von deren Verdrängung bleiben den Fachleuten bis auf wenige Ausnahmen verborgen. Leboyers Entdeckung wird als unwissenschaftlich, ja gefährlich bezeichnet, und in den meisten Kliniken gleichen normale Geburten Operationen von Kranken. Die künstliche Einleitung der Geburt wird immer häufiger praktiziert, was zur Folge hat, daß ein großer Teil der Neugeborenen zunächst in der Intensivstation behandelt werden muß, das heißt von der Mutter selbstverständlich getrennt wird.

115


Damit wird eine entscheidende Chance für Mutter und Kind verpaßt. Denn gerade in den ersten Minuten und Stunden nach der Geburt wird durch die Gegenwart des Kindes die Zuwendungsfähigkeit der Mutter geweckt und gefördert, die für die Entwicklung ihrer Liebe zum Kind notwendig ist (bonding). Eine Gebärende, die als Baby viel Zuwendung erfuhr, wird gegen eine grausame Spitalordnung sofort rebellieren. Aber Frauen, die nach ihrer eigenen Geburt allein gelassen wurden und keine körperliche Wärme erhielten, fügen sich der »Ordnung« des Krankenhauses ohne Widerrede und betrachten sie als den normalsten Lauf der Dinge. Manchmal reagieren sie auf die Trennung von ihrem gerade geborenen Kind mit Depressionen oder körperlichen Beschwerden, auf deren Behandlung sich nun die Aufmerksamkeit der Ärzte und des Pflegepersonals richtet. Selten oder nie sagt ihnen jemand, daß sie in den behandelten Krankheiten den neuen und den alten Trennungsschmerz abwehren (vgl. A. Miller 1979, S. 55-103). Viel häufiger wird ihnen gesagt, daß die nachgeburtlichen Depressionen »ganz normale« Erscheinungen seien und leicht mit Medikamenten behoben werden können.

116


Was häufig vorkommt, wird von vielen Ärzten irrtümlicherweise als »normal« bezeichnet. Sicherlich trifft es zu, daß die in den lieblosen, sterilisierten Spitälern der fünfziger und sechziger Jahre geborenen Mütter von heute eher selten gute Geburtserfahrungen machen konnten. Doch dieses gemeinsame Schicksal ist keineswegs normal oder unabwendbar, weil es kulturell und nicht biologisch bedingt ist. Die humaneren Neuerungen beweisen dies eindeutig:

Eine Frau erzählte mir, daß sie die nachgeburtliche Trennung von ihrem ersten Kind anstandslos akzeptierte und eigentlich nicht merkte, wie verzweifelt sie darüber war. Sie litt nur unter ihrer Depression und Brustentzündung, die das Kind erst recht von ihr fernhielten. Beim zweiten Kind fand sie beim Personal des Krankenhauses mehr Einfühlung und Verständnis und bekam gleich nach der Geburt das Kind auf den Bauch gelegt. Ihre unbändige Freude über dieses enge und beglückende Zusammensein ermöglichte es ihr, den alten Schmerz über ihre Einsamkeit als Baby zum ersten Mal zu fühlen. Ihre Beziehung zu diesem zweiten Kind empfand sie auch in den darauffolgenden Jahren als viel weniger »belastet« und erstaunlich unbeschwert.

Von ähnlichen Erfahrungen und ihren Auswirkungen auf die spätere Beziehung hörte ich auch von anderen Müttern, die das Glück hatten, dank einem guten Geburtserlebnis alte Wunden wahrzunehmen und ausheilen zu lassen. Ihnen wird man mit den Wundern der Technik und Pharmazie nicht mehr imponieren können. 

117


Auch Tierexperimente zeigten, daß Tiere, denen man gleich nach der Geburt das Neugeborene wegnahm, später weder für das eigene noch für andere Neugeborene Interesse hatten. Es ist kein Zufall, daß die Erfahrungen der Mütter und die neuesten Untersuchungen wenig Aufmerksamkeit und keine offenen Ohren bei den meisten Ärzten finden. Denn die Technisierung der Geburt dient der Abwehr der Angst bei den Anwesenden. Die abgewehrte Angst bezieht sich auf die einst verdrängten Schmerzen bei der eigenen Geburt und auf das mögliche Aufleben eigener Erinnerungen. Sie blockiert die Auswertung neuer Erkenntnisse für die Praxis und opfert gedankenlos das Glück zukünftiger Menschen. Und den verängstigten Müttern wird all das als Fortschritt verkauft. 

