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6  Der hohe Preis der Lüge

 

 Alice Miller 1988

 

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Warum ist es so schwer, die eigentliche, die faktische, die wahre Situation eines kleinen Kindes zu schildern? Immer wenn ich es versuche, werden mir Argumente entgegengebracht, die alle dazu dienen, diese Situation nicht wahrnehmen zu müssen, sie unsichtbar zu machen oder sie im besten Fall als rein »subjektiv« zu bezeichnen. 

Der Betroffene ist doch stets subjektiv, denkt man. Er kennt nur sein Unrecht, er weiß nicht, weshalb ihm das angetan wurde, und ganz besonders, wenn es sich um ein Kind handelt. Was kann denn ein Kind schon verstehen? Wie sollte es fähig sein, die ganze Situation zu beurteilen, zum Beispiel die Not seiner Eltern zu begreifen und einzusehen, wie sehr es sie zur Gewalt provoziert hat.

Immer wieder wird die Mitschuld des Kindes gesucht und gefunden. Daher wird nur in extrem brutalen Fällen von Kindesmißhandlung gesprochen und auch dies mit Einschränkungen, während das große Spektrum von seelischen Mißhandlungen angezweifelt oder gar total geleugnet wird. Die Stimmen der Opfer werden so zum Schweigen gebracht, kaum daß sie sich erheben, und die Wahrheit, die ganze objektive Wahrheit der Fakten bleibt im dunkeln. Zu welchen absurden Konsequenzen dies führt, konnte man anläßlich einer »Stern«-Publikation im Jahre 1987 beobachten. 

Als der Sohn des bekannten Massenmörders Hans Frank, des NS-Generalgouverneurs in Polen von 1939 bis 1945, die Taten seines Vaters eindeutig verurteilte, ohne sie zu beschönigen, zu verzeihen, zu relativieren oder sich selbst für diesen Bericht zu beschuldigen, löste er damit eine Welle von Wut und Empörung aus. Die Leser schrieben unter anderem: »Was auch immer Hans Frank getan haben mag, seine größte Schandtat besteht zweifellos in der Zeugung dieses perversen Monstrums von Sohn.« Denn: »Jeder dürfte, ja sollte, diesen Artikel schreiben, aber nicht der Sohn. Damit reagiert er ebenso unmenschlich wie einst der Vater.« Es wird also als unmenschlich und zutiefst abscheuerregend bezeichnet, wenn ein Kind eines Massenmörders nicht bereit ist, seinen Vater zu idealisieren, die Wahrheit zu verschweigen und sich selbst zu verraten.

Zweifellos ist die Öffentlichkeit nicht der hilfreiche Ort, an dem die Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern mit Gewinn für einen selbst geleistet werden kann. Um die Gefühle der Kindheit aufleben zu lassen, brauchen wir einen wissenden Zeugen und nicht den geballten, nicht aufgearbeiteten Haß der einst mißhandelten Kinder, die sich als Erwachsene total mit den Tätern identifizieren. Sich einer derartigen Öffentlichkeit mit den kindlichen Gefühlen schutzlos auszusetzen, kann einer Art Selbstbestrafung gleichen, die man sucht, wenn man sich für die geäußerte Kritik trotz allem noch schuldig fühlt und die Haßreaktionen als verdiente Strafe in Kauf nimmt. 

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Viele Söhne und Töchter scheitern an ihren Versuchen der Auseinandersetzung, indem sie sich entweder der Grausamkeit der Öffentlichkeit ausliefern, wie sie einst den ahnungslosen, unempathischen Eltern ausgeliefert waren, oder um die Gunst der Öffentlichkeit werben, indem sie den Lesern versichern, sie würden den mißhandelnden Eltern alles verzeihen.

Doch nach Niklas Franks Aussagen ging es ihm bei dieser Publikation nicht um eine persönliche Abrechnung und private Katharsis, sondern um eine politische Handlung. Er wollte zeigen, was sein Vater getan hat und was andere Väter zur gleichen Zeit, ebenfalls ohne eine Spur des Gewissens und ausgerüstet mit vielen leeren Worten, getan haben. Seine Veröffentlichung könnte einzelnen Menschen helfen, die unbemerkten, weil so vertrauten Lügen, die uns umgeben, zu sehen. Doch auch wenn ihm dies in einzelnen Fällen gelungen sein mag, haben dennoch viele versucht, die Wahrheit mit allen Mitteln zu unterdrücken, indem sie sogar öffentlich die Partei des Massenmörders gegen sein Kind ergriffen.

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Tragischerweise wäre diese Unterdrückung gar nicht nötig, denn die seit Jahrtausenden etablierte Macht der Erwachsenen über das Kind ist so groß, daß sie ohne weitere Sanktionen perfekt funktioniert. In meiner Generation hat das Kind gelernt, sich vollständig mit der Perspektive der Eltern zu identifizieren und sie niemals in Frage zu stellen. Bei allen mir bekannten Schriftstellern läßt sich beobachten, daß sie trotz gelegentlicher Rebellionen schließlich ihre Eltern vor den eigenen Vorwürfen verteidigen. Häufig sind Vorwürfe an die Eltern mit Todesängsten verbunden, nicht nur wegen tatsächlicher Drohungen, sondern weil es für ein kleines Kind eine Todesgefahr bedeutet, die Liebe der nächsten Bezugsperson zu verlieren. So bleibt die alte verdrängte Angst noch im Erwachsenen erhalten, und die früh gespeicherten Gefahrensignale können ein Leben lang wirksam sein.

Ich lernte von einem 12jährigen Jungen, wie vollständig sich ein Kind in diesem Alter mit einem Erwachsenen solidarisieren kann, obwohl es — im Gegensatz zum Erwachsenen — noch die Freiheit hat, belastende Fakten wahrzunehmen. Die Szene spielte sich in einem Restaurant ab. Der Junge hörte eine Weile zu, als ich mich mit einem Lehrer über das neue Züchtigungsgesetz im Kanton Zürich unterhielt. Wir waren beide darüber empört, daß die körperliche Bestrafung der Kinder, die bereits verboten war, 1985 mit der Klausel: »Wenn der Lehrer vom Schüler dazu provoziert wird« wieder eingeführt wurde.

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Wir meinten beide, daß diese Klausel legalen Mißhandlungen Türen öffnet, weil der Lehrer immer behaupten kann, der Schüler hätte ihn provoziert, und weil diese Behauptung lediglich von Schulinstanzen geprüft werden muß, nicht aber vom Gericht. Daß die Schule den einzelnen Lehrer meistens schützt und deckt, ist bekannt.

Unser Gespräch über das Züchtigungsgesetz interessierte den uns unbekannten Jungen, der am gleichen Tisch saß, und er sagte plötzlich: Aber es gibt Fälle, wo der Schüler den Lehrer wirklich provoziert, und da muß er doch bestraft werden. Wir fragten ihn, ob er sich an einen solchen Fall erinnern könne, und er sagte: Ja, kürzlich sei gerade in seiner Klasse etwas vorgefallen. Ein Schüler habe im Unterricht gestört und mußte aus der Klasse geschickt werden. Ich fragte, was dem vorausgegangen sei. Der Junge erinnerte sich sehr genau: Der Lehrer hatte den Schüler wegen einer Tat beschuldigt, die nicht dieser Schüler, sondern ein anderer begangen hatte. Der angeklagte Schüler wollte seinen Kameraden nicht ausliefern, beteuerte aber mehrmals seine Unschuld. Der Lehrer glaubte ihm nicht. Das hatte den Schüler sehr erbittert. Ich meinte, dies sei wohl die Ursache der späteren Provokation. Da reagierte der Junge mit großer Empörung und sagte: Ein Lehrer kann sich auch täuschen und einen Fehler machen. Dafür müsse man Verständnis haben und sich nicht das Recht herausnehmen, den Unterricht zu stören.

