7 Ohne Wahrheit kann man nicht helfen
A-Miller-1988
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Eine dänische Journalistin schickte mir einen Artikel, aus dem hervorging, daß auch in Dänemark Kinder immer noch sehr häufig bestraft und geschlagen werden. Sie meinte in ihrem Begleitbrief, ich hätte wohl im Nachwort zu Du sollst nicht merken Skandinavien überschätzt, weil das Übel hier bei weitem noch nicht behoben sei. Sie mag recht haben, daß es noch sehr lange dauern wird, bis es keine geschlagenen Kinder mehr gibt. Aber wenn sich die Öffentlichkeit darüber empört, ist dies in meinen Augen bereits ein Fortschritt, der sowohl in Skandinavien als auch in den Vereinigten Staaten der humaneren Gesetzgebung zuzuschreiben ist. Die spärlichen Artikel zu diesem Thema in anderen Ländern sind noch weit von einer Empörung entfernt.
In der Schweiz zum Beispiel wollte man ein Gesetz durchsetzen, das die Ärzte dazu verpflichtet, Anzeige zu erstatten, wenn sie Kindesmißhandlungen feststellen. Doch ausgerechnet Kinderärzte, Kinderpsychiater, Familientherapeuten und Experten für Kindesmißhandlungen haben sich gegen ein solches Gesetz mit allen Mitteln gewehrt. Sie haben ein Schreiben eingereicht, das unter dem Motto »Helfen statt Strafen« ausführlich erklärt, warum ein solches Gesetz gefährlich sein könnte.
Die eingereichte Petition gegen ein humaneres Gesetz ist ein Dokument ersten Ranges. Deshalb drucke ich es hier ab.
Sehr geehrter Herr Ständerat!
Aus der Presse haben wir erfahren, daß im revidierten Strafgesetz vorgesehen ist, auch einfache Körperverletzungen sowie wiederholte Tätlichkeiten namentlich an einem Kinde als Offizialdelikt zu erklären.
Kindesmißhandlungen sind ein ernsthaftes Problem, mit dem sich Ärzte seit langer Zeit zu befassen haben. Kinderärzte waren jedoch in der vorbereitenden Expertenkommission nicht vertreten und erhielten in der Vernehmlassung keine Gelegenheit, sich zum neuen Gesetzestext zu äußern. Am 25.7.1986 sind deshalb die angeführten Vertreter von Universitäts-Kinderkliniken und Kinderspitälern aus der gesamten Schweiz zu einer Sitzung zusammengekommen. Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung und Auseinandersetzung mit Kindesmißhandlungen erlauben sie sich deshalb, zu dieser Änderung des StGB Stellung zu nehmen: Wir anerkennen Ihre Absicht, die Kinder mit der neuen Fassung der erwähnten Artikel des Strafgesetzbuches besser zu schützen. Es entspricht auch unserem Bestreben, alles zu unternehmen, um Tätlichkeiten gegen Kinder sowie Körperverletzungen, seelische Schädigungen und Vernachlässigungen zu verhindern oder deren Wiederholung zu vermeiden. Wir sind jedoch der einhelligen und festen Überzeugung, daß Kinder mit dem Mittel des Strafgesetzes kaum vor Mißhandlungen geschützt werden können und daß somit die vorgesehene Änderung des StGBs nicht den erhofften besseren Schutz bringen wird.
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In unserer Erfahrung — die den weltweiten Erfahrungen entspricht — werden Kinder durch Eltern im Affekt und unter höchster psychischer Spannung sowie sozialem Druck mißhandelt. In einer derartigen Extremsituation ist nicht zu erwarten, daß sich Eltern durch Bestimmungen des Strafgesetzes von einer Mißhandlung abhalten lassen. In den letzten Jahren hat sich international die Erkenntnis durchgesetzt, daß in der spezifischen Problematik der Kindesmißhandlung das Vorgehen unter dem Motto »Hilfe statt Strafe« viel größere Aussicht auf Erfolg hat und daß auf diese Weise das Wohl des mißhandelten Kindes und seiner Familie besser gewahrt werden kann. Nach dem Vorbild anderer Länder — vor allem Holland (Vertrauensarzt-Büro), Bundesrepublik Deutschland (Kinderschutzzentren) und Skandinavien — wird auch in der Schweiz in den letzten 10 bis 15 Jahren an den Kinderspitälern und von den Kinderärzten nach diesem Grundsatz gearbeitet. Dank diesem Vorgehen ist die Zahl der Selbstmelder und der Fremdmelder ständig im Anstieg begriffen, so daß in vielen Fällen rechtzeitig echte Familienhilfe angeboten werden kann (wenn nötig in Zusammenarbeit mit den zivilrechtlichen Behörden).