Die Gynäkologen, die kaum etwas über ihre Angst wissen, begründen ihre Geschäftigkeit mit der Sorge um das Wohlergehen des Neugeborenen. Die Fernsehleute begründen sie mit der Notwendigkeit der Planung und der scheinbaren Ungeduld des Zuschauers, der angeblich Bilder und Spektakel wünscht und sich nicht so lang auf das gesprochene Wort konzentrieren kann. Dies wird immer wieder behauptet und ist nachweisbar nicht wahr. Besonders wenn es sich um das Thema Kindesmißhandlung handelt, das jeden einzelnen Menschen angeht. Das beweisen die Reaktionen, die immer eintreffen, wenn sich ein Medium auf dieses Thema wirklich einläßt.

118


Eine norwegische Journalistin machte mit mir ein beinahe zweistündiges Interview und ließ mich meine Gedanken entwickeln, ohne mich zu unterbrechen. Sie erhielt nach der Ausstrahlung viele Anrufe von Menschen, die sich für die Informationen, aber auch für die Art ihres Zuhörens und Gewährenlassens bedankten. Doch die alten, angeblich bewährten, Strukturen garantieren die Befolgung des Gebotes »Du sollst nicht merken« und finden ihren Niederschlag sowohl im Fernsehen als auch im Radio und in der Presse.

Eine New Yorker Monatsschrift, die mir mein amerikanischer Verlag als »ernsthaft und streng wissenschaft­lich« schildert, möchte ein Interview mit mir veröffentlichen. Eine Psychotherapeutin, die sich angeblich lange mit meinen Büchern befaßte, sollte es durchführen. Nachdem ich im Besitz einer Zusicherung bin, daß nichts ohne meine Zustimmung geändert werden darf, erkläre ich mich einverstanden. Doch das Abenteuer beginnt, nachdem das eigentliche Gespräch bereits stattgefunden hat:

Ein Jahr lang behauptet die »Kunstabteilung« der wissenschaftlichen Zeitschrift, das Interview könne unmöglich publiziert werden, solange ich nicht einem Photographen der Zeitschrift erlaube, Photos von mir zu machen. Ich weise dieses Ansinnen immer wieder zurück, weil ich niemandem das

119


Copyright auf meine Bilder geben will, und schlage schließlich vor, auf das Interview zu verzichten. Erst jetzt läßt sich die Redaktion dazu bewegen, ein von mir zur Verfügung gestelltes Photo zu akzeptieren. Diese Abweichung von den angeblich heiligen Prinzipien ist der Redakteurin zu verdanken, die den Text behutsam bearbeitet hat und der es nun wichtig ist, ihn endlich publizieren zu können. Sie hält sich an ihr Versprechen und konsultiert mich bei jedem Änderungsvorschlag. 

Drei Monate nach der Veröffentlichung des autorisierten Interviews in der Wissenschaftszeitschrift publiziert die deutsche Ausgabe eines Magazins, dessen Interessengebiet nicht das geringste mit meinen Gedanken zu tun hat, eine auf ein Drittel gekürzte und kraß entstellte Version des englischen Originalinterviews. Die Redaktion behauptet auch noch, ich hätte dieser Zeitschrift dieses »Interview« gegeben. Wie sich später herausstellte, steht hinter beiden Zeitschriften ein und derselbe Verlag — was diesen »Transfer« überhaupt möglich machte.

Die Annahme, daß es sich bei dieser Irreführung der Leser um nichts anderes als um finanzielle Interessen gehandelt hat, liegt zwar nahe, doch meine Erfahrung mit dem Thema Kindesmißhandlung lehrt mich, daß solche überraschenden Wendungen und zwiespältigen Aktivitäten in den Medien nicht immer eine so einfache Erklärung haben. 

120


Sie treten auch da auf, wo keine sichtbaren Interessen nachzuweisen oder gar finanzielle Einbußen damit verbunden sind. Man bekommt zuweilen den Eindruck, daß allein schon das Thema »Kindheit« bei vielen Menschen automatisch Spott, Arroganz, Gemeinheit oder sogar rechtlich strafbare Handlungen hervorruft — genau die gleichen Haltungen und Verhaltensweisen, die sie in ihrer Kindheit von Erwachsenen erfahren und gelernt haben.