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Diese lückenlose Parteinahme für den Erwachsenen wird wohl unter guten Schülern keine Ausnahme sein, genauso wie das Verständnis für die Eltern. Das folgende Zitat zeigt besonders deutlich, mit welchem Grad an Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung dieses Verständnis einhergehen kann.

»In ihrem Wesen blieb meine Mutter sich immer gleich. Es lag nicht in ihrer Natur, die Zärtlichkeit zu zeigen, die sie im Herzen trug, sie tändelte nie mit mir und ließ mir keine Unart durch, aber sie erschreckte mich auch nie durch Launen und Heftigkeit und gab mir das Bewußtsein, daß niemand in der Welt mich lieber habe als sie. Zum höchsten Lohn für außerordentliche Tugend durfte ich einen Kuß auf die Stirn von ihr erwarten, und dieser war dann auch von so durchgreifender Wirkung, daß mein Vater es mir gleich anzusehen pflegte, wenn er ins Zimmer trat.

Nur selten strafte meine Mutter, suchte mich aber immer zur Einsicht meines Unrechts zu bringen und war ein so geschickter Bußprediger, daß ich mich stets beschämt und ganz geneigt fand, Abbitte zu tun. Für dies Verfahren danke ich ihr noch heute, denn es lehrte mich jene Reste im Gewissen tilgen, die der Offenheit des Charakters so schädlich werden können. Mußte ein Vergehen ernstlicher gesühnt werden, so wurde ich auf ein Stündchen oder darüber an ein Tisch- oder Stuhlbein angekettet, zwar nur an einem Zwirnfaden, den ich aber nimmer zu verreißen wagte, so groß war der Respekt vor meiner Mutter; und selbst dann löste diese solche Fesseln nicht, wenn mittlerweile Besuch eintrat. 

Oder auch sie band mir nach Maßgabe des Vergehens ein Paar lange, aus steifem Notenpapier gefertigte Eselsohren um den Kopf, welche ich auch während des Mittags- und Abendtisches umbehalten mußte.

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Kam mein guter Vater dann zum Essen, so sah er mir freilich diese Midasohren noch mit leichterer Mühe als jenen Stirnkuß an und wußte dann seinen edlen Gesichtszügen einen so bekümmerten Ausdruck zu geben, daß es mir immer durch die Seele ging. Namentlich einmal, als er wegen Zahnweh mit verbundenem Kopf erschien, rührte mich jener Ausdruck zu Tränen. Der arme Vater! Er hatte Schmerzen und mußte obendrein an seinem Sohne solche Schmach erleben. Ich konnte keinen Bissen essen, obgleich es Dampfnudeln nach echtem bayerischen Rezept gab; aber meine Mutter ließ die Ohren sitzen.« (W. v. Kügelgen 1970, S. 49f.)

*

Ich verdanke dieses Zitat einem mir unbekannten Leser, der in seinem Brief dazu schrieb, es sei ein erschreckendes Beispiel für die Richtigkeit meiner Thesen. Er meinte vermutlich die These, daß der Erwachsene die erlittenen Demütigungen als notwendige Maßnahme zu seinem Besten in Erinnerung behält und unter allen Umständen an der Idee festhält, von den Eltern, die ihn quälten, geliebt worden zu sein.

Auch Menschen, die ihre hohe Intelligenz weltweit bewiesen haben, unterlagen diesem Irrtum, da sie ihr eigentliches Wissen hinter Schloß und Riegel verborgen hielten. 

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Arthur Schopenhauer schrieb z.B. über seinen Vater:

»Mein vortrefflicher Vater war ..... ein gestrenger heftiger Mann, aber von tadelloser Unbescholtenheit, Rechtlichkeit und unverbrüchlicher Treue, dabei in Handelsgeschäften mit vorzüglicher Einsicht begabt. Wie viel ich ihm verdanke, vermag ich kaum in Worten auszudrücken..... Deshalb werde ich, so lange ich lebe, diese unaussprechlichen Verdienste und Wohlthaten des besten Vaters immer im Herzen bewahren und sein Gedächtnis heilig halten .....«

Dieser »beste Vater« schrieb einst an seinen 12jährigen Sohn Arthur:

»Ich wollte daß du lerntest, dir die Menschen angenehm zu machen ..... Und was Dein Geradegehen und -sitzen betrifft: so rathe ich dich Jedweden, der mit dir umgeht zu bitten, dir einen Schlag zu reichen, wenn du gedankenlos ob dieser großen Sache dich antreffen läßt. So haben Fürstenkinder verfahren und nicht den Schmerz gescheut für wenige Zeit, bloß nicht als Tölpel ihr Leben lang zu erscheinen. Nichts kann als dieses helfen.« (A. Schopenhauer 1987)

 

Ein nicht verängstigtes Kind duckt sich nicht am Tisch. Doch ein Kind, das die Schläge und Beschimpfungen seines »gestrengen heftigen« Vaters »liebevoll« hinnehmen mußte, bringt seine Rückenverkrümmung oft sein Leben lang nicht weg, weil diese der einzige Ausdruck seiner Angst bleibt. Neue Schläge können die geduckte Haltung nicht korrigieren. Sie können sie aber in einen geraden strammen Panzer verwandeln, der nicht mehr die Wahrheit des Opfers, sondern die Lüge des nun neu erschaffenen Verfolgers ausdrückt. 

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Franz Kafka gehört zu den wenigen Schriftstellern seiner Zeit, die das Verhalten ihrer Eltern in Frage stellen konnten. In einem über hundert Seiten langen Brief an seinen Vater versucht er seine Vorwürfe anzubringen, seine Not zu artikulieren und sie dem Vater verständlich zu machen. Zwar hat der Vater niemals diesen Brief gelesen, aber Kafka hat ihn immerhin geschrieben und darin Aussagen gemacht, die in ihrem Bewußtsein weit über das hinausragen, was Menschen in ähnlichen Situationen aussprechen dürfen. 

Ich fragte mich, wie es wohl möglich war, daß Franz Kafka, der, wie seine Werke und Tagebücher zeigen, sehr früh menschliche Wärme, echte Zuwendung, Beruhigung und Schutz entbehren mußte, trotzdem imstande war, seine Situation zu benennen und sein Leiden überhaupt wahrzunehmen. Ich stellte mir diese Frage, weil ich weiß, daß mißhandelte und schwer verwahrloste Kinder, die nichts anderes als Grausamkeit und Gewalt kennen, gar nicht an der Richtigkeit dieser Behandlung zweifeln. Aber Kafka hatte das Glück, in seiner Pubertät eine Schwester zu haben, die neun Jahre jüngere Ottla, die ihn zum ersten Mal fühlen ließ, daß er liebenswert war. Dank dieser Erfahrung erkannte er, daß er nicht aus eigener Schuld Liebe entbehren mußte, sondern schlicht und einfach, weil seine Eltern ihn nicht liebten.

