Vorwort
7-13
Dieses Buch ist nicht in erster Linie für Fachleute geschrieben, sondern für Menschen, die sich Gedanken über ihr Leben machen und für Anregungen offen sind. Daher verzichte ich hier auf psychologische Fachausdrücke. Drei Begriffe, die ich in meinen früheren Büchern ausgearbeitet habe, werden jedoch wiederholt vorkommen: die »Schwarze Pädagogik«, der »Helfende Zeuge« und der »Wissende Zeuge«. Für jene, die meine Bücher nicht kennen, gebe ich hier eine Erklärung dieser Konzepte, um ihnen das Verständnis der nachfolgenden Texte zu erleichtern.
1.
Unter der »Schwarzen Pädagogik« verstehe ich eine Erziehung, die darauf ausgerichtet ist, den Willen des Kindes zu brechen, es mit Hilfe der offenen oder verborgenen Machtausübung, Manipulation und Erpressung zum gehorsamen Untertan zu machen.
Ich habe dieses Konzept in meinen Büchern <Am Anfang war Erziehung> und <Du sollst nicht merken> an vielen Beispielen erläutert. In den anderen Publikationen habe ich immer wieder aufgezeigt, welche Spuren die verlogene Mentalität der Schwarzen Pädagogik, die wir als Kinder erfahren haben, in unserem Denken und unseren Beziehungen als Erwachsene hinterlassen.2.
Ein »Helfender Zeuge« ist für mich ein Mensch, der einem mißhandelten Kind beisteht (und sei es noch so selten), der ihm eine Stütze bietet, ein Gegengewicht zur Grausamkeit, die seinen Alltag bestimmt. Das kann jeder Mensch aus seiner Umgebung sein: ein Lehrer, eine Nachbarin, die Hausangestellte oder die Großmutter. Sehr häufig sind es die eigenen Geschwister. Dieser Zeuge ist eine Person, die dem geschlagenen oder verwahrlosten Kind etwas Sympathie oder gar Liebe entgegenbringt, es nicht aus erzieherischen Gründen manipulieren will, ihm vertraut und ihm das Gefühl vermittelt, daß es nicht böse ist und daß es Freundlichkeit verdient. Dank dieses Zeugen, der sich seiner entscheidenden, rettenden Rolle nicht einmal bewußt sein muß, erfährt das Kind, daß es in dieser Welt so etwas wie Liebe gibt. Es entwickelt im besten FalKdas Vertrauen zu den Mitmenschen und kann Liebe, Güte und andere Werte des Lebens bewahren.Wo Helfende Zeugen vollkommen gefehlt haben, hat das Kind die Gewalt glorifiziert und wendet sie später oft selber mehr oder weniger brutal und unter dem gleichen heuchlerischen Vorwand an. Es ist bezeichnend, daß sich in der Kindheit von Massenmördern wie Hitler, Stalin oder Mao kein Helfender Zeuge finden läßt.
3.
Eine ähnliche Rolle wie der <Helfende Zeuge> in der Kindheit kann im Leben eines Erwachsenen der <Wissende Zeuge> spielen.
Darunter verstehe ich einen Menschen, der um die Folgen von Verwahrlosungen und Mißhandlungen von Kindern weiß. Er kann daher diesen geschädigten Menschen beistehen, ihnen Empathie bekunden und ihnen helfen, ihre ihnen selbst unverständlichen Gefühle von Angst und Ohnmacht aus ihrer Geschichte heraus besser zu verstehen, um die Optionen des heute Erwachsenen freier wahrnehmen zu können.
