Alice Miller

Wege des Lebens

Sieben Geschichten

 

1998 im Suhrkamp Verlag
2007 Taschenbuch 

1998    296 Seiten 

DNB Buch   (2007 TB)

Google.Buch 

 

detopia: 

Miller.Start  

 

"Indem wir auf die Suche nach der Wahrheit verzichten, retten wir die Liebe nicht, auch nicht die Liebe zu unseren Eltern. 
Der Akt der Verzeihung hilft uns nicht, solange er das Geschehene verschleiert... 
Aus der Unwahrheit, der Leugnung des Leidens in der eigenen Vergangenheit, ist der auf Unschuldige verschobene Haß geboren... 
Wahre Liebe erträgt die Wahrheit."


Kurzbeschreibung

Die meisten Menschen werden durch die Familie geprägt, in die sie hineingeboren wurden. Das bedeutet für den Erwachsenen dann häufig Unfreiheit und Zwang. Mögliche Wege in die innere Freiheit beschreibt Alice Miller in Form von sieben fiktiven Geschichten.

 

Inhalt 

Vorwort  (7) 

 

Geschichten 

1. Claudia und Daniel — Dreißig Jahre später (15) 

2. Jolanta und Linda - Wirklich willkommen (43) 

3. Sandra — Gewagt und belohnt (65)

4. Anika — Immerhin versucht (91) 

5. Helga — Das Geschäft mit den Tränen (111) 

6. Gloria — Die Klugheit des Herzens (153) 

7. Margot und Lilka — Zwischen Warschau und Sydney (177-226)  

 

Reflexionen   

1. Wie funktionieren Führer und Gurus?  (229)   

2. Wie entsteht Haß?  (241) 

3. Epilog: Generationen im Dialog  (289-296)  

 

Selbstbetrug und Liebe schließen einander aus. Indem ich auf die Suche nach meiner wahren Geschichte verzichte, rette ich die Liebe nicht, auch nicht die Liebe zu den Eltern. Der Akt der Verzeihung hilft mir wenig, solange er das Geschehene verschleiert. Echte Liebe erträgt die Wahrheit.

Wie wirken sich die ersten Erfahrungen von Leid und Liebe auf das spätere Leben des Menschen und auf sein Zusammenleben mit anderen aus? 

Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch die sieben fiktiven Geschichten, von denen sich jede in einer ganz eigenen Welt abspielt. Die Autorin schildert Menschen, von denen viele in ihrer Kindheit unter ihrer stummen Einsamkeit gelitten haben und später, als Erwachsene, trotz Sehnsucht nach echter Kommunikation immer wieder in ihre alten Sackgassen der inneren Isolierung gerieten. Dank Begegnungen mit fühlenden Menschen, die bereits das Glück hatten, in Liebe und Respekt aufgewachsen zu sein, realisieren sie, daß die Welt nicht länger für sie so sein muß, wie sie früher war. 

Manchen gelingt es nun, sich zu artikulieren, sich von Ängsten und den schützenden Legenden zu befreien und dennoch Vertrauen aufzubauen. Wenn sie Glück haben, lernen sie zu lieben, dank Partnern, Freunden und nicht zuletzt dank den eigenen Kindern, die später ein leichteres, glücklicheres Leben führen werden als diejenigen, die um ihre Wahrheit lange kämpfen mußten, weil sie mit Illusionen gefüttert wurden.

Im letzten Kapitel des Buches befaßt sich Alice Miller eingehend mit der Dynamik von Haß und den emotionalen Hinter­gründen der Genozide. Sie ist der Meinung, daß Haß und Gewalt grundsätzlich vermeidbar wären, vorausgesetzt, daß wir deren Entstehungsgeschichten in der frühen Kindheit nicht länger ignorieren. Aus der Leugnung des Leidens in der eigenen Vergangenheit ist der auf Unschuldige verschobene Haß geboren.

Eine neue, klare Gesetzgebung zum Schutze des Kindes, die eine radikale Ablehnung der ersten, vernichtenden Gewalt am Anfang eines Menschenlebens zum Ausdruck brächte, könnte helfen, spätere Gewaltakte des Erwachsenen zu verhindern, und würde so auch der ganzen Gesellschaft einen besseren Schutz bieten, als dies Gefängnisse tun.