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Ottlas Einfühlung und Verständnis ermöglichten es Franz Kafka, Kritik an den Eltern zu üben, doch diese Kritik kam nicht über den intellektuellen Bereich hinaus. Es kam niemals zum Erlebnis der Gefühle, die den Panzer der Selbstbeschuldigung durchbrochen und statt Depressionen und Tuberkulose eine echte Auflehnung ermöglicht hätten. Obwohl es Kafka in seinem langen Brief an den Vater zu schildern gelingt, wie dieser Vater mit seinem Kind umgegangen ist, kommt es für ihn nicht zu einer Befreiung, weil er am Schluß selbst das Kind, das er war, verrät. Indem er die Position des Erwachsenen einnimmt, dem Kind Vorwürfe macht, ihm die Sprache wieder wegnimmt, läßt er es fallen. Der Vater relativiert das vom Sohn Gesagte und macht ihn lächerlich. Der Sohn ist bereit, dem Vater zuzustimmen: »So können natürlich die Dinge in Wirklichkeit nicht aneinan-derpassen, wie die Beweise in meinem Brief«, sagt er schließlich.

Ich sehe in diesem Briefabschluß Kafkas Abhängigkeit von unserem Wertsystem, in dem eine konsequente und präzise Anklage der Eltern, die den Realitäten nicht ausweicht, zu den größten Sünden gehört. Franz Kafka ist diesem Wertsystem treu geblieben, auch wenn er an vielen Stellen nahe daran ist, dessen unethischen, kinderfeindlichen Charakter zumindest intellektuell zu durchschauen. Doch eine emotionale Konfrontation mit den Eltern hat er nie gewagt. Er ist als Opfer seiner Schuldgefühle an Tuberkulose erkrankt und mit einundvierzig Jahren daran gestorben (vgl. A. Miller 1981, S. 307ff.).1)

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Wie schwer es ist, das offensichtliche Verschulden der eigenen Eltern zu sehen und zu benennen, ließe sich an unzähligen Beispielen aus der Weltliteratur zeigen. Ich möchte stellvertretend eines herausgreifen, das Stück von Eugene O'Neill Eines langen Tages Reise in die Nacht (1967), und längere Passagen daraus zitieren, um eine Einfühlung in die Situation des erwachsenen Sohnes in seiner Familie zu ermöglichen. Vermutlich rein intuitiv enthüllt der Autor hier Zusammenhänge, die im Grunde ausreichend erklären, weshalb in einer Familie der erste Sohn zum Trinker wird, der zweite als Kind stirbt und der dritte an Tuberkulose sterben wird. Ob O'Neill selbst die von ihm aufgezeigten Ursachen klar sehen konnte, ist schwer zu sagen. 

 

1)  Mit diesen Hinweisen möchte ich niemanden ermutigen, seine kindlichen Gefühle an die Öffentlichkeit zu tragen und sich davon einen Therapieeffekt zu versprechen, der mit Sicherheit ausbleiben wird. Auch großer literarischer Erfolg bringt keine Lösung der aus der Kindheit stammenden Not, weil die Auslieferung an die Öffentlichkeit, auch an die applaudierende, die Verarbeitung und Auflösung der kindlichen Gefühle nicht fördert, sondern blockiert und sie I endgültig verunmöglichen kann. Doch ich bin der Meinung, daß ' die Resultate der eigenen Entdeckungen, die Fakten, die wir den Kindheitsgefühlen verdanken, unbedingt mitgeteilt werden sollten, damit die Öffentlichkeit aus ihrem Schlaf erwacht.

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Ich vermute eher, daß er sie wie der zwölfjährige Junge, den ich oben zitierte, zwar aufzeigen konnte, aber in ähnlicher Weise wie dieser sein Wissen verleugnet hätte, wenn er direkt darauf angesprochen worden wäre. Meine Vermutung stützt sich auf die Tatsache, daß der Autor das Schicksal der Söhne zwar mit einem intellektuellen Verständnis schildert, aber ohne das Mitgefühl und die Sympathie, die bei der Beschreibung der Eltern deutlich spürbar sind. Diese Solidarisierung mit den Eltern als Opfer teilen mit dem Autor auch die Personen des Stückes. Obwohl die Söhne kritisch sind und Vorwürfe formulieren können, verlassen sie niemals die Perspektive der Eltern. 

Ihr Schicksal begreifen sie im Grunde als das eigene Versagen und fühlen sich dafür schuldig. Sie verstehen, und sie wollen verstehen, warum der Vater geizig geworden ist. Sie lieben ihn und sind bereit, ihm alles nachzusehen. Nur sich selbst können sie nichts verzeihen. Sie dürfen nicht verstehen, warum sie so geworden sind, wie sie sind. Doch weil alles, was die Eltern tun, für die Söhne so einfühlbar ist, können sie keinen Anlaß, keinen Grund für ihre Wut mehr finden. Die berechtigte Wut wird verdrängt, und in dieser verdrängten Form wuchert sie unkontrolliert weiter bis zur totalen Selbstzerstörung in Krankheit und Sucht. 

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Ich zitiere das lange Gespräch zwischen dem Vater (Tyrone) und dem Sohn (Edmund) aus dem 4. Akt. Es zeigt Edmunds verzweifelten einsamen Kampf um die Wahrheit, gegen die Lüge, gegen die altbewährten Floskeln, gegen fadenscheinige Fassaden und gegen die Verleugnung von Realitäten. Und es zeigt zugleich, weshalb dieser Kampf zum Scheitern führen muß: Edmund ist immer allein. Was er auch zu formulieren sucht, er wird nicht gehört. Es bleibt ihm nur seine eigene Einfühlung in dieses altgewordene, unwissende Kind, das sich sein Vater nennt. 

 

***

Tyrone (bis zur Weißglut gereift. Plötzlich rachsüchtig). Ah, so! Du bestehst also darauf, Dinge danach zu beurteilen was sie sagt, wenn sie in dem Zustand ist. Bitte, dann hör: wenn du nicht geboren wärst, hätte sie niemals — (Er hält plötzlich beschämt inne.)

Edmund (plötzlich erloschen und unglücklich). Ja, ich weiß, Papa, das meint sie.

Tyrone (protestiert reumütig). Nein! Sie liebt dich so innig, wie nur je eine Mutter ihren Sohn geliebt hat! Ich habe das nur gesagt, weil du mich so in Rage gebracht hast und die ganze Vergangenheit aufgewühlt und mir gesagt hast, daß du mich nicht ausstehen kannst! [. . .] Du mußt dich nicht zu sehr deprimieren lassen, mein Junge, durch die bösen Befunde heute nachmittag. Beide Ärzte versprachen, wenn du dich da, wo du jetzt hinkommst, an die Verordnungen hältst, wirst du in sechs Monaten oder in höchstens einem Jahr geheilt sein.

Edmund (wieder mit hartem Ausdruck). Mach mir nichts vor. Das glaubst du selbst nicht.

Tyrone (zu heftig). Natürlich glaube ich das! Warum sollte ich das nicht glauben, wenn beide, sowohl Hardy als auch der Spezialist —?

Edmund Du glaubst, daß ich sterben muß.

Tyrone Das ist nicht wahr! Du bist verrückt!

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Edmund (noch bitterer). Also warum das Geld rausschmeißen? Darum schickst du mich ins Asyl —.

Tyrone (konfus aus schlechtem Gewissen). Wieso Asyl? Es ist das Hilltown Sanatorium, mehr weiß ich nicht. Und beide Ärzte sagten, es wäre das Gegebene für dich.

Edmund (verletzend). Fürs Portemonnaie! Ja! Das heißt, es kostet nichts oder fast nichts! Lüg nicht, Papa! Du weißt verdammt gut, daß das Hilltown Sanatorium ein Wohlfahrtsunternehmen ist! [. . .] Du mußt doch zugeben, daß das mit dem staatlichen Erholungsheim stimmt. Oder nicht? Tyrone Nicht in dem Sinn, wie du glaubst! Und wenn es wirklich vom Staat unterhalten wird? Das spricht nicht dagegen. Der Staat hat das Geld, einen besseren Betrieb daraus zu machen als irgendein Privatsanatorium. Und warum soll ich das nicht ausnutzen? Das ist mein Recht — und deins. Wir sind ortsansässig. Ich bin Grundbesitzer. Ich trage dazu bei, es zu unterhalten. Ich verblute mich an den Steuern - Edmund (mit bitterer Ironie). Ja, für deinen Grundbesitz, der auf eine Viertelmillion geschätzt wird.

