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3. Die verlorene Welt der Gefühle

 

 

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Die frühe Anpassung des Säuglings führt dazu, daß die Bedürfnisse des Kindes nach Liebe, Achtung, Echo, Verständnis, Teilnahme, Spiegelung verdrängt werden müssen. Gleiches gilt für die Gefühlsreaktionen auf die schwerwiegenden Versagungen, was dazu führt, daß bestimmte eigene Gefühle (wie z.B. Eifersucht, Neid, Zorn, Verlassenheit, Ohnmacht, Angst) in der Kindheit und dann im Erwachsenenalter nicht erlebt werden können. 

Dies ist um so tragischer, als es sich hier um Menschen handelt, die an sich zu differenzierten Gefühlen fähig sind. Man merkt es, wenn sie Erlebnisse aus ihrer Kindheit beschreiben, die angst- und schmerzfrei waren. Meistens handelt es sich um Naturerlebnisse. Da konnten sie empfinden, ohne die Eltern damit zu verletzen, sie unsicher zu machen, ihre Macht zu schmälern, ihr Gleichgewicht zu gefährden. 

Aber es fällt sehr auf, daß diese überaus aufmerksamen und sensiblen Kinder, die sich genau erinnern, wie sie z.B. im Alter von vier Jahren das Sonnenlicht im strahlenden Gras entdeckten, beim Anblick ihrer schwangeren Mutter noch mit acht Jahren überhaupt »nichts gesehen haben« und keine Neugier zeigten, daß sie bei der Geburt des Geschwisters »überhaupt nicht« eifersüchtig waren, daß sie mit zwei Jahren, während der Besatzungszeit allein gelassen, das Eindringen von Militär und einige Hausdurchsuchungen über sich ergehen ließen, ohne zu weinen, ruhig und »sehr brav«.

Es ist eine ganze Kunst entwickelt worden, Gefühle von sich fernzuhalten, denn ein Kind kann diese nur erleben, wenn eine Person da ist, die es mit diesen Gefühlen annimmt, versteht und begleitet. Wenn das fehlt, wenn das Kind riskieren muß, die Liebe der Mutter oder der Ersatzperson zu verlieren, kann es die natürlichsten Gefühlsreaktionen nicht »für sich allein«, insgeheim erleben, es muß sie verdrängen. Doch sie bleiben in seinem Körper als Informationen gespeichert. 

Im ganzen späteren Leben dieses Menschen werden diese Gefühle als Anmahnung an die Vergangenheit aufleben können, aber ohne daß der ursprüngliche Zusammenhang verständlich wird. Ihren Sinn zu entziffern ist erst möglich, wenn die Verbindung der ursprünglichen Situation mit den in der Gegenwart erlebten intensiven Gefühlen gelingt. Die neuen aufdeckenden Therapiemethoden gehen von dieser Gesetzmäßigkeit aus und ermöglichen uns, von ihr zu profitieren.

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Nehmen wir als Beispiel das Gefühl des Verlassenseins. 

Nicht das Gefühl eines erwachsenen Menschen, der sich einsam fühlt und deshalb Tabletten schluckt, Drogen nimmt, ins Kino geht, Bekannte aufsucht, unnötige Telefonate macht, um irgendwie das »Loch« zu überbrücken. Nein, ich meine das ursprüngliche Gefühl des kleinen Kindes, das all diese Möglichkeiten der Ablenkung nicht hat und dessen Mitteilungen, verbale oder präverbale, die Eltern nicht erreichten. 

Nicht, weil es ausgesprochen böse Eltern hatte, sondern weil die Eltern selber bedürftig waren, auf ein bestimmtes, für sie notwendiges Echo des Kindes angewiesen, selbst im Grunde Kinder auf der Suche nach einem verfügbaren Menschen. Und so paradox das erscheinen mag — ein Kind ist verfügbar. Ein Kind kann einem nicht davonlaufen, wie die eigene Mutter dazumal. 

Ein Kind kann man erziehen, daß es so wird, wie man es gerne hätte. Beim Kind kann man sich Respekt verschaffen, man kann ihm seine eigenen Gefühle zumuten, man kann sich in seiner Liebe und Bewunderung spiegeln, man kann sich neben ihm stark fühlen, man kann es einem fremden Menschen überlassen, wenn es einem zuviel ist, man fühlt sich endlich im Zentrum der Beachtung, denn die Kinderaugen verfolgen die Mutter auf Schritt und Tritt. Wenn eine Frau bei ihrer Mutter all diese Bedürfnisse unterdrücken und verdrängen mußte, so mag sie noch so gebildet sein, bei ihrem eigenen Kind regen sie sich aus der Tiefe ihres Unbewußten und drängen nach Befriedigung. Das Kind spürt es deudich und gibt sehr früh auf, die eigene Not zum Ausdruck zu bringen.

