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2. Wie entsteht Haß?  

 

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Obwohl Zeugnisse von Kindesmißhandlungen in Romanen und Autobiographien seit Jahrhunderten existieren, hat die Gesellschaft die Häufigkeit solcher Übergriffe erst in den letzten zwanzig Jahren erkannt. Das geschah dank der Bemühungen weniger Forscher und vor allem der Medien. Doch unterschätzt und bisweilen sogar bestritten bleiben immer noch die Folgen der sehr frühen Mißhandlungen für den Erwachsenen. Diesen Fragenkomplex hat die Forschung weitgehend übergangen.

Die Bedeutung der Kindheit im Leben des Erwachsenen scheint immer noch, sogar in bestimmten therapeut­ischen Kreisen, umstritten zu bleiben. Das ist mir anhand einer Korrespondenz mit einem amerikanischen Reichianer bewußt geworden, der angenommen hatte, ich würde Wilhelm Reichs Leistungen durch biographische Hinweise entwerten. Meine Absicht war das nicht. Ich meine im Gegenteil, daß heute viele Körpertherapeuten von Reichs wichtigen Entdeckungen profitieren, unter anderem von seiner Arbeit über den emotionalen Panzer der einst geschädigten Menschen.

Doch das Konzept der infantilen Sexualität, das Reich von Freud übernommen und weiterentwickelt hatte, vermochte ich nie mit ihm zu teilen. In meinem Buch »Das verbannte Wissen«1) vertrat ich die Meinung, daß Freud die schweren Folgen des Kindesmißbrauchs mit dem Konzept der infantilen Sexualität zugedeckt hätte, und ich schrieb:

»... Das gleiche tat später auch Wilhelm Reich, indem er eine Theorie entwickelte, die ihm helfen sollte, den Schmerz des sehr früh und konstant sexuell ausgebeuteten Kindes, das er einst gewesen war, abzuwehren. Statt zu fühlen, wie weh es tut, wenn man von Erwachsenen, denen man vertraut, betrogen wird und dies wehrlos hinnehmen muß, hat Wilhelm Reich sein Leben lang ... behauptet: das habe ich selber gewollt, das habe ich gebraucht, das braucht jedes Kind!«

Diese Aussage beruht auf der Reich-Biographie von Myron Sharaf2), laut der Reich berichtet haben soll, daß er bereits mit vier Jahren alle Geheimnisse des sexuellen Lebens kannte, und dies dank dem Zimmermädchen, das ihn regelmäßig mit in ihr Bett nahm und in sexuellen Spielen unterrichtete. Was ich als eine Ausbeutung der kindlichen Einsamkeit bezeichne, hat das Kind möglicherweise anders erlebt.

1)  Miller, Alice: Das verbannte Wissen, Suhrkamp, 1988. 
2)  Sharaf, Myron: The Fury on Earth, St. Marrin's/Marek, 1983.

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Es war für Wilhelm Reich zweifellos eine Rettung in Zeiten der Verzweiflung, zum Beispiel als die von ihm geliebte Mutter in seiner Kindheit Selbstmord beging. Er sagte selber einmal, daß das Bett des Zimmer­mädchens seine Zuflucht gewesen sei. Begreiflicherweise versperrte ihm dieser positive Aspekt den Blick dafür, daß er — ohne daß er dies damals bemerkt hätte — als Lustobjekt und Spielzeug mißbraucht wurde.

Die sexuelle wie auch jede andere Ausbeutung des Kindes kann vom Kind wie eine Art Nahrung aufge­nommen werden, wenn jede andere affektive Zuwendung fehlt. Ein Kind, das nach Liebe, Wärme und Geborgenheit hungert, nimmt unter Umständen nicht nur die sexuelle Ausbeutung, sondern auch Schläge, Beschimpfungen und Überforderung gierig in sich auf, um ja nicht verlassen zu werden.

Mir scheint es wichtig, daß wir heute die damaligen Illusionen des Kindes zwar erkennen und verstehen, aber als Erwachsene aus ihren Konsequenzen lernen. Die Verleugnung des Leidens in der Kindheit hat nämlich weittragende Folgen, die sich nicht auf den privaten Bereich der Familie beschränken, sondern bis zu umwälzenden politischen Erschütterungen hinführen. Darauf will ich in diesen Ausführungen zumindest stichwortartig hinweisen.

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Es soll sich dabei nicht um Traktate zu bestimmten Themen handeln, sondern vielmehr um das Formulieren von Fragen und Vermutungen, die andere Menschen zum weiteren Nachdenken und zum Überprüfen meiner Vermutungen führen könnten. In der Literaturangabe beschränkte ich mich auf die Titel, die nicht bereits in meinen früheren Büchern erwähnt wurden. Ich hoffe im übrigen, daß die vorangegangenen Geschichten das Verständnis für meine hier aufgestellten Hypothesen erleichtern.

Warum ist das Thema »Kindheit« bis heute von der Forschung mehr oder weniger gemieden worden? Es mag dafür viele Gründe geben. Einer davon scheint mir in der Tatsache zu liegen, daß wir alle, ähnlich wie Freud und Reich, irgendwie fürchten, durch die Ergebnisse der entsprechenden Forschungsarbeiten die Liebe zu unseren Eltern und die guten Erinnerungen zu verlieren.

Doch diese Gefahr ist gering, denn die erste, ungebrochene kindliche Liebe zu den Eltern ist in uns allen so stark verwurzelt, daß sie kaum zerstört werden kann, schon gar nicht durch die Einsicht in die Wahrheit. Sie beruht auf dem natürlichen Bedürfnis, Liebe zu empfangen und zu geben. An diesen positiven, das Leben erhaltenden Gefühlen hängen wir begreiflicherweise. Gleichwohl, die Angst, sie zu verlieren, kann uns daran hindern, uns unserer Wahrheit zu stellen. Sie kann uns im Irrglauben festhalten, daß wir den Eltern die Selbstverleugnung schuldig seien.

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Dem müßte aber nicht so sein. Gewiß, die Loyalität zu den Eltern und die Treue zu uns selbst schlossen sich oftmals in der Kindheit aus. Viele Menschen hätten ihre Wahrheit als Kinder gar nicht überlebt und waren gezwungen, sich in Verleugnung zu retten. Doch als Erwachsene können wir lernen, uns unserer Wahrheit zu nähern, um uns von den Symptomen, den Folgen des Selbstbetrugs, zu befreien. Die guten Gefühle für unsere Eltern brauchen wir dabei nicht aufzugeben, denn als Erwachsene vermögen wir ihre Lage zu verstehen und haben die Möglichkeit zu erfahren, weshalb sie uns Schaden zugefügt haben, ohne es zu merken oder es wahrhaben zu wollen.

Wenn der Erwachsene jemanden findet, der ihm in diesem Lernprozeß beisteht, wird er wie Sandra und Anika schließlich beides können: Einerseits lieben und verstehen, andererseits sich selbst treu bleiben. Sowohl Sandra als auch Anika suchten nicht bloß nach Fakten, sondern nach der spezifischen Bedeutung, die diese für sie als Kind gehabt hatten. Sie besaßen keine Erinnerung an diese frühen Erlebnisse, litten aber an Symptomen und versuchten unentwegt, sich mit Vergessen vor Schmerzen zu schützen. Heute können sie — ohne Erlaubnis ihrer Eltern — zu ihrer Wahrheit stehen. Diese neugewonnene Autonomie befreit sie vom Zwang, die Eltern ohne Aussicht auf Erfolg anzugreifen. Das ermöglicht es den Eltern erst, sich ihrer eigenen Wahrheit zu nähern.

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Ein Kind kann nicht verstehen, weshalb es von Menschen, die es liebt und bewundert, verletzt wird. Es deutet dieses Verhalten deshalb um und glaubt, daß es richtig sei. Die Mißhandlung erhält in seinem kognitiven System eine positive Wertung, die sie das ganze Leben lang behält. Außer wenn später der Erwachsene eine Neubewertung vornimmt.

Mehreren Menschen, jüngeren und älteren, ist eine solche Neubewertung gelungen. Wie Sandra und Anika erkannten sie, daß sie ihre Liebe zu den Eltern nicht aufzugeben brauchen, wenn sie die kindliche Position mit ihren Einschränkungen verlassen. Danach erst waren sie fähig, die kindlichen Wertungen aufzugeben und sich als Erwachsene das Falsche, Schädliche oder gar Gefährliche im Verhalten ihrer Eltern einzugestehen. Sie konnten das, weil sie dem Zustand der kindlichen Hilf- und Ahnungslosigkeit entwachsen waren und in die Lage kamen, die einstige Not ihrer Eltern verstehen zu können.

Sie brauchten nicht länger zu behaupten, die Schläge ihrer Eltern hätten ihnen gutgetan, obwohl das Gegen­teil der Fall gewesen war. Auch brauchten sie ihre Eltern nicht mehr zu beschuldigen wie ein Kleinkind, das noch nicht begreift, warum ihm Unrecht geschieht. Sie vermögen das Geschehene heute zu benennen und sich in die Position des anderen einzufühlen, wenn der Gesprächspartner ihnen das durch Schilderungen ermöglicht. Das Resultat ist Verständnis, etwas grundsätzlich anderes als der religiöse Akt des Verzeihens, der genaue Kenntnisse meidet oder gar ausschließt.