Die beabsichtigte Strafrechtsreform würde unserer Ansicht nach folgende unerwünschte Auswirkungen haben:
1. Die Zahl der Selbstmelder (Eltern, Pflegebeauftragte usw.) wird abnehmen.
2. Mütterberatungsschwestern, Kindergärtnerinnen, Lehrer sowie Nachbarn werden sich wieder vermehrt hüten, ihren Verdacht spezialisierten Zentren zu melden. Fremdmeldungen werden deshalb voraussichtlich ebenfalls zurückgehen.
3. Auch Kinderärzte und andere medizinische Stellen werden sich zurückhalten, bevor sie den Verdacht einer Kindesmißhandlung aussprechen.
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4. Verletzte Kinder werden unter Umständen nicht oder zu spät zur notwendigen Behandlung gebracht.
5. Die Rehabilitation der Familie kann durch ein Strafverfahren erschwert werden.
Die Gefahr ist groß, daß alle mit Mißhandlungen konfrontierten Personen und offiziellen Stellen sich aus Angst vor strafrechtlichen Folgen für die Familie vermehrt zurückhalten werden und die Augen vor dem vermuteten Problem verschließen. Dies wird bedeuten, daß für mißhandelte Kinder weniger unternommen und ihnen weniger geholfen werden kann. Die Zahl der Mißhandlungen wird jedoch trotz der neuen Gesetzesartikel nicht abnehmen.
Aus den genannten Gründen möchten wir sie dringend bitten, die vorgesehene Änderung zu überdenken. Wir würden es sehr begrüßen, wenn Sie uns Gelegenheit zu einer persönlichen Stellungnahme geben könnten.
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Seltsamerweise wollen die Fachleute den Eltern helfen, indem sie ihnen die Wahrheit ersparen, daß sie ihre Kinder lebenslänglich schädigen. Das tut man in der Meinung, man könne auf diese Weise etwas Schlimmeres verhindern. Aber stimmt diese Meinung überhaupt?
In der ganzen Fachliteratur über Kindesmißhandlungen findet sich kaum eine Information darüber, daß Eltern ihre Kinder schlagen, um die eigenen Traumen in der Verdrängung zu halten. Hingegen werden immer wieder Arbeiten publiziert, die sich als wissenschaftlich bezeichnen und die nach den Ursachen von Kindesmißhandlungen suchen. Diese Untersuchungen machen den Eindruck, als
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würde jemand bei Sonnenlicht eine ganz dunkle Brille aufsetzen und mit einer Taschenlampe etwas suchen, was für die Umstehenden mühelos zu sehen ist. Ähnliche Sonnenbrillen und Augenbinden werden bei der sogenannten Therapie der Eltern gebraucht. Es wird viel Verständnis dafür aufgebracht, daß ein arbeitsloser Vater seine Kinder schlägt. Es wird auch gut verstanden, wenn ein mit Arbeit überforderter Manager das gleiche tut, besonders wenn er von seiner Frau irritiert wird. Auch die Ehefrau wird verstanden, wenn sie sich nicht zurückhalten kann, ihr Kind zu schlagen, nachdem die Milch übergekocht ist. All das wird verstanden, weil die Therapeuten wohl ungezählte Male Opfer solcher Situationen waren und jedesmal die Eltern zu verstehen wußten. Dazu wurden sie erzogen, und man hat ihnen gleichzeitig beigebracht, daß es gefährlich ist, die Situation des Kindes wahrzunehmen.
In einem Rundschreiben des Zürcher Vereins »Eltern in Not« vom 15.5.1987 heißt es unter anderem:
»Eine unbefriedigende Partnerschaft, Enttäuschung über die Elternrolle sowie gesellschaftliche Unzumutbarkeiten und Belastungen, die durch das Verhalten des Kindes entstehen, können den seelischen Druck auf die Eltern unerträglich werden lassen.«
Mit solchen bizarren Leitvorstellungen »therapieren« manche Sozialarbeiter die »armen« Eltern, die ihr Kind krankenhausreif geschlagen haben, weil ihnen dessen von ihnen verursachtes Verhalten unerträglich geworden war.