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Wenn aber später beim Erwachsenen in der Therapie die damaligen Gefühle der Verlassenheit auftauchen, dann kommen sie mit einer solchen Intensität an Schmerz und Verzweiflung, daß es uns völlig klar wird: diese Menschen hätten ihre Schmerzen nicht überlebt. Dafür wäre eine empathische, begleitende Umgebung notwendig gewesen, die ihnen fehlte. Daher mußte alles abgewehrt werden. Aber zu sagen, daß es nicht da war, hieße, aus den Therapien gewonnene empirische Erfahrungen in Abrede zu stellen. Bei der Abwehr z.B. des frühkindlichen Gefühls von Verlassenheit sind viele Mechanismen anzutreffen. 

Neben der einfachen Verleugnung finden wir meistens den ständigen, erschöpfenden Kampf, um mit Hilfe von Symbolen (Suchtmittel, Gruppen, Kulte aller Art, Perversionen) die Befriedigung der verdrängten und inzwischen pervertierten Bedürfnisse zu erreichen. Häufig sind Intellektualisierungen anzutreffen, denn sie bieten einen Schutz von großer Verläßlichkeit, der sich aber verhängnisvoll auswirken kann, wenn der Körper — wie dies bei schweren Erkrankungen der Fall ist — die volle Regie übernimmt (vgl. dazu meine Ausführungen über Nietzsches Erkrankung im Gemiedenen Schlüssel, 1988, und in Abbruch der Schweigemauer, 1990).

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All diese Abwehrmechanismen sind begleitet von der Verdrängung der ursprünglichen Situation und der dazugehörenden Gefühle. Die Anpassung an elterliche Bedürfnisse führt oft (aber nicht immer) zur Entwicklung der »Als-ob-Persönlichkeit« oder dessen, was man häufig als falsches Selbst bezeichnet. Der Mensch entwickelt eine Haltung, in der er nur das zeigt, was von ihm gewünscht wird, und ganz mit dem Gezeigten verschmilzt. Das wahre Selbst kann sich nicht entwickeln und differenzieren, weil es nicht gelebt werden kann. Begreiflicherweise klagen diese Patienten über Gefühle der Leere, Sinnlosigkeit, Heimatlosigkeit, denn diese Leere ist real. Es hat eine Entleerung, Verarmung, partielle Tötung der Möglichkeiten tatsächlich stattgefunden. Die Integrität des Kindes wurde verletzt, und damit wurde das Lebendige, Spontane abgeschnitten. In der Kindheit dieser Menschen treten manchmal Träume auf, in denen sie sich als partiell tot erleben. Zwei Beispiele solcher Träume möchte ich anführen.

Meine kleinen Geschwister stehen auf der Brücke und werfen eine Schachtel in den Fluß. Ich weiß, daß ich tot darin liege, und doch höre ich mein Herz klopfen und erwache jedesmal in dem Moment.

Dieser wiederkehrende Traum verdichtet die unbewußten Aggressionen (Neid und Eifersucht) den kleinen Geschwistern gegenüber, denen Lisa immer fürsorgliche »Mutter« war, mit der »Tötung« der eigenen Gefühle, Wünsche und Ansprüche mit Hilfe von Reaktionsbildung.

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Kurt, 27, träumt:

Ich sehe eine grüne Wiese und darauf einen weißen Sarg stehen. Ich habe Angst, daß meine Mutter darin liegt, aber ich öffne den Deckel, und zum Glück ist es nicht Mutter, sondern ich.

Hätte Kurt als Kind die Möglichkeit gehabt, seinen Enttäuschungen über die Mutter Ausdruck zu geben, d.h., auch Gefühle von Zorn und Wut zu erleben, dann wäre er lebendig geblieben. Aber das hätte zum Liebesentzug der Mutter geführt, was für ein Kind gleichbedeutend mit Tod ist. Also »tötet« es seine Wut und somit auch ein Stück der eigenen Seele, um die Mutter zu erhalten. Aus der Schwierigkeit, eigene echte Gefühle zu erleben und zu entfalten, resultiert die Permanens der Bindung, die keine Abgrenzung ermöglicht. 

Denn die Eltern haben im falschen Selbst des Kindes die gesuchte Bestätigung gefunden, einen Ersatz für die ihnen fehlende Sicherheit, und das Kind, das keine eigene Sicherheit aufbauen konnte, ist zunächst bewußt und später unbewußt von den Eltern abhängig. Es kann sich nicht auf eigene Gefühle verlassen, hat damit keine Erfahrungen gemacht, es kennt seine wahren Bedürfnisse nicht, es ist sich selber im höchsten Maße fremd. In dieser Situation kann es sich nicht von den Eltern trennen und ist auch im Erwachsenenalter dauernd auf Bestätigung der Personen, die die »Eltern« repräsentieren, wie Partner, Gruppen und vor allem die eigenen Kinder, angewiesen. Die Erben der Eltern sind die unbewußten, verdrängten Erinnerungen, die uns zwingen, das wahre Selbst tief vor uns selber zu verstecken. Und so folgt auf die Einsamkeit im elterlichen Haus die spätere Isolierung in uns selber. 