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Was geschieht aber, wenn Erwachsene die einst erlittenen Schäden standhaft leugnen, in der Position des Kindes verharren und die Fehler ihrer Eltern weiterhin bedingungslos idealisieren? Dann kann es sein, daß sie die erfahrene Gewalt als solche gutheißen, weil sie keine Gelegenheit hatten, Alternativen kennenzulernen, und weil ihnen die Gründe des elterlichen Verhaltens verborgen blieben. Die destruktiven Konsequenzen können sich schon beim Jugendlichen manifestieren, in einem tyrannischen Auftreten gegenüber den jüngeren Geschwistern beispiels­weise, in Gewalttaten oder sogar Morden. 

Dem Erwachsenen stehen leider noch weitere Mittel zur Verfügung, um die in der Kindheit erfahrene Gewalt zu leugnen und sie an andere weiterzugeben. Er kann sie so raffiniert ideologisieren, daß er sie sogar als gut ausgeben kann. Je weniger er bereit ist, seinen Betrug und Selbstbetrug zu revidieren, desto schwerer haben andere an den Konsequenzen seines Tuns zu tragen. Und so sehen wir uns dem scheinbaren Paradox gegenüber, daß ein braves, unauffälliges Kind, das perfekt gelernt hat, stets den Wünschen der Erwachsenen zu entsprechen und niemals Kritik an ihnen zu üben, dreißig Jahre später zum Auschwitz­kommandanten oder zu einem Adolf Eichmann wird.

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In all meinen Büchern habe ich aufzuzeigen versucht, daß die an Kindern ausgeübte Gewalt auf die Gesell­schaft zurückschlägt. Zu dieser Folgerung bin ich über die Frage gelangt, woher der Haß kommt, wie er entsteht. Ich wollte wissen, warum die einen zu extremer Gewalt neigen, die anderen nicht. Erst als ich die Kindheiten von Diktatoren und Massenmördern detailliert untersuchte3), begann ich zu verstehen. Sie waren nämlich alle in der Kindheit unvorstellbarem Grauen ausgesetzt, das sie durchwegs leugneten. Es war meines Erachtens gerade diese Leugnung, die sie als Erwachsene zu Vergeltungsaktionen trieb. Ein im Namen der Erziehung gezüchtigtes und gedemütigtes Kind verinnerlicht sehr früh die Sprache der Gewalt und Heuchelei und begreift sie als das einzig wirksame Kommunikationsmittel.

Als ich an den Beispielen von Hitler und Stalin zu veranschaulichen versuchte, wie sich Kindes­mißhandlungen auf die Gesellschaft auswirken können, hielten mir viele Menschen entgegen, sie seien auch oft geschlagen worden und doch nicht zu Verbrechern geworden.

 

3)  Miller, Alice: Am Anfang war Erziehung, Suhrkamp, 1980; Der gemiedene Schlüssel, Suhrkamp, 1988; Abbruch der Schweigemauer, Hoffmann & Campe, 1990.

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Wenn ich sie nach Einzelheiten ihrer Kindheit fragte, stellte sich regelmäßig heraus, daß es dort zumindest eine Person gegeben hatte, die das Kind zwar nicht vor den Mißhandlungen geschützt, aber ihm doch Zuneigung oder sogar Liebe vermittelt hatte. Diese Person — der helfende Zeuge, wie ich ihn nenne — fand sich unter anderem bei Dostojewskij, der einen äußerst gewalttätigen Vater, aber eine liebevolle Mutter gehabt haben soll. Sie vermittelte ihrem Sohn das Wissen um die Existenz der Liebe, ohne das die Romane Dostojewskijs undenkbar wären.

Es gibt unter den ehemals geschlagenen Kindern auch solche, die schon in der Kindheit oder in ihrem späteren Leben nicht nur helfenden, aber eher unbewußten, sondern auch wissenden Zeugen begegnet waren, also Menschen, die ihnen aktiv geholfen hatten, das erfahrene Unrecht als solches zu erkennen und ihre Trauer über das Geschehene zu artikulieren. Später wurden diese Kinder begreiflicherweise nicht zu gewalttätigen Verbrechern. Sie konnten fühlen und bewußt handeln.

Wer sich mit Kindesmißhandlungen beschäftigt, sieht sich mit dem verblüffenden Phänomen konfrontiert, daß Eltern ihre Kinder auf dieselbe Art mißhandeln oder verwahrlosen lassen, wie sie es selbst als Kinder erduldet haben. An das Erlittene erinnern sie sich aber als Erwachsene nicht mehr.

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Bei sexuellen Aggressionen gegen Kinder ist es fast die Regel, daß die Täter ihre eigene Geschichte nicht kennen oder zumindest von den dazugehörenden Gefühlen abgeschnitten sind. Erst in der Therapie, falls eine solche überhaupt möglich ist, stellt sich heraus, daß sie die eigene Geschichte seit Jahren immer wieder in Szene gesetzt haben.

Ich kann mir dieses Phänomen nur so erklären, daß ich annehme, Informationen über die in der Kindheit erfahrenen Mißhandlungen würden dauerhaft im Gehirn erhalten bleiben, gespeichert in Form von unbewußten Erinnerungen. Ein bewußtes Erleben der Mißhandlungen ist einem Kind ohne wissende Zeugen nicht möglich, es muß dieses Wissen verdrängen, um an den Schmerzen und der Angst nicht zu zerbrechen. Doch die unbewußten Erinnerungen treiben den Menchen dazu, die verdrängten Szenen immer wieder aufs neue zu reproduzieren, um sich von den Ängsten zu befreien, welche die frühen Mißhandlungen zurückgelassen haben. Der Betreffende schafft Situationen, in denen er den aktiven Teil übernimmt, um der Ohnmacht des Kindes Herr zu werden und den unbewußten Ängsten zu entfliehen.

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Doch auch das bringt ihm keine Befreiung. Er wird immer wieder zum Täter und schafft sich neue Opfer. Solange man den Haß und die Angst auf Sündenböcke projiziert, können sie nicht bewältigt werden. Erst wenn die eigentliche Ursache erkannt und die natürliche Reaktion auf Unrecht verstanden wurde, kann sich der blinde, auf Unschuldige verschobene Haß auflösen. Denn seine Funktion, die Wahrheit zu verschleiern, wird sich von nun an erübrigen. Sexualverbrecher, die ihre Geschichte in Therapien aufgearbeitet haben, laufen bekanntlich nicht mehr Gefahr, ihre Traumata auf destruktive Art weiter zu inszenieren. 

 

Was ist eigentlich Haß? In meinen Augen ist er eine mögliche Folge der Wut und Verzweiflung des Kindes, das bereits in seiner averbalen Zeit mißachtet worden ist. Solange der Zorn auf einen Elternteil unbewußt und verleugnet bleibt, läßt er sich nicht auflösen. Er läßt sich nur auf Sünden­böcke verschieben, auf die eigenen Kinder oder angebliche Feinde. Als Ideologie getarnt, ist der in Haß verwandelte Zorn besonders gefährlich, weil er unzerstörbar ist, jenseits aller moralischer Gebote. Wer die Schreie eines verzweifelten Säuglings teilnehmend beobachtet, wird über die Intensität dieser Gefühle staunen.

Wohin die Mechanismen der Haßverschiebung führen können, hat sich bei vielen Diktatoren gezeigt. Sie haben die Massen dadurch gewonnen und zum Morden geführt, daß sie deren starke, schlummernde Emotionen auf Sündenböcke richteten. Die vom Ursprung losgelösten, nicht fokussierten Emotionen brauchen nämlich ein Objekt, um Aktionen zu ermöglichen, die dem Kind einst verwehrt waren.

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Ein Tier reagiert auf Angriff mit Flucht oder Kampf, beides ist einem Kleinkind, das von den nächsten Angehörigen bedrängt wird, nicht möglich. So wird die natürliche Reaktion manchmal jahrzehntelang zurückgehalten, bis sie sich gegenüber einem schwächeren Objekt äußert. Dann entladen sich die unterdrückten Emotionen hemmungslos gegen Minderheiten. Man nennt dies Fremdenhaß, und die Objekte variieren von Land zu Land. Sie können Türken, Romas, Biafraner, Hutus oder Tutsis heißen, was auch immer. Nur die Gründe dieses Hasses dürften überall dieselben sein.

