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Epilog

Generationen im Dialog

 

289-296

Zahlreiche Menschen sehnen sich heute nach einem offenen, entspannten Gespräch mit ihren Eltern über die Fragen ihrer Kindheit und Erziehung. Doch viele ziehen ein solches Gespräch kaum in Betracht, aus Angst, zu verletzen oder verletzt zu werden und die Beziehung zu gefährden.

Gerade wenn sie verstehen, daß die Eltern unter dem Zwang gehandelt haben, das an sich selbst Erfahrene an ihre Kindern weiter­zugeben, kommt es vor, daß sie aus Mitleid auf die Gespräche verzichten. Andere wiederum haben Angst, das Thema »körperliche Strafe« mit ihren Eltern zu berühren, als würde es sich hier um ein Tabu handeln, für dessen Berührung sie auf der Stelle noch einmal bestraft werden könnten, mit Schweigen, Rückzug oder gar Schlägen. Diese Angst ist verständlich, trotzdem ist sie überwindbar.

Die in meinen Geschichten geschilderten Begegnungen haben immer wieder gezeigt, daß auch die Berührung der gefürchteten Themen zur Befreiung und Klärung für beide Seiten führen kann. Warum sollte dabei das Thema des Schlagens ausgeklammert bleiben? Da es doch endlich möglich ist, dieses Problem öffentlich zu diskutieren, warum nicht auch innerhalb der Familien?

Man ist sich heute fast überall darüber einig, daß man Kinder nicht mißhandeln soll. Aber viele Menschen sind sich dessen noch nicht bewußt, daß jede Form des Schlagens eine Mißhandlung ist. Dies wird auf der ganzen Welt verstanden, solange es sich um das Schlagen eines starken Erwachsenen handelt, nicht aber, wenn ein wehrloses Kind geschlagen wird. Diese Tatsache konnte so lange verschleiert bleiben, weil das Schlagen der eigenen Kinder, die sogenannte körperliche Züchtigung, als ein legales Mittel der Erziehung ausgegeben wurde und die Folgen dieser Behandlung, die bis zu Genoziden reichen, einfach nicht wahrgenommen wurden.

Das ist eines der tragischsten Beispiele der Mißkommunikation in unserer Geschichte. Von einer Generation zur anderen wurde diese grausame Erziehungsmethode angewandt und als »gottgewollt« hinge­nommen. »Wir schlagen dich doch nur zu deinem Besten«, sagten die Eltern, die Kinder haben daran geglaubt und sagten später das gleiche zu ihren Kindern. Jahrhunderte hindurch.

Heute kann zwar niemand mehr so reden, ohne auf Widerstand zu stoßen. Dennoch gibt es noch viele unnötige Barrieren zwischen den Generationen. Manche junge Menschen denken, sie könnten mit ihren Eltern nicht über die Erziehung sprechen, weil diese Eltern nach wie vor glauben, daß sie mit ihren Schlägen und Strafen das Richtige getan hätten.

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Glauben sie das wirklich? Ist dieser Glaube unerschütterlich? Sehen sie nicht an ihren Enkelkindern, daß sie sich so lange getäuscht haben und täuschen ließen und daß die »guten alten Zeiten«, denen sie nachtrauern, in Wirklichkeit in ihrer Kindheit alles andere als gut gewesen waren? Manche sind nur noch einen kleinen Schritt von dieser Erkenntnis entfernt. Wir könnten ihnen helfen, diesen Schritt zu machen, statt sie in ihrem Irrtum zu belassen.

Viele Versuche werden bereits unternommen. Manche Leute finden in Büchern Erklärungen für ihre Probleme und fühlen sich dadurch verstanden und erleichtert. Sie senden dann häufig diese Bücher an ihre Eltern, in der Hoffnung auf einen Dialog. Es gibt Eltern, die positiv darauf reagieren und für die Informationen dankbar sind. Doch manche fühlen sich durch solche Buchsendungen angegriffen, fürchten Vorwürfe und Belehrungen und verschließen sich noch mehr als bisher.  

Da diese abwehrenden Eltern vermutlich einst durch Schläge mißhandelt worden waren, die Väter oft zusätzlich noch in Kadettenanstalten und Schulinternaten, klammern sie sich, wie die meisten geschlagenen Kinder, an die Version, daß diese Erziehung ihnen gutgetan hätte. Bücher, die diese ihre Version bezweifeln, wollen sie gar nicht lesen.

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Eine Aussprache mit den eigenen erwachsenen Kindern, die gelernt haben, sich zu achten, und die nicht mehr auf das Verständnis der Eltern angewiesen sind, kann für diese Eltern ein großes Gewicht bekommen, ein viel größeres als jedes Buch, das sie sich nicht selbst ausgesucht haben. Nicht für alle, aber für einige zweifellos. Sandras Vater zum Beispiel hat diese Gelegenheit ergriffen, Anikas Mutter konnte es nicht.

Am meisten werden Gespräche mit bereits alten Menschen gemieden. Doch es geht ja in solchen Begegnungen fast um die Bilanz des ganzen Lebens, das bald beginnt, sich zu entziehen. Was kann einem älteren Menschen wichtiger sein, als diese Bilanz mit den eigenen Kindern zu ziehen? Im Gespräch kann man sich in die Augen schauen, man kann Argumente austauschen, und man kann sich und dem eigenen Kind endlich zugestehen: Nein, das Schlagen hat nie etwas Gutes bewirkt, es hat uns alle geschädigt, unser Leben und unser Denken verbogen.