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Ohne korrekte Informationen über die Ursachen und Folgen von Kindesmißhandlungen kann man weder den Eltern noch den Kindern helfen. Doch diese Informationen werden erst ernstgenommen, wenn die Gesetzgebung der Tatsache nicht mehr ausweicht, daß Kindesmißhandlungen ein schweres Verbrechen sind, und wenn sie die Ärzte dazu verpflichtet, Anzeige zu erstatten. Eine solche Gesetzgebung würde Veränderungen mit sich bringen, die längst fällig sind. Wie ich auf Seite 253 f. ausführe, müßte die Bestrafung keinen Gefängnisaufenthalt bedeuten, aber vor allem wäre es wichtig, daß man Eltern hilft, ihre eigene Wahrheit nicht abzuwehren, damit sie den Weg aus ihrer Falle finden können. Das Problem läßt sich nicht mit schön klingenden Worten vom Helfen lösen. Es gibt Fälle, wo man nur helfen kann, wenn dem Schuldigen Strafen drohen, damit er anfängt zu ahnen, was er getan hat und was auch ihm angetan wurde.
Helfen kann man nur jemandem, der Hilfe sucht, weil er weiß, daß er sich in Not befindet. Doch die meisten Eltern, die ihre Kinder schwer mißhandeln, sind sich kaum ihrer Not bewußt. Sie empfinden auch keine Schuldgefühle, weil sie nur ähnliches aus ihrer Kindheit kennen und gelernt haben, diese Behandlung als richtig anzusehen.
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Sie glauben fest daran, daß sie ihre Kinder schlagen und grausam behandeln, damit diese einen noblen Charakter entwickeln, und sie glauben, daß sie ihren Kindern »Sexualweihen« erteilen, wenn sie sie zur Befriedigung ihrer Lust benutzen. Die meisten inzestuösen Väter können schwer begreifen, daß ihr Verhalten kriminell ist. Wie will man ihnen »helfen«, ohne ihnen dies klarzumachen? Und wie kann man es ihnen klarmachen, solange man zögert, die Verbrechen an Kindern als Offizialdelikt zu bezeichnen und dies in der Gesetzgebung zu verankern? Eltern, die Hilfe in der Therapie suchen oder sich an Elternschulen wenden, sind sich ihrer Not bereits bewußt. Aber unzählige Kinder schweben in größter Gefahr bei ihren Eltern, weil diese völlig frei von schlechtem Gewissen sind. Diesen Kindern kann nur mit einer neuen Gesetzgebung geholfen werden, die das bisher als vollkommen normal empfundene Verhalten der Eltern eindeutig als Verbrechen definiert.
Wer das Böse, Perfide, Gemeine, Perverse und Verlogene nicht eindeutig verurteilen darf, bleibt orientierungslos und dem Zwang, das Erfahrene blind zu wiederholen, ausgeliefert. Leider ist diese Tatsache wenig bekannt, weil sie die traditionellen Werte der Moral und Religion in Frage stellt.
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Fast alle offiziellen Hilfszentren für mißhandelte Kinder arbeiten unter dem verwirrenden Motto »Helfen — nicht verurteilen« und betonen ständig ihre nichtwertende Haltung. Doch gerade damit erschweren sie den betroffenen Hilfesuchenden die Befreiung vom Wiederholungszwang, die nur möglich ist, wenn das Geschehene beklagt und die Verursacher dafür eindeutig verurteilt werden können.
Mir ist ein Fall einer extremen Perversion mit sexuellen, sadistischen und religiösen Elementen bekannt, die ein Vater an seiner Tochter jahrelang im geheimen ausübte. Als die Sache durch den Suizidversuch der Tochter bekannt wurde, bestritt der Vater seine Schuld vollständig. Lange Therapieversuche konnten an seiner Haltung nichts ändern, er beharrte darauf, daß er unschuldig sei, weil ihm seine Tochter nach jedem sexuellen Kontakt die »Sünde« vergeben habe. Zufällig kam eine aufgeklärte Sozialarbeiterin mit diesem Fall in Berührung, und es gelang ihr, im Vater Erinnerungen an seine eigene Kindheit und die damit zusammenhängenden Gefühle zu wecken. Da tauchten seltsame sexuelle Spiele mit der Mutter auf, in die ein zwanghaftes Zeremoniell eingebaut war: das Kind sollte den Priester spielen, der Mutter ihre Sünden verzeihen und ihr Absolution erteilen. Der Mann meinte, daß er dies »mit großer Freude« getan hatte, weil die Mutter in diesen Situationen ganz klein und zerknirscht war und er dies als große Erleichterung bei ihrem sonst so herrischen Wesen erlebte.