Luther zum Beispiel war ein intelligenter und gebildeter Mann, aber er haßte die Juden und rief die Eltern auch zur Züchtigung ihrer Kinder auf. Er war kein perverser Sadist wie Hitlers Voll­strecker. Aber er erteilte destruktive Ratschläge, bereis vierhundert Jahre vor Hitler. Seine Mutter hatte ihn schon früh schwer gezüchtigt, und was ihm angeblich »gutgetan« hatte, hielt er für richtig. Die im Körper gespeicherte Überzeugung, daß es richtig sei, ein schwächeres Wesen zu quälen, wenn es doch die Eltern tun, wirkte in ihm viel stärker als die göttlichen Gebote der Nächstenliebe und des Erbarmens mit dem Schwächeren.

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Ähnliche Beispiele hat Philip Greven in seinem sehr informativen Buch4) aus dem amerikanischen Kultur­bereich zitiert. Er zitiert viele Männer und Frauen der Kirche, die grausames Schlagen der kleinsten Kinder mit der Rute bereits in den ersten Lebensmonaten empfehlen, damit die daraus erhaltene Lehre das ganze Leben wirksam bleibt. Leider hatten sie recht, diese schrecklichen, destruktiven Texte, mit denen die Eltern irregeführt wurden, waren ja der klare Beweis für die langanhaltende Wirkung des Schlagens. So konnten nur Menschen schreiben, die einst selber schwer geschlagen wurden und später das Erfahrene glorifizierten.

Das gleiche gilt für die heutigen Terroristen. Sie töten und foltern fremde Menschen, die ihnen nichts Böses angetan haben, und verbrämen ihre Grausamkeit mit angeblich religiösen Ideen. Selbstverständlich haben sie keine Ahnung davon, daß sie an diesen Menschen den einst in ihrer frühen Kindheit erfahrenen Terror rächen. Aber weder ihre heutige Ahnungslosigkeit noch ihr einst unterdrückter und heute verleugneter Zorn rechtfertigen in irgendeiner Weise ihre extreme Destruktivität oder kann unser Mitleid beanspruchen.

 

4)   Greven, Philip: Spare the Child, Knopf, 1991.

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Wenn man weiß, daß Hitler von seinem Vater schwer gequält, erniedrigt und verspottet wurde, und wenn man zudem weiß, daß er seine wahren Emotionen ihm gegenüber verleugnete, springen einem die Quellen seines Hasses ins Auge.5) Es sei denn, man will sich damit lieber nicht auseinandersetzen. Ich mußte es aber tun, weil ich nicht nur Antworten auf Hitlers Motive, sondern auch auf diejenigen anderer Tyrannen zu finden hoffte. Bei allen fanden sich Auswirkungen des Hasses auf einen Elternteil, der unbewußt blieb, nicht nur weil es streng verboten war, den Vater zu hassen, sondern auch weil es für ein Kind im Interesse des eigenen Überlebens lag, die Illusion, einen guten Vater zu haben, aufrechtzuerhalten. Erst bei Verschiebung auf ein Ersatzobjekt war der Haß erlaubt, konnte er sich Bahn brechen. Hitler hätte wohl kaum soviel Unterstützung gefunden, wenn die von ihm erfahrenen Erziehungsmuster und die daher rührenden Schäden in Deutschland und Österreich nicht so verbreitet gewesen wären.

Doch Hitlers spezifisches Problem mit dem Judentum gründete noch in der Zeit vor seiner Geburt. Seine Großmutter väterlicherseits hatte in ihrer Jugend in einem jüdischen Haushalt in Graz gearbeitet. Nach der Rückkehr in ihr österreichisches Heimatdorf Braunau gebar sie einen Sohn, Alois, der später Hitlers Vater wurde, und erhielt vierzehn Jahre lang Alimente von der Grazer Familie. Aus dieser Vorgeschichte, die in mehreren Biographien erwähnt wird, ergab sich das Dilemma der Familie Hitler.

 

5  Miller, Alice: Am Anfang war Erziehung, Suhrkamp, 1980. 

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Die Tatsache, daß die junge Frau vom jüdischen Kaufmann oder dessen Sohn geschwängert worden war, wollte man leugnen. Andererseits war es unmöglich, zu behaupten, ein Jude zahle grundlos so lange Alimente. Eine solche Großzügigkeit eines Juden war für die Bewohner des österreichischen Dorfes schlichtweg undenkbar. Die Familie Hitler brachte folglich keine Version zustande, die ihre »Schande« getilgt hätte.

In einer Atmosphäre des Verdachts, er sei jüdischer Abstammung, wuchs Alois Hitler in einer juden­feind­lichen Umgebung auf. Alle Ehren, die er sich als Zöllner erwarb, befreiten ihn nicht von der latenten Wut auf die ungerechterweise erlittene Schande und Demütigung. Seine Wut konnte er ungestraft an seinem Sohn Adolf abreagieren, den er laut Berichten seiner Tochter Angela täglich erbarmungslos prügelte. Der Sohn entwickelte den Wahn, nicht nur sich selbst, sondern ganz Deutschland und später die gesamte Welt vom jüdischen Blut befreien zu müssen, um sich von seinen Kindheitsängsten zu befreien. Hitler war bis zum Tod im Führerbunker diesem Wahn verfallen, weil ihm seine Angst vor dem Vater, dem Halbjuden, sein Leben lang unbewußt war.

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Es wird mir häufig gesagt, daß diese Gedanken, denen ich in meinem Buch »Am Anfang war Erziehung« ausführlich nachging, ungeheuerlich seien und nicht genügten, um Hitlers Handlungen zu erklären. Sicher nicht all seine Handlungen, aber zweifellos seinen Wahn. Sie bilden zumindest das Fundament dazu. Ich kann mir gut vorstellen, daß Hitler schon als Kind »dem Juden«, seiner monsterhaften Phantasiegestalt, Rache schwor. Bewußt dachte er vermutlich, daß er ein schönes Leben hätte führen können, wenn »der Jude« seine Großmutter nicht in das Elend gestürzt hätte, das er und seine ganze Familie nun erleiden mußten. So konnte er auch die Übergriffe seines Vaters entschuldigen, der Vater war ja nur das Opfer des bösen und allmächtigen Juden. Von da aus gibt es im Bewußtsein eines zornigen und verwirrten Kindes nur einen Schritt zum Gedanken, man müßte alle Juden ausrotten.

In der Alltagssprache wird das Wort Haß auch in Fällen verwendet, in denen es sich nicht um spätere Projektionen der frühkindlichen Gefühle auf Sündenböcke handelt, sondern um den Zorn des Erwachsenen, der in der Gegenwart durchaus gerechtfertigt ist. In diesem Sinne wird ein gefolterter Mensch oder ein Lagerinsasse seinen Folterer oder Peiniger »hassen«. Dieses Gefühl verleiht ihm oft Kraft zum Überleben, indem es ihn vor Resignation schützt und ihm erlaubt, seine Würde zu erhalten.

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Aber dieser »Haß« ist eng mit der gegebenen gegenwärtigen Situation verbunden. Er richtet sich gewöhnlich gegen den Menschen, der unsere Freiheit in extremer Weise einschränkt, der uns nicht nur in unserer Phantasie, sondern ganz real erniedrigt, demütigt, bedroht und uns jede Form des Ausdrucks verunmöglicht. Gelingt es dem Opfer, einen Weg aus dieser Situation zu finden, gelingt es ihm, sich von der Gewalt seines Peinigers zu befreien, kann sich der Zorn mit der Zeit abschwächen oder gar verschwinden.

Nicht so in den Fällen von Hitler, Stalin, Mao und anderen Diktatoren, die bis zu ihrer Todesstunde vom Haß getrieben wurden, obwohl sie als Erwachsene keinen Grund dazu hatten. Im Gegenteil, sie wurden ja von Millionen abgöttisch geliebt und bewundert, und es bestand, außer in ihrer Kindheit, eigentlich kein Grund mehr zur Angst. Trotzdem nährte die Angst aus der Kindheit ihren Haß lebenslänglich.

Paranoide, an die Geschichte der eigenen frühen und verdrängten Kindheit anklingende Gedanken­gänge habe ich ausnahmslos bei allen Tyrannen gefunden, deren Kindheiten ich näher untersuchte. Mao wurde von seinem Vater regelmäßig ausgepeitscht und ließ dreißig Millionen Menschen sterben, um keine Wut auf seinen Vater aufkommen zu lassen. Stalin ließ Millionen leiden und sterben, weil er sogar auf dem Gipfel seiner Macht aus der unbewußten kindlichen Angst heraus agierte.

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Sein Vater, ein sehr armer Schuhmacher in Georgien, versuchte seine Frustrationen im Schnaps zu ertränken und peitschte seinen Sohn täglich bis aufs Blut. Die Mutter zeigte psycho­tische Züge, war vollkommen unfähig, ihr Kind zu verteidigen und war auch meistens abwesend, weil sie entweder in der Kirche betete oder den Haushalt des Priesters versorgte. Stalin idealisierte seine Eltern bis zu seinem Tod und witterte überall und ständig Gefahren, die seit langem nicht mehr existierten, die aber in seinem Gehirn als ständig vorhanden registriert waren.