Denn was ist hier eigentlich geschehen? Eine Psychotherapeutin reist von New York nach Europa, um sich Informationen bei mir zu holen, die ihr wichtig erscheinen und die sie sichtlich betroffen machen. Ähnlich reagiert später die Redakteurin, die den Text redigiert. Ich sehe also keinen Grund, der Zeitschrift die Publikation zu verweigern, denn die Präzision meiner Aussagen scheint mir gesichert, und nur das zählt für mich: die Unversehrtheit meiner Gedanken. Doch genau das Unerwartete geschieht schließlich doch: Die Zeitschrift bricht das mir schriftlich gegebene Wort, daß nichts ohne meine Zustimmung geändert, gekürzt oder hinzugefügt wird. Sie läßt es zu, daß mein Text von Unbefugten willkürlich gekürzt wird, ohne mich darüber zu befragen oder überhaupt zu informieren. Sie läßt es zu, daß eine fehlerhafte Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche erscheint, ohne mich um Autorisierung des Textes zu bitten. 

121


Sie läßt es auch zu, daß diese ganze Farce in einem vollkommen entstellenden Rahmen erscheint. So wurde die von drei Menschen mit viel Sorgfalt und Zeitaufwand geleistete Aufklärungsarbeit über die Ausbeutung der Kinder und deren Verdrängung mit einem Schlag wirkungslos gemacht. Es war, als hätte die eine Hand etwas ans Tageslicht geholt und die andere es schleunigst wieder in die Dunkelheit verwiesen. Daß dieses Phänomen kein Einzelfall ist, illustriert das folgende Beispiel.

Da viele leitende Redakteure noch die »Schwarze Pädagogik «in vollem Umfang genossen haben und sie verteidigen, blockieren sie wichtige Informationen, die ihnen Angst machen könnten. Sie hindern auch jüngere Journalistinnen und Journalisten daran, neue Erkenntnisse zu vermitteln, die diese, vielleicht dank einer etwas lockereren Erziehung in ihrer Kindheit, schon imstande sind zuzulassen. So setzen sich die Gebote der »Schwarzen Pädagogik« in unserer Gesellschaft unbemerkt fort, und Informationen, die die Menschheit vor Selbstzerstörung retten könnten, werden sabotiert. Ich beschreibe im folgenden, was mir im Umgang mit einer Zeitschrift passiert ist, weil an dieser Geschichte deutlich wird, aufweiche Widerstände man stößt, wenn man versucht, die Situation des Kindes darzustellen und seiner Stimme Gehör zu verschaffen. 

122


Im Sommer 1986 schrieb ich ein Vorwort zur britischen Neuausgabe meines Buches Das Drama des begabten Kindes. Mein Verlag hatte einer deutschen Zeitschrift einen Vorabdruck dieses Textes angeboten. Diesen Text fand die Redakteurin für ihre Leser zu theoretisch, aber sie bat mich sehr herzlich, einen Artikel für ihre Zeitschrift zu schreiben. Ich sollte darin ihre Leserschaft direkt ansprechen und den Eltern verständlich machen, weshalb sie es so schwer haben, ihre Wut gegen die Kinder zu beherrschen; man müßte ihnen zeigen, wie sie aus ihrem Teufelskreis herauskommen können, meinte die Redakteurin. Der Artikel sollte theoretische Ausdrücke vermeiden und so nahe wie möglich an die Situation der Eltern herankommen.

Dieser Brief und die darin enthaltene Argumentation leuchteten mir ein, und so schrieb ich einen Artikel für diese Zeitschrift, den ich im Anhang zu diesem Buch abdrucken lasse (vgl. S. 245 ff.). Ich habe zwar nicht erwartet, daß irgendeine Zeitschrift in Deutschland bereit wäre, diesen Text zu publizieren, aber ich war auch nicht imstande, ihn anders zu schreiben. Da die Redakteurin am Telefon gemeint hatte, ich würde alles zu pessimistisch sehen, das Team, in dem sie arbeite, sei für alle neuen Erkenntnisse sehr offen, bestand ein Grund zur Hoffnung. Ihre erste Reaktion auf meinen Artikel schien diese auch zu bestätigen. 

123


Sie schrieb: »Ich habe das Manuskript bisher nur überfliegen können, aber mein erster Eindruck ist: Genau so etwas habe ich mir vorgestellt.« Diese Reaktion freute mich sehr. Ich war schon geneigt zu denken, daß mich wohl die Ängste meiner Generation blind gemacht und meinen Blick für die zunehmende Offenheit jüngerer Leute verstellt hatten. Doch ich sollte noch einiges dazulernen.