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Es war ihm nicht mehr bewußt, daß diese Absolutionsszenen höchst beängstigend weil verwirrend waren und nur der Abschluß einer Kette von Mißhandlungen, in denen er körperlich und seelisch vergewaltigt und in extremer Weise bedroht wurde. Dieser Teil seiner Erfahrungen blieb verdrängt, weil der Junge seiner Mutter ausgeliefert war, weil kein Zeuge ihn in Schutz genommen hat und ihm daher eine bewußte, umfassendere Erinnerung nicht ermöglicht wurde.
Doch die in seinem Körper gespeicherte Erfahrung führte den Erwachsenen später dazu, die Szenen der Vergewaltigung, Bedrohung und Vergebung mit seiner Tochter zu wiederholen. Der Mangel an Schuldgefühlen koppelte sich mit der Überzeugung, daß seine Mutter, die eine fromme Kirchgängerin gewesen war, deshalb auch schuldlos gewesen sein mußte und ihm eigentlich nie etwas Böses angetan hatte. Erst die Entdeckung der eigenen Traumen, das Erlebnis der Schmerzen, der Wut, Empörung, Erniedrigung und Verwirrung ermöglichten ihm die Trauer über das Geschehene. Erst jetzt konnte er auch über die Tatsache trauern, daß er mit seiner Verdrängung seine Tochter fast in den Tod getrieben hatte, dem sie nur dank einem Wunder oder Zufall entgehen konnte. Erst als er die Verbrechen, die seine Mutter an ihm begangen hatte, zu sehen wagte, mußte er sie nicht mehr schützen, indem er diese Verbrechen wiederholte und sein Verhalten als harmlos bezeichnete.
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Dieser Vater wird nicht mehr in Gefahr sein, sein Kind sexuell zu mißbrauchen, weil er jetzt die Wahrheit kennt, während alle Übungen zur Selbstbeherrschung ihn niemals davor bewahrt hatten. Doch gerade solche Übungen werden von Elternschulen angeboten, begleitet von irreführenden Versicherungen der Therapeuten, daß sie für den Mißbrauch »volles Verständnis « haben und diesen niemals verurteilen. Ich halte diese Einstellung für falsch und verwirrend, weil sie die uneinsichtige Haltung der Täter unterstützt. Jede Mißhandlung des Kindes muß verurteilt werden und ist nicht verständlich. Sie kann nur aus der privaten Perversion der Eltern des Täters erklärt werden, aber wird damit keineswegs entschuldbar. Nur durch eine eindeutige Verurteilung der Kindesmißhandlungen wird es der Gesellschaft und dem einzelnen bewußt, was eigentlich geschieht und wohin dieses Geschehen führt.
Es muß auch deutlich werden, daß es sich nicht nur um ein Problem einzelner absonderlicher Familien und individueller Perversionen handelt. Die Gesellschaft muß aus dem Schlaf gerüttelt und es muß ihr klargemacht werden, daß sie bisher ja gesagt hat zum größten Verbrechen der Menschheit. Es geht darum, das schlechte Gewissen, das sogar bei körperlichen Verstümmelungen von kleinen Kindern vollkommen fehlen kann, überhaupt erst zu wecken.
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Die weit verbreitete Sitte der Beschneidung zeigt, mit welcher Selbstverständlichkeit kindliche Sexualorgane in verschiedenen Kulturen grausam verstümmelt werden. Dies wird von religiösen Institutionen gefordert und von keiner Gesetzgebung verhindert. Es leben heute 74 Millionen Frauen, die als Kinder an der Klitoris verstümmelt wurden. Die ungeheuerliche Begründung dafür war unter anderem, daß die Frau keine Lust beim Sexualakt empfinden sollte. Bei der Beschneidung der Männer wechseln die »Gründe« von Kultur zur Kultur, aber in all diese Gründe mischt sich die unwahre Behauptung, daß die Beschneidung im Interesse des Kindes ausgeführt werde. Daß es sich um eine Grausamkeit handelt, die den späteren Erwachsenen zu ähnlichen, ebenfalls geleugneten Grausamkeiten anspornen wird und seinen Taten die Legitimität des guten Gewissens verleiht, wird immer wieder übersehen und überhört, obwohl einzelne Wissenschaftler alle bisher angeführten »Gründe« für die Beschneidung bereits widerlegen konnten. So schreibt zum Beispiel Desmond Morris (1986, S. 218-220).
»Seit Jahrtausenden und in vielen verschiedenen Kulturen sind die Genitalien in erstaunlich vielfaltiger Art immer wieder aufs grausamste verstümmelt worden. Dafür, daß uns diese Organe soviel Vergnügen bereiten können, wurden ihnen übermäßig viele Schmerzen zugefügt.