Das gleiche gilt auch für andere Tyrannen. Sie verfolgten unterschiedliche Kategorien von Menschen, mit unterschiedlichen Begründungen, aber letztlich aus demselben Grund: Einem jeden half seine Ideologie, die Wahrheit und die Paranoia zu tarnen. Und die Massen marschierten begeistert mit, weil ihnen die Hinter­gründe, auch in der eigenen Geschichte, verborgen blieben. Die kindlichen Rachephantasien eines Tyrannen wären harmlos, wenn die Gesellschaft ihm, in ihrer Naivität, nicht helfen würde, diese zu verwirklichen.

Während des Dritten Reiches zum Beispiel wurde das große Arbeitspotential der Juden erstaun­licherweise nicht für die deutsche Wirtschaft genutzt. Das zeigt, daß den Tätern der Projektions­wahn teurer war als der Ertrag der Arbeit, der in der Kriegszeit doch knapp war.

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Der Jude mußte schmutzig, unproduktiv und lächerlich sein oder dazu erniedrigt werden, denn diese Züge machten ihn zu dem Haßobjekt, das man für die Projektionen brauchte. In den sogenannten Arbeitslagern wurde hochqualifizierte Fachleute beispielsweise dazu eingesetzt, Erde in ihren Mützen von einem Ort zum anderen zu tragen oder auf Schnee barfuß sorgfältig Aufgaben zu verrichten, die niemandem etwas nützten. So konnte in der nationalsozialistischen Ideologie Hitlers Projektion aufrechterhalten werden, der Jude sei faul und lächerlich, aber auch gefährlich, solange man ihn nicht entwürdigte.

Für jemanden, der nicht gewohnt ist, frühkindliche Gefühle in historische Überlegungen einzu­beziehen, mögen derartige Gedanken weit hergeholt erscheinen. Man kann sich vielleicht vorstellen, daß Kinder früher so gezüchtigt wurden wie später die Juden im Naziregime, aber man fragt sich, wie sich dieser Vergleich mit der Idee verträgt, daß die Juden eine teuflische Macht seien, vor der die Welt bewahrt werden müsse. Kinder sind doch schwächer als Erwachsene, was gibt es da zu fürchten?

Diese Argumentation ist logisch, aber der Haß hat seine eigene Logik. Wir wissen aus der Geschichte der Kindesmißhandlungen, daß Eltern ihre Kinder gelegentlich als übermächtig erlebten, als einen vom Teufel in die Wiege gelegten Wechselbalg, dessen man sich entledigen mußte, um Unheil zu verhindern.

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Ähnliches ist von den Hexenverfolgungen bekannt. Der Haß, den die Eltern beim Auspeitschen auf das Kind richten, gilt nicht dem Kleinkind, das sie gerade züchtigen, sondern unbewußt den eigenen Erziehern, deren Mißhandlungen sie verdrängt haben. Deshalb kann ein Vater sein Kind in der Übertragung als bedrohlich und übermächtig erleben, das heißt, er prügelt im Grunde die Peiniger seiner Kindheit, die für ihn damals übermächtig waren und böse wie der Teufel.

Die Dynamik solcher Verschiebungen ist Psychoanalytikern seit langem bekannt. Ihr Ursprung wurde früher durch die Identifikation mit dem Aggressor erklärt, heute würde man vermutlich eher auf eine frühere Entwicklungs­stufe hinweisen und von gespeicherten Informationen sprechen.

Da die Folgen früher Mißhandlungen auf das spätere Leben der Betroffenen bisher kaum erforscht worden sind, werden sie in historischen und anthropologischen Untersuchungen auch kaum thematisiert. So hat der Soziologe Wolfgang Sovsky ein eindrucksvolles Buch über die Formen der Gewalt geschrieben6, ohne mit einem einzigen Wort auf die Dimension der Kindheit hinzuweisen.

 

6   Sovsky, Wolfgang: Traktat über die Gewalt, Fischer, 1996. 

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Dabei beleuchtet er sehr gründlich das angeblich unbegreifliche Phänomen des Quälens, das sich aber durchaus erklären ließe unter der Annahme, daß die Henker, Folterer und Menschenjäger ihre Lektionen sehr früh gelernt haben. Es ist bekannt, daß das früh Gelernte gut haften bleibt und mit der Zeit zur Selbstverständlichkeit werden kann.

Zu entschuldigen sind die kriminellen Taten dadurch natürlich nicht, doch man müßte sich zumindest mit der Hypothese beschäftigen, daß Menschen, die aktiv bei Genoziden mitmachen und andere foltern, kein Naturereignis sind, sondern zu der zahlreichen Gruppe gehören, die die Fähigkeit, Erbarmen und Mitgefühl zu erleben, nie entwickelt oder sehr früh verloren hat. Das Gehirn dieser Menschen funktionierte vielleicht auf anderen Gebieten fehlerlos, und seine Ausfälle im emotionalen Bereich machten sie gerade zu den idealen Vollstreckern der wahnhaften Pläne paranoider Führer.

Selbstverständlich gibt es Menschen, die nicht zu Mördern geworden sind, auch nicht zu Kinder­schändern, obwohl sie in der Kindheit schwer mißhandelt wurden. Mir ist jedoch niemals ein Verbrecher begegnet, der in seiner Kindheit nicht selber Opfer war. Das Problem besteht darin, daß die meisten dieser Menschen ihre Motivationen nicht kennen, weil sie keinen Zugang zu ihren Gefühlen und Erinnerungen haben.

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Indem sich Daniel J. Goldhagen in seinem Buch7) vornehmlich auf Berichte von Tätern stützt, offenbart er indessen ihre Gefühle und macht sie einer näheren Untersuchung zugänglich. Seine Zitate und Bilder dokumentieren eindeutig, daß die zufriedenen, lachenden Gesichter der Täter Lust am Quälen zeigten.

Leider hat Daniel Goldhagen das freiwillige Quälen und Verspotten in seiner Untersuchung nur phänomen­ologisch beleuchtet und die Kindheit der Täter außer acht gelassen. Er widmet sich zwar den Emotionen der Täter, die bisher weitgehend ignoriert wurden, doch ohne den Hintergrund ihrer frühesten Erziehung bleibt ihr Verhalten rätselhaft. Vergeblich sucht der Leser nach einer Erklärung. Wie ist es möglich, daß ringsum geschätzte Männer und Frauen sich wie Monster verhielten? Wie kam es, daß ein ehemaliger Lehrer wie Klaus Barbie und andere Männer, die von ihren Töchtern als nette und fürsorgliche Familienväter geschildert werden, Unschuldige folterten oder foltern ließen? Diese Frage wird von Goldhagen nicht gestellt. Er meint, mit dem Verweis auf den deutschen Antisemitismus bereits eine befriedigende Antwort geliefert zu haben. Das tut er aber nicht.

 

7  Goldhagen, Daniel: Hitlers willige Vollstrecker, Siedler, 1996. 

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Wenn der deutsche Antisemitismus die Ursache des Holocaust sein soll, so wird zu Recht kritisiert, dann sei nicht einzusehen, weshalb es nicht bereits im Ersten Weltkrieg zu einem Völkermord kam, als der Antisemitismus bereits ebenso stark gewesen sei. Und warum nicht ein Holocaust in den anderen antisemitischen Ländern wie Polen, Rußland und weiteren europäischen Staaten? Das Argument, daß die Weimarer Republik mit Arbeitslosigkeit und Armut Frustrationen geschaffen habe, die sich in der Ermordung der Juden entladen hätten, ist nicht überzeugend angesichts der Tatsache, daß es Hitler schnell gelungen ist, die Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen.

Es muß folglich noch andere Faktoren geben, die bisher unberücksichtigt geblieben sind und die eventuell ein Licht auf die Frage werfen, warum der Holocaust in Deutschland und warum gerade zu diesem und keinem anderen Zeitpunkt stattfand. Einer dieser Faktoren könnte meines Erachtens im destruktiven Erziehungsstil der kleinen Kinder liegen, der um die Jahrhundertwende in weiten Kreisen Deutschlands herrschte und den ich als Mißhandlung von Säuglingen bezeichne.

Auch in den anderen Ländern wurden und werden noch heute Kinder unter dem Vorwand der Erziehung mißhandelt, doch kaum mit dieser Systematik und Gründlichkeit, die für die Schwarze Pädagogik in Deutschland so bezeichnend war. In den beiden Generationen vor dem Aufstieg Hitlers wurde die Anwendung dieser Methoden zur Perfektion gesteigert.

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Schließlich bekam Hitler, was er brauchte. In seinen Worten klang das so:

»Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Jugend muß das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches in ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend... So kann ich das Neue schaffen.«

Dieses pädagogische Programm der Ausrottung des Lebendigen ging den Plänen der Ausrottung eines Volkes voraus. Es war sozusagen die Voraussetzung für das Gelingen.