[. . .] Gib es zu und lüg nicht! (Mit steigender Intensität.) Gott, Papa, seitdem ich zur See gefahren bin und auf eigenen Füßen stehen mußte, weiß ich, was es bedeutet, schwer zu arbeiten für wenig Geld. Ich weiß auch, was es heißt, ohne einen Cent in der Tasche Hunger zu haben und nachts auf Parkbänken zu schlafen, weil man kein Dach über dem Kopf hat. Ich habe versucht, gerecht dir gegenüber zu sein, weil ich an mir erlebt habe, was du als Kind hast mitmachen müssen. Ich wollte tolerant sein. Mein Gott, man muß schon allerhand Toleranz aufbringen in unserer Familie, oder man geht drauf. Ich habe auch versucht, all den Blödsinn einzukalkulieren, den ich verbrochen habe! Ich habe versucht, dich mit Mamas Augen zu sehen, zu glauben, daß du nur so und nicht anders handeln kannst, wenn Geld auf dem Spiel steht. Aber, bei Gott, diese letzte Geschichte von dir, das ist zuviel! Ich könnte speien!

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Nicht wegen der empörenden Art, wie du mich behandelst. Da scheiß ich drauf! Ich habe dich auf meine Art genauso mies behandelt, mehr als einmal. Aber sich vorzustellen, daß du es fertig bringst, vor der ganzen Stadt den verstunkenen alten Geizkragen zu markieren, wenn dein Sohn Schwindsucht hat! Bist du dir nicht klar darüber, daß Hardy das weitererzählt und daß die ganze blödsinnige Stadt das erfährt! Mein Gott, Papa, hast du denn gar keinen Stolz oder wenigstens Schamgefühl? (Bricht wütend aus.) Und glaub nur nicht, daß du mir so davonkommst! Ich denke gar nicht daran, in so ein staatliches Asyl zu gehen, nur um dir ein paar lausige Dollar zu ersparen, mit denen du noch ein paar mehr Scheißgrundstücke kaufen kannst. Du stinkiger alter Geizkragen —! (Er würgt die Worte heiser hervor, seine Stimme zittert vor Zorn, dann schüttelt ihn ein Hustenanfall.)

Tyrone (ist auf seinem Sessel zurückgefahren unter dieser Attacke, und sein schlechtes Gewissen ist größer als seine Wut. Er stammelt). Sei ruhig! Sprich nicht so zu mir! Du bist betrunken! Ich will es dir nicht übelnehmen. Hör auf zu husten, Junge. Deine Aufregung ist ganz unnötig. Wer sagt denn, daß du in dieses Hilltown gehen mußt? Du kannst hingehen, wohin du willst. Es ist mir egal, was es kostet. Wichtig ist mir nur, daß du wieder gesund wirst. Nenn mich nicht einen stinkigen Geizkragen, nur weil ich nicht will, daß die Ärzte mich für einen Millionär halten, den sie reinlegen können. (Edmund hat auf gehört zu husten. Er sieht krank und elend aus. Sein Vater sieht ihn entsetzt an.) Du siehst schlecht aus, Junge. Nimm lieber was zur Stärkung.

Und nun, da sich die Macht nicht einsetzen läßt, da kein Argument die Lüge mehr stützen kann, da sich der Sohn nicht so leicht von der Wahrheit abbringen läßt, wird die letzte Waffe gebraucht: Der Vater appelliert an das Mitleid und das Ver-

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ständnis des Sohnes, er vergißt dessen Schwindsucht und taucht ganz in seine eigene Kindheit ein. Diese Waffe hat wohl noch nie beim eigenen Kind ihr Ziel verfehlt. Das Kind vergißt seine Not sofort und wird unweigerlich zur Stütze der ganz in ihr Leiden vertieften Eltern.

Edmund (langt nach der Flasche und schenkt sich sein Glas hoch voll schwach). Danke.

Tyrone (schenkt sich ein großes Glas ein und leert damit die Flasche. Trinkt das Glas aus. Sein Kopf fällt etwas nach vorne, und er starrt stumpf auf die Karten auf dem Tisch - vage). Wer spielt aus? (Er spricht stumpf weiter, ohne Vorwurf.) Ein stinkiger Geizkragen. Gut, vielleicht hast du recht. Vielleicht kann ich gar nichts dafür, daß ich einer bin. [. . .] Als Kind habe ich zuerst den Wert des Geldes begriffen und die Angst vor dem Armenhaus. Seit damals habe ich niemals mehr an mein Glück glauben können. Immer habe ich Angst gehabt, es könnte alles schiefgehen und ich könnte alles verlieren, was ich besitze. Aber trotzdem, wenn man Grundeigentum hat, fühlt man sich sicherer. Das ist vielleicht nicht logisch, aber ich empfinde es eben so. Banken machen Bankrott, und dein Geld ist hin, aber das Land unter den Füßen, wenn es dir einmal gehört, das bleibt, glaubt man wenigstens. (Ohne Übergang spricht er ^ornig, von oben herab.) Du hast gesagt, du begreifst, was ich als Kind mitgemacht habe. Einen Dreck begreifst du! Ist ja auch gar nicht möglich! Du hast immer alles gehabt - Kindermädchen, Schulen, das College, wenn du auch nicht dageblieben bist. Du hattest Essen, Kleidung. Ja, ich weiß, du hast auch körperlich hart arbeiten müssen. Du hast gemerkt, was es heißt, ohne Dach über dem Kopf und ohne einen Cent in der Tasche in der Fremde zu leben, und das respektiere ich. Aber für dich war es doch mehr ein romantisches Abenteuer. Spiel. Edmund (dumpf spöttisch). Ja, besonders damals, als ich mich umbringen wollte in »Jimmie the Priest's« und es mir auch fast geglückt ist.

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Tyrone Da warst du nicht bei Sinnen. Niemals würde einer meiner Söhne - du warst betrunken.

Edmund Ich war so nüchtern wie nur was. Das war das Schlimme. Ich hatte zu lange mit dem Denken aufgehört. 