Aus der Amazon.de-Redaktion

Alice Miller, bekannt durch ihre Sachbücher Das Drama des begabten Kindes und Am Anfang war Erziehung hat in ihrem neuen Buch das Grundthema ihrer Forschung variiert. Ihre zentrale Frage ist: Wie wirken sich die ersten Erfahrungen von Liebe und Leid auf das spätere Leben des Menschen und auf sein Zusammenleben mit anderen aus?

In sieben Geschichten, eigentlich sind es Protokolle aus psychotherapeutischen Sitzungen, erzählen ganz unterschiedliche Menschen aus ihrem Leben. Da sind zum Beispiel Claudia und Daniel. Schon während ihres Studiums treffen sich die beiden und verstehen sich gut. Daniel fällt aus allen Wolken, als Claudia ihm eröffnet, daß sie heiraten wird. 30 Jahre später begegnen sie sich wieder, beide sind geschieden und mit diesem langen Abstand sind sie in der Lage zu erkennen, warum sie damals ihre heute so unverständlichen Entscheidungen getroffen haben.

Alice Miller zeigt in aller Deutlichkeit, daß die Verletzungen, die Kindern schon in ihrer frühesten Kindheit zugefügt werden, niemals in Vergessenheit geraten und das zukünftige Leben in oft unerträglicher Weise einengen und behindern. Die falschen Vorstellungen der Eltern, die oft in ihrer eigenen Kindheit auch mißhandelt worden sind, werden unbedacht an die eigenen Kinder weitergegeben. Diese quälen sich häufig ein Leben lang mit den erlittenen Verletzungen, ohne in der Lage zu sein, sie artikulieren können. Es wurde ihnen doch nachdrücklich als Kind versichert, daß jede Strafe nur zu ihrem Besten sei.

Zwei Essays über die Entstehung von Haß und wie Gurus und Führer arbeiten runden die Geschichten des Buches ab.

Für die Leser, die Alice Miller bereits kennen, sind in diesem Band keine neuen Erkenntnisse zu finden, doch ihre klare Analyse von oft unbewußten Zusammenhängen und ihr vehementes Eintreten für den Schutz der Kindheit macht ihr Buch zu einer aufrüttelnden Lektüre.  --Manuela Haselberger

 


 

Neue Zürcher Zeitung:  Fiktive Fakten

rox.:   Vor bald zwanzig Jahren ist Alice Millers – bald auch umstrittenes – Buch über «Das Drama des begabten Kindes» erschienen. Auch im vorliegenden Band mit dem reichlich schwammigen, an Lore-Romane erinnernden Titel «Wege des Lebens» wird (reichlich hölzern) von einsamen Kindheiten und sich darauf psychologisch einstellenden Kommunikationsdefiziten im Erwachsenenalter erzählt. 

Das Stichwort «Erzählung» ist deshalb angebracht, weil Frau Miller die im Band enthaltenen sieben «Geschichten» gar nicht erst an Fakten bindet, sondern schon im Vorwort als «fiktiv» zu erkennen gibt. Da sind also Claudia und Daniel, die in den sechziger Jahren «in Berkeley studiert und sich dort ineinander verliebt» haben. Die Beziehung geht wieder auseinander, die beiden heiraten andere Partner, Jahre verstreichen, Ehen scheitern – bis sich die beiden «auf einem Kongress in San Diego (beide sind inzwischen Psychotherapeuten geworden)» ...  wieder treffen. Man erzählt sich das Leben. Man schreibt sich Briefe. Claudia an Daniel, Daniel an Claudia – «Jetzt begreife ich endlich, weshalb Du Dich so lange gequält hast. Schon als Kind musstest Du zuviel alleine tragen.» 

Alles liegt in der Kindheit. Und Alice Miller knüpft die Fäden zwischen fingierten Fakten.

 

 


    

Vorwort

7-12

Die meisten Menschen werden in eine Familie hineingeboren und bekommen von ihr die entscheidenden Prägungen. Auch wenn wir als Jugendliche unsere Eltern kritisieren mögen oder sogar ganz mit ihnen brechen, wir können nicht verhindern, daß wir inzwischen mehr oder weniger stark von diesen ersten Prägungen beeinflußt sind. Spätestens wenn wir selber Kinder haben, wird uns dies bewußt.