Die zahlreichen und vielgelesenen Schriften von Dr. Daniel Gottlieb Moritz Schreber, dem Erfinder der Schrebergärten (1808-1861), die teilweise in vierzig Auflagen erschienen waren, unterrichteten die Eltern über die systematische Erziehung der kleinen Kinder von ihrem ersten Lebenstag an. Zu ihrer großen Popularität trug der Umstand bei, daß Gehorsam und Unterwerfung unter den Willen des Kaisers damals als das oberste Gebot des Bürgers galten. Deutschland hatte ja bisher keine eigene Revolution erlebt.

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Viele Menschen befolgten daher im besten Glauben Schrebers und ähnlicher Autoren Ratschläge zur Aufzucht der kleinen Untertanen, ohne im geringsten zu erkennen, daß sie ihre Kinder einer Folter mit Langzeitwirkung aussetzten. Ausdrücke wie »Gelobt sei, was hart macht« und »Was uns nicht umbringt, macht uns stärker«, die noch heute zum Vokabular der älteren Pädagogen gehören, stammen wohl aus dieser Zeit.

Morton Schatzman8, der aus Dr. Schrebers Schriften sehr aufschlußreiche Stellen zitiert, ist der Meinung, daß es sich hier nicht um Kindererziehung, sondern um Kinderverfolgung handelte. Unter anderem schrieb Schreber, man müsse den schreienden Säugling durch »körperlich fühlbare Ermahnungen« zur Ruhe zwingen, und versicherte: »Eine solche Prozedur ist nur ein- oder höchstens zweimal nötig, und man ist Herr des Kindes für immer. Von nun an genügt ein Blick, eine einzige drohende Gebärde, um das Kind zu regieren. Das Neugeborene sollte vor allem vom ersten Tag an um jeden Preis dazu dressiert werden, nicht zu schreien und zu gehorchen.

Die heute auch nur halbwegs milde erzogenen Menschen werden sich kaum vorstellen können, mit welcher Konsequenz und welchem Zeitaufwand dieses Programm von Schreber selbst durchgeführt wurde.

 

8  Schatzman, Morton: Die Angst vor dem Vater, Langzeitwirkungen einer Erziehungsmethode, Rowohlt, 1978.

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Der Psychoanalytiker William G. Niederland9) zitiert Beispiele, die mir für die tägliche Praxis der damaligen Erziehung bezeichnend scheinen, zum Beispiel Rezepte, wie das Kind »in der Kunst, sich zu versagen« eingeübt werden soll. Das hört sich so an: »Die hierfür empfohlene Übung sei einfach und wirksam: man setzt das Kind auf den Schoß der Kinderfrau, während diese nach Belieben etwas ißt oder trinkt. Wie stark auch immer die oralen Bedürfnisse des Kindes in dieser Situation anwachsen mögen, sie dürfen nicht befriedigt werden.«

Schreber berichtet (laut Niederland, S. 98) über eine Episode aus seinem eigenen Familienkreis: Als eine Kinderfrau, die eines seiner Kinder auf dem Schoß hielt, Birnen aß und trotz des Verbots nicht widerstehen konnte, dem Kind ein kleines Stück abzugeben, wurde sie sofort entlassen. Da sich die Nachricht von dieser drastischen Maßnahme rasch bei allen Kinderfrauen Leipzigs verbreitete, habe er — so schreibt der Vater — »seitdem nie wieder, weder bei diesem noch bei den späteren Kindern, eine solche Entdeckung gemacht«. 

Der Mensch kommt nicht mit einem fertig ausgebildeten Gehirn auf die Welt, wie man es noch vor fünfzehn Jahren gemeint hat. Es hängt von den Erfahrungen der ersten drei Jahre ab, welche Fähigkeiten sein Gehirn entwickeln kann.

 

9)  Niederland, William G.: Der Fall Schreber, Suhrkamp, 1978.

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Bei schwer und sehr früh traumatisierten rumänischen Kindern zum Beispiel stellte man später auffallende Insuffizienzen im emotionalen und kognitiven Bereich fest, denen Läsionen in bestimmten Gehirnbereichen entsprachen. Nach den neuesten Berichten der Neurobiologen führen wiederholte Traumatisierungen zur erhöhten Ausschüttung der Streßhormone, die das zarte Gehirn angreifen und bereits bestehende Neuronen zerstören. Bei mißhandelten Kindern fand man, daß Gehirnregionen, die für die Steuerung der Emotionen zuständig sind, um 20 bis 30 Prozent kleiner waren als bei Vergleichspersonen. 

Die um die Jahrhundertwende systematisch zum Gehorsam dressierten Kinder waren nicht nur der körperlichen Züchtigung ausgesetzt, sondern auch einer schwerwiegenden Deprivation. Zärtliche Berührungen der Kinder, wie das Streicheln, Umarmen, Küssen, wurden in der damaligen Erziehungs­literatur als Affenliebe bezeichnet, und die Eltern wurden immer wieder vor der Gefahr des Verwöhnens ihrer Kinder gewarnt, das sich mit dem Ideal der Härte auf keinen Fall vereinbaren ließ. So litten die Säuglinge unter dem Mangel an liebevollem direkten Kontakt mit den Eltern. Im besten Fall konnten sie ihn bei den Hausangestellten kompensieren, von denen sie nicht selten als Lustobjekte benutzt und ausgenutzt wurden, was manchmal zur weiteren Verwirrung beitrug. 

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Seit Dr. Harlows Experimenten an Affen, die in den fünfziger Jahren durchgeführt wurden, weiß man, daß sich Affen, die an künstlichen Mutterattrappen großgezogen wurden, später aggressiv verhielten und kein Interesse an ihrem Nachwuchs zeigten. John Bowlbys Arbeiten über den Mangel der ersten Bindung (attachment) bei Delinquenten und Rene Spitz' Beschreibungen der Kleinkinder, die in Krankenhäusern unter äußerst hygienischen Bedingungen infolge von emotionaler Verwahrlosung an Hospitalismus starben, zeigten uns, daß nicht nur Affen-, sondern auch Menschenkinder für ihre Sozialisierung den positiven sensorischen Kontakt zu ihren Eltern unbedingt brauchen.

Inzwischen sind die vor bald vierzig Jahren gemachten Beobachtungen von Bowlby und Spitz durch neuro­biologische Forschungen ergänzt worden. Nicht nur Mißhandlungen, stellen nun die Forscher fest, sondern auch der Mangel an liebevollen Körperkontakten mit den Eltern führt dazu, daß bestimmte Hirnregionen, vor allem diejenigen, die unsere Emotionen steuern sollten, unterentwickelt bleiben. Daher erlitten die mit »Blicken regierten« Kinder emotionale Schäden, deren destruktive Folgen sich vermutlich erst in der nächsten Generation auswirkten.

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Die Ergebnisse der heutigen neurobiologischen Forschungen machen das Funktionieren der Menschen wie Eichmann, Himmler, Höss und ähnlicher besser verständlich. Die Dressur zum Gehorsam in ihrer frühesten Kindheit verhinderte bei ihnen die Entwicklung solcher menschlichen Fähigkeiten wie Mitgefühl und Erbarmen mit dem Leidenden. Sie konnten nicht vom Blick eines Unglücklichen bewegt sein, solche Gefühle waren ihnen fremd. Was Himmler in seiner berühmten Posener Rede als »Freiheit« bezeichnete, war im Grunde diese vollkommene seelische Verkümmerung. Sie erlaubte den schwersten Verbrechern »normal« zu funktionieren und auch in der Nachkriegszeit ihre Umgebung damit zu beeindrucken.

Das letztere bleibt zwar ein Rätsel, das noch lange nicht vollständig erklärt werden kann. Aber auch wenn wir es könnten, die weitere Produktion solcher Menschen können wir damit trotzdem nicht verhindern, weil die Praxis der Erziehung sich nicht so schnell nach den Ergebnissen der Forschung orientiert. Ob die neuesten Informationen die jungen Eltern überhaupt erreichen, hängt in erster Linie, wie Daniel und Claudia in meiner Geschichte vermuten, von der emotionalen Reife der Eltern ab. Zum Glück gibt es bereits viele junge Eltern, wie Anna und Robert oder Mary und Ralph in der Erzählung »Jolanta und Linda«, die trotz ihrer Jugend diese Reife erreicht haben.

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Diese Eltern der neuen Generation lassen sich nicht mehr durch Ratschläge der Menschen einschüchtern, die, weil sie einst selber geschlagen wurden, nach wie vor behaupten, daß ein Klaps im »richtigen Moment« segensreich und durchaus harmlos sein könnte. Die jungen Eltern, die dank ihrer herzlichen Bindung mit ihren Kindern zuweilen besser als manche Arzte informiert sind, wissen, daß man unter gar keinen Umständen ein Kind schlagen darf, weil die Schläge wie Zeitbomben wirken können. Die Folgen können sich erst viel später auswirken, auch wenn sie »nur« darin bestehen sollten, daß ein gebildeter Mensch heute noch, trotz bestehender Informationen, eine solche Barbarei empfehlen kann.