Tyrone (mit betrunkener Übellaunigheit). Komm bloß nicht wieder mit deinem gräßlichen, krankhaften, atheistischen Kram. Ich will das nicht hören. Ich versuchte, dir klarzumachen - (Zornig.) Was weißt du vom Wert eines Dollars? Als ich zehn war, ließ mein Vater meine Mutter sitzen und ging nach Irland zurück, um zu sterben. Was er bald genug tat, und recht geschah ihm, und ich hoffe, er brät in der Hölle. Er verwechselte Rattengift mit Mehl oder Zucker oder sonst was. Nachher hat man gesagt, daß es kein Irrtum war, aber das ist Quatsch. Niemals hat irgendeiner in meiner Familie . . . Edmund Ich wette, daß es kein Irrtum war. K. Tyrone Immer diese krankhaften Ideen! Die setzt dir dein Bruder in den Kopf. Das Schlimmste, was er sich vorstellen kann, ist für ihn immer die einzig mögliche Wahrheit. Also kurz und gut, meine Mutter stand plötzlich allein und verlassen da, als Fremde in einem fremden Land, mit vier kleinen Kindern: ich, meine etwas ältere Schwester und zwei, die jünger waren als ich. Meine zwei älteren Brüder waren fortgezogen. Sie konnten nicht helfen. Sie hatten es schwer genug, sich selbst durchzubringen. Bei unserer Armut war auch nicht der geringste Platz für Romantik. Zweimal wurden wir aus der miesen Höhle, die wir unsere Wohnung nannten, buchstäblich auf die Straße gesetzt, mit den paar Brettern, die unsere Möbel vorstellten, und meine Mutter und meine Schwestern heulend daneben. Ich heulte auch, trotzdem ich es zu unterdrücken versuchte, weil ich der Mann der Familie war. Mit zehn Jahren! Mit der Schule war es aus für mich. Zwölf Stunden am Tag arbeitete ich in einer mechanischen Werkstatt und lernte

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Feilen herstellen. [. . .] Das einzige Licht kam durch zwei kleine, schmutzige Fenster. An trüben Tagen mußte ich so nahe an meiner Arbeit hocken, daß meine Nase fast die Feilen berührte, sonst konnte ich überhaupt nichts erkennen. Du redest von Arbeit! [. . .] Wir hatten niemals genug Kleidung, niemals genug zu essen. Ja, ich erinnere mich an einen Thanks-givingtag oder vielleicht war es auch Weihnachten, da schenkte irgendein Soldat, in dessen Haus meine Mutter gescheuert hatte, ihr einen Dollar extra, und auf dem Nachhauseweg gab sie alles für Lebensmittel aus. Ich erinnere mich genau, wie sie uns an sich drückte und küßte und mit Freudentränen, die ihr über das müde Gesicht rannen, zu uns sagte: »Gott im Himmel sei Dank, jetzt haben wir einmal in unserem Leben genug zu essen für jeden von uns!« (Er mischt sich die Tränen aus den Augen.) Eine tapfere, liebe, süße Frau. Nie hat es eine bravere, liebere gegeben. Edmund (bewegt). Ja, das muß sie gewesen sein. Tyrone Ihre einzige Angst war, daß sie alt und krank werden könnte und im Armenhaus sterben. (Er macht eine Pause — dann fügt er mit grimmigem Humor hinzu.) Damals bin ich zum Geizhals geworden. Damals bedeutete ein Dollar so viel. [. . .] (Heftig.) Du kannst dir jeden Ort aussuchen, der dir paßt! Ganz egal, was es dort kostet! Jedes Sanatorium, das ich bezahlen kann. Wo du willst — im Rahmen des Möglichen, natürlich. (Bei dieser Qualifizierung verzerrt ein Lächeln Edmunds Lippen. Er hat seine Vorwürfe vergessen. Sein Vater spricht weiter, betont ungezwungen, beiläufig.) Dann gab es da noch ein anderes Sanatorium, das der Spezialist empfahl. Er sagte, es wäre genauso' renommiert wie irgendein anderes hier in der Gegend. Es wird von einer Gruppe millionenschwerer Fabrikbesitzer subventioniert, hauptsächlich für ihre Arbeiter, aber du hast genauso das Anrecht darauf, weil du hier ansässig bist. Dahinter steckt enorm viel Geld. Deshalb verlangen sie kaum etwas von den Patienten. Sieben Dollar die Woche, aber sie

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leisten das Zehnfache dafür. (Hastig.) Versteh mich recht, ich will dich zu nichts überreden. Ich wiederhole nur, was ich gehört habe.

Edmund (sein Lächeln verbergend - obenhin). Gut. Ich verstehe. In Ordnung. Da gehe ich hin. Also, das war das. (Plötzlich wieder unglücklich und verzweifelt — dumpf.) Es ist ja auch sowieso jetzt ganz egal. Reden wir nicht mehr davon! (Wechselt das Thema.) Also, wie ist es mit unserem Spiel? Wer ist dran? Tyrone (mechanisch). Ich weiß nicht. Ich glaube, ich. Nein, du bist dran. (Edmund spielt eine Karte aus, sein Vater sticht sie. Dann, als er ausspielen soll, vergißt er es wieder.) Ja, kann sein, vielleicht hat das Leben mir die Lektion zu gründlich gegeben, und das Geld ist mir zu wichtig geworden. Wahrscheinlich hat das sogar meine Karriere, die ich als Erster Schauspieler hätte machen können, auf dem Gewissen. (Traurig.) Ich habe das nie vorher jemandem zugegeben, Junge, aber heute abend habe ich ein so schweres Herz und bin so am Ende - was sollen noch der ganze falsche Stolz und die ganze Angabe. [. . .] Edmund (starrt bewegt seinen Vater an. Verständnisvoll — langsam). Ich bin froh, daß du mir das erzählt hast, Papa. Jetzt verstehe ich dich viel besser.

Tyrone (mit einem schlaffen, verzerrten Lächeln). Vielleicht hätte ich dir das nicht erzählen sollen. Vielleicht verachtest du mich nun noch mehr. Und ein gutes Beispiel, dich von dem Wert eines Dollars zu überzeugen, ist es gerade auch nicht. (Dann, als ob dieser Sat% automatisch eine übliche Gedankenassoziation auslöste, schaute er mißbilligend\um Kronleuchter auf.) Das Licht von diesen Extrabirnen tut meinen Augen weh. Bist du böse, wenn ich sie ausmache? Wir brauchen sie doch nicht und haben ja schließlich keinen Grund, das Elektrizitätswerk zu finanzieren.

Edmund (unterdrückt ein unbändiges Lachen - nett). Nein, sicher nicht. Dreh aus. Tyrone (steht schwerfällig und ein bißchen wankend auf, greift

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unsicher nach den Birnen seine Gedanken gehen an den Ausgangspunkt seiner Überlegung zurück). Nein, weiß Gott, was ich eigentlich dafür kaufen wollte, weiß ich wirklich nicht. (Knipst eine Lampe aus.) Bei meinem heiligen Eid, Edmund, ich würde gern vor der vollendeten Tatsache stehen, nicht einen Morgen Land zu besitzen, nicht einen Cent auf der Bank - (knipst eine vQveite Birne aus.) Ich wäre einverstanden, keine eigene Wohnung, sondern das Armenhaus im Alter vor mir zu haben, wenn ich mir heute sagen könnte, ich bin der große Schauspieler geworden, der in mir steckte. (Er dreht die letzte Birne aus, so daß nur noch die Leselampe leuchtet, und set^t sich schwerfällig wieder hin. Edmund kann plötzlich sein Lachen nicht mehr zurückhalten. Er bekommt einen nervösen Lachanfall mit ironischem Unterton. Tjrone ist betroffen.) Worüber lachst du, verdammt noch mal?

Edmund Nicht über dich, Papa. Über das Leben. Es ist zu verrückt.