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Zu den Wissenden Zeugen gehören manche Therapeuten, aber auch aufgeklärte Lehrer, Anwälte, Berater und Autoren von Büchern. Ich selber sehe mich als Autorin, die sich unter anderem zum Ziel setzt, ihren Lesern Informationen zu vermitteln, die noch häufig mit einem Tabu belegt sind. Ich möchte auch den Fachleuten verschiedener Gebiete ermöglichen, ihr eigenes Leben besser zu verstehen und dadurch zum Wissenden Zeugen für ihre Klienten, Patienten, ihre Kinder und, nicht zuletzt, für sich selbst zu werden. Daß dieses manchmal gelingt, zeigt der Brief eines Lyrikers, den ich hier auszugsweise zitieren möchte:
»Liebe Frau Miller,
ich schreibe diesen Brief und sende meine CD, um Ihnen zu danken für die Stütze und Hilfe, die Sie mir während vieler Jahre gegeben haben. Die Texte meiner Lieder habe ich ins Deutsche übersetzen lassen, damit Sie sie in Ihrer Sprache lesen können.
Ich erinnere mich noch daran, daß, wenn die Konsequenzen meiner Vergangenheit mich am meisten quälten, Ihre Bücher mein Band mit der Wirklichkeit waren. Was ich durch die Texte meiner Lieder über meine Kindheit herausgefunden habe, hat mich geschockt. Was diese mir enthüllten, war unerhört. Ich habe mich lange gegen den Inhalt gewehrt und gegen die Konsequenzen, die daraus folgen mußten, wenn ich ihn akzeptierte. Mein ganzer Körper schrie, aber ich verstand nicht warum. Aber durch meine eigenen Texte, die in einer intuitiven Weise, in den Armen der Musik, an der Zensur der Verteidigung vorbeigeschlüpft waren, kam ich dem nahe, was ich mir selbst sagen wollte.
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Die Erfahrungen, von denen ich nicht wußte, daß ich sie hatte, entfalteten sich langsam vor mir. Wenn ich in dieser empfindlichen Lage nicht mit Ihren Büchern in Kontakt gekommen wäre, die auf eine so klare Weise zeigten, daß ich nicht einsam war, weiß ich nicht, wie lange ich noch all das, was mein Inneres mir sagen wollte, unterdrückt hätte.
Die Stütze, die ich in Ihren Büchern bekam, gab mir schließlich den Mut, bei einem Psychotherapeuten Hilfe zu suchen, und dort habe ich dann weitergearbeitet mit Hilfe des Gesprächs. Nun konnte ich endlich meine verdrängten Erlebnisse mit jemandem teilen und Stück für Stück das enthüllen, was ich notgedrungen vor mir selbst verborgen hatte. Durch die Konfrontation mit den Menschen, die mich Übergriffen ausgesetzt hatten, fand ich die Bestätigung, daß meine Gefühlserinnerungen mir die Wahrheit gesagt hatten, und es wurde dann leichter, zur echten Heilung zu finden.
Ich hatte jedoch relatives Glück; mit einem schlechten Therapeuten hätte ich einen Umweg gehen müssen und hätte viel Zeit verloren; der Weg zurück ist ohnehin so lang, und Abkürzungen sind in diesem Zusammenhang oft trügerisch. Ohne die Informationen, die Sie in Ihren Büchern vermitteln, hätte ich nicht ausreichend annehmen können, was ich von meinem eigenen Selbst in den Augen meiner Söhne erkannt habe. Ich hätte mich öfter ihrer Freiheit in den Weg gestellt, mit meiner Unfreiheit und der Inszenierung meiner früheren Isolierung.
Ich bin froh, daß ich Hilfe und Unterstützung bekommen habe, um den Weg des Lebens wieder neu zu finden. Wenn die betäubende Schuld aus der Vergangenheit auftaucht und mir sagt, daß ich nicht leben darf, dann greife ich oft nach einem Ihrer Bücher und lese etwas darin. Das hilft mir zurück zum Leben.«
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Im Jahre 1979 beschrieb ich in <Das Drama des begabten Kindes> das Leiden des Kindes in einer Welt, die seine Gefühle ignoriert und leugnet. Viele Menschen entdeckten dank dieser Schilderung ihre eigene, bisher vor ihnen selbst verborgene Geschichte. In den folgenden Büchern versuchte ich nachzuweisen, daß meine Beschreibung der Mechanismen der Verleugnung und Verdrängung des kindlichen Leidens und der daraus resultierenden Desensibilisierung, die ich zuerst bei meinen Patienten entdeckte, allgemeine Geltung hat.