 

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4. Auf der Suche nach dem wahren Selbst  

Wie kann hier die Psychotherapie helfen? Sie kann uns nicht unsere verlorene Kindheit zurückgeben, sie kann nicht Tatsachen verändern oder rückgängig machen. Mit Hilfe von Illusionen kann man Verletzungen nicht heilen. Das Paradies der präambivalenten Harmonie, auf das so viele Verletzte hoffen, läßt sich nie erreichen. Aber das Erleben der eigenen Wahrheit und das postambivalente Wissen um sie ermöglicht, auf einer erwachsenen Stufe, die Rückkehr zur eigenen Gefühlswelt — ohne Paradies, aber mit der Fähigkeit zu trauern, die uns unsere Lebendigkeit zurückgibt.

Es gehört zu den Wendepunkten der Therapie, wenn Menschen zu der emotionalen Einsicht kommen, daß all die »Liebe«, die sie sich mit soviel Anstrengungen und Selbstaufgabe erobert haben, gar nicht dem galt, der sie in Wirklichkeit waren; daß die Bewunderung für ihre Schönheit und Leistungen der Schönheit und den Leistungen galt und nicht eigentlich dem Kind, wie es war. Hinter der Leistung erwacht in der Therapie das kleine einsame Kind und fragt sich: »Wie wäre es, wenn ich böse, häßlich, zornig, eifersüchtig, verwirrt vor euch gestanden wäre? Wo wäre denn eure Liebe gewesen? Und all das war ich doch auch. 

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Will das heißen, daß eigentlich nicht ich geliebt wurde, sondern das, was ich vorgab zu sein? Das anständige, zuverlässige, einfühlsame, verständnisvolle, das bequeme Kind, das im Grunde gar nicht Kind war? Was ist mit meiner Kindheit geschehen? Bin ich nicht um sie betrogen worden? Ich kann ja nie mehr zurück. Ich werde es nie nachholen können. Von Anfang an war ich ein kleiner Erwachsener. Meine Fähigkeiten — wurden sie einfach mißbraucht?«

Diese Fragen sind mit sehr viel Trauer und altem, einst verdrängtem Schmerz verbunden, haben aber immer zur Folge, daß eine neue innere Instanz sich aufrichtet (wie ein Erbe der Mutter, die es nie gegeben hat) — die aus der Trauer geborene Empathie für das eigene Schicksal. Ein Patient träumte in einer solchen Phase, er hätte vor dreißig Jahren ein Kind umgebracht und niemand hätte ihm geholfen, das Kind zu retten. (Vor dreißig Jahren fiel es der Umgebung auf, daß das Kind völlig verschlossen wurde, höflich und brav, aber keine Gefühlsregungen mehr zeigte.)

Nun stellt sich heraus, daß das wahre Selbst nach Jahrzehnten des Schweigens mit der neuge­wonnenen Fähigkeit zu fühlen zum Leben erwachen kann.

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Dessen Manifestationen werden nicht mehr bagatellisiert, nicht mehr verlacht oder verspottet, wenn auch noch lange unbewußt überfahren oder einfach nicht beachtet. Dies geschieht genau in der gleichen subtilen Art, wie es die Eltern früher mit dem Kinde taten, als das Kind für seine Bedürfnisse noch keine Sprache hatte. Es durfte ja auch als großes Kind nicht sagen, nicht einmal denken: »Ich darf traurig oder glücklich sein, wenn mich etwas traurig oder glücklich macht, aber ich bin niemandem Heiterkeit schuldig und muß nicht meinen Kummer oder meine Angst oder andere Gefühle je nach den Bedürfnissen anderer unterdrücken. Ich darf böse sein, und niemand stirbt daran, niemand bekommt Kopfweh davon, ich darf toben, wenn ihr mich verletzt, ohne euch, meine Eltern, zu verlieren.« 

Sobald der Erwachsene seine gegenwärtigen Gefühle ernst nehmen kann, beginnt er zu realisieren, wie er früher mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen umgegangen ist und daß dies seine einzige Überlebenschance war. Er fühlt sich erleichtert, wenn er Dinge in sich wahrnimmt, die er bisher abzuwürgen gewohnt war. Es fällt ihm immer deutlicher auf, wie er, um sich zu schützen, immer noch manchmal über seine Gefühle spottet, sie ironisiert, versucht, sie sich auszureden, sie bagatellisiert oder gar nicht wahrnimmt oder vielleicht erst nach einigen Tagen wahrnimmt, wenn sie schon vergangen sind. 