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Am häufigsten wurde ihnen durch die Beschneidung des Mannes und der Frau Gewalt angetan. Diese merkwürdige Verstümmelung ist älter als die Zivilisation. Wahrscheinlich gab es sie schon im Steinzeitalter. Obwohl bei der Beschneidung Kinder absichtlich von Erwachsenen verwundet werden, geschah dies immer in bester Absicht. Zahllose Menschen sind dabei im Lauf der Jahrtausende an Infektionen gestorben, aber angeblich wogen die Vorteile die damit verbundenen Risiken auf. Diese angeblichen Vorteile stellten sich von Epoche zu Epoche und von Kultur zu Kultur anders dar, aber jüngste Untersuchungen haben gezeigt, daß sie alle nichts als Einbildung sind.
Einer der ältesten Gründe für die männliche Beschneidung - die Entfernung der Vorhaut - war angeblich, daß sie Unsterblichkeit in Form eines Weiterlebens nach dem Tod garantieren sollte. Diese merkwürdige Vorstellung beruhte auf der Beobachtung, daß die Schlange ihre Haut abwirft und dann mit glänzenden neuen Schuppen wie >wiedergeboren< erscheint. Erfährt die Schlange durch die Entfernung der Haut eine Wiedergeburt, kann dies der Mensch genauso. Der Penis ist die Schlange, die Vorhaut die Schlangenhaut.
Nachdem die männliche Beschneidung zunächst im Nahen Osten zur anerkannten Tradition geworden war, brauchte der alte Glaube nicht unbedingt weiterzuleben. Beschnitten zu sein war jetzt ein Kennzeichen, daß man einer besonderen Gesellschaft angehörte. Die rituelle Verstümmelung breitete sich immer weiter aus. Die alten Ägypter nahmen sie seit 4000 v.Chr. vor. Im Alten Testament forderte Abraham die Beschneidung. Die Araber beschnitten genauso wie die Juden. Mohammed wurde angeblich ohne Vorhaut geboren (was möglich ist, weil der Medizin solche Fälle nicht unbekannt sind) — eine Behauptung, die automatisch das Schicksal der Vorhäute seiner künftigen männlichen Anhänger besiegelte.
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Im Lauf der Jahrhunderte wurden statt der religiösen Gründe pseudomedizinische Argumente ins Feld geführt. Der Besitz einer Vorhaut verursache >masturbatorische Geisteskrankheit^ Hysterie, Epilepsie, nächtliche Inkontinenz (Nichtzu-rückhaltenkönnen) und Nervosität. Solche Ideen überlebten bis in unser Jahrhundert und führten sogar zur Bildung einer Gesellschaft für Orifizialchirurgie<, die sich ausschließlich den Kodifikationen < anstößiger Genitalien zur Verhinderung von Geisteskrankheiten widmete.
Als dieser Unfug schließlich aufhörte, setzte eine Krise ein. Welchen Grund sollte man jetzt für die Verstümmelung der kindlichen Genitalien anführen? Er mußte den wissenschaftlichen Prüfungen im rationalen Klima des 20. Jahrhunderts standhalten. Die Antwort erschien im Wissenschaftsmagazin The Lancet im Jahr 1932: Vorhaut verursacht Krebs! Bis Ende der 30er Jahre wurden 75 % aller Jungen in den USA beschnitten; 1973 waren es 84, 1976 sogar 87 Prozent. Krebs war die profane Version von Hölle und Verdammnis, die perfekte Waffe für die Angstmacher einer post-religiösen Gesellschaft.
Genauer gesagt, wurde behauptet, daß das Smegma, die gelblich-weiße, talgige Masse, die sich unter der Vorhaut sammelt, Peniskrebs und Gebärmutterhalskrebs bei den Frauen der Unbeschnittenen verursachen könnte. Der Verfasser des Aufsatzes, mit dem dieses Gerücht in die Welt gesetzt wurde, ging von falschen Statistiken aus, aber niemand kümmerte sich darum, denn hier war endlich wieder ein plausibler Grund, um am kindlichen Penis herumzuschnippeln. Spätere Versuche zeigten, daß das Smegma, das sich unter der Vorhaut bildet, nichts enthält, das auch nur im entferntesten karzinogen sein könnte; aber sie wurden weitgehend ignoriert. Andere Untersuchungen zeigten, daß Frauen, deren unbeschnittene Männer immer Kondome benutzten, nicht mehr und nicht weniger häufig Gebärmutterkrebs bekamen als jene, deren Ehemänner
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nie Kondome benutzten. Aber auch davon wollte niemand etwas wissen. In einem Forschungsprojekt wurde ein Land, in dem es überhaupt keine Beschneidung gab, mit einem anderen verglichen, in dem alle Männer beschnitten wurden. Die Ergebnisse zeigten, zur Erleichterung der Beschneidungsbefür-worter, daß der Prostatakrebs im >unbeschnittenen< Land häufiger war. Leider ist diese Art von Krebs ein typisches Altmännerleiden, und als man die Häufigkeit in den verschiedenen Altersstufen untersuchte, zeigte sich, daß Prostatakrebserkrankungen in den >beschnittenen< Ländern häufiger vorkamen.