In den Werken bedeutender Schriftsteller, Künstler und Philosophen wie Kafka, Flaubert, Beckett, Picasso, Soutine, van Gogh, Keaton und Nietzsche und vieler anderer konnte ich die Spuren ihrer Kindheit aufzeigen und war selber über diese Gesetzmäßigkeiten erstaunt. Auch in der Kindheit der destruktiven Tyrannen fand ich immer wieder das gleiche Schema: extreme Mißhandlungen, Idealisierung der Eltern, Glorifikation der Gewalt, Verneinung der Schmerzen und Rache an ganzen Nationen für die einst erfahrene, verleugnete bzw. abgespaltene Grausamkeit.
Inzwischen ist das Problem der Kindesmißhandlungen so sehr ins allgemeine Bewußtsein gerückt, daß ich darauf nicht mehr hinzuweisen brauche. Weniger geläufig ist allerdings die Tatsache, daß das, was wir gemeinhin Erziehung nennen und für gut und richtig erachten, mit folgenschweren Demütigungen einhergeht, die allerdings noch nicht in unser Bewußtsein gerückt sind, weil man uns am Anfang des Lebens diese Wahrnehmung unmöglich machte. Dadurch entsteht ein Teufelskreis der Gewalt und Ignoranz.
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Die neuen spannenden Entdeckungen der Neurobiologie halfen mir, noch genauer zu begreifen und zu beschreiben, wie der von mir zunächst intuitiv erkannte Teufelskreis funktioniert:
Der traditionelle Weg der Erziehung, der seit jeher körperliche Strafen einschließt, führt zur Verleugnung des Leidens und der Demütigung.
Diese zum Überleben des Kindes notwendige Verleugnung bewirkt später die emotionale Blindheit.
Die emotionale Blindheit produziert Barrieren im Gehirn (»Denkblockaden«) zum Schutz vor Gefahren (das heißt vor Traumatisierungen, die bereits stattgefunden haben und nicht mehr bestehen, aber, da verleugnet, als ständig lauernde Gefahr im Gehirn kodiert sind).
Die Denkblockaden hemmen die Fähigkeit des Jugendlichen und Erwachsenen, aus neuen Informationen zu lernen, sie zu verarbeiten und alte, überholte Programme zu löschen.
Der Körper hingegen besitzt das vollständige Gedächtnis von den erduldeten Demütigungen, das den Betreffenden dazu treibt, das einst Erfahrene unbewußt der nächsten Generation zuzufügen.
Die Denkblockaden erlauben den Menschen nicht, oder erschweren es zumindest, die Wiederholung aufzugeben, außer wenn diese sich entschließen, die Ursachen ihrer Zwänge in ihrer Kindheitsgeschichte zu erkennen. Da solche Entscheidungen eher selten sind, wiederholen die meisten Menschen, was ihre Ahnen bereits sagten, daß Kinder unbedingt Schläge brauchen.
Die Ergebnisse meiner Forschungen sind in diesem Buch so formuliert, daß jeder die Möglichkeit hat, sie zu überprüfen und, falls erforderlich, zu widerlegen.
Doch das Buch soll vor allem Anregungen zum Nachdenken geben, zum Nachdenken über das eigene Leben und über sonderbare Geschichten in unseren Familien. Es verschafft hoffentlich Informationen, die bislang noch unbeachtet geblieben sind und doch helfen können, uns und unsere Umgebung etwas besser zu verstehen.
Im ersten Teil des Buches (»Kindheit, die unbeachtete Fundgrube«) zeige ich an einigen Beispielen auf, wie sehr das Thema Kindheit gemieden wird, auch in Bereichen, in denen man das Gegenteil erwarten könnte.
Im zweiten Teil (»Wie entsteht emotionale Blindheit?«) versuche ich, gestützt auf die neuen Erkenntnisse der Hirnforschung, die Frage zu beantworten, weshalb meines Er-achtens dieses Umgehen der Kindheitsthematik so häufig anzutreffen ist.
Im dritten Teil (»Durchbrüche zur eigenen Geschichte«) schildere ich Schicksale von Menschen, denen es gelungen ist, zu ihren Ursprüngen durchzudringen und davon zu profitieren.