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Allmählich realisiert der Betreffende selber, wie er gewaltsam Zerstreuung sucht, wenn er bewegt, erschüttert oder traurig ist. (Als die Mutter des sechsjährigen Kindes starb, sagte die Tante: »Man muß tapfer sein und nicht weinen, geh jetzt in dein Zimmer und spiele schön.«) 

In vielen Situationen erlebt er sich zwar immer noch von anderen her, sich ständig fragend, wie er wirkt, wie er jetzt sein müßte, welche Gefühle er haben sollte. Aber im großen und ganzen fühlt sich der Patient jetzt etwas freier. Der natürliche Prozeß der Therapie geht nun weiter, wenn er einmal begonnen hat. Der Leidende fängt an, sich zu artikulieren, bricht mit seiner Fügsamkeit, kann aber aufgrund seiner Kindheitserfahrungen nicht glauben, daß dies ohne Lebensgefahr möglich sein soll. Aus seiner alten Erfahrung heraus erwartet und fürchtet er Ablehnung, Zurückweisung, Bestrafung, wenn er sich wehrt und für seine Rechte einsetzt, um dann doch immer wieder die Befreiung zu erleben, daß er das Risiko aushalten und zu sich selbst stehen konnte. Das kann ganz harmlos beginnen. Man wird von Gefühlen überrascht, die man am liebsten nicht wahrgenommen hätte, aber es ist zu spät, das Sensorium für die eigenen Regungen ist bereits freigelegt, es gibt kein Zurück. Und nun darf das einst eingeschüchterte und zum Schweigen verdammte Kind sich so erleben, wie es dies bisher nie für möglich gehalten hat. 

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Der Mann, der bisher nirgends Ansprüche stellte und unermüdlich die Ansprüche der anderen erfüllte, wird plötzlich wütend, weil der Therapeut »schon wieder« Ferien macht. Oder es ärgert ihn, neue Leute in der Praxis zu sehen. Wie kommt das? Es ist doch nicht Eifersucht. Das Gefühl kennt er gar nicht! Und doch..... »Was haben die da zu suchen? Kommen da überhaupt noch andere Leute außer mir?« Bis jetzt hat er das gar nicht realisiert. Eifersüchtig durften nur andere sein, er aber auf keinen Fall. Und nun erweisen sich die echten Gefühle stärker als die Vorschriften der guten Erziehung. Glücklicherweise. Doch es ist nicht leicht, die wahren Gründe der Wut sofort zu entdecken, weil sie sich zunächst gegen Menschen richtet, die uns helfen wollen, z.B. gegen Therapeuten und eigene Kinder — gegen Menschen, die uns weniger angst machen und die zwar Auslöser, aber nicht Verursacher der Wut sind. 

Zunächst ist es eine große Kränkung, nicht nur gut, verständnisvoll, großzügig, beherrscht und vor allem bedürfnislos zu sein, wenn die Selbstachtung bisher ausschließlich darauf aufgebaut war. Aber wir müssen dieses Gebäude der Selbsttäuschung verlassen, wenn wir uns wirklich helfen wollen. Wir sind nicht immer so schuldig, wie wir uns fühlen, und auch nicht so unschuldig, wie wir es gerne glauben würden. Solange wir gefühllos und verwirrt sind, solange wir unsere Geschichte nicht genau kennen, wissen wir das jedoch noch nicht. 

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Doch die Konfrontation mit der eigenen Realität hilft, Illusionen abzubauen, die den Blick in die Vergangen­heit verstellt haben, und mehr Klarheit zu bekommen. Wenn wir unser reales Verschulden in der Gegenwart entdecken, müssen wir uns dafür bei dem Geschädigten entschuldigen. Das macht uns frei, die unbewußten und nicht berechtigten Schuldgefühle aus der Kindheit aufzulösen. Denn wir waren nicht schuld an den erfahrenen Grausamkeiten, und trotzdem fühlten wir uns dafür verantwortlich. 

Dieses hartnäckige, zerstörerische und irreale Schuldgefühl läßt sich nur verarbeiten, wenn wir es nicht durch neues, reales Verschulden in der Gegenwart abwehren.

Viele Menschen geben die einst erfahrene Grausamkeit an andere weiter und erhalten dadurch das idealisierte Bild ihrer Eltern. Sie bleiben dann im Grunde wie kleine, abhängige Kinder, sogar im hohen Alter. Sie wissen nicht, daß sie echter und ehrlicher mit sich selbst und anderen werden könnten, wenn sie sich erlauben würden, alte Gefühle aus der Kindheit zuzulassen. 

Je mehr der früheren Gefühle wir zulassen und erleben können, desto stärker und kohärenter fühlen wir uns. Somit können wir uns Gefühlen der ganz frühen Kindheit aussetzen und die damalige Hilflosigkeit erleben, was letztlich wiederum unsere Sicherheit stärkt.

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Es ist etwas völlig anderes, ob man als Erwachsener einem Menschen gegenüber ambivalente Gefühle hat oder ob man — nach langer Vorgeschichte — sich plötzlich als ein zweijähriges Kind erlebt, das in der Küche vom Hausmädchen gefüttert wird und verzweifelt denkt: »Warum ist Mama jeden Abend weg? Warum hat sie keine Freude an mir? Was ist an mir, daß sie lieber zu den anderen Menschen geht? Was kann ich machen, damit sie bleibt? Ja nicht weinen! Ja nicht weinen!« 

Damals konnte das Kind nicht in diesen Worten denken, aber nun war dieser Mann beides: der Erwachsene und auch das zweijährige Kind, und er konnte bitterlich weinen. Es war nicht ein kathartisches Weinen, sondern die Integration seiner frühen Sehnsucht nach der Mutter, die er bisher immer verleugnet hatte. In den folgenden Wochen erlebte der Patient die quälende Wut auf seine Mutter, die eine erfolgreiche Kinderärztin gewesen war und dem Kind keine Kontinuität in der Beziehung hatte geben können. »Ich hasse diese ewig kranken Biester, die mir dich, Mutter, immer weggenommen haben. Ich hasse dich, weil du lieber bei ihnen warst als bei mir.« Hier mischten sich Gefühle von Hilflosigkeit mit der lang aufgestauten Wut auf die nicht verfügbare Mutter. Dank dem Erlebnis, der Klärung und der Berechtigung der starken Gefühle verschwanden den Patienten seit langem quälende Symptome, deren Sinn sich nun unschwer entziffern ließ.

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Seine Beziehungen zu Frauen verloren den ausgesprochenen Machtcharakter, und der Zwang, zu erobern und zu verlassen, ließ mit der Zeit nach. Alle Gefühle der Ohnmacht, der Wut und des Ausgeliefertseins werden in der Therapie in einer Intensität erlebt, die früher undenkbar gewesen wäre. Sie öffnen langsam das bisher verriegelte Tor zu den verdrängten Erinnerungen. Man kann nur etwas erinnern, was man bewußt erlebt hat. Aber die Gefühlswelt eines in seiner Integrität verletzten Kindes ist ja bereits das Ergebnis einer Selektion, in der das Wesentliche ausgeschieden wurde. Erst in der Therapie werden diese frühen Gefühle, die vom Schmerz des Nichtbegreifenkönnens des kleinen Kindes begleitet sind, zum erstenmal bewußt erlebt. 

Es ist jedesmal wie ein Wunder, zu sehen, daß trotzdem so viel Eigenes hinter der Verstellung, Verleugnung, Selbstentfremdung überleben konnte und zutage tritt, wenn der Zugang zu Gefühlen gefunden wurde. Und doch wäre es irreführend, wollte man annehmen, daß hinter dem falschen Selbst ein entwickeltes wahres Selbstbewußt versteckt wäre. Das Kind weiß ja nicht, was es versteckt. Kurt formulierte es so: »Ich lebte in einem Glashaus, in das meine Mutter jederzeit hineinschauen konnte. In einem Glashaus kann man nichts verstecken, ohne sich zu verraten, außer unter dem Boden. Dann sieht man es aber selbst auch nicht.«

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Ein erwachsener Mensch kann auch nur dann seine Gefühle erleben, wenn er als Kind zugewandte Eltern oder Ersatzeltern hatte. Den in der Kindheit mißhandelten Menschen hat das gefehlt, sie können deshalb nicht von Gefühlen überrascht werden, denn nur solche Gefühle finden bei ihnen Zutritt, die die innere Zensur, die Erbin der Eltern, zuläßt und gutheißt. Die Depression, die innere Leere, ist der Preis, der für diese Kontrolle bezahlt werden muß. Das wahre Selbst kann nicht kommunizieren, weil es in einem unbewußten und daher unentwickelten Zustand geblieben ist, in einem inneren Gefängnis. Der Umgang mit Gefängniswärtern begünstigt keine lebendige Entwicklung. Erst nach der Befreiung fängt das Selbst an, sich zu artikulieren, zu wachsen und seine Kreativität zu entwickeln. Und wo früher nur die gefürchtete Leere oder die gefürchteten grandiosen Phantasien zu finden waren, tut sich ein unerwarteter Reichtum an Lebendigem auf. Es ist nicht eine Heimkehr, denn das Heim hat es nie gegeben. Es ist eine Heimfindung.

 

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5. Die Situation des Psychotherapeuten

 

Man hört oft die Behauptung, daß der Psychotherapeut an einer Störung seines Gefühlslebens leidet. Die bisherigen Ausführungen wollten deutlich machen, inwiefern man diese Behauptung auf durch Erfahrung bezeugte Tatsachen stützen könnte. Seine Sensibilität, seine Fähigkeit zur Einfühlung, seine übermäßige Ausstattung mit »Antennen« weisen darauf hin, daß er als Kind von Bedürftigen gebraucht — wenn nicht mißbraucht — wurde.

Natürlich gibt es theoretisch die Möglichkeit, daß ein Kind bei Eltern aufgewachsen ist, die diesen Mißbrauch nicht nötig hatten, d.h., das Kind in seinem Wesen sahen, verstanden, seine Gefühle ertrugen und respektierten. Dieses Kind hätte dann ein gesundes Selbstwertgefühl entwickelt. Es ist aber kaum anzunehmen, 

  1. daß es später den Beruf des Psychotherapeuten ergreift,

  2. daß es das geeignete Sensorium für den anderen in dem Maße ausbilden und entwickeln wird wie die »gebrauchten« Kinder,

  3. daß es je — aufgrund eigenen Erlebens — genügend verstehen wird, was es heißt, sein Selbst »verraten zu haben«.

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So meine ich, daß gerade unser Schicksal uns befähigen könnte, den Beruf des Psychotherapeuten auszuüben, aber nur unter der Voraussetzung, daß wir in der eigenen Therapie die Möglichkeit bekommen, mit der Wahrheit unserer Vergangenheit zu leben und auf die gröbsten Illusionen zu verzichten. Das hieße, das Wissen auszuhalten, daß wir auf Kosten unserer Selbstverwirklichung genötigt waren, die unbewußten Bedürfnisse unserer Eltern zu befriedigen, um das wenige, das wir hatten, nicht zu verlieren. Es hieße weiter, die Auflehnung und Trauer über die Nicht-Verfügbarkeit der Eltern für unsere primären Bedürfnisse erleben zu können. Haben wir unsere Verzweiflung und die daraus entspringende hilflose Wut nie gelebt und infolgedessen nie verarbeitet, so können wir in die Gefahr kommen, die unbewußt gebliebene Situation der eigenen Kindheit auf den Patienten zu übertragen. Und niemand würde sich wundern, daß tief verdrängte unbewußte Bedürfnisse den Therapeuten dazu treiben würden, sich ein schwächeres Wesen anstelle der Eltern verfügbar zu machen. Das läßt sich am leichtesten mit eigenen Kindern, mit Untergebenen und mit Patienten machen, die zuweilen wie Kinder vom Therapeuten abhängig sind.

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Ein Patient mit »Antennen« für das Unbewußte des Therapeuten wird prompt darauf reagieren. Er wird sich schnell autonom »fühlen« und wird sich so verhalten, wenn er spürt, daß es dem Therapeuten wichtig ist, schnell autonome Patienten mit sicherem Auftreten zu bekommen. Das kann er, er kann alles, was von ihm erwartet wird. Aber diese »Autonomie« mündet in die Depression, weil sie keine echte ist. Der echten geht das Erlebnis der Abhängigkeit voraus. Erst jenseits des tief ambivalenten Gefühls der kindlichen Abhängigkeit liegt die echte Befreiung. 

Die Wünsche des Therapeuten nach Bestätigung, Echo, Verstanden- und Ernstgenommenwerden befriedigt der Patient, wenn er »Material« bringt, das zum gelernten Rüstzeug des Therapeuten, zu seinen Konzepten, folglich zu seinen Erwartungen paßt. Der Therapeut übt damit die gleiche Art unbewußter Manipulation aus, der er als Kind selbst ausgesetzt war. Die bewußte Manipulation hat er vielleicht längst durchschaut und sich von ihr frei gemacht. Er lernte auch, seine Ansichten zu vertreten und durchsetzen zu können. Aber die unbewußte Manipulation ist für ein Kind niemals durchschaubar. Sie ist die Luft, die es atmet, es kennt keine andere, und sie erscheint ihm als die einzig normale.

Was geschieht, wenn wir auch noch als Erwachsene, als Therapeuten, die gefährliche Qualität dieser Luft nicht erkennen? Wir werden ihr bedenkenlos andere Menschen aussetzen und behaupten, wir täten dies alles nur zu ihrem Besten.

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Je mehr ich Einsicht gewinne in die unbewußte Manipulation der Kinder durch die Eltern und der Patienten durch die Therapeuten, desto dringlicher erscheint mir die Auflösung der Verdrängung. Nicht nur als Eltern, sondern auch als Therapeuten müssen wir unsere Vergangenheit emotional kennenlernen. Wir müssen lernen, unsere kindlichen Gefühle erleben und klären zu können, damit wir es nicht mehr nötig haben, unsere Patienten von unseren Theorien her unbewußt zu manipulieren, und sie das werden lassen können, was sie sind. Erst das schmerzhafte Erlebnis und die Annahme der eigenen Wahrheit macht uns von der Hoffnung frei, doch noch die verstehenden empathischen Eltern — vielleicht im Patienten — zu finden und sie sich — mit klugen Deutungen — verfügbar machen zu können.

Diese Versuchung ist nicht zu unterschätzen. Selten oder niemals haben uns wohl die eigenen Eltern mit der Aufmerksamkeit zugehört, wie ein Patient es meistens tut, und niemals haben sie uns so aufrichtig und für uns verständlich ihr Inneres preisgegeben, wie es zuweilen die Patienten tun. Aber die nie abgeschlossene Trauerarbeit unseres Lebens wird uns helfen, dieser Illusion nicht zu verfallen. 

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Eltern, wie wir sie einmal dringend gebraucht hätten — empathisch und offen, verstehend und verständlich, verfügbar und verwendbar, durchsichtig, klar, ohne unbegreifliche Widersprüche, ohne beängstigende Requisitenkammer —, solche Eltern haben wir nicht gehabt. 

Jede Mutter kann nur da empathisch sein, wo sie von ihrer Kindheit frei geworden ist, und muß unempathisch reagieren, sofern sie durch Verleugnungen ihres Schicksals unsichtbare Ketten trägt. Das gleiche gilt für die Väter. Was es aber gibt, sind solche Kinder: intelligent, wach, aufmerksam, hochsensibel und, weil ganz auf das Wohl der Eltern ausgerichtet, auch verfügbar, verwendbar und vor allem durchsichtig, klar, berechenbar, manipulierbar — solange ihr wahres Selbst (ihre Gefühlswelt) im Keller des durchsichtigen Hauses bleibt, in dem sie wohnen müssen ... zuweilen bis zur Pubertät und nicht selten, bis sie selber Eltern geworden sind. 

Robert, 31, durfte als Kind nicht traurig sein und nicht weinen, ohne zu spüren, daß er seine geliebte Mutter unglücklich und zutiefst unsicher machte, denn »Heiterkeit« war die Eigenschaft, die ihr seinerzeit als Kind das Leben gerettet hatte. Tränen bei ihren Kindern drohten ihr Gleichgewicht zu erschüttern. Aber das hochsensible Kind spürte in sich den ganzen abgewehrten Abgrund dieser Mutter, die als Kind im Konzentrationslager gewesen war und nie davon gesprochen hatte. Erst als der Sohn erwachsen war und sie mit Fragen angehen konnte, erzählte sie, daß sie eines von

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achtzig Kindern gewesen war, die zuschauen mußten, wie ihre Eltern in die Gaskammer gingen. Keines der Kinder hätte geweint! Der Sohn hatte in seiner ganzen Kindheit versucht, heiter zu sein, und konnte sein wahres Selbst, seine Gefühle und Ahnungen nur in zwanghaften Perversionen leben, die ihm bis zur Therapie fremd, beschämend und unverständlich vorkamen.

Gegen diese Art von Manipulation in der Kindheit ist man völlig wehrlos. Das Tragische ist, daß auch die Eltern diesem Geschehen solange wehrlos ausgeliefert sind, wie sie sich weigern, sich ihre eigene Geschichte anzuschauen. Unbewußt setzt sich die Tragik der elterlichen Kindheit in der Beziehung zu den eigenen Kindern fort, wenn die Verdrängung unaufgelöst bleibt. Ein anderes Beispiel mag das noch deutlicher illustrieren: 

Ein Vater, der als Kind öfter über die Angstanfälle seiner zeitweise schizophrenen Mutter erschrocken war, ohne daß jemand ihm eine Erklärung gegeben hätte, erzählte seiner kleinen geliebten Tochter gerne Schauer­geschichten. Über ihre Angst machte er sich lustig, um sie anschließend immer mit dem Satz zu beruhigen: Das ist doch eine erfundene Geschichte, du brauchst dich nicht zu fürchten, du bist bei mir. So konnte er die Angst des Kindes manipulieren und sich stark dabei fühlen. 

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Bewußt wollte er dem Kind etwas Gutes geben, etwas, das er selber entbehrt hatte, nämlich Beruhigung, Schutz, Erklärung. Was er ihm aber unbewußt auch vermittelte, war die Angst seiner Kindheit, die Erwartung eines Unglücks und die ungeklärte Frage (auch seiner Kindheit): Warum macht mir der Mensch, den ich liebe, soviel Angst?

Jeder Mensch hat wohl in sich eine mehr oder weniger vor sich selbst verborgene Kammer, in der sich die Requisiten seines Kindheitsdramas befinden. Die einzigen Menschen, die mit Sicherheit Zutritt zu dieser Kammer bekommen werden, sind seine Kinder. Mit den eigenen Kindern kommt neues Leben in die Kammer, das Drama erfährt seine Fortsetzung. Allein — das Kind hatte keine Möglichkeit, mit diesen Requisiten frei zu spielen, seine Rolle verschmolz ihm mit dem Leben; es konnte auch keine Erinnerung an dieses »Spiel« in sein späteres Leben hinüberretten, es sei denn mit Hilfe der Therapie, wo ihm seine Rolle zur Frage werden konnte. Die Requisiten machten ihm zwar manchmal angst, es konnte sie mit der bewußten Erinnerung an seine Mutter oder seinen Vater nicht in Zusammenhang bringen. Es entwickelte daher Symptome. Und dann, in der Therapie, kann der Erwachsene sie auflösen, wenn die hinter den Symptomen verborgenen Gefühle in seinem Bewußtsein auftauchen: Gefühle des Entsetzens, der Verzweiflung und Auflehnung, des Mißtrauens und der hilflosen Wut.

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Es gibt für Patienten keine Versicherungen gegen unbewußte Manipulationen durch ihre Therapeuten. Auch keiner der Therapeuten ist gegen unbewußtes Manipulieren ein für alle Male gefeit. Doch der Patient hat die Möglichkeit, es ihm aufzuzeigen, wenn er es entdeckt, oder den Therapeuten zu verlassen, wenn dieser blind bleibt und sich auf seine Unfehlbarkeit versteift. Auch meine Empfehlungen entbinden niemanden von der Aufgabe, sowohl diese Methoden als auch sämtliche Therapeuten, die sie ausüben, immer wieder in Frage zu stellen

Je besser wir uns in unserer Lebensgeschichte auskennen, um so besser werden wir Manipulationen durchschauen können, wo immer sie auftreten. Es ist unsere Kindheit, die uns so oft daran hindert. Es ist unsere alte, nicht vollständig erlebte Sehnsucht nach guten, ehrlichen, klugen, bewußten und mutigen Eltern, die uns dazu verführen kann, die Unehrlichkeit oder Unbewußtheit der Therapeuten zu übersehen. Wir sind in Gefahr, Manipulationen viel zu lange zu tolerieren, wenn sich unehrliche Therapeuten als besonders redlich und abgeklärt anzubieten und zu präsentieren wissen. Wenn die Illusion so sehr unseren Bedürfnissen und unserer Not entspricht, dauert es länger, bis wir sie durchschauen. Aber solange wir im vollen Besitz unserer Gefühle sind, wird auch diese Illusion früher oder später zugunsten der heilsamen Wahrheit begraben werden müssen. 

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6. Das goldene Gehirn  

 

In den »Lettres de Mon Moulin« von Alphonse Daudet habe ich eine Erzählung gefunden, die etwas bizarr klingen mag, aber viel Gemeinsames mit diesen Ausführungen hat. Zum Abschluß dieses Kapitels über das ausgebeutete Kind möchte ich ihren Inhalt verkürzt wiedergeben. 

Es war einmal ein Kind mit einem goldenen Gehirn. Die Eltern merkten es erst zufällig, bei einer Kopfverletzung, als statt Blut etwas Gold aus seinem Kopf herausfloß. Sie fingen an, das Kind sorgsam zu behüten, und verboten ihm den Umgang mit anderen Kindern, damit es nicht bestohlen werde. Als der Junge groß war und in die Welt hinaus wollte, sagte die Mutter: »Wir haben so viel für dich getan, wir sollten doch auch an deinem Reichtum teilhaben.« Da nahm der Sohn ein großes Stück Gold aus seinem Gehirn und gab es der Mutter. 

Er lebte von seinem Reichtum auf großem Fuß, mit einem Freund zusammen, der ihn aber nachts einmal bestahl und sich davonmachte. Da beschloß der Mann, fortan sein Geheimnis zu hüten und zu arbeiten, weil sich die Vorräte zusehends verminderten. Eines Tages verliebte er sich in ein schönes Mädchen, das ihn auch liebte, aber nicht minder die schönen Kleider, die es von ihm in Fülle bekam. Er heiratete das Mädchen und war glücklich, aber die Frau starb nach zwei Jahren, und für ihr Begräbnis, das großartig sein mußte, gab der Mann sein ganzes restliches Vermögen aus. 

Einmal schlich er durch die Straßen, schwach, arm und unglücklich; da sah er im Schaufenster schöne Stiefelchen, die seiner Frau genau gepaßt hätten. Er vergaß, daß die Frau nicht mehr am Leben war — vielleicht, weil sein entleertes Gehirn nicht mehr arbeiten konnte —, und betrat den Laden, um die Stiefelchen zu kaufen. Aber in dem Moment stürzte er, und der Verkäufer sah einen Toten auf dem Boden liegen. 

Daudet, der selbst an einer Rückenmarkkrankheit sterben sollte, schreibt am Schluß: 

»Diese Geschichte scheint erfunden zu sein, aber sie ist wahr vom Anfang bis zum Ende. Es gibt Menschen, die für die geringsten Dinge im Leben mit ihrer Substanz und ihrem Rückenmark zu bezahlen haben. Das ist für sie ein immer wiederkehrender Schmerz. Und dann, wenn sie des Leidens müde sind .....«

Gehört nicht die Mutterliebe zu den »geringsten«, aber auch unentbehrlichsten Dingen im Leben, die viele Menschen — paradoxerweise — mit dem Verzicht auf ihre Lebendigkeit bezahlen müssen?  

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