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Alice Miller Das
Drama des Eine Um- und Fortschreibung
1995 by
Suhrkamp Verlag |
1995 175 Seiten
detopia:
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Inhalt Nachwort 1995 (165) Danksagung (173) Wir ertragen als Erwachsene das Unerträgliche nur so lange, wie wir uns fürchten zu sehen, daß – und wie – wir als Kinder gezwungen wurden, das Unerträgliche zu ertragen, diesen Zwang als Hilfe anzusehen und uns daran zu klammern. Wenn wir die Wahrheit unserer Kindheitssituation zu sehen wagen, kommen wir leichter in die Lage, unser Leben frei von inneren Zwängen zu gestalten. Zwischen dem Erscheinen des Dramas des begabten Kindes (1979) und der Um- und Fortschreibung liegen 15 Jahre Erfahrungen. Erfahrungen der Autorin mit ihrer eigenen Selbsttherapie sowie mit anderen neueren Therapiemethoden und schließlich auch mit den Lebensgeschichten der Leserinnen und Leser, die ihr geschrieben haben und deren Zahl sie auf mehrere Tausend schätzt. Ihre in diesem Zeitraum unternommenen Forschungen über Kindheiten führten sie zu weiteren Präzisierungen ihrer früheren Erkenntnisse, die sie hier mit Hilfe zahlreicher Beispiele dokumentiert und illustriert. Die Autorin befaßt sich mit den Folgen der Verdrängung im persönlichen und sozialen Bereich, mit den Ursachen kindlicher Verletzungen und deren Prophylaxe und schließlich mit den erst heute bestehenden neuen Möglichkeiten, die Folgen der frühen Traumatisierungen aufzulösen. |
I. Das Drama des begabten Kindes und wie wurden wir zu Psychotherapeuten (11)
II. Depression und Grandiosität – Zwei Formen der Verleugnung (51)
III. Der Teufelskreis der Verachtung (103)
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I. Das Drama des begabten Kindes und wie wurden wir zu Psychotherapeuten
1. Alles lieber als die Wahrheit
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Die Erfahrung lehrt uns, daß wir im Kampf mit den seelischen Erkrankungen auf Dauer ein sehr wichtiges Mittel zur Verfügung haben: die Wahrheit unserer einmaligen und einzigartigen Kindheitsgeschichte emotional zu finden.
Ob wir uns je ganz von Illusionen frei machen können? Jedes Leben ist voller Illusionen, wohl weil uns die Wahrheit als unerträglich erscheint. Und doch ist uns die Wahrheit so unentbehrlich, daß wir ihren Verlust mit schweren Erkrankungen bezahlen. Daher versuchen wir, in einem langen Prozeß unsere persönliche Wahrheit zu entdecken, die, bevor sie uns den neuen Freiheitsraum schenkt, immer schmerzt — es sei denn, wir begnügen uns mit einer intellektuellen Erkenntnis. Aber dann verharren wir doch wieder im Bereich der Illusion.
Wir können unsere Vergangenheit nicht im geringsten verändern, die Schäden, die uns in der Kindheit zugefügt wurden, nicht ungeschehen machen. Aber wir können uns verändern, uns »reparieren«, unsere verlorene Integrität wiedergewinnen. Wir können dies tun, indem wir uns entschließen, das in unserem Körper gespeicherte Wissen über das vergangene Geschehen näher anzuschauen und es unserem Bewußtsein nahezubringen.
Dieser Weg ist gewiß unbequem, doch in vielen Fällen gibt er uns die Möglichkeit, endlich das unsichtbare und doch so grausame Gefängnis der Kindheit zu verlassen und uns vom unbewußten Opfer der Vergangenheit in einen verantwortlichen Menschen zu verwandeln, der seine Geschichte kennt und mit ihr lebt.
Die meisten Menschen tun genau das Gegenteil. Sie wollen nichts von ihrer Geschichte wissen und wissen daher auch nicht, daß sie im Grunde ständig von ihr bestimmt werden, weil sie in ihrer unaufgelösten, verdrängten Kindheitssituation leben. Sie wissen nicht, daß sie Gefahren fürchten und umgehen, die einst reale Gefahren waren, aber es seit langem nicht mehr sind. Sie werden von unbewußten Erinnerungen sowie von verdrängten Gefühlen und Bedürfnissen getrieben, die oft beinahe alles, was sie tun und lassen, in pervertierter Weise bestimmen, solange sie unbewußt und ungeklärt bleiben.
Die Verdrängung der einst erfahrenen brutalen Mißhandlungen treibt z.B. viele Menschen dazu, das Leben anderer und das eigene zu zerstören, Häuser ausländischer Bürger anzuzünden, Rache zu üben und dies dann sogar noch als »Patriotismus« zu bezeichnen, um die Wahrheit vor sich selbst zu verbergen und die Verzweiflung des gequälten Kindes nicht zu spüren.
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Andere setzen die Qualen, die ihnen einst zugefügt wurden, aktiv fort, z.B. in Flagellantenklubs, in Quälkulten aller Art, in der S/M-Szene, und bezeichnen dies als Befreiung. Frauen lassen sich die Brustwarzen durchstechen, um Ringe daran zu hängen, lassen sich damit für Zeitungen fotografieren und erzählen stolz, daß sie keine Schmerzen dabei gefühlt hätten und daß ihnen dies eben Spaß mache. An der Ehrlichkeit solcher Aussagen ist nicht zu zweifeln, denn diese Frauen haben sehr früh lernen müssen, den Schmerz nicht zu fühlen. Und was würden sie heute nicht alles tun, um ja nicht den Schmerz des kleinen Mädchens zu spüren, das vom Vater sexuell ausgebeutet wurde und sich einbilden mußte, dies hätte ihm Spaß gemacht?
Eine als Kind sexuell ausgebeutete Frau, die ihre kindliche Realität verleugnet und gelernt hat, Schmerzen nicht zu fühlen, ist ständig auf der Flucht vor bereits Geschehenem – mit Hilfe von Männern, Alkohol, Drogen oder Leistung-Erbringen. Sie braucht den ständigen »Kick«, um ja nicht die »Langeweile« aufkommen zu lassen, ja nicht eine Sekunde der Ruhe zuzulassen, in der die brennende Einsamkeit ihrer kindlichen Wirklichkeit spürbar wäre, weil sie dieses Gefühl mehr als den Tod fürchtet – es sei denn, sie hatte das Glück zu lernen, daß das Ausleben und Bewußtwerden der kindlichen Gefühle nicht tötet, sondern befreit. Was hingegen nicht selten tötet, ist die Abwehr der Gefühle, deren bewußtes Erlebnis uns die Wahrheit enthüllen könnte.
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Die Verdrängung des Kindheitsleidens bestimmt nicht nur das Leben des einzelnen, sondern auch die Tabus der Gesellschaft. Die geläufigen Biographien illustrieren das sehr deutlich. Wenn man Biographien z.B. berühmter Künstler liest, so fängt ihr Leben irgendwo um die Pubertät herum an. Vorher hatte der Künstler eine »glückliche« oder »frohe« oder »unbelastete« Kindheit, oder eine Kindheit »voller Entbehrungen« oder »Anregungen«, aber wie die Kindheit im einzelnen gewesen ist, scheint völlig uninteressant zu sein. Als ob nicht in der Kindheit die Wurzeln des ganzen Lebens verborgen wären. Ich möchte das an einem einfachen Beispiel illustrieren:
Henry Moore schreibt in seinen Erinnerungen, daß er als kleiner Junge den Rücken seiner Mutter mit Rheumaöl massieren durfte. Als ich das las, bekam ich plötzlich einen ganz persönlichen Zugang zu den Plastiken Moores. Die liegenden großen Frauen mit den kleinen Köpfen – da sah ich die Mutter mit den Augen des kleinen Jungen, der den Kopf seiner Mutter perspektivisch verkleinert und den nahen Rücken als riesengroß erlebt. Das mag vielen Kunstkritikern völlig einerlei sein. Aber für mich ist es ein Zeichen, wie stark die Erlebnisse eines Kindes im Unbewußten überdauern und welche Möglichkeiten des Ausdrucks sie finden können, wenn der Erwachserie frei ist, sie gelten zu lassen.
Nun ist Moores Erinnerung eine harmlose und konnte überdauern. Aber die traumatischen Erlebnisse jeder Kindheit bleiben im Dunkel. In diesem Dunkel verborgen bleiben auch die Schlüssel zum Verständnis des ganzen späteren Lebens.
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2. Das arme reiche Kind
Früher mußte ich mich oft fragen, ob es uns je möglich sein wird, das volle Ausmaß der Einsamkeit und Verlassenheit zu erfassen, dem wir als Kinder ausgesetzt waren. Inzwischen weiß ich, daß dies möglich ist. Ich denke hier nicht an Kinder, die offensichtlich verwahrlost aufgewachsen sind und die schon mit dieser Wahrheit groß geworden sind. Aber es bleibt ja noch die ganz große Zahl der Menschen, die mit dem Bild einer glücklichen und behüteten Kindheit, mit dem sie aufgewachsen sind, in die Therapie kommen. Es handelt sich um Patienten, die selber viele Möglichkeiten oder sogar Talente hatten, die sie später entwickelten, und die auch manchmal wegen ihrer Gaben und Leistungen gelobt wurden. Fast alle diese Kinder waren schon im ersten Lebensjahr trocken, und viele halfen bereits im Alter von eineinhalb bis fünf Jahren sehr geschickt bei der Pflege ihrer kleinen Geschwister.
Nach der vorherrschenden Meinung müßten diese Menschen — der Stolz ihrer Eltern — ein starkes und stabiles Selbstbewußtsein haben. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. Alles, was sie anpacken, machen sie gut bis hervorragend, sie werden bewundert und beneidet, sie ernten Erfolg, wo es ihnen immer wichtig ist, aber alles das nützt nichts.
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Dahinter lauert die Depression, das Gefühl der Leere, der Selbstentfremdung, der Sinnlosigkeit ihres Daseins — sobald die Droge der Grandiosität ausfällt, sobald sie nicht »on top« sind, nicht mit Sicherheit der Superstar, oder wenn sie plötzlich das Gefühl bekommen, vor irgendeinem Idealbild ihrer selbst versagt zu haben. Dann werden sie gelegentlich von Ängsten oder schweren Schuld- und Schamgefühlen geplagt. Was sind die Gründe einer so tiefen Störung bei diesen begabten Menschen?
Schon in der ersten Besprechung lassen sie den Zuhörenden bald wissen, daß sie verständnisvolle Eltern hatten, mindestens einen Elternteil, und wenn es ihnen je am Verständnis der Umwelt gefehlt hatte, so lag es, meinen sie, an ihnen, nämlich daran, daß sie sich nicht richtig ausdrücken konnten. Sie bringen ihre ersten Erinnerungen ohne jegliches Mitgefühl für das Kind, das sie einmal waren, und dies fällt um so mehr auf, als diese Patienten nicht nur eine ausgesprochene Fähigkeit zur Introspektion haben, sondern sich auch relativ leicht in andere Menschen einfühlen können. Ihre Beziehung zur Gefühlswelt ihrer Kindheit ist aber durch mangelnden Respekt, Kontrollzwang, Manipulation und Leistungsdruck charakterisiert. Nicht selten zeigen sich da Verachtung und Ironie, die bis zum Spott und Zynismus gehen können.
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Allgemein anzutreffen ist ferner ein völliges Ausbleiben von echtem, emotionalem Verstehen und Ernstnehmen des eigenen Kinderschicksals sowie eine völlige Ahnungslosigkeit in bezug auf die eigenen wahren Bedürfnisse, jenseits der Leistungszwänge. Die Verinnerlichung des ursprünglichen Dramas ist so vollkommen gelungen, daß die Illusion der guten Kindheit gerettet werden kann.
Um das seelische Klima einer solchen Kindheit schildern zu können, möchte ich zunächst einige Voraussetzungen formulieren, von denen ich ausgehe:
1. Es ist ein ureigenes Bedürfnis des Kindes, von Anfang an als das, was es jeweils ist, beachtet und ernst genommen zu werden.
2. »Das, was es jeweils ist«, meint: Gefühle, Empfindungen und deren Ausdruck, bereits beim Säugling.
3. In einer Atmosphäre der Achtung und Toleranz für die Gefühle des Kindes kann das Kind in der Trennungsphase die Symbiose mit der Mutter aufgeben und die Schritte zur Autonomie vollziehen.
4. Damit diese Voraussetzungen der gesunden Entwicklung möglich wären, müßten die Eltern dieser Kinder ebenfalls in einem solchen Klima aufgewachsen sein. Diese Eltern würden ihrem Kind das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, in dem sein Vertrauen wachsen kann.
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5. Eltern, die dieses Klima als Kinder nicht bekommen haben, sind bedürftig, d.h., sie suchen ihr ganzes Leben, was ihnen ihre eigenen Eltern zur rechten Zeit nicht geben konnten: ein Wesen, das ganz auf sie eingeht, sie ganz versteht und ernst nimmt.
6. Dieses Suchen kann natürlich nicht voll gelingen, denn es bezieht sich auf eine unwiderruflich vergangene Situation, nämlich die erste Zeit nach der Geburt.
7. Aber ein Mensch mit einem ungestillten und unbewußten — weil abgewehrten — Bedürfnis ist einem Zwang unterworfen, das Bedürfnis doch noch auf Ersatzwegen befriedigen zu wollen, solange er seine verdrängte Lebensgeschichte nicht kennt.
8. Am meisten eignen sich dazu die eigenen Kinder. Ein Neugeborenes ist auf Gedeih und Verderb auf seine Eltern angewiesen. Und da seine Existenz davon abhängt, ihre Zuwendung zu bekommen, tut es auch alles, um sie nicht zu verlieren. Es wird vom ersten Tag an all seine Möglichkeiten einsetzen, wie eine kleine Pflanze, die sich nach der Sonne dreht, um zu überleben.
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Im Laufe der zwanzig Jahre meiner therapeutischen Tätigkeit bin ich immer wieder mit einem Kinderschicksal konfrontiert worden, das mir für Menschen mit helfenden Berufen bezeichnend erscheint:
1. Da war eine emotional tief unsichere Mutter, die für ihr gefühlsmäßiges Gleichgewicht auf ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Seinsweise des Kindes angewiesen war. Diese Unsicherheit konnte sehr wohl dem Kinde und der ganzen Umgebung hinter einer harten, autoritären, ja totalitären Fassade verborgen bleiben.
2. Dazu kam eine erstaunliche Fähigkeit des Kindes, dieses Bedürfnis der Mutter oder beider Eltern intuitiv, also auch unbewußt, zu spüren und zu beantworten, d.h., die ihm unbewußt zugeteilte Funktion zu übernehmen.
3. Damit sicherte sich das Kind die »Liebe« der Eltern. Es spürte, daß es gebraucht wurde, und das gab seinem Leben die Existenzberechtigung. Die Fähigkeit zur Anpassung wird ausgebaut und perfektioniert, und diese Kinder werden nicht nur zu Müttern (Vertrauten, Tröstern, Ratgebern, Stützen) ihrer Mutter, sondern übernehmen auch Verantwortung für ihre Geschwister und bilden schließlich ein ganz besonderes Sensorium für unbewußte Signale der Bedürfnisse des anderen aus.
Kein Wunder, wenn sie später oft den Beruf des Psychotherapeuten wählen. Wer sonst, ohne diese Vorgeschichte, würde das Interesse dafür aufbringen, den ganzen Tag herausfinden zu wollen, was sich im Unbewußten des anderen abspielt? Aber in der Ausbildung und Vervollkommnung dieses differenzierten Sensoriums, das einst dem Kind zum Überleben verhalf und den Erwachsenen drängt, einen helfenden Beruf zu ergreifen, liegen auch die Wurzeln der Störung. Sie treibt den Helfer immer wieder dazu, seine in der Kindheit nicht erfüllten Bedürfnisse mit Ersatzpersonen befriedigen zu wollen.
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