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  Nachwort 1995  

 

 

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Sechzehn Jahre sind seit dem Erscheinen des Buches <Das Drama des begabten Kindes> vergangen, Jahre, in denen sich vieles im Bereich der Therapien verändert hat. Verkrustete Strukturen sind aufgebrochen, neue, manchmal auch gefährliche Therapie­methoden hinzugekommen. Ein Buch, sei es noch so einfühlsam geschrieben, kann einen guten Therapeuten nicht ersetzen. Aber es kann uns eventuell bewußt machen, daß wir eine Therapie brauchen, weil es uns mit unseren unterdrückten oder gar verdrängten Gefühlen in Berührung bringt, womit manchmal ein heilsamer Prozeß in Gang kommt. Diese letzte Funktion schien das Drama von Anfang an und bis heute zu haben.

Meine mit dem Drama begonnenen Versuche, die Vertreter der Psychoanalyse von der großen Bedeutung der Emotionen für die menschliche Entwicklung zu überzeugen, sind im Laufe der Jahre auf zunehmendes Echo gestoßen. Dazu hat auch die Erweiterung unseres Wissens über Traumatisierungen in der Kindheit und die Folgen ihrer Verdrängung beigetragen. Wir verdanken diese Erweiterung teilweise den Medienberichten und zum großen Teil den aufdeckenden Therapien. Neue Perspektiven eröffnen sich heute zusätzlich angesichts der Forschungen der Neurobiologen über das menschliche Gehirn.

Antonio Damasio, Autor des bekannten Buches »Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn«, München 1995, stellt aufgrund zahlreicher Beobachtungen und Experimente fest, daß Menschen, die durch Unfälle oder chirurgische Eingriffe (z.B. wegen eines Hirntumors) das Zentrum für Emotionen im Gehirn verloren haben, nicht nur nicht fähig sind, überhaupt Gefühle zu empfinden, sondern gleichzeitig auch die Fähigkeit verlieren, Entscheidungen zu treffen und ihr Leben zu organisieren.

Die übrigen Sektoren des Gehirns mögen gut funktionieren, andere mentale Funktionen können intakt bleiben, wie es psychologische Tests veranschaulichen, nur im Bereich des Fühlens und Handelns ist ein erheblicher Schäden feststellbar. Es scheint offensichtlich, daß der Zugang zu seinen Emotionen für den Menschen unerläßlich ist, damit er sein Leben organisieren kann.

Diese Feststellung erscheint mir besonders relevant für unser Verständnis der Folgen von Kindheits­traumen. Was geschah nun, neurobiologisch gesehen, mit den Kindern, die keine Möglichkeit hatten, ihr emotionales Leben zu entwickeln, Kindern, deren Schicksal ich in diesem Buch beschrieben habe? Könnte es sein, daß sie das spezifische Zentrum im Gehirn, das uns ermöglicht, für uns und andere zu sorgen, gar nicht oder nur ansatzweise, ungenügend entwickeln konnten?

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Das klinische Material und die hier beschriebenen Beispiele würden eine solche Hypothese bestätigen. Aber umfangreiche Forschungen wären noch durchzuführen, um ihre Richtigkeit zu beweisen. Das würde helfen zu verstehen, weshalb viele mißbrauchte und vernachlässigte Kinder, die ihre wahren Gefühle sehr früh unterdrücken und verdrängen mußten, sich später als Erwachsene nicht schützen bzw. nicht gut für sich sorgen können. Und warum manche von ihnen destruktiv und irrational handeln, obwohl sie auf intellektuellem Gebiet sehr leistungsfähig sein mögen.

Im Unterschied aber zu Menschen, die durch Unfälle oder Operationen am Gehirn einen irreversiblen Verlust erfuhren, können Opfer von Mißhandlungen in der Kindheit als Erwachsene die Fähigkeit zu fühlen nachträglich aufbauen. In einem amerikanischen Gefängnis in Lorton, Virginia, stellte man in einer Langzeitstudie an Schwerstkriminellen fest, daß die Rückfallquote bei Tätern, denen man tagsüber kleine Tiere zur Pflege anvertraute, bei 20% lag, während bei der Vergleichsgruppe, die nicht an dieser »Emotionsschulung« teilgenommen hat, 80% der Täter wieder rückfällig wurden. 