Solche einfachen Worte, die für jede Generation gelten, könnten nicht nur eine jahrzehntelange Geschichte von Lügen beenden. Sie könnten auch helfen, die einst begangenen Fehler schon durch das bloße Eingeständnis zu korrigieren und sich so von unbewußten, aber doch wirksamen Schuldgefühlen zu befreien. Warum werden diese Worte so selten ausgesprochen?

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Manche der jungen Leute schweigen vielleicht nicht nur aus eigenen Ängsten, sondern weil sie sich den Ängsten und Tabus der Eltern freundlich fügen wollen, statt ihnen zu helfen, diese abzubauen. Mit ihrem schonenden Schweigen vertiefen sie jedoch noch mehr den Graben der Sprachlosigkeit, der sie von ihren Eltern trennt. Das müßte nicht so sein, zumindest heute nicht mehr. Sie könnten mit dem Reden den Eltern ein kostbares Geschenk machen, das Geschenk der Wahrheit. Auch wenn dieses erst am Ende eines Lebens kommt, kann es etwas an diesem Leben zum Guten verändern. 

Wer für diese Wahrheit einen Platz gefunden hat, kann auch realisieren, daß sie ihm Wege zu Aktivitäten eröffnet, die er bisher gar nicht zu sehen wagte. Menschen, die teilweise noch hohe Ämter bekleiden, könnten sich beispielsweise dafür einsetzen, daß mit Hilfe einer neuen Gesetzgebung den Kindern in Zukunft jede Art von Barbarei, aber vor allem das Schlagen, erspart bliebe. Einen solchen Prozeß können heute Menschen einleiten, die nie geschlagen wurden, oder diejenigen, denen dieses Schicksal zwar nicht erspart wurde, die aber später, dank dem Mitgefühl anderer, erkannt haben, wie diese Grausamkeit ihr bisheriges Leben überschattet hatte. Da sie heute keine Kinder mehr sind und ihr Anliegen artikulieren können, brauchen sie nicht die Abwehr des anderen zu fürchten. Sie können sie ihm überlassen, weil sie imstande sind, mit Realitäten umzugehen.

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Für viele gute Ziele hat die Jugend in der letzten Zeit demonstriert, gegen den Krieg, für den Umweltschutz und vor allem für mehr Menschlichkeit. Doch bisher gab es nie eine Demonstration für das Recht der Kinder, nicht von Erwachsenen geschlagen zu werden. Warum eigentlich nicht? Warum hat man so lange nicht begriffen, daß sehr viele Äußerungen der Gewalt, die wir bekämpfen wollen, bereits in der Wiege ihren Ursprung nehmen? Und daß nur mit der Ablehnung dieser ersten, vernichtenden Gewalt am Anfang eines Menschenlebens wir weitere Gewaltakte verhindern können?

Heute wissen wir es. Wenige Informationen sind nunmehr so stark gesichert, wie die Information, daß das Schlagen der Kinder ausschließlich negative Folgen hat und sowohl das Opfer als auch den Täter entwürdigt. An der Verbreitung dieser Erkenntnis kann sich jede Generation beteiligen. Jeder Mensch, von den Enkeln bis zu den Großeltern, unbesehen seiner Herkunft und seiner gesellschaftlichen Stellung, könnte innerhalb seiner Familie und seiner nächsten Umgebung zu dieser Aufklärung aktiv beitragen.

Es genügt, daß wir anfangen, die Wahrheit zu sagen, überall, wo sich Gelegenheit dazu bietet, oder zumindest nicht mehr behaupten, das Schlagen hätte uns gutgetan, wir hätten es verdient etc. Solche Sätze haben genug Verwirrung in der Geschichte der Menschheit gestiftet und sehr viel Schaden angerichtet.

294/295

Es gibt keinen einzigen Grund, solche Behauptungen weiter aufzustellen, außer die Verleugnung des eigenen Leidens. Doch diese dürfen wir nicht auf Kosten der ganzen Gesellschaft aufrechterhalten. Schließlich geht sie ja auch auf unsere eigenen Kosten.

Wir leben in einer Zeit der Arbeitslosigkeit, der Rückkehr des Aberglaubens, der Kommerz­ialisierung der seelischen Probleme, des Triumphzuges der Sekten. All das und noch vieles mehr könnte uns pessimistisch stimmen. Doch zugleich leben wir in einer Zeit, in der eine viel größere Zahl der Menschen als früher ohne Schläge aufwächst. Darin sehe ich einen Grund zum Optimismus. Denn diese Menschen können, schon aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung, helfen, eine destruktive Tradition fallenzulassen, die jahrtausendelang zur Produktion der Gewalt beigetragen hat. Sie sind ausreichend dazu ausgestattet, auch den Pessimismus fallenzulassen und die heute erst bestehenden Chancen, etwas zu verändern, wahrzunehmen.

Indem wir auf die Suche nach der Wahrheit verzichten, retten wir die Liebe nicht, auch nicht die Liebe zu unseren Eltern. Der Akt der Verzeihung hilft uns nicht, solange er das Geschehene verschleiert. Denn Liebe und Selbstbetrug schließen einander aus. Aus der Unwahrheit, der Leugnung des Leidens in der eigenen Vergangenheit, ist der auf Unschuldige verschobene Haß geboren. Er ist eine Bindung an den Selbstbetrug und eine Sackgasse. Echte Liebe erträgt die Wahrheit.

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Ende

 

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