Die Angst vor Krebs war völlig unbegründet, und die Operation zur Entfernung der Vorhaut erwies sich weiterhin als ausgesprochenes Gesundheitsrisiko für kleine Kinder. In vielen Fällen kam es zu Blutungen, Geschwüren in der Harnröhre, Operationswunden und lokalen Infektionen. In einigen wenigen Fällen führte die Entfernung der Vorhaut bei Kleinkindern zum Tod. Es gab auch subtilere Schäden mit Langzeitwirkung: Nach der Beschneidung zeigten männliche Babys einen erhöhten Hormonspiegel, wie er sich bei Streß einstellt; der Schlafrhythmus änderte sich; sie schrien mehr und waren nervöser.
Trotzdem wurde und wird die >medizinische< Beschneidung in bestimmten Ländern, in denen die Gesundheit Privatsache ist, munter fortgesetzt. Es ist bezeichnend, daß in Großbritannien nach der Einführung des National-Health-Systems und kostenloser Behandlung die Beschneidungsoperationen drastisch zurückgingen. Unweigerlich stellt sich die Frage, wieso in einem Land, in dem diese Operation plötzlich keinen Profit mehr brachte, nicht einmal mehr ein Prozent (1972 waren es nur 0,41) der Knaben beschnitten werden, hingegen zum Beispiel in den USA im selben Jahr über 80 Prozent der männlichen Kinder — was die Krankenversicherungsgesellschaften über 200 Millionen Dollar kostete. Die neuen Götter, die das Opfer der Vorhaut verlangen, sind weniger heilig als geschäftstüchtig.
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Junge Frauen wurden auf ähnliche Weise mißhandelt. In der westlichen Welt war die weibliche Beschneidung selten, aber noch vor kurzem befürwortete ein texanischer Arzt die Entfernung der Klitoris, um Frigidität zu heilen. Am strengsten hält man sich in Afrika, in Teilen des Nahen Ostens, Indonesien und Malaysia an die Tradition der weiblichen Beschneidung. Es ist eine haarsträubende Tatsache, daß die Praxis, Frauen die äußeren Genitalien ganz oder teilweise abzuschneiden, keineswegs überholt, sondern noch in über 20 Ländern üblich ist.
Nicht weniger als 74 Millionen lebender Frauen wurden auf diese Weise verstümmelt. In den schlimmsten Fällen wurden ihnen die Schamlippen und die Klitoris abgeschabt oder abgeschnitten und die Vagina bis auf eine winzige Öffnung für Urin und Menstruationsblut mit Seide, Katgut oder Dornen verschlossen. Nach der Operation wurden den Mädchen die Beine zusammengebunden, damit die Wunde zuwachsen konnte. Wenn die Mädchen später heirateten, wurde die künstlich verkleinerte Öffnung von den Ehemännern gewaltsam aufgebrochen. Mit dieser Praxis soll den Frauen die Lust am sexuellen Vergnügen genommen werden. Die Nebenwirkungen sind zahlreiche Todesfälle und schwere Erkrankungen als Folge der unhygienischen Bedingungen, unter denen die Operationen durchgeführt werden, besonders in Ländern wie Oman, Südjemen, Somalia, Dschibuti, Sudan, im südlichen Ägypten, Äthiopien, Nord-Kenia und Mali. Daß solche Praktiken im 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund einer modernen Aufklärung weitergeführt werden dürfen, wird die Historiker der fernen Zukunft gewiß vor einige Rätsel stellen.«
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Historiker und Psychologen werden sich noch lange wundern und fragen müssen, wie es zu diesem absurden Verhalten kommt, weil sie die einzig richtige Erklärung aus ihren Überlegungen ausklammern. Diese Erklärung ist aber auf Dauer nicht mehr zu umgehen und bietet sich als zwingend an, sobald man der Frage nicht mehr ausweicht, was mit dem verstümmelten Kind später geschieht. Wenn ein kleines Kind von ahnungslosen Erwachsenen gequält wird, muß es sich dann später nicht dafür rächen? Es muß sich rächen, außer das spätere Leben läßt all die erlittenen Wunden in Liebe ausheilen, was