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Dieses Ergebnis zeigt unter anderem, daß Menschen, die früher von ihren Gefühlen getrennt waren, die eigenes wie fremdes Leben dadurch zerstörten, nun endlich in sich Gefühle für ein Lebewesen entwickeln konnten. Die neue Erfahrung ermöglichte ihnen, ihr Bedürfnis nach Liebe nicht mehr abzuwehren, es wahrzunehmen, sich vom Tier geliebt zu fühlen und somit erstmals so etwas wie Selbstachtung zu gewinnen.

Häufig verblassen die alten Traumen, sie verlieren an Bedeutung in einer Gegenwart, die dem Betreffenden die Möglichkeit bietet, mit seinen heutigen Gefühlen und Bedürfnissen im engen Kontakt zu bleiben. Insgesamt hat die traditionelle Psychologie bis vor kurzem die Bedeutung der Emotionen zu wenig berücksichtigt. Jetzt werden sie zum Thema zahlreicher Untersuchungen. Es wäre wünschenswert, daß Kinder in Zukunft früh lernen könnten, ihre Gefühle ernst zu nehmen, sie zu verstehen und einzuordnen. Elternhaus, Kindergarten, Schule könnten ihnen Hilfestellung dabei leisten, sobald die Berechtigung, ja Notwend­igkeit für diese Form von »Erziehung« endlich anerkannt wird. In diesem Sinne könnten die neuen Untersuchungen der Neuro­biologen einen positiven Beitrag zur Aufklärung der Pädagogen leisten.

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Als ich Ende der siebziger Jahre in meiner Kritik der einseitig intellektuellen Methode der Psychoanalyse die Bedeutung der Gefühls­erlebnisse für das seelische Wachstum des Menschen in den Vordergrund stellte, wußte man in Europa noch sehr wenig von den neuen therapeutischen Methoden, die an Gefühlen arbeiteten. Inzwischen sind diese Methoden längst aus den USA auch nach Europa durchgedrungen, und deren Zahl hat sich in den letzten Jahren ums vielfache vergrößert. Körpertherapie, Bioenergetik, Gestalt-, Primärtherapie, Focusing sind nur einige wenige Namen, die die Richtung angeben.

Obwohl manche Menschen durch das bloße Erlebnis der Gefühle bereits namhafte Besserungen verspüren, weil ihr Körper dadurch zunächst entlastet wird, gibt es auch zahlreiche Fälle, bei denen sie zur suchtartigen Abhängigkeit von Schmerzgefühlen führen. Das wiederum verstärkt noch die Abhängigkeit vom Helfer, von dem man sich die versprochene Erlösung erhofft.

Vor einigen Jahren fragte man sich noch, wie man Menschen zu den intensiven verdrängten Gefühlen führen könne. Heute weiß man, daß es verschiedene Methoden gibt, die sehr schnell helfen, die Abwehr abzubauen. Doch nicht bei jedem ist eine solche Arbeit wünschenswert und gefahrlos. So fördert z. B. die Verdunklung des Raumes im Setting der Primärtherapie bereits sehr stark die Regression, die zur totalen Hilflosigkeit und völlig unkritischen Idealisierung des Therapeuten führen kann. 

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Jeder therapeutische Prozeß, aber ganz besonders die Konfrontation mit frühen Traumen, setzt die Fähigkeit und Bereitschaft für eine kompetente und redliche Begleitung voraus. Unter diesem Schutz kann der Klient die Chancen seines erwachsenen Lebens sowie seine Begabungen und Stärken, sein ganzes Heilungs­potential nutzen, um die Trauer­arbeit über seine Verluste zu leisten, ohne daß er im regredierten Zustand steckenbleibt und sich dadurch unter Umständen von Gurus abhängig macht. Bleibt eine solche Begleitung aus, kann der Klient zum Opfer schwerster Manipulationen werden, wie sie nicht nur in bekannten Sekten, sondern auch in manchen sogenannten Therapiezentren praktiziert werden, die ihrerseits bereits Sekten­strukturen herausbilden.

Glücklicherweise gibt es heute auch andere, positive Entwicklungen. Die Tatsache, daß die neuen therapeutischen Möglichkeiten leicht mißbraucht werden können, darf nicht den Blick dafür verstellen, daß sie bereits vielfach in redlicher Absicht (mit Vorsicht und Offenheit für kritische Relativierung) genutzt werden.