Tyrone (grollend). Wieder diese Krankhaftigkeit! Mit dem Leben ist alles in Ordnung! Wir sind es, die - (er gittert.) »Nicht durch die Schuld der Sterne, lieber Brutus, Durch eigene Schuld nur sind wir Schwächlinge.« [. . .] Edmund [. . .] Du hast mir da ein paar Höhepunkte aus deinen Memoiren erzählt. Willst du meine hören? Sie haben alle mit dem Meer zu tun. Ich will dir erzählen. Von damals, als ich auf der Squarehead, die nach Buenos Aires auslief, Matrose war. Vollmond! Der alte Kahn macht vierzehn Knoten. Ich liege vorne am Bugspriet, schau achtern aus, das Wasser schäumt unter mir, und die Mäste über mir türmen sich hoch auf mit ihren weißen Segeln im Mondlicht. Ich war wie trunken von all der Schönheit und dem singenden Rhythmus des Ganzen. Für einen kurzen Augenblick verlor ich mich selbst — wirklich, ich verlor mein Leben. Ich war befreit, war frei! Ich löste mich auf in Meer, wurde weißes Segel und fliegende Gischt, wurde Schönheit und Rhythmus, Mondlicht und das Schiff

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und der hohe mit Sternen übersäte, verschwimmende Himmel. Ich gehörte, ohne Gegenwart und ohne Zukunft, mit hinein in den Frieden und die Einheit und in eine wilde Freude, in etwas, das größer war als das Menschenleben überhaupt, ich gehörte zum Leben selbst! [. . .] Da setzte der Moment ekstatischer Freiheit ein. Der Frieden. Das Ende der ewigen Frage, der endliche Hafen, die Freude, zu einem Glanz und einer Erfüllung zu gehören, jenseits der niedrigen, gierigen und armseligen Hoffnungen der Menschen, jenseits von ihren Ängsten und Träumen. [. . .] Für einen Moment ist Sinn! Dann läßt die Hand den Schleier fallen, und man ist wieder allein, verloren im Nebel, und stolpert weiter, irgendwohin, ohne zu wissen warum. (Er lacht trocken.) Es war ein großer Irrtum, daß ich als Mensch geboren wurde. Ich hätte mich besser zur Seemöwe geeignet oder zum Fisch. Wie es aber nun einmal ist, werde ich immer ein Fremder bleiben, nirgends zu Hause, ohne wirkliche Sehnsucht und ohne wahre Berufung, wurzellos und immer leicht in den Tod verliebt! Tyrone (starrt ihn tief beeindruckt an). Ja du hast wirklich das Zeug zu einem Dichter. (Dannprotestiert er unwillig.) Aber das ist krankhaft und verrückt, »nirgends zu Hause« und »in den Tod verliebt«.

Edmund (grimmig). Das Zeug zu einem Dichter. Nein, ich fürchte, ich bin wie der Bettler, der um blauen Dunst betteln geht. Er hat nicht einmal das Zeug zu einem Bettler. Er hat nur dessen Usancen. Es ist für mich kaum greifbar, was ich gerade versucht habe, dir zu erzählen. Ich habe nur gestammelt. Das Höchste, was ich je erreichen werde. Ich meine, wenn ich am Leben bleibe. Na aber, zum mindesten ist es naturgetreuer Realismus? Stammeln ist die Ursprache von uns Nebelleuten. (S. 108-120)

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Edmund bezeichnet sich als einen Nebelmenschen, als einen Bettler, der um »blauen Dunst« betteln geht, und er meint damit die Dichtung. Das Stammeln als Ursprache von Nebelmenschen? Jedes Wort ergibt hier einen Sinn, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es Edmund von Anfang an verboten war, die Wahrheit zu sehen, sie klar zu spüren und sie auszusprechen. Er ahnte, daß er ein unerwünschtes Kind war, er wußte, daß er sich nirgends zu Hause fühlte, aber beides darf er nicht sagen. Sein Vater nennt ihn »verrückt und krankhaft«, wenn der Sohn seine Not zu beschreiben versucht, obwohl er von Mary hörte, daß sie Edmunds Geburt verwünschte. Was bleibt dem Sohn anderes übrig als das Stammeln, der Nebel, die Dichtung und schließlich der Tod? Sein Wissen wird in die Verbannung geschickt, es wird ihm von beiden Eltern um jeden Preis ausgeredet. Er kann es mit niemandem teilen.

O'Neill wußte, daß er in diesem Stück seine Vergangenheit beschrieb, die folgende Widmung zeigt es:

»Für Charlotta an unserem 12. Hochzeitstag Liebste: In Deine Hände lege ich das Manuskript dieses Schauspiels, geboren aus frühem Schmerz, geschrieben mit Blut und Tränen. Ein kaum passendes Geschenk, scheint es, für einen Glücksfeiertag. Aber Du wirst verstehen. Ich lege es in Deine Hände als Huldigung Deiner Liebe und Zartheit, die mir den Glauben an Liebe gab und die Kraft, mich am Ende auch meinen Toten zu stellen und dieses Stück zu schreiben -es zu schreiben mit tiefem Mitleid, Verstehen und Vergebung für alle vier gejagten Tyrones. Diese zwölf Jahre, meine einzig Geliebte, waren ein Weg ins Licht — in die Liebe. Du weißt meine Dankbarkeit. Und meine Liebe! Tao House

22. Juli I941
Gene«

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*

 

Aber Mitleid, Verstehen und Vergebung »für alle vier gejagten Tyrones« konnten dem Dichter nicht helfen, das reale Kind vor dem seelischen Tod zu retten, das Kind, das noch nicht verstehen konnte und ein stummes Opfer der Heimatlosigkeit und Verstellung seiner Eltern war. Im Unbewußten O'Neills lebte dieses kleine, seelisch umgebrachte Kind, das er einst gewesen war, weiter. Im Stück tritt es im frühverstorbenen geliebten Kind Marys in Erscheinung, dem der Dichter seinen eigenen Namen Eugene gegeben hat. 

Eugene ist das tote Kind zwischen zwei Brüdern, dem Alkoholiker Jamie und dem schwindsüchtigen Dichter Edmund und ist zugleich ein Symbol für O'Neills Schicksal. Die Brüder agieren das durch Mary verleugnete Schicksal ihres Vaters aus, und der kleine Eugene, der als Kind sterben mußte, repräsentiert den Tod des um die Wahrheit wissenden Kindes. Im Grunde repräsentieren alle drei Brüder verschiedene Seiten des einen für die Lüge der Mutter geopferten Kindes, das Eugene O'Neill offenbar in sich trug. Er hat beides dem Zuschauer gezeigt: die Lügen der Eltern und die Wahrheit des Sohnes. Der Zuschauer darf sie sehen. Nur dem Sohn bleibt der Zugang zur Wahrheit verwehrt.

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Das letzte Wort im Stück hat die Mutter Mary, die ihre Tragödie schildert. Nicht die wahre Tragödie, nicht das Schicksal eines kleinen Mädchens, dessen Vater Alkoholiker war und an Schwindsucht starb. Nein, diese prosaische Geschichte darf gar nicht erwähnt werden, niemand in der Familie darf darüber sprechen. Was Mary am Ende des Dramas mit zarten Gefühlen, und sichtlich von der Sympathie des Autors begleitet, hervorbringt, ist eine verklärende und oberflächliche Version ihres Lebens: Sie wollte ins Kloster gehen und der Heiligen Jungfrau dienen, aber Mutter Elisabeth hieß sie eine Probezeit bestehen. »Das war im Winter des letzten Schuljahres. Dann, im Frühjahr ist irgend etwas mit mir passiert. Ja, ich erinnere mich. Ich verliebte mich in James Tyrone und war so glücklich, eine Zeitlang.«

Diese Worte beenden das Stück mit einer sentimentalen Beruhigung an den Zuschauer, der zweieinhalb Stunden lang nichts als die Wahrheit zu Gesicht bekam. Aber es darf bei dieser Wahrheit nicht bleiben. Das Ende vertuscht sie, und was bleibt, ist die Vernebelung: Das Leben ist schwer, aber auch schön zugleich. Ich bin nicht ins Kloster gegangen, aber hatte doch meinen Mann gefunden, den ich liebte. Wir hatten Kinder. Man kann dankbar sein, daß wir doch noch so vieles haben durften.

