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Reflexionen

1. Wie funktionieren Führer und Gurus?

 

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Viele Probleme rücken in ein neues Licht, wenn man die Dimension der Kindheit zu ihrer Erklärung herbeizieht. Wir leben heute in einer Zeit, in der Demokratien die Diktaturen abzulösen scheinen. Doch gleichzeitig beobachten wir den Zuwachs von totalitären Systemen in Sekten, denen sich Menschen freiwillig unterwerfen. 

Menschen, die in Freiheit und Respekt aufgewachsen sind, deren Eigenart in der Kindheit toleriert und nicht mit Hilfe der Erziehung erdrosselt wurde, würden sich kaum freiwillig in die Fänge einer Sekte begeben oder kaum darin bleiben, falls sie durch Zufall oder geschickte Manipulationen dort hineingeraten sollten.

Doch zahlreiche Menschen stört es anscheinend nicht, daß hier Mechanismen herrschen, die ihnen die Freiheit des Denkens, des Handelns, des Fühlens erneut rauben werden. Es scheint sie nicht zu beunruhigen, daß ihnen eine totalitäre Kontrolle und ein Zwang zum Gehorsam auferlegt werden, aus dem sie sich kaum je werden befreien können, weil sie im Lauf der Jahre zu Objekten der Indoktrination geworden sind. Diese macht ihnen unmöglich, den Schaden wahrzunehmen, den ihre Persönlichkeit erlitten hat. Sie wissen nicht, welchen Preis sie für die Fügsamkeit bezahlt haben, weil sie nichts anderes kennen.

Der Aspekt, der mich an sektiererischen Gruppen am meisten beschäftigt, ist die unbewußte Manipulation, die ich in meinen Büchern ausführlich beschrieben habe. Es ist die Art, wie die verdrängte und unreflektierte Kindheitsgeschichte der Eltern oder Therapeuten das Leben ihrer Kinder oder Patienten beeinflußt, ohne daß jemand etwas davon merkt. 

Was in Sekten oder sektiererischen Therapiegruppen abläuft, scheint — zumindest auf den ersten Blick — eine andere Qualität aufzuweisen als die unbewußte Manipulation von Kindern durch ihre Eltern. Es scheint sich um eine bewußte, gut durchdachte und organisierte Manipulation zu handeln, die darauf abzielt, die spezifische Notlage eines einzelnen auszubeuten.

Meines Erachtens geht aber auch dieses angeblich bewußte Handeln auf unbewußte Motive zurück. Denn trotz der schrecklichen Folgen bin ich der Meinung, daß zum Beispiel die beiden Gründer der Feeling Therapy (S. 127) nicht von Beginn an ein totalitäres Regime geplant haben. Erst die Macht über die Gruppe hat sie zu Gurus gemacht. Und das meine ich, wenn ich von den unbewußten Seiten der Manipulatoren spreche. Sie wurden am Ende selbst zu Opfern von Gesetzmäßigkeiten, die sie nicht kannten, weil sie offenbar nie darüber reflektiert hatten.

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So entfachten sie ein Feuer, das sie nicht zu löschen vermochten. Sie hatten nur gelernt, wie man Menschen in die Gefühle eines hilflosen Kindes zurückversetzt, und aufgrund dieser Erfahrung lernten sie noch dazu, wie man diese Menschen dank der Regression beherrschen kann. Das genügte ihnen. Von da an agierten sie automatisch, nach den Mustern ihrer Erzieher, die sie in der Kindheit gelernt hatten. Weder ihre Bewunderer noch sie selber durchschauten dieses Verhalten. Mithers' Bericht (S. 126) über irreleitende Versprechen, die falsche Hoffnungen und Illusionen wecken, hilft auch zu verstehen, wie politische Führer funktionieren. 

Seit fünfzig Jahren fragen sich Biographen und Forscher, ob Hitler eigentlich glaubte, was er sagte, oder ob er andere bewußt manipulierte? War er ein Besessener oder ein Schauspieler, der die anderen zum Narren hielt? Manche Biographen haben im Laufe der Zeit ihre Meinung geändert und neigen immer mehr zur Auffassung, daß Hitler ein Besessener war und selber alles glaubte, was er sagte. Die Frage ist komplex, aber es würde sich lohnen, ihr nachzugehen, weil sie heute, angesichts des Zulaufs der Sekten, wieder aktuell ist.

Sind Menschen, die im Auftrage Gottes oder der Propheten reden, Betrüger oder Verrückte, die daran glauben, daß Christus aus ihnen spricht? Die Grenze ist vermutlich nicht so leicht zu ziehen.

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Im Falle der Feeling Therapy zu beobachten, wie der Hunger nach Macht die realistische Selbst­einschätzung der Gründer verschlang. Schließlich glaubten sie, sie seien so großartig, wie ihre Anhänger sie sahen. Sie traten in 134 Radiosendungen und in 104 Fernsehshows auf. Das genügte ihnen, um sich für Jahrhundertgenies zu halten und allen Psychologen himmelhoch überlegen.

Es ist bei Führern und Gurus schwer zu sagen, wo das Bewußte aufhört und das Unbewußte anfängt sich zu manifestieren. Mancher Guru wird von Kräften getrieben, die ihm selbst nicht bewußt sind. Sonst müßte er sich nicht ein so kompliziertes System bauen, das er nur mit destruktiven Mitteln aufrechterhalten kann. Bei einer guten, bewußten Planung hätte er das nicht nötig. Er scheint gefangen in einem Netz, das er selbst gewoben hat. Entsprechende Beispiele gibt es viele. Ein extremes von pathologischer Grandiosität lieferte Ende der siebziger Jahre der Massenmord in Jonestown, Guyana, dem später andere folgten. In all diesen Fällen opferten meist gutmeinende, aber irregeleitete und verwirrte Menschen ihr Leben, um ihren Glauben an die Redlichkeit eines Besessenen zu retten. Der Tod sollte ihnen das böse Erwachen ersparen.

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Unter den Sektengründern befinden sich viele paranoide und megalomane Psychotiker, die in der Masse ihrer Anhänger Schutz vor den eigenen Ängsten suchen, indem sie sich als Helfer und Heiler anbieten. Sie prophezeien das Weltende und bauen unterirdische Bunker, weil sie ihrer kindlichen Ohnmacht entkommen wollen und diese auf symbolischer Ebene bekämpfen. Gleichzeitig bieten sie sich als Retter an, weil sie sich bei der Verehrung ihrer Anhänger endlich mächtig statt ohnmächtig fühlen. Aber sobald sie befürchten müssen, durchschaut zu werden, zwingen sie ihre Jünger mittels Drohungen zum Schweigen. Selbstmord ist eine Grenzform des Schweigens. Diesen Weg sind zum Beispiel auch die neununddreißig jungen Menschen gegangen, die sich 1997 in einer Luxus­villa bei San Diego das Leben genommen haben.

Ich glaube nicht, daß die Geldgier allein genügt, um die Motivation für ein kompliziertes Betrugssystem zu erklären, das zwangsläufig zu Defiziten führen muß. Es sind eben nicht nur die Opfer, die in die Kindheit regredieren, sondern auch die Täter — seien es Führer oder Gurus —, die sich in der Bewunderung ihrer Verehrer spiegeln und so den Bezug zur Realität verlieren. Wenn dem nicht so wäre, hätte Hitler die Rußland-Offensive nicht fortgesetzt, als ihm seine erfahrenen Generäle davon abrieten. Doch er war in seinem Größenwahn und seiner Selbst­verliebt­heit vollständig gefangen, in der Regression hatte er den realen Boden und damit die realistische Sicht verloren.

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Auch Hitler glaubte, daß die Bewunderung der Massen seine Größe beweise. Daß er diese Bewunderung durch Lügen herauf­beschworen hatte, konnte er schnell vergessen. So hielt er sich für ein Genie. Gurus erreichen wie Hitler totale Zustimmung mit väterlichen oder mütterlichen Heilsversprechen, welche die Massen durch Regression bis in die frühe Kindheit in grenzenloser Bewunderung erstarren lassen und blenden. In dieser Regression ist Kritik an Elternfiguren wie Gurus oder Führern überhaupt nicht möglich. Ebensowenig wie Selbstkritik des Führers, die im Machtrausch und in der Selbststilisierung untergeht.

Wie Hitler funktionierte, kann heute jeder selber feststellen, wenn er sich dafür interessiert. Er braucht sich nur die Kassette 5 der Guido-Knopp-Serie der Dokumentarfilme über Hitler zu besorgen und diese aufmerksam anzuschauen. Er braucht nur die Mimik und Gestik des Führers genau zu beobachten, auf den Klang seiner wütenden und euphorischen Stimme zu horchen und die Zitate aus seinen Reden zu lesen, damit das Rätsel »Hitler« aufhört, ein Rätsel für ihn zu sein. Und damit dieses Beispiel ihm hilft, ähnliche Phänomene rechtzeitig zu erkennen.

Der Jubel der Massen wirkt auf die aufgewühlten Affekte des Führers wie eine Droge, und die Millionen der jubelnden Menschen realisieren nicht, daß sie nur für diese Funktion von ihm gebraucht werden.

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Als er ihnen das tausendjährige Reich ohne Revolutionen verspricht, realisieren sie nicht im geringsten, daß sie von diesem geliebten und angeblich liebenden Führer bald in den Krieg und den Tod geschickt werden, nur weil seine persönliche Geschichte es so will. Sie machen mit, denken sich nichts dabei, überlassen das Denken ihm, verlassen sich auf ihn wie kleine Kinder, die noch keinen Begriff der Zukunft und Planung haben, die einfach darauf vertrauen, daß der Vater es gut mit ihnen meint. Auch wenn er sie nach seiner Heimkehr von der Arbeit schreiend und mit erhobener Hand begrüßt und züchtigt. Er tut es ja einzig zu ihrem Wohl, sagt er.

Es gibt Leute, die über Deprogrammierung versuchen, Sektenanhänger von ihrer Abhängigkeit und seelischen Blindheit zu lösen, weil sie meinen, es gäbe keine anderen Mittel. Ich meinerseits bin eine unverbesserliche Aufklärerin und glaube immer noch an die Kraft der Information. Wenn sie die Leute im richtigen Moment erreicht, bringt sie diesen oder jenen zum Nachdenken. Und je nach seiner persönlichen Situation wird er weiterdenken oder nicht. Oder vielleicht erst nach Jahren.

Die Seele ist keine Maschine, kein Apparat, den man von außen reparieren kann. Sie hat ihre Geschichte und kann nur ausgehend von eben dieser denken und handeln. Manchmal ermöglicht es eine emotionale Erschütterung den Betroffenen, aus ihrer Regression zu erwachen und unter Schmerzen die Realität zu sehen.

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Kann eine Therapie dazu helfen? Das läßt sich nur im Einzelfall feststellen. Angesichts des heutigen verwirrenden Psycho-Marktes scheinen mir allgemeine Empfehlungen wenig sinnvoll und leicht irreführend. Vorsicht ist jedenfalls geboten, wenn »vollständige Heilung« auf dem regressiven Weg versprochen wird. Es werden oft schön klingende Theorien angeboten, die trotz wissenschaftlicher Fassade rein gar nichts mit Wissenschaft zu tun haben, weil sie die bestehenden Fakten ignorieren und andere erfinden beziehungsweise sie aus ihren Theorien ableiten.

Die vom jungen Sigmund Freud und später von Arthur Janov gehegte Hoffnung, daß das Erinnern und bewußte Wiedererleben der traumatischen Situation dauerhafte Heilung bringt, hat sich nicht vollumfänglich erfüllt. Ich kenne sowohl Fälle, in denen Besserung eintrat, ohne daß Erinnerungen heraufbeschworen wurden, als auch andere, wo viele Erinnerungen und lange therapeutische Arbeit nicht zu mehr Wohlbefinden führten. Besonders dann nicht, wenn sich die Therapie auf die Konfrontation mit der Vergangenheit beschränkte. Energien, die durch die Aufhebung der Verdrängung kurzfristig frei wurden, verbrauchte der Patient nicht selten für neue Anstrengungen, um, mit Hilfe zusätzlicher Erinnerungen, die anfängliche Euphorie abermals zu erfahren.

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So kam es manchmal zu einer Sucht nach Schmerzen und zum Wiederauftauchen der Symptome, da die alten Muster nicht aufgearbeitet worden waren.

Es mag sein, daß die Versuche, mit den Mitteln der Primärtherapie an die Anfänge des Lebens heranzu­kommen, da scheitern mußten, wo die frühesten traumatischen Erlebnisse irreversible Schäden im Gehirn hinterlassen haben. Die ständigen vergeblichen Versuche, alte Schmerzen aufzulösen, werden dann den Organismus unendlich überfordern und schließlich keine positiven Resultate erreichen können.

Die Primärtherapeuten der jüngeren Generation rücken jedenfalls zunehmend vom Absolut­heits­anspruch ab und kritisieren ihn auch deutlich. Viele von ihnen verbinden die primär­therapeutischen Techniken mit anderen Methoden. Die Techniken, die vor mehr als zwanzig Jahren entwickelt wurden, haben sich in machen Fällen sogar als schädlich erwiesen. Sie werden heute daher seltener angewandt, die Intensivphase und die Verdunkelung der Räume wurden von vielen Therapeuten aufgegeben. Die meisten finden, sie hätten diese Mittel nicht nötig, um ihren Patienten das Fühlen zu ermöglichen. Karl Kraus hat einmal gesagt: Die Psychoanalyse ist die Krankheit, die sie zu heilen vorgibt.

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Diese Kritik war angebracht, solange sich die Psychoanalyse hinter rigiden, weltfremden Theorien verschanzte. Heute aber scheint sie sich neuere Forschungsergebnisse nutzbar zu machen, beispielsweise Resultate von Untersuchungen an Säuglingen und am Fötus. Auch den realen Fakten der Kindes­mißhandlungen scheint sie mehr als früher Rechnung zu tragen.

Eine ähnliche Öffnung kann eventuell auch von der Primärtherapie erwartet werden. Vielleicht lassen sich die positiven Seiten dieser Methode retten, wenn man bereit ist, die negativen Folgen — die Beschränkungen und ernsthaften Gefahren — zur Kenntnis zu nehmen. Dann ließen sich die alten Konzepte aufgrund neuer Erfahrungen revidieren. Hält man aber unkritisch an der angeblichen Unfehlbarkeit der alten Methoden fest und macht den Patienten für das Versagen verantwortlich, gerät man unweigerlich in das Fahrwasser der Sektengurus, die ebenfalls vollständige Erlösung versprechen. Solche Versprechen produzieren lediglich, wie Helgas Geschichte illustriert, selbstdestruktive Abhängigkeiten, die einer wirklichen Befreiung des einzelnen im Wege stehen.

Um uns von inneren Zwängen dauerhaft zu befreien, benötigen wir manchmal vielleicht Therapien, die sich Jahre hinziehen. Doch zum Glück nicht immer. Mitunter reichen Kurztherapien aus, um neue Denkperspektiven wahrzunehmen und irreführende aufzugeben, besonders wenn die Arbeit in einer Gruppe unterstützend hinzukommt. Ich höre immer wieder von solchen Programmen, in den unterschiedlichsten Teilen der Welt, die teilweise mit großen Erfolgen arbeiten.

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