Die Erfahrungen der Psychoanalytiker in der Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung könnten bei diesen Bemühungen ebenfalls fruchtbar gemacht werden, zumal deren Vertreter ihrerseits heute die neueren Methoden besser kennen als früher. Diese in verschiedenen Methoden ausgebildeten Analytiker werden vielleicht helfen, den exzessiven, unkontrollierten Mißbrauch der regressiven Arbeit einzudämmen. 

Es zeigt sich mit zunehmender Deutlichkeit, daß die Psychoanalyse, was die Anerkennung der Kindheits­realität betrifft, nicht mehr durchgehend den Freud'schen Standpunkt vertritt und die frühere Rigidität zunehmend aufgibt.

Ich habe lange nach Wegen zur vollständigen Aufdeckung meiner Kindheitsgeschichte gesucht. Eine Zielsetzung, die ich inzwischen als nicht realisierbar erkannte. Erst seit ich die Fixierung auf eine »vollständige Auflösung« aufgegeben habe, konnten sich mir neue Wege erschließen und neue Perspektiven auftun.

 

Ende 

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Danksagung 

Es ist mir ein Anliegen und ein Bedürfnis, vor allem Frau Heide Mersmann aus dem Suhrkamp Verlag für den großen Einsatz, den sie für meine Bücher geleistet hat, meinen herzlichen Dank auszusprechen. In meiner langen und ausgedehnten Aufklärungsarbeit über das Problem der Kinds­mißhandlungen konnte ich immer mit ihrer vollen Unterstützung rechnen. Ich verdanke Frau Mersmann nicht nur das sorgfältige, verständnisvolle, einfühlsame und sehr wache Lektorieren dieses Buches, sondern im Grunde noch viel mehr: Seit dem Erscheinen des Dramas vor 15 Jahren wurden die unterschiedlichsten Anliegen der Leserinnen und Leser sowie aller Arten von Institutionen an den Verlag gerichtet. Es war dann immer Frau Mersmann, die diese Anrufe und Briefe mit der gleichbleibenden Freundlichkeit, Umsicht und Klarheit beantwortete.

Für die umsichtige und fachkundige Behandlung meines Manuskriptes in allen Phasen, aber vor allem in der letzten, schwierigsten Phase, möchte ich den Herren aus der Herstellungs­abteilung des Suhrkamp Verlages danken. Es war nicht immer leicht, die technischen Gegeben­heiten mit den sachlichen Notwendigkeiten in Überein­stimmung zu bringen, aber sowohl Herr Rolf Staudt als auch Herr Manfred Wehner taten alles, was möglich war, meine Bemühungen um die Integrität des Textes zu unterstützen. Ihnen gilt hier mein verbindlichster Dank.

Meine Dankbarkeit für die vielen Zuschriften der Leserinnen und Leser spricht bereits aus vielen Seiten dieses Buches, doch ich möchte sie an dieser Stelle deutlich zum Ausdruck bringen. Viele von ihnen haben eigentlich in diesem Buch »mitgeschrieben«, ohne es zu ahnen, doch sie müssen anonym bleiben, weil ihre Mitteilungen vertraulich waren. Ihre Geschichten, ihre tragischen, oft unfaßbaren Schicksale und schließlich ihre enttäuschenden Erfahrungen mit ahnungslosen oder unredlichen Therapeuten aller möglichen Richtungen führten mir immer wieder vor Augen, wie leicht die Tragik der in ihrer Kindheit mißhandelten Menschen mißbraucht werden kann.

Es tat mir immer wieder sehr leid, die zahlreichen Briefe, die mich erreichten, nicht persönlich beantworten zu können. Dafür gab es mehrere Gründe. Heute habe ich neue Möglichkeiten, auf spezifische Fragen der Leserinnen und Leser einzugehen, und mache von ihnen Gebrauch. Ich hoffe aber, daß viele der früheren Briefe­schreiber­innen in der nun vorliegenden Um- und Fortschreibung meine Antworten auf ihre Briefe (wie auch mein Gefühl der tiefen Verpflichtung) ohne weiteres erkennen werden.

Zum Schluß möchte ich meinen Freunden und Kollegen danken, die mir mit ihrer Zuwendung und Offenheit immer wieder helfen, alte Fixierungen aufzugeben und neue Entwicklungen in Wissenschaft und Therapie wahrzunehmen.

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