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Mary fragt nicht: Warum wollte ich ins Kloster? Warum wurde ich süchtig und geriet außer Kontrolle? Warum gehen meine Söhne zugrunde? Sie darf diese Fragen nicht stellen. Sie muß in der Konfusion, im Nebel, in der vollen Idealisierung des Vaters steckenbleiben. Das geht so weit, daß sie von der Schwindsucht des Sohnes nichts wissen will, dessen Husten als leichte Erkältung bezeichnet und jede Erwähnung der Sucht ihres Vaters absolut verbietet. Wir erfahren darüber nur in ihrer Abwesenheit von ihrem Mann. »Mein Vater war ein wunderbarer, kluger, starker Mann, der mich über alles liebte und stets beschützte«, lautet ihre Version. Kann die geliebte Tochter eines starken und klugen Mannes zur Süchtigen werden, die das Leben ihrer Familie zerstört, zerstören muß? Ein solches Mädchen hat es nie gegeben und kann es gar nicht geben. Auch Mary ist nicht dieses Mädchen. In Wirklichkeit ist sie eines der unzähligen Mädchen, die das Märchen vom großartigen Charakter ihres Vaters um jeden Preis und zu jeder Zeit als Realität ausgeben. Sie wird ihr Leben lang behaupten, Schwarz sei Weiß und Weiß sei Schwarz, und nicht wissen, daß sie damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Söhne in den Wahn treibt. Denn ein Kind, das täglich einer solchen Konfusion ausgesetzt wird, kann sich ihr nicht entziehen. Es braucht seine Mutter, es will, es muß ihr glauben. 

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Es muß seine eigenen Wahrnehmungen daher verleugnen und Hilfe im Alkohol oder anderen Süchten suchen, wenn kein Mensch ihm hilft, die Wahrheit zu sehen und sie auszuhalten. Die folgende Stelle zeigt, wie Mary der Realität ausweicht und wie sie, die »liebende« Mutter, ihrem Sohn sogar angesichts des Todes jede Einfühlung verweigert, nur weil die Wahrheit sie in die Nähe ihrer verdrängten Schmerzen bringen könnte, die sie fürchtet, »Du mußt ihm nichts übelnehmen«, befiehlt sie Edmund, genau wie ihr einst befohlen wurde. Und der erwachsene Edmund versucht zwar schwach, sich gegen solche Befehle aufzulehnen, aber niemand hilft ihm, niemand bestätigt seine Wahrnehmungen, daher bleiben seine Versuche hoffnungslos. Um so mehr blieben sie es auch in der Kindheit: Das Kind tat damals alles, um dem Wunsch der Mutter zu entsprechen, es gab sogar sein Leben auf, um das betrauerte, einzig geliebte tote Kind seiner Mutter zu werden. Ich kenne keine Stelle, die die Macht und den Machtmißbrauch einer ohnmächtigen Mutter eindringlicher beschreiben würde als diese:

 

Edmund [...] Hör zu, Mama. Jetzt sage ich es dir, ganz egal, ob du es hören willst oder nicht. Ich muß in ein Sanatorium.

Mary (überrascht, als ob das etwas wäre, auf das sie nie gekommen wäre). Du mußt weg? (Heftig.) Nein! Das lasse ich nicht zu. Wie kann Doktor Hardy so etwas anordnen, ohne mich zu fragen. Wie kann dein Vater das erlauben! Welches Recht hat

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er! Du bist mein Kind! Er soll sich um Jamie kümmern! (Immer aufgeregter und bitterer.) Ich weiß, warum er dich in ein Sanatorium schicken will. Um dich mir wegzunehmen! Das hat er immer schon gewollt. Er war auf jedes meiner Kinder eifersüchtig! Er hat immer Wege gefunden, mich von ihnen zu trennen. Das war auch die Ursache von Eugenes Tod. Auf dich war er am eifersüchtigsten. Er weiß, daß ich dich am meisten liebte, weil —

Edmund (unglücklich). Ach, Mama, kannst du nicht aufhören, verrücktes Zeug zu reden! Versuch doch nicht wieder, ihn schlecht zu machen. Und warum bist du jetzt so gegen mein Fortgehen? Ich bin so oft fortgewesen und habe nie bemerkt, daß es dir das Herz gebrochen hat!

Mary (bitter). Dann bist du eben nicht sehr sensibel, scheint mir. (Traurig.) Liebling, du hättest dir doch sagen müssen, daß ich froh war, dich irgendwo zu wissen, wo du mich nicht sehen konntest, nachdem ich erfahren hatte, daß sie dir -alles -- erzählt haben.

Edmund (gebrochen). Mama, bitte nicht! (Er streckt blind seinen Arm aus und nimmt ihre Hand — aber er läßt sie sofort wieder fallen, da ihn wieder die Bitterkeit überkommt.) Diese ganze Rederei, daß du mich liebst - und dann hörst du nicht einmal zu, wenn ich versuche, dir zu erzählen, wie krank —

Mary (plötzlich mit beziehungsloser, bramarbasierender Mütterlichkeit). So, so. Jetzt ist es genug! Ich will gar nichts mehr hören, denn ich weiß, daß alles nur Hardys dumme Lügereien sind. (Er ^ieht sich in sich selbst zurück. Sie spricht weiter in einem forciert neckischen Ton, aber mit wachsendem vorwurfsvollem Unterton in der X Stimme.) Du bist deinem Vater so ähnlich, Liebling. Du machst wahnsinnig gern aus nichts heraus eine Szene, nur damit du ein Drama oder eine große Tragödie aufführen kannst. (Mit bagatellisierendem Lachen.) Wenn ich dich nur im geringsten dazu ermutige, würde das Nächste sein, daß du mir erzählst, du mußt bald sterben.

Edmund Es gibt Leute, die daran sterben. Dein eigener Vater -

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Mary (scharf). Wie kommst du auf meinen Vater? Zwischen dir und ihm gibt es überhaupt keine Vergleichsmöglichkeit. Er hatte Schwindsucht. (Ärgerlich.) Ich hasse dich, wenn du düster und deprimiert bist! Ich verbiete dir, mich an den Tod meines Vaters zu erinnern, verstehst du mich? Edmund (mithartem Gesicht —grimmig). Ja, ich verstehe dich, Mama. Ich wünschte bei Gott, ich täte es nicht! (Er steht von seinem Stuhl auf und starrt sie voller Verachtung an — bitter.) Es ist manchmal schon recht hart, eine Süchtige zur Mutter zu haben! (Sie schwankt — alles Leben ist scheinbar aus ihrem Gesicht gewichen, übrig bleibt nichts als eine Art Totenmaske. Sofort hätte Edmund gern das Gesagte zurückgenommen. Er stammelt unglücklich.) Verzeih, Mama. Ich war wütend, weil du mich gekränkt hast. (Es entsteht eine Pause, in der man das Nebelhorn und die Schiffsglocken hört.)

Mary (geht langsam wie ein Automat %u den Fenstern rechts - sie schaut hinaus. Mit einem leeren, geistesabwesenden Ausdruck in der Stimme.) Hör nur das schreckliche Nebelhorn. Und die Glok-ken. Woher das kommt, daß im Nebel alles so traurig und verloren klingt, frage ich mich?

Edmund (gebrochen). Ich - ich kann hier nicht bleiben. Ich mag nichts essen.

(Er stürmt durch den Salon ab. Sie starrt weiter aus dem Fenster, bis sie hört, daß die Vordertür hinter ihm zufällt. Dann kommt sie ^urück, set%t sich in ihren Sessel mit demselben leeren Ausdruck auf ihrem Gesicht.)