Als Schweden vor zwanzig Jahren das Gesetz verabschiedet hatte, das das Schlagen der Kinder verbietet, waren noch 70 Prozent der befragten Bürger dagegen. Heute sind es nur 10 Prozent. Die neuen Erfahrungen haben vielen offensichtlich die Augen geöffnet. In den großen Ländern Europas ist es leider nach wie vor erlaubt, kleine Kinder mit der Rute zu »disziplinieren«, damit sie zu braven Bürgern aufwachsen, was auch immer das bedeuten soll. Solche Ruten werden in Frankreich immer noch produziert und gut verkauft.

Wenn man weiß, welche Wirkung die seelischen und körperlichen Entbehrungen und Mißhandlungen von Säuglingen, neben der Unterdrückung der emotionalen Reaktionen, auf den psychischen Haushalt von Kindern haben, dann begreift man, daß diese unterdrückten Emotionen einen starken Wunsch nach Rache hinterlassen.

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Es ist deshalb naheliegend, zu vermuten, daß sie etwa dreißig und vierzig Jahre später da abreagiert werden, wo es nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht wird.

Die Frage, weshalb die einen erfahrene Mißhandlungen scheinbar ohne Schäden überleben, während die anderen an schweren Symptomen leiden oder kriminell werden, läßt sich vielleicht nur im Einzelfall klären, und dies nicht immer. Doch zweifellos wird die Gegenwart eines oder mehrerer mitfühlender Menschen in den ersten Lebensjahren eine positive Entwicklung trotz gelegentlicher Traumen erleichtern, weil dann Grausamkeit als solche abgelehnt und deren bewußte Verarbeitung möglich gemacht werden konnte. 

Man könnte zwar diesbezüglich so argumentieren, wie Sigmund Freud es auf dem sexuellen Gebiet tat, und sagen: Wenn die meisten Menschen als Kinder mißhandelt oder emotional verwahrlost worden sind, kann das bei der Entstehung der Delinquenz kein pathogener Faktor sein, sonst hätten sich die meisten zu Mördern entwickelt. Doch diese Argumentation verkennt gerade die Tatsache, daß es nicht Traumata an sich sind, die direkt zur Ausbildung von Neurosen und zu kriminellen Karrieren führen, sondern die Art ihrer Verarbeitung.

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Wenn keine postiven Faktoren hinzukommen, wenn sowohl Zärtlichkeit als auch helfende Zeugen fehlen, bleibt es bei der Verleugnung des Leidens und der Idealisierung der Grausamkeit mit all ihren verheerenden Konsequenzen. Wer bereits im averbalen Alter eine in höchstem Maße demütigende und grausame Erziehung, meist ohne wissende Zeugen, erhalten hatte, hatte unter Umständen auch gelernt, diese Grausamkeit zu bewundern, wenn niemand in der frühesten Umgebung des Kindes diese in Frage stellte und humane Werte vertrat.

Ich habe 1980 in »Am Anfang war Erziehung« auf Dutzenden von Seiten Auszüge aus Erziehungsschriften zu Beginn unseres Jahrhunderts zitiert, um den Leser spüren zu lassen, wie Säuglinge um die Jahrhundertwende seelisch und körperlich gequält, ja oft sogar gefoltert wurden, damit sie einen guten Charakter entwickelten. Eine befreundete Analytikerin, die inzwischen verstorben ist, hatte diese Texte im Manuskript gelesen.

Nach zehn Seiten, erzählte sie, habe sie die Lektüre nicht mehr ausgehalten und die Blätter wütend an die Wand geworfen. Zu sehr hätten diese Erziehungsschriften sie an die eigene Erziehung erinnert. Derartige Wutausbrüche waren ihr eher fremd, aber diese Texte lösten bei ihr die ohnmächtige Wut des gepeinigten Kindes aus, die sie längst verdrängt hatte.

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Später, als sie das ganze Buch gelesen hatte, bezeichnete sie ihre Großeltern als »Schreber-Kinder« und begriff, daß ihre Eltern von dorther das schreckliche Strafarsenal übernommen hatten, unter dem sie seinerzeit so gelitten hat. Das half ihr, das Schicksal ihrer Eltern zu verstehen.

Ich frage mich, was in einem kleinen Kind vorgeht, das all die Folter im Namen einer wahnhaften Idee erdulden muß und sich nicht dagegen wehren darf. Von den beiden Söhnen Dr. Schrebers beging der erste Selbstmord, und der andere wurde psychotisch, aber nicht alle Kinder, die den damaligen Erziehungsdoktrinen unterworfen waren, erlitten ein solches Schicksal. Es ist einerseits anzunehmen, daß nicht alle Eltern die Vorschriften konsequent befolgten. Andererseits hatten einige Kinder, wie meine Freundin, helfende Zeugen, durch deren Hilfe sie der irrigen Meinung entgingen, daß die ihnen erteilte Behandlung gut gewesen sei. Viele wuchsen jedoch in der Überzeugung heran, daß das Quälen, Erniedrigen und Auslachen der Kinder einem moralischen Zweck diene und in Gehorsam und Demut zu erdulden sei.

Was auch immer ein Kind später in Elternhaus, Schule und Kirche über die Moral zu hören bekommt, wird niemals dieselbe Wirkung haben wie das, was sein Körper in den ersten Tagen, Wochen und Monaten erfährt. Die Lektion der ersten drei Jahre wird unauslöschlich gespeichert.

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Wenn also der Körper des Kindes von der Geburt an lernt, daß es richtig sei, ein unschuldiges Wesen zu quälen und zu bestrafen, ist diese Botschaft stärker als das später vermittelte intellektuelle Wissen. Tragischerweise wird der Erwachsene unter Umständen sein ganzes Leben lang wie einst Luther behaupten, Schläge seien harmlos und Strafen erfolgreich, obwohl das Gegenteil längst bewiesen ist. Wenn ein Kind hingegen von Beginn an beschützt wurde, geliebt und geachtet, wird diese Erfahrung ebenfalls ein Leben lang nachwirken. 

Binjamin Wilkomirski, der Autor des erschütternden und sehr erhellenden Buches über seine Kindheit in den Lagern10 schilderte mir in einem Gespräch einige Beobachtungen über das Verhalten der Aufseherinnen, die er mit den Augen eines gefangenen und dennoch wachen Kindes gemacht hatte. Er sei, sagte er, erst fünfzig Jahre nach der Befreiung der Frage nachgegangen, wer diese »Blockowas« eigentlich waren, die es so eindeutig und ausnahmslos genossen hatten, die jüdischen Kinder zu quälen, zu erniedrigen und sie körperlich und seelisch zu foltern.

Wilkomirski war erstaunt, als es sich aufgrund der Prozeßakte herausgestellt hatte, daß es meistens junge Mädchen im Alter zwischen neunzehn und einundzwanzig waren, die früher ganz gewöhnliche Berufe gelernt hatten, wie Schneiderin oder Verkäuferin, und in deren Leben nichts Besonderes festzustellen war.

 

10   Wilkomirski, Binjamin: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948, Jüdischer Verlag, 1995.

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Während des Prozesses behaupteten sie einstimmig, es wäre ihnen nicht bewußt gewesen, daß die jüdischen Kinder menschliche Wesen waren. Aus solchen Aussagen ziehen wir allzu leicht den Schluß, daß man alle Menschen mit Hilfe der Propaganda und Manipulation schließlich zu sadistischen Vollstreckern der Massenmorde machen kann.

Dieser Meinung kann ich mich nicht anschließen. Ich denke im Gegenteil, daß nur Frauen und Männer, die sehr, sehr früh, in den ersten Wochen und Monaten ihres Lebens, seelische und körperliche Gewalt und gar keine Liebe erfahren haben, sich zu Hitlers willigen Vollstreckern machen lassen konnten. Sie brauchten kaum eine ideologische Erziehung, wie Goldhagen das aufgrund der Archive feststellte, denn ihr Körper wußte genau, was er tun wollte, sobald es ihm erlaubt war, das Gewünschte zu tun. Und bei den Juden, jungen oder alten, war ja alles erlaubt, seitdem man sie zu Unmenschen deklarierte. Doch eine solche Deklaration wird bei niemandem Haß auslösen, der die Bereitschaft dazu nicht bereits hätte. Es gab ja Deutsche wie Karl Jaspers, Hermann Hesse oder Thomas Mann, bei denen diese Deklaration sofort als ein Alarmzeichen und als Signal der Barbarei verstanden wurde.

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Doch den in der frühen Kindheit verwirrten Menschen, wie den »Blockowas«, kam die Deklaration sehr entgegen. Sie brauchten den Kindern nur das Wasser zum Waschen zu verweigern, und schon konnten sie sie mit Grund hassen, weil sie so schmutzig, schwarz wie Kohle waren. Sie konnten hungrigen Kindern drei Würfel Zucker hinwerfen und diese Kinder verachten, wenn sie sich daraufstürzten. Die jungen Frauen konnten die Kinder zu dem machen, was sie brauchten, um sich nun mächtig zu fühlen und ihre alte Wut an diesen Opfern abzuladen.

Es scheint mir müßig, heute noch darüber zu diskutieren, wie viele Österreicher der SS angehörten. Zum Glück ist es im heutigen Österreich gesetzlich verboten, Kinder zu schlagen. Das berechtigt immerhin zur Hoffnung, daß in den nächsten Generationen nur eine Minderheit zu Taten bereit sein wird, zu denen früher vielleicht die Mehrheit bereit war. Wenn das humane Gesetz nicht wieder aufgehoben wird. Man kann nie wissen, was eine destruktive Minderheit doch noch vollbringt.

Die Studien, die mir bereits 1980 zugänglich waren und die ich in »Am Anfang war Erziehung« erwähnte, bestätigten meine Vermutung, daß brutal erzogene Kinder sowohl im Nazi-Deutschland als auch unter den amerikanischen Berufssoldaten, die sich freiwillig für den Einsatz in Vietnam gemeldet haben, zu den grausamsten Verbrechern gehört hatten.

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Meine Vermutung bestätigte sich erneut dank dem Einblick in Kindheiten jener Menschen, die in Zeiten des Terrors eine Ausnahme bildeten, indem sie den Mut hatten, andere vor der Vernichtung zu retten.

Weshalb gab es während der Nazi-Zeit auch Menschen, die ihr Leben riskierten, um Juden zu retten? Mit dieser Frage haben sich zahlreiche Wissenschaftler beschäftigt. Sie weisen meistens auf religiöse und moralische Werte wie Nächstenliebe oder Verantwortung hin, die den Rettern von ihren Eltern und Erziehern vermittelt worden seien. Doch auch die Täter und Mitläufer hatten ja meist eine religiöse Erziehung genossen, so kann darin nicht die gesuchte Erklärung liegen.

Ich war daher fest davon überzeugt, daß es einen besonderen Faktor in der Kindheit der Retter gab, in der herrschenden Atmosphäre ihrer Kindheit, der sie grundsätzlich von derjenigen der Täter unterschied. Nach einem Buch, das dieser spezifischen Frage genügend Rechnung trägt, habe ich lange Zeit vergeblich Ausschau gehalten. Schließlich fand ich eine empirische Untersuchung11, die auf Gesprächen mit über vierhundert Zeitzeugen beruht und die meine Vermutung bestätigt: Der einzige Faktor, der die Retter von den Tätern und Mitläufern unterschied, war nach dieser Untersuchung der Erziehungsstil ihrer Eltern.

 

11  Oliner, Samuel P. und Oliner, Pearl M.: The Altruisric Personality. Rescuers of Jews in Nazi Europe, New York, The Free Press, 1988.

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Fast alle Retter gaben in den Interviews an, ihre Eltern hätten sie mit Argumenten und nicht mit Strafen zu erziehen versucht. Körperlich seien sie nur selten bestraft worden, und wenn, dann stets in Zusammenhang mit einem Vergehen und nie, weil die Eltern irgendeine unfaßbare Wut an ihnen abreagieren wollten. Ein Mann erinnerte sich beispielsweise, daß er einst Schläge erhalten habe, weil er kleinere Kinder auf einen See geführt und damit ihr Leben gefährdet habe. Ein anderer erzählte, der Vater habe ihn nur einmal geschlagen, sich aber später dafür entschuldigt. Bei vielen lautete der Tenor ungefähr so: »Meine Mutter versuchte mir jeweils verständlich zu machen, wieso mein Tun falsch gewesen war. Sie klagte mich nicht an. Auch mein Vater unterhielt sich oft mit mir. Ich war beeindruckt von dem, was er mir zu sagen hatte.«

Wie anders tönte es bei den Tätern und Mitläufern: »Wenn mein Vater betrunken war, peitschte er mich aus. Ich wußte nie, wofür ich geschlagen wurde. Der Grund lag manchmal Monate zurück. Und Mutter, einmal in Wut geraten, bestrafte die ganze Umgebung, auch mich.«

Im Unterschied zu solchen unkontrollierten, aber als berechtigt empfundenen Affektentladungen beruhen Erklärungen auf dem Vertrauen in die guten Absichten des Kindes. Dahinter stehen Respekt und der Glaube an die Fähigkeit des Kindes, zu verstehen, sich zu entwickeln und sein Verhalten zu korrigieren.

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Menschen, die als Kinder Zuwendung und Beistand erhalten haben, übernehmen früh die verständnisvolle und autonome Art ihrer Eltern. Das Selbstvertrauen, die Fähigkeit, zu entscheiden und mitzufühlen, war allen Rettern gemeinsam. 70 Prozent von ihnen gaben an, sich nach wenigen Minuten für die erste Hilfeleistung entschieden zu haben. 80 Prozent sagten, sie hätten sich mit niemandem beraten. Denn: »Ich mußte es tun, hätte es nicht verkraftet, dem Unrecht zuzusehen und tatenlos zu bleiben.«

Diese Haltung, die in allen Kulturen als »edel« gilt, wird einem Kind nicht mit schönen Worten vermittelt. Wenn Erzieher die eigenen Worte mit ihrem Verhalten Lügen strafen oder das Kind im Namen edler Worte schlagen, wie das in manchen religiösen Schulen noch immer der Brauch ist, bleiben ihre edlen Worte wirkungslos oder provozieren sogar Wut und Gewalt. Das Kind wird unter Umständen die hehren Worthülsen aufnehmen und später selbst benutzen, aber nie danach handeln, weil ihm Anwendungsmuster fehlen.

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Strafen basieren auf der Annahme, daß das Kind aus böser Absicht handelt. Kein Wunder, daß es dann kein Vertrauen hat, sondern Furcht. Schließlich hat es gelernt, daß der Stärkere das Recht hat, seine Macht willkürlich zu gebrauchen. Ein mit Gewalt erzogenes Kind hat Angst, neue Erfahrungen zu sammeln, denn in seinen Augen lauert überall die Gefahr, urplötzlich für angebliche Fehler bestraft zu werden. Dem Erwachsenen wird später der Erfahrungskompaß fehlen, der ihn leiten könnte. Deshalb wird er sich Autoritäten unterwürfig beugen und Schwächere knechten, so wie er als Kind die Willkür seiner Erzieher zu spüren bekam.

Es gab zum Glück immer wieder, auch im Dritten Reich, vereinzelte Menschen, bei denen die moralischen Schranken gegen Grausamkeit in ihrem frühesten emotionalen Leben bereits verankert waren. Ich habe das einmal anhand der Widerstandskämpferin Sophie Scholl aufgezeigt. Ihre Erziehung wich stark von der damals in Deutschland üblichen ab, in ihrem Elternhaus herrschte Herzlichkeit und Großmut. So war Sophie bereits als Jugendliche immun gegen Hitlers Verführungskunst. Seine Reden erfüllten sie mit Abscheu.

Heute wäre Sophie Scholl keine Ausnahme mehr. Aus dieser Tatsache läßt sich vielleicht die Hoffnung ableiten, daß sich im heutigen Deutschland nicht so leicht, ohne jegliche Widerstände aus dem Volk, neue Genozide organisieren lassen.

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Trotz der Arbeitslosigkeit und ziemlich verbreiteter Unzufriedenheit mit neuen Regierungen, kann ich es mir schwer vorstellen, daß eine überwiegende Zahl der Bürger einem rasenden Politiker vertrauen würde, der unverhohlen ankündigt, durch das Ausrotten eines ganzen Volkes Ordnung schaffen zu wollen. Daß eine Gruppe solchen Parolen folgen könnte, ist durchaus wahrscheinlich, weil es auf der ganzen Welt, nicht nur in Deutschland, junge Menschen gibt, die die früh erfahrenen Demütigungen auf diese Weise zu rächen hoffen.

Doch im allgemeinen erhalten die deutschen Kinder heute zweifellos eine andere, viel freiere Erziehung als ihre Großeltern zu Beginn dieses Jahrhunderts. Was früher vermutlich der Mehrheit widerfuhr, dürfte sich jetzt eher auf die Minderheit beschränken. Ich schließe das aus mehreren Gegebenheiten, unter anderem aus den Tatsachen, daß die Bundesrepublik die stärkste pazifistische Bewegung der Nachkriegszeit hervorgebracht und eine Demokratie entwickelt hat, die sich trotz Schwächen bewährt. Das gibt Anlaß zur Hoffnung. Die Frage, was diese positive Entwicklung ermöglicht hat, ist bis heute kaum aufgeworfen, geschweige denn beantwortet worden. Ich meine, daß die Lockerung der Erziehungsprinzipien eine der Ursachen bildet. Wie kam es zu dieser Lockerung?

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Die Zeit allein ermöglicht eine solche Entwicklung nicht. In Rußland werden trotz Revolution und Welt­kriegen noch vielerorts dieselben veralteten Erziehungsmethoden angewandt wie vor Jahrzehnten, glücklicherweise ohne jegliche Systematik. Es mag sein, daß der besondere Schock der Nachkriegszeit in Deutschland zur Milderung der Erziehungs­methoden beigetragen hat. Es ist auch nicht auszuschließen, daß die amerikanische Besatzungsmacht, so sehr sie von einem Großteil der Bevölkerung abgelehnt oder auch gehaßt wurde, zu einer Lockerung der Gehor­sams­mentalität beigetragen hat. Vielleicht wirkten die beiden erwähnten Faktoren zusammen und noch viele andere dazu.