Nach einigen Wochen erfuhr ich dann, daß der stellvertretende Chefredakteur den Text interessant fände und ihn zum genaueren Lesen mit nach Hause genommen hätte, inzwischen jedoch erkrankt sei. Als er später gesund in seine Redaktion zurückkam, meinte er angeblich, es ließe sich gegen den Inhalt gar nichts einwenden und der Artikel sei wichtig, aber zu lang, er müsse um einige Seiten gekürzt werden. Und vor allem die Stelle über Hitler müßte herausgenommen werden, weil die Leser meine Gedanken in dieser verkürzten Form nicht verstehen würden. 

Diese Meinung kam mir etwas widersprüchlich vor. Eine Zeitschrift, die sich als Hauptaufgabe stellt, Eltern über Elternschaft zu informieren, erhält einen Artikel, den die Redakteure für wichtig und richtig erachten, einen Artikel, der genau die Länge hat, die man mir zur Verfügung stellte, und doch meinen die Verantwortlichen, ihn unbedingt kürzen zu müssen. Auf der anderen Seite sagen sie, der Hinweis auf Hitler, der gerade sehr viel helfen

124


könnte, den Rest zu verstehen, müsse gestrichen werden, weil er zu global sei und der Erklärung bedürfe. Warum bat man mich nicht, diese Erklärung zu geben?

Ich fragte die Redakteurin, meine Kontaktperson, ob das Urteil »zu lang« nicht im Grunde ausdrük-ken will: Diese Wahrheit ist unerträglich, so einfach, so eindeutig und unverstellt dürfen wir sie nicht bringen. Sie versicherte mir, ich würde mich täuschen, und versprach, mir bald ihre gekürzte Fassung als Vorschlag vorzulegen. 

Sie hat Wort gehalten. Das Ergebnis war mutig, ehrlich, ohne Verschönerungen, ohne Verdrehungen. Diese junge Frau, selbst Mutter von zwei kleinen Kindern, schien die Wahrheit ertragen zu haben. Sie sagte mir, es könnte für manche ein Schock sein, aber ein heilsamer, und die Sache sei zu wichtig, um nicht publiziert zu werden. 

Wir leben nicht mehr in den Zeiten Sigmund Freuds, dachte ich, es ändert sich doch etwas.

Aber ich hatte mich zu früh gefreut. Zwei Wochen nachdem ich die Redakteurin angerufen und ihr zu ihrem Mut und ihren glänzenden Kürzungen gratuliert hatte, erhielt ich einen Brief, in dem sie mir schrieb, der Chefredakteur hätte jetzt selbst den Text gelesen und gefunden, er sei für die Leser unverständlich. So wurde die Publikation dieses Artikels verhindert. Man bot mir an, in einigen Monaten dieser Zeitschrift ein Interview zu geben.

125


Dann sollte eine Nummer über Kindesmißhandlungen publiziert werden, und meine Meinung zum Thema »Strafen« könnte unter anderen Meinungen zur Diskussion gestellt werden. 

Ich habe sehr bedauert, daß meine Bemühung, Eltern über ihre Situation zu informieren und ihnen auf diese Art weiteres Verschulden zu ersparen, ausgerechnet von einer Zeitschrift nicht unterstützt werden konnte, die sich den Anschein gibt, Eltern helfen zu wollen. Als sich vor fünf Jahren mit der Frauenzeitschrift »Brigitte« ähnliche Schwierigkeiten ergaben, habe ich dort immerhin eine positive Erfahrung gemacht. Dem Mut der damaligen Redaktion ist es zu verdanken, daß die große Not der Inzestgeschädigten in Deutschland endlich an die Öffentlichkeit kam. 

Die hier beschriebene Erfahrung mit einer Zeitschrift ist eigentlich nicht mehr repräsentativ. Es fällt mir auf, daß die mich interviewenden Journalisten jetzt viel mehr Verständnis für die Situation des Kindes zeigen als noch vor sieben Jahren. Es kommt allerdings vor, daß ein Interview, in dem ich sehr gut verstanden wurde, doch schließlich nicht erscheinen darf, weil es »zu lang« oder »zu kurz« ist oder aus irgendwelchen seltsamen Gründen, die aber niemals, das wird betont, irgend etwas mit dem Inhalt zu tun haben. 

Ich habe den Eindruck, daß die betreffenden Journalisten selbst daran zu glauben scheinen oder vielleicht meinen,

126


daran glauben zu müssen; nicht nur, weil ihre Stelle vom Wohlwollen des Vorgesetzten abhängt, sondern weil viele Vorgesetzte die Sprache der eigenen Eltern sprechen. Eine Sprache, die machtloser macht, als man eigentlich ist, weil sie an alte Verletzungen rührt und so die Wehrlosigkeit des Kindes reaktiviert.

Die Angst vor der Wahrheit läßt sich auch am Beispiel der Gerichtstätigkeit aufzeigen, die ja die ausdrückliche Aufgabe hat, die Wahrheit zu finden. Der im vorangegangenen Kapitel erwähnte Prozeß gegen die Lehrer einer Tagesschule (vgl. Kapitel 4, S. ioif.) erbrachte in kurzer Zeit den Beweis, daß 300 Kinder von ihren Lehrern Jahre hindurch brutal erpreßt worden waren. Unter schwersten Androhungen hatte man sie gezwungen, die an ihnen verübten sexuellen Mißhandlungen geheimzuhalten. Zuerst schien die Presse und die breite Öffentlichkeit eindeutig auf der Seite der mißhandelten Kinder zu stehen, und die in diesem Prozeß zum Vorschein gekommenen Verbrechen lösten eine große Empörung aus. Aber schon nach zwei Jahren sah die Situation ganz anders aus. Eine Leserin, die im gleichen Staate wohnt, berichtete mir folgendes:

»Die meisten der Angeklagten wurden aus der Untersuchungshaft entlassen und haben Gegen­anklagen gestellt und Millionen Dollar als Schadenersatz gefordert, da ihre Berufstätigkeit durch die Beschuldigungen (und nicht durch die begangenen Verbrechen) zerstört worden sei. 

127


Die Mutter, die als erste ihre Klage gegen die Lehrer einreichte, hat inzwischen Selbstmord begangen. Viele Eltern zogen ihre Anklage zurück, weil sie sahen, die Befragungen ihrer Kinder würden sich auf Jahre hinausziehen und ihre Kinder würden im Prozeß alles wiederholen müssen, obwohl ihre Aussagen in der Untersuchung bereits gefilmt worden waren. Die Therapeuten werden von den Anwälten und zum Teil von der Presse angeschuldigt, all die Geschichten erfunden und den Kindern eingegeben zu haben.«

Es gibt nichts, das leichter zum Schweigen gebracht werden kann als die wahre Stimme des Kindes, und dies noch im Gerichtssaal. Die meisten Richter scheinen das nicht zu wissen und lassen die Opfer wie erwachsene Zeugen befragen. Ein Therapeut, der einen solchen 6jährigen »Zeugen« in Behandlung hatte, schrieb mir einmal, was bei solchen Befragungen herauskommen kann. Seine kleine Patientin erlebte panische Ängste während der Untersuchung, und als sie auf dem großen Stuhl sitzen mußte, ohne ihre Füße auf dem Boden abstützen zu können, steigerte sich ihr Unbehagen dermaßen, daß sie bereit war, alle bisherigen Aussagen zu widerrufen, um endlich den Boden unter ihren Füßen zu spüren und davonlaufen zu können.

Auf den ersten Blick ist es erstaunlich, daß Richter, sowohl Männer als auch Frauen, von der Seele des Kindes so wenig Ahnung haben können. Sie scheinen blind zu sein für einen ganz entscheidenden Faktor, nämlich für die Tatsache, daß die gut bezahlten und wortgewandten Verteidiger der Täter die Stimme der Wahrheit mit Hilfe des psychischen Terrors und der Gehirnwäsche noch vor der Urteilssprechung aus dem Gerichtssaal eliminieren, so daß sie schließlich unauffindbar ist. In ihren feierlichen Togen verbreiten sie den Eindruck, als ginge es ihnen um die Wahrheit und Gerechtigkeit, doch beide sind mit geschlossenen Augen nicht zu finden. 

Es wäre die Pflicht der Richter gewesen, aus dem Monsterlabyrinth dieses Prozesses einen Ausweg zu finden. Statt dessen machten sie sich zu Handlangern der Täter, wie sie es als Kinder gelernt haben. Sie dienten den Interessen der Erwachsenen, der skrupellosen Anwälte und der Täter, und verrieten das Kind und damit auch die Wahrheit. Hätten sie die Kinder mit offenen Ohren angehört und mit wachen Augen ihre Gesichter angeschaut, was wäre da alles in ihnen an Erinnerungen hochgekommen? 

So zogen sie es vor, sich mit Routine dagegen zu schützen und die bereits schwer mißhandelten Kinder einer neuen, grausamen Mißhandlung auszuliefern und sie der Ignoranz der Erwachsenen zu opfern. Sie taten dies ohne mit der Wimper zu zucken und ohne ein schlechtes Gewissen dabei zu haben, weil sie selbst einst als Kinder der gleichen Ignoranz geopfert wurden und dies bis heute nicht durchschauen durften.

128-129

#

  ^^^^