Viele Menschen machen sich keine Gedanken darüber. Sie wiederholen einfach mit ihren Kindern, was sie selber erfahren haben, und halten dies für durchaus angemessen. Manche aber leiden darunter, wenn sie eines Tages mit Erstaunen feststellen, daß ihnen gerade ihren Kindern oder ihren Partnern gegenüber am meisten die innere Freiheit fehlt, die sie sich seit ihrer Jugend so sehr gewünscht haben. Es mag sein, daß sie dann das Gefühl bekommen, sie würden sich in einer Sackgasse befinden. Als Kinder fanden sie nicht heraus. Sie hatten keine andere Wahl, als sich ihrer Umgebung und deren Beeinflussung zu fügen, und als Erwachsene wissen sie häufig nicht, daß sie Alternativen haben.

Denn so sehr wir auch von unserer Herkunft, unserer Vererbung und unserer Erziehung geprägt sein mögen, im Negativen wie auch im Positiven, als Erwachsene können wir diese Prägungen allmählich erkennen. Dann brauchen wir nicht wie Automaten zu handeln. Je deutlicher sie uns bewußt werden, desto besser werden wir uns aus unseren Sackgassen befreien und neue Informationen aufnehmen können. Die Wege dieser Befreiungen sind sehr unterschiedlich, so zahlreich wie die einzelnen Schicksale. Einige dieser Schicksale erzählen die folgenden Geschichten.

Sie sollen unter anderem aufzeigen, wie die Spuren der Kindheit uns nicht nur in den Familien, die wir als Erwachsene gründen, begleiten, sondern auch wie sie sich im ganzen Gefüge des gesellschaftlichen Lebens manifestieren. In den abschließenden Reflexionen befasse ich mich mit der Frage, ob und wie wir lernen könnten, die Entstehung von Haß besser zu verstehen.

Wie der Erwachsene seine Kindheitsgeschichte in sein Leben integriert, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Doch was und wie auch immer der einzelne für sich entscheidet, die heute in vielen Kreisen einsetzende Sensibilisierung für in der Kindheit erlittene Schäden ist für die Gesellschaft ein Gewinn. Denn Kindes­mißhandlungen wurden immer verübt und sind auch heute noch verbreitet.

8


Aber erst jetzt beginnen die Opfer sich Rechenschaft darüber zu geben, was ihnen geschehen ist, und sie fangen an, mit anderen Menschen über die Folgen zu sprechen. Themen, die bisher kaum berührt wurden, rücken jetzt ins Zentrum der Gespräche, die vielen Menschen neue Perspektiven eröffnen und Aussichten auf ein erfüllteres Leben erschließen.

Das ist mir kürzlich bei der Lektüre eines Buches aufgegangen.1) Vierzehn Väter, die wegen sexuellen Mißbrauchs bestraft worden waren und im Gefängnis längere Zeit an einer gut strukturierten Gruppen­therapie teilgenommen hatten, erzählen in diesem Buch ihre Geschichten. Es ist ermutigend, zu sehen, wie schnell sich die Denkweise dieser Menschen geändert hat, nachdem sie zum erstenmal über ihre Not sprechen konnten, sich verstanden und aufgenommen fühlten. Wie zu erwarten, tauchen in all diesen Geschichten schwere Entbehrungen in der Kindheit auf, die mit sexueller Ausbeutung als Ersatz für die fehlende Liebe getarnt wurden.

Was ich als ermutigend bezeichne, ist die Verwandlung dieser Männer allein schon durch die aufklärenden Gespräche. Sie haben dreißig, vierzig, fünfzig Jahre lang gelebt, ohne jemals die Möglichkeit gehabt zu haben, das, was sie in ihrer Kindheit erleiden mußten, in Frage zu stellen oder es sogar als ein Unrecht zu erkennen.