Es wird zwar noch häufig, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern Europas, behauptet, daß die Gewalt der Jugend zugenommen hat, weil Kinder heute zu wenig oder zu milde bestraft werden. Doch jeder, der sich wirklich informieren will, wird erfahren, daß es gerade die am meisten gezüchtigten, also mißhandelten oder schwer verwahrlosten Kinder sind, die später Freude am Zerstören haben und die Gewalt glorifizieren.

Trotz der feststellbaren, in den ersten drei Jahren entstandenen Schäden im Gehirn ist es vielleicht nie zu spät, um dem geschädigten Kind zu helfen, Vertrauen aufzubauen, wenn die Umgebung dafür Verständnis hat. Das menschliche Gehirn ist unendlich erfinderisch, es scheint ihm offenbar bei optimalen Bedingungen möglich, andere Regionen als Ersatz für die ausgefallenen einzusetzen.

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Viele Erfolge von geduldigen Therapeuten und humanen Pädagogen haben das sogar bewiesen. Doch die Voraussetzung war immer, daß man den Schaden wahrnahm, ihn nicht leugnete und ihn nicht bagatellisierte. Die Konfrontation mit der Vergangenheit scheint mir in manchen Fällen fast unumgänglich, wenn wir etwas zum Guten verändern und auf diese Weise Verantwortung für die Zukunft übernehmen wollen.

In einem Zeitungsinterview12) ist ein deutscher Professor einmal auf die Tatsache angesprochen worden, daß die meisten Hochschullehrer ihre Zugehörigkeit zum Naziregime nach dem Krieg verschwiegen haben. Der Befragte, der als junger Mann der SS angehört hatte und für seine Verdienste an der Ostfront ausgezeichnet worden war, sagte, daß dieses Schweigen ein Zeichen der Scham gewesen sei (der Scham im Sinne von pudeur — Keuschheit, Verschämtheit). Manche Geschehnisse seien so abscheulich gewesen, daß man sie am besten nicht anspreche. Man sollte nicht versuchen, etwas zu verstehen, was gar nicht zu verstehen sei.

 

12)  »Le Monde«, 6. 9. 1996.

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Ob es sich wirklich um Scham oder um Opportunismus gehandelt hat, sei schließlich dahingestellt, auf jeden Fall scheint mir eine solche Distanzierung von der Vergangenheit äußerst problematisch zu sein, denn sie enthält die Gefahr der Wiederholung aus purer Ignoranz. Es ist wichtig, daß wir genau verstehen, wie es zu den Abscheulichkeiten gekommen ist, warum so viele Intellektuelle sie vorbehaltlos bejahten und unterstützten und warum sie sich noch heute weigern, zu verstehen, zu suchen und ehrlich zu eruieren, was ihnen widerfahren ist. Und warum es ihnen überhaupt widerfahren ist.

Selbstverständlich genügen meine Hinweise auf die Schreber-Erziehung nicht, um die ganze Geschichte des Holocaust zu erklären, vor der wir im Grunde trotz unzähliger Bücher fassungslos dastehen. Noch viele Forschungen sind nötig, um mehr zu verstehen. Schon die Absicht einer solchen Erklärung aus einem einzigen Faktor heraus liefe beim heutigen Stand des Wissens gewiß auf eine allzu grobe Vereinfachung hinaus, denn sie ließe eine Menge anderer Faktoren außer acht.

Außerdem könnte diese monokausale Erklärung zur Exkulpierung der Täter führen, die dann als krank gemachte Menschen ihrer Verantwortung enthoben werden könnten, obwohl eine noch so grausame Erziehung eigentlich keinen Freipaß für späteres Morden gibt. Ebensowenig kann man allerdings den schlechten Genen die Schuld zuschieben. Man müßte sich dann zumindest fragen, warum ausgerechnet dreißig bis vierzig Jahre vor der Zeit des Dritten Reiches so viele Menschen in Deutschland mit schlechten Anlagen geboren sein sollten.

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Aber meine Hinweise auf die systematische Demütigung der Kinder um die Jahrhundertwende und auf die Folter, die von den Eltern tragischerweise niemals als Folter angesehen wurde, scheinen mir ein wichtiges Element im ganzen Gefüge der Erklärungen zu bilden. Leider wurde diesem Element bisher wenig Beachtung geschenkt, obwohl es Fragen aufwirft, die die Forschungen zu diesem Thema eindeutig bereichern könnten. Die Ursachen dieser Unterlassung mögen in der Tabuisierung des Themas Kindheit liegen, doch schon aus rein pragmatischen Gründen, aus der Sorge um die Zukunft, müßte man sich dennoch mit diesem tabuisierten Gebiet beschäftigen. 

Das vollständige Übersehen oder Bagatellisieren des Kindheitsfaktors beim Thema der Gewalt führt nämlich manchmal zu Erklärungen, die nicht nur wenig überzeugend sind oder gar in Sackgassen geraten, sondern auch den Blick von den eigentlichen Wurzeln der Gewalt ablenken, trotz besseren Wissens. Das abstrakte Wort »Antisemitismus« birgt in sich unendlich viele Bedeutungen und verschleiert komplizierte psychologische Vorgänge, die im Konkreten erkannt und benannt werden müßten, damit Änderungen herbeigefühlt werden können.

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Es scheint mir, daß der genaue Vergleich der heutigen Erziehungspraxis mit der früheren eine solche Änderung herbeiführen kann. Er kann neue Perspektiven eröffnen und zur Bildung neuer, heilsamer Strukturen in der Erziehung ermutigen. Nancy Samalins Bücher über Erziehung zum Beispiel13) scheinen mir mit ihren vielen konkreten Beispielen den Eltern zu helfen, die heute zugänglichen Informationen so in die alltägliche Praxis einzubringen, daß es ihnen besser gelingt, ihre Kinder zu respektieren, zu begleiten, zu verstehen und zu lieben. Doch die Arbeit an einer besseren, bewußteren Zukunft läßt sich nicht von der Bemühung trennen, unsere Geschichte zu verstehen. Die Geschichte der Pädagogik lehrt uns nämlich besser als alles andere, wie gefährlich in ihren Folgen für die ganze Gesellschaft die Ignoranz bezüglich der Kinderentwicklung sein kann.

Das Suchen nach den Gründen verschiedener Genozide ist noch lange nicht abgeschlossen. Es würde sich lohnen, die Erziehungs­strukturen der unterschiedlichen Völker, zum Beispiel in Afrika, Asien und Australien zu untersuchen, die ihr Wohl nur in der Ausrottung eines anderen Volkes sehen. Auch die psychologischen Hintergründe der Ausrottung der Indianer in Amerika sind noch lange nicht ausreichend untersucht. Indianer fangen erst jetzt an, Forschungen darüber zu betreiben.

13)  Samalin, Nancy und Whitney, Catherine: Wütende Eltern - bockige Kinder (Titel des Originals: Love and Anger), Knaur, 1994.

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In einem langen Brief erzählte mir eine Indianerin, mit welchen Widerständen und Ängsten sie zu kämpfen hatte, als sie ihren Studenten von den Grausamkeiten erzählte, die ihre Mutter und viele aus ihrer Generation in den sogenannten boarding-schools erdulden mußten, wo sie geschlagen und vergewaltigt wurden und wo man ihnen verboten hatte, ihre Sprache zu sprechen. Doch zum ersten Mal wagt sie jetzt auch zu sehen, seit der Lektüre von »Am Anfang war Erziehung«, wie stark das Verbot, Gefühle zu zeigen und sie überhaupt zu haben, ihre Erziehung schon von Anfang an prägte und ihre heutigen Ängste beeinflußte. 

Vielleicht mußten die Indianer ihre Kinder zur frühen Beherrschung und Unterdrückung der Gefühle erziehen, wenn sie sich von einer feindlichen Welt bedroht sahen, doch dieses Muster wurde in ihrer Tradition beibehalten. Heute fangen einzelne an, sich über die Zusammenhänge Gedanken zu machen. Manche Chinesen schreiben ebenfalls, daß sie jetzt anfangen, ihre Erziehung in Frage zu stellen und über die psychologischen Hintergründe der Diktaturen zu reflektieren. Zum Glück soll es Völker geben, die nie Kriege führen. Man sagt, sie würden ihre Kinder achten. Angeblich lassen sie sich ihre Träume erzählen und ermutigen sie zur Offenheit.

Das müßte uns ja zu denken geben und zum gründlichen Untersuchen veranlassen. Denn wenn die Berichte stimmen und wenn diese Menschen wirklich, im Gegensatz zu ihren Nachbarn, keine grausamen Traditionen und Rituale pflegen, würden wir von Informationen über den Ursprung ihrer Friedfertigkeit sehr viel lernen können. 

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