selten der Fall ist. In der Regel werden die einst verletzten Kinder dann ihre eigenen Kinder verletzen und behaupten, ihr Verhalten sei keine Verletzung, weil ihre liebenden Eltern das gleiche getan haben. Außerdem verlangt es - im Fall der Beschneidung - die Religion, und es scheint noch vielen Menschen undenkbar, daß die Religion Grausamkeit verlangen könnte. Wenn aber das Undenkbare wahr ist? Sollen die Kinder und Kindeskinder für das Unwissen der Priester geopfert werden? Die Kirche brauchte 300 Jahre, um Galileis Beweise zu akzeptieren und ihren Irrtum einzugestehen. Heute geht es nicht um theoretische astronomische Beweise, sondern um die praktischen Konsequenzen aus einer Erkenntnis, die die Menschheit vor der Selbstvernichtung retten könnte, weil es bereits erwiesen ist, daß jedes destruktive Verhalten seine Wurzeln in den verdrängten Traumen der Kindheit hat.
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Sobald die Gesetzgebung die von der UNESCO verkündeten Rechte des Kindes auf Schutz und Respekt ernstnimmt, muß auch den Tatsachen Rechnung getragen werden, daß rituelle Beschneidungen:
1. keine Vorteile haben und eine Verstümmelung sind;
2. das Entspannungserleben verhindern und zu Überreizungen führen, die sich destruktiv und selbstdestruktiv auswirken können;
3. dem Kind ein Trauma zufügen, das zur Verletzung seines ganzen Wesens führt, und
4. daß die Folgen dieser Verletzungen nicht nur das Individuum und seine Nachkommen betreffen, sondern auch andere Menschen.Jeder Täter war einmal Opfer, aber nicht jedes Opfer braucht zum Täter zu werden. Es kommt darauf an, ob ein wissender Zeuge dem Opfer helfen kann, die erfahrene Grausamkeit wahrzunehmen, das heißt zu spüren und zu sehen, daß ihm Grausamkeit zugefügt wurde, jedem erwachsenen Täter fehlte dieser Zeuge in der Kindheit, sonst wäre er nicht zum Täter geworden (vgl. Kap. 1,2). Doch es ist nie zu spät für diesen Zeugen. Jede Tat ist auch ein Hilferuf. Aufgeklärte Therapeuten, Ärzte, Krankenschwestern, Juristen, Lehrer können zu diesen rettenden Zeugen werden, sobald sie der Wahrheit nicht ausweichen, und sowohl dem Täter als auch seinem Kind auf diese Art helfen. Eine humanere Gesetzgebung, die Verbrechen nicht mehr verschleiert, wäre dazu eine notwendige Voraussetzung.
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Wenn ich auf die Kindheit eines Verbrechers oder Massenmörders hinweise, tue ich es niemals, um Mitleid für ein Monster zu erwecken, sondern lediglich, um die Produktion von Monstern zu beschreiben und aufzuzeigen, wie aus einem unschuldigen Kind ein durch und durch böser Mensch gemacht werden kann. Zum Glück gehören die meisten Menschen nicht zu diesen Extremen, weil es ihnen vergönnt war, etwas von ihren guten, menschenfreundlichen Anlagen zu retten und zu entwickeln und sich nicht vollständig, sondern nur teilweise und in verschiedenem Grade, mit dem Angreifer zu identifizieren. Solange dieser Teil, solange die Fähigkeit zu fühlen und mitzufühlen, nicht vollständig zerstört ist, haben diese Menschen immer wieder die Chance, die Verleugnung ihrer Leiden aufzugeben, diese Leiden zu spüren, ihre wahren Ursachen zu erkennen und sich auf diesem Wege von dem Bösen, vom Zwang, Böses zu tun, zu befreien.
Sobald sie ihr eigenes Elend fühlen können, werden sie auch für die Not anderer Mitgefühl haben. Auf diesem Weg können andere Menschen sie begleiten, als wissende Zeugen ihre Wahrnehmungen und Gefühle bestätigen, sie vor Selbstzerstörung beschützen, sie ihre Einfühlung spüren lassen, aber nicht mehr. Die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit kann nur der Betreffende selbst leisten, und niemand kann diesen Weg für ihn gehen.
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Wenn jemand zu mir gekommen wäre und mir die Geschichte meiner Kindheit erzählt hätte, mit allen Einzelheiten, die ich jetzt herausgefunden habe. hätte das gar keine Wirkung auf mich gehabt. Ich hätte die Geschichte geglaubt oder nicht geglaubt, aber auch im ersten Fall wäre sie für mich nichts anderes als die Geschichte eines fremden Menschen gewesen, weil sie nicht erlebt worden wäre. Der einzige Zugang, der mir wirklich helfen konnte, meine intellektuelle Abwehr aufzugeben, öffnete sich dank den Gefühlen des ganz kleinen Kindes in mir, das bei den Mißhandlungen durch seine Mutter sein einziger Zeuge war. Warum konnte ich trotzdem die Verdrängung aufgeben? Weil ich um jeden Preis die Wahrheit wissen wollte und schließlich doch einen Zeugen fand, der mir half, diese Wahrheit zu suchen (vgl. Kap. II, 1).
Dank der Begegnung mit meiner Kindheit weiß ich, daß destruktive und selbstdestruktive Tendenzen weder mit Hilfe der Erziehung noch mit Hilfe der traditionellen Therapie wirklich beseitigt werden können. Für eine Zeitlang mag es aussehen, als würde dies gelingen, vor allem wenn die Opfer des Betreffenden schweigen. Ist er selbst das Opfer, so wird er von der Medizin, häufig mit Hilfe von unnötigen Operationen, daran gehindert werden, zu merken, was er sich selbst antut.
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Aber früher oder später zeigt es sich deutlich, daß die Zerstörung des Lebens nur neue Zerstörungen produziert, solange sie nicht voll und ganz erkannt wurde. Die einstige Erbarmungslosigkeit der Eltern trägt ihre Früchte in ihren Kindern und zwingt sie dazu, mit sich selbst und mit den anderen genauso erbarmungslos umzugehen, solange sie der Wahrheit ausweichen.
Die Jungsche Lehre vom Schatten und die Vorstellung, das Böse sei die Kehrseite des Guten, dienen dem Ziel, die Realität des Bösen zu leugnen. Doch das Böse ist real. Es ist nicht angeboren, sondern erworben, und es ist niemals die Kehrseite des Guten, sondern dessen Zerstörer. Shakespeare ahnte das. Er sah und zeigte die Ursprünge des Bösen, aber er versuchte nie, das Böse durch psychologische Erklärungen zu relativieren, wie es die Psychoanalyse zum Beispiel tut. Richard in., Macbeth und andere sind böse weil zerstörerisch, auch wenn man weiß, warum sie so geworden sind. Unser Wissen kann sie nicht verändern. Nur wenn sie selbst nicht nur intellektuell ahnen, sondern mit Gefühlen spüren könnten, wie sie zu bösen Menschen gemacht wurden, können sie sich ändern. Erst dann könnten sie die Blockierungen aufheben und durch das Erlebnis der blockierten Schmerzen das einst mißhandelte Kind befreien, das niemandem etwas Böses antun wollte, als es zur Welt kam, das Kind, das lieben wollte, aber niemanden fand, der ihm das ermöglichte.
Es fand nur überall Stacheldraht und Mauern und glaubte, dies sei die Welt. Als es groß wurde, baute es gigantische Welten voll Mauern und Stacheldraht oder aber komplizierte philosophische und psychologische Systeme, immer noch in der Hoffnung und Erwartung, dafür Liebe zu bekommen, die es bei den Eltern, als es ein »unwertes Leben« war, niemals bekommen hatte. Das mißhandelte, angeblich »böse Kind« wird zum bösen Erwachsenen und schafft später eine böse Welt, wenn kein wissender Zeuge ihm zur Hilfe kommt. Das geachtete Kind wird eine andere Welt schaffen, denn unser biologischer Auftrag heißt, menschliches Leben zu beschützen und es nicht zu zerstören.
Es ist nicht wahr, daß das Böse, Destruktive, Perverse notwendig zur menschlichen Existenz gehört, auch wenn dies immer wieder behauptet wird. Es ist aber wahr, daß das Böse ständig neu produziert und mit ihm ein Meer von Leid für Millionen geschaffen wird, das ebenfalls vermeidbar wäre. Wenn einst die aus der Verdrängung der Kindheit entstandene Ignoranz aufgehoben sein wird und die Menschheit erwacht ist, kann sie diese Produktion des Bösen einstellen.
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