 1)  David, Gilles (ed.): J'sd comnais l'inceste. Edition de l'Homme, 1995

9


Ganz selbstverständlich haben sie ihren Kindern das gleiche Leid zugefügt, das ihnen angetan wurde. Von diesem Zwang konnten sie sich nicht befreien, solange ihnen die Zusammenhänge nicht klar waren. Heute erst sind sie fähig und bereit, Verantwortung zu übernehmen, weil sie ihr Kindheitsschicksal nicht länger als gegeben betrachten, sondern als Unrecht erkennen können und damit einhergehend lernten, darüber zu trauern.

Diese Entwicklung zur Kritikfähigkeit hat sie nicht ins Selbstmitleid getrieben, im Gegenteil, sie haben aufgrund ihres eigenen Leidens gelernt, Empathie für ihre Kinder zu entwickeln und zu erkennen, daß sie sie für ihr weiteres Leben geschädigt haben. Sie versuchen, die Schäden zu beheben, soweit es geht, wissen aber, daß viele irreversibel bleiben werden. Nur manchen freilich ist es bereits gelungen, aus dieser Sackgasse herauszukommen, anderen noch nicht.

Die Figuren dieses Buches habe ich erfunden. Mit der Zeit erhielten die Geschichten eine eigene Dynamik, was mir erlaubte, das, was ich in den letzten Jahren gelernt und verstanden hatte, in einer anschaulichen Form weiterzuentwickeln. Die in diesem Buch beschriebenen Menschen sollen auf keinen Fall Vorbilder sein. Sie erzählen einfach, was ihnen widerfahren ist und wie sie damit fertig wurden oder eben nicht. In den Beschreibungen ihrer Schicksale und ihrer Umgebung entschied ich mich dafür, Äußer­lichkeiten auf ein Minimum zu beschränken, um statt dessen die Beziehungen der Personen zueinander ausführlicher zu schildern.

10/11

Es gibt kein Rezept dafür, wie man sein Leben in Ordnung bringen kann. Welche Ziele wir haben und welche Möglichkeiten, sie zu verwirklichen, variiert von Mensch zu Mensch. Auch wenn es uns in der Kindheit nicht immer möglich war, unser ganzes Potential zu entwickeln, auch wenn die Spuren früherer Ängste, Unsicherheiten und Entbehrungen uns begleiten mögen, vieles läßt sich doch zum Besseren verändern, weil unser Bewußtsein sich erweitert hat. Und nicht zuletzt auch dank Begegnungen mit fühlenden Menschen, die bereits das Glück hatten, in Liebe und Respekt aufgewachsen zu sein, als Kinder unbeschwert Lust und Freude zu erleben, und die daher später ein leichteres, glücklicheres Leben führen konnten.

Zu diesen Menschen gehören in meinen Geschichten vielleicht in erster Linie Daniel, Michelle, Margot, Luise, ja sogar Gloria. Sie können zuhören, am Schicksal des anderen teilnehmen, sind zugewandt, wollen verstehen und sind gewöhnlich weniger Täuschungen ausgesetzt als manche ihrer Gesprächspartner. Da sie selber als Kinder viel Liebe erfahren haben, kommen sie mit ihrem Leben besser zurecht als die, die mit Illusionen großgezogen wurden und später um ihre Wahrheit kämpfen mußten wie zum Beispiel Claudia, Sandra, Anika, Helga oder Lilka.

Der erzählende und assoziative Stil dieses Buches sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß mein Anliegen über die Fragen der einzelnen Schicksale hinaus­geht und zu allgemeinen Fragen führt, vor allem zu der Frage: Wie wirken sich die ersten Erfahrungen von Leid und Liebe auf das spätere Leben des Menschen und auf sein Zusammenleben mit anderen aus?

Es gibt bereits Forschungen, die sich auf Teilgebiete beziehen, die die Beantwortung dieser Frage umfassen würde, wie z.B. Beobachtungen vom Leben im Uterus, von Neugeborenen und Säuglingen; Biographien von Tyrannen, Statistiken der Genozide etc. Doch meines Wissens gibt es bis heute keine Forschungsrichtung, die die bereits vorliegenden Daten unter dem Gesichtspunkt der Kindheitserlebnisse der agierenden Menschen untersuchen würde. Zu solchen Forschungen wollte ich mit meinen Geschichten und meinen Reflexionen anregen.

12

#

 

 

(Ordner)   www.detopia.de      ^^^^