Mary (vage). Ich muß hinaufgehen. Ich habe nicht genug genommen. (Sie schweigt und sagt dann sehnsüchtig.) Manchmal hoffe ich, ohne es wirklich zu wollen, daß ich zuviel nehme. Ich könnte es niemals absichtlich tun. Das würde mir die Heilige Jungfrau nicht vergeben. (Sie hört Tyrone zurückkämmen [. . .])

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Mary [. . .] Er sagte, er will kein Abendessen. Er hat gar keinen Appetit die letzte Zeit. (Dann eigensinnig.) Aber es ist nur eine Sommergrippe. (Tyrone starrt sie an und schüttelt hilflos den Kopf, schenkt sich ein großes Glas Whisky ein und trinkt es aus. Plötzlich ist es zuviel für sie, sie verliert die Fassung und schluchzt.) Ach, James, ich habe solche Angst! (Sie steht auf, wirft ihre Arme um seinen Hals und versteckt ihr Gesicht an seiner Schulter — schluchzend.) Ich weiß, er wird sterben!

Tyrone Sag so etwas nicht! Es ist nicht wahr! Sie haben mir versprochen, daß er in sechs Monaten geheilt ist. Mary Das glaubst du ja selbst nicht! Ich weiß genau, wann du mir etwas vormachst! Und mein Fehler ist es gewesen. Ich hätte ihn nie zur Welt bringen dürfen. Es wäre besser für ihn eewesen. Dann hätte ich ihn nie zu kränken brauchen. Er hätte nie erfahren müssen, daß seine Mutter süchtig ist - und hätte nie zu hassen brauchen!

Tyrone (mit gitternder Stimme). Seh. . . seh. . . Mary, um Gottes willen! Er liebt dich. Er weiß, daß es ein Fluch ist, der dich getroffen hat, ohne dein Wissen und Wollen. Er ist stolz darauf, daß du seine Mutter bist! (Er unterbricht sich, als er die Tür %ur Anrichte gehen hört.) Ruhig jetzt! Da kommt Cath-leen, du willst doch nicht, daß sie sieht, wie du weinst. (S. 90-93)

 

Im Bruchteil einer Sekunde begegnet Edmund dem Haß seiner Mutter, der hinter ihrer »Liebe« steht, und spricht es aus, aber bereits im nächsten Moment nimmt er das Gesagte zurück und entschuldigt sich bei ihr, ohne daß ein Grund dafür besteht. Die Rechtlosigkeit des Kindes fällt uns meistens nicht auf, weil wir mit ihr aufgewachsen sind und sie für richtig halten. 

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Nur in der Dichtung kann so viel Wahrheit gezeigt werden, vorausgesetzt, daß man sie zugleich als »blauen Dunst« bezeichnet oder gar als »krankhaft und verrückt«. Mary repräsentiert die arme verwirrte Frau, das naive Mädchen, das Opfer der Sucht, und weckt im Zuschauer Mitleid, weil sie eben kein Kind mehr ist, sondern die Mutter. Aber sie ist eine Mutter, die ihrem Sohn die Chancen des Lebens abschneidet : Sie bestreitet seine korrekten Wahrnehmungen, verwirrt ihn, täuscht ihm Liebe vor und verlangt schließlich Liebe und Achtung dafür. Diese Art von »Mutterliebe« kann ein Sohn selten schadlos überstehen. Trotzdem ist die Gesellschaft blind für diese Schädigungen.

Die Solidarität mit den Interessen der Eltern und der Verrat am Kind, der sowohl bei Kafka als auch bei O'Neill in sehr verschiedener Weise zum Ausdruck kommt, läßt sich bei allen mir bekannten Autoren aufzeigen, auch bei den besonders »rebellischen«. Es gibt zwar Dichter, wie zum Beispiel Beckett, Ionesco, Genet, bei denen diese Geste der Versöhnung am Schluß fehlt, doch hier werden nicht die Eltern und schon gar nicht die eigenen angeklagt. Angeklagt wird die Gesellschaft als solche, Jilso_die_Jitemj^

bolischen Form. Aber in all den Werken, in denen Autoren direkt die Eltern beschuldigen, geben sie ihnen das letzte Wort und bringen das Kind zum Schweigen. Diese Wendung läßt sich zum Beispiel sehr gut an Filmen von Ingmar Bergmann beobachten. 

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In Fanny und Alexander geht es sogar um brutale Kindesmißhandlungen. Vielleicht kann hier die Grausamkeit eines Vaters so deutlich geschildert werden, weil er als Stiefvater auftritt und im Hintergrund der verstorbene gütige Vater idealisiert werden kann. Doch dank dieser Aufspaltung gelingt es Bergmann immerhin, die Verlogenheit der Erziehung so wahrheitsgetreu aufzuzeigen, wie es bisher in keinem seiner Filme geschehen durfte. 

Leider folgt diesem mutigen Schritt die Verschönerungsarbeit, der das Kind erbarmungslos ausgeliefert ist, weil es sich nicht wehren kann, weil es selbst an diese Schönheit glauben möchte: Die Mutter ist lieb, die Familie ist lieb, der verantwortungslose Onkel liebt das Leben, und alles ist wieder gut. Daß die »liebevolle« Mutter ihre Kinder einem Verbrecher ausliefert und sie zwingt, ihn zu respektieren und zu lieben, scheint Bergmann zu entgehen. Daher bleibt das Kind am Ende allein, von seiner Wahrheit getrennt und von der Gesellschaft, repräsentiert in den Personen des Autors und der Zuschauer, im Grunde verlassen.

Ein anderes Beispiel liefert das Stück von Arthur Miller <Der Tod des Handlungsreisenden>. Ein armer, nicht unsympathischer kleiner Mann wird geschildert, der von seinen Eltern und seinem tüchtigen Bruder als Kind ständig unterdrückt worden ist und sich folglich als Erwachsener in seinem Beruf nicht durchsetzen kann.

Sein ganzes Leben rackert er sich für die Familie ab und opfert schließlich sein Leben, damit die Familie von seiner Versicherungssumme leben kann. Im Grunde ein stiller Held unserer Zeit. Er wird von seiner Witwe und den beiden Söhnen nach dem Begräbnis mit echter Trauer, wehmütigen Erinnerungen und in großer Dankbarkeit an seinem Grab verabschiedet. Der unbekannte Soldat, der unbekannte Kämpfer der heutigen anonymen Gesellschaft. 

Doch was ging diesem Ende voraus? Dem hoffnungslosen Versager genügten nicht zwei Söhne, die ihn liebten, er brauchte brillante Söhne, auf die er hätte stolz sein können, um endlich seinem Bruder und seinen Eltern zu beweisen, daß er es doch zu etwas gebracht hat. Das Stück zeigt, wie diese beiden Söhne ihre Qualitäten, die sie durchaus besitzen, gar nicht entwickeln können, gar nicht ihr Leben leben können, weil sie nur den Erwartungen ihres Vaters entsprechen möchten und dies ihnen nicht gelingt. 

Das Stück zeigt auch, daß es gar nicht gelingen kann und warum es nicht gelingen kann. Es zeigt, wie das Stück von O'Neill, die langsame Zerstörung zweier junger Menschen — hier eher durch ihren Vater und ihre Liebe zu ihm —, die das, was er getan hat, vollständig verklären. Dieser Verklärung fällt auch der Autor zum Opfer. Er läßt sein Stück so enden, daß die Wahrheit schließlich doch vollkommen unsichtbar wird. 

Hatte er die volle Wahrheit gezeigt? Ja. Aber durfte er wissen, was er getan hatte? Das würde ich nach diesem Ende allerdings bezweifeln.

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