Es war nicht zu vermeiden, daß sich die Themen hier und da im Buch überschneiden, aber diese Hauptlinie versuchte ich einzuhalten.
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Prolog:
Du sollst nicht wissen
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Schon in meiner Kindheit hat sich für mich die Schöpfungsgeschichte auf den verbotenen Apfel konzentriert. Ich konnte nicht begreifen, weshalb es Adam und Eva untersagt war, nach dem Wissen zu greifen. Für mich bedeuteten Wissen und Bewußtsein immer etwas Positives. Es schien mir daher nicht logisch, daß Gott Adam und Eva es verwehrt haben sollte, den essentiellen Unterschied zwischen Gut und Böse zu erkennen.
Meine kindliche Auflehnung hat sich die ganzen Jahre über gehalten, obwohl ich später unterschiedliche Auslegungen der Schöpfungsgeschichte kennenlernte. Gefühlsmäßig weigerte ich mich, Gehorsam als Tugend, Neugierde als Sünde und Unkenntnis von Gut und Böse als Idealzustand anzusehen, da für mich der Apfel der Erkenntnis das Böse zu erklären versprach und damit eigentlich die Erlösung, das heißt das Gute, repräsentierte.
Ich weiß, daß es unzählige theologische Rechtfertigungen für die Motivation der göttlichen Entschlüsse gibt, aber ich erkenne in ihnen allzuoft das terrorisierte Kind, das versucht, alle Maßnahmen der Eltern als gut und liebevoll zu deuten, auch wenn es sie nicht begreift und nicht begreifen kann, denn die Beweggründe für die Maßnahmen bleiben auch für die Eltern unverständlich, im Dunkel ihrer eigenen Kindheit verborgen. So kann ich es bis heute nicht verstehen, warum Gott Adam und Eva nur unwissend im Paradies behalten wollte und sie für ihren Ungehorsam mit schwerem Leid bestrafte.
Ich sehnte mich nie nach einem Paradies, das Gehorsam und Unwissen zur Bedingung der Glückseligkeit macht. Ich glaube an die Kraft der Liebe, die für mich nicht Liebsein und Gehorchen bedeutet. Sie hat etwas mit der Treue zu sich selbst, zu seiner Geschichte, zu seinen Gefühlen und Bedürfnissen zu tun. Dazu gehört die Sehnsucht nach Wissen. Offenbar wollte Gott Adam und Eva dieser Treue zu sich selbst berauben. Ich gehe davon aus, daß wir nur dann lieben können, wenn wir sein dürfen, was wir sind: ohne Ausflüchte, ohne Masken, ohne Fassaden. Wirklich lieben können wir nur, wenn wir uns dem Wissen, das uns zugänglich ist (wie der Baum der Erkenntnis bei Adam und Eva) nicht verweigern, nicht davor fliehen, sondern den Mut haben, den Apfel zu essen.
Daher fällt es mir noch heute schwer, Toleranz aufzubringen, wenn ich höre, man müsse Kinder schlagen, damit sie so »gut« werden wie wir und Gott an ihnen Gefallen findet. So steht es in den Schriften der meisten religiösen Sekten, aber nicht nur dort. Die Schöpfungsgeschichte hat uns lange daran gehindert, die Augen zu öffnen und zu erkennen, daß wir in die Irre geführt wurden.
Die folgenden Beispiele illustrieren, welchen Preis an Gesundheit wir zuweilen für das Nichtwissendürfen bezahlen.
Kürzlich erhielt ich einen Brief eines mir unbekannten Mannes, der jahrzehntelang Mitglied der Kommunistischen Partei war und in einer Zeitungsredaktion arbeitete, die das Gedankengut vieler marxistischer Philosophen verbreitet. Als er vor Jahren meine Bücher zu lesen anfing, versuchte er seine Kollegen davon zu überzeugen, daß die Gewalt und das Streben nach Macht in der Kindheit erlernt würden und daß das Thema der gewalttätigen Erziehung in das marxistische Denken mit einbezogen werden müsse.
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Er stieß auf totale Ablehnung und Feindseligkeit, wurde jedoch gleichzeitig immer sicherer, daß er sich auf dem für ihn richtigen Weg befand. In diesen Jahren litt er an schwerer Arthritis in den Knien, die ihn am Gehen hinderte. Als er sich schließlich entschied, der Partei seinen Austritt schriftlich mitzuteilen, überfielen ihn gewaltige Ängste, die deutlich mit seiner Verlassenheit in der Kindheit zu tun hatten. Nachdem er den »Kündigungsbrief« abgeschickt hatte, verschwanden seine Knieschmerzen innerhalb von drei Stunden. Dies vermittelte ihm die Gewißheit, daß es ihm gelungen war, die Situation seiner Kindheit nicht länger zu perpetuieren und eine Abhängigkeit aufzugeben, die ihm früher eine Illusion der Sicherheit verlieh, ihn inzwischen aber einengte. Der Mann war verblüfft, wie rasch die körperliche Antwort auf seine Aktion erfolgte, aber er wußte auch, daß es sich um keine »Wunderheilung« im üblichen Sinne handelte, sondern um die logische Konsequenz des Austrittes aus seinem Gefängnis.
In der Medizin wird zwar heutzutage nicht länger geleugnet, daß unser Körper alle Informationen über das in unserem Leben Erfahrene gespeichert hat; aber die Medizin weiß häufig diese Geschichte nicht zu entziffern. Und doch stellen wir fest, daß schwere Krankheitssymptome verschwinden können, wenn uns gerade dieses Entziffern gelingt. Nehmen wir ein anderes Beispiel:
Ein Mann, der in seiner Kindheit sehr gedemütigt und körperlich mißhandelt wurde und sein Leben lang seine Eltern idealisierte, erkrankt im Alter, als seine Abwehr nicht mehr so gut funktioniert, an einem schweren körperlichen Leiden. Die Botschaften seines kognitiven Systems sagen ihm, daß alles in seiner Kindheit gut war, er eine glückliche Zeit der Geborgenheit bei seinen Eltern erlebt hat.
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Das körperliche System aber signalisiert genau das Gegenteil. Jahrelang nahm er Medikamente, unterzog sich verschiedenen Operationen, bis er sich schließlich auf den Rat einer Internistin dazu entschloß, mit einer Psychotherapeutin an seinen Emotionen zu arbeiten. Nun ließ es sich nicht mehr verbergen, daß dieser Mann als Kind einer Gewaltherrschaft ausgesetzt war, vor der er sechzig Jahre lang die Augen verschlossen hatte, bis er schließlich den Mut fand, sich der Wahrheit zu stellen. Als der Körper wieder gesundete, erschien das wie ein Wunder. Aber es war alles andere als ein Wunder. Wenn das kognitive System das Gegenteil dessen behauptet, was in den Körperzellen untrüglich gespeichert ist, liegt der Mensch in einem ständigen Krieg mit sich selbst.
Sobald nun die beiden Instanzen das gleiche wissen dürfen, können die normalen Funktionen des Körpers wiederaufgenommen werden. Doch kehren wir zurück zu der Schöpfungsgeschichte. Ich kann mich erinnern, daß ich als Kind meinen Lehrer in große Erklärungsnot brachte, weil ich nicht aufhören wollte, Fragen zu stellen, die ihm sichtlich unangenehm waren. So habe ich schließlich, aus Mitleid mit ihm, meine Fragen unterdrückt. Doch sie stiegen und steigen immer wieder in mir hoch, und ich möchte von meiner Freiheit als erwachsener Mensch profitieren und dem Kind erlauben, sie endlich auszusprechen. Das Kind wollte fragen:
Warum hat Gott den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse mitten in den Garten Eden gepflanzt, wenn er nicht wollte, daß die beiden von ihm geschaffenen Menschen dessen Früchte aßen? Warum hat er seine Geschöpfe in Versuchung geführt? Warum hat er das nötig, wenn er doch der allmächtige Gott ist, der die Welt erschaffen hat?
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Warum hat er es nötig, die beiden Menschen zum Gehorsam zu zwingen, wenn er der Allwissende ist? Wußte er nicht, daß er mit dem Menschen ein Wesen ins Leben rief, das neugierig ist, und daß er es gezwungen hat, seiner Natur untreu zu werden? Wenn er Adam und Eva als Mann und Frau schuf, die sich sexuell ergänzen, wie konnte er gleichzeitig erwarten, daß sie ihre Sexualität ignorieren? Warum sollten sie das tun? Und was wäre passiert, wenn Eva nicht in den Apfel gebissen hätte? Dann hätten sich die beiden nicht sexuell vereinigt und keine Nachkommen gezeugt. Wäre dann die Welt menschenleer geblieben? Hätten Adam und Eva ewig gelebt, allein, ohne Kinder?
Weshalb ist das Zeugen von Kindern an die Sünde geknüpft und weshalb der Akt des Gebarens an Schmerzen? Wie soll man es verstehen, daß Gott einerseits die beiden Menschen als unfruchtbar plante und andererseits die Schöpfungsgeschichte davon spricht, daß die Vögel sich vermehren? Also hatte auch Gott schon einen Begriff von Nachkommenschaft. Und weiter ist davon die Rede, daß Kain geheiratet und Kinder gezeugt habe.
Woher nahm er die Frau, wenn es auf der Welt niemand anderen gab als Adam und Eva, Kain und Abel? Weshalb hat Gott Kain abgelehnt, als dieser Eifersucht zeigte? Hat Gott nicht in ihm diese Mißgunst geradezu hervorgerufen, indem er eindeutig Abel bevorzugte? All diese Fragen wollte mir niemand beantworten, weder in der Kindheit noch später. Man war empört, weil ich Gottes Allwissenheit und Allmacht in Frage stellte und die mir angebotenen Erklärungen als unlogisch und widersprüchlich empfand. Meistens wich man mir aus. Es hieß zum Beispiel: Das mußt du alles nicht wörtlich nehmen, es sind ja nur Symbole. Symbole für was? fragte ich, erhielt aber keine Antwort.
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Oder man sagte: In der Bibel steht aber auch viel Wahres und Kluges. Das wollte ich nicht bestreiten. Aber warum muß ich dann auch das hinnehmen, was ich als unlogisch empfinde? dachte das Kind.
Was soll ein Kind, jedes Kind mit solchen Reaktionen anfangen? Es will nicht abgelehnt oder gehaßt werden, also ordnet es sich unter. Genau das tat ich. Doch mein Bedürfnis zu verstehen war damit nicht verschwunden. Als ich mir Gottes Beweggründe nicht erklären konnte, suchte ich weiter, um wenigstens die Beweggründe der Leute zu begreifen, die sich mit Widersprüchen so leicht abfinden.
Mit dem besten Willen konnte ich an Evas Handlung nichts Böses finden. Wenn Gott die beiden Menschen wirklich geliebt hätte, würde er sie nicht blind haben wollen, dachte ich. Hat wirklich die Schlange Eva zur »Sünde« verführt, oder war es Gott selber? Wenn ein gewöhnlicher Sterblicher mir etwas Begehrenswertes zeigen und sagen würde, ich dürfe es nicht beachten, fände ich das grausam. Von Gott aber durfte man das nicht einmal denken, geschweige denn sagen. Ich blieb also allein mit meinen Überlegungen, und ich suchte vergeblich nach einer Antwort in den Büchern. Bis ich verstanden habe, daß das überlieferte Gottesbild von Menschen geschaffen worden war, die nach den Prinzipien der Schwarzen Pädagogik erzogen wurden (von denen die Bibel voll ist), für die Sadismus, Verführung, Strafe, Machtmißbrauch zum Alltag ihrer Kindheit gehört hatten. Die Bibel wurde von Männern geschrieben. Man muß annehmen, daß diese Männer keine guten Erfahrungen mit ihren Vätern gemacht hatten. Offenbar kannte keiner von ihnen einen Vater, der am Entdeckungsdrang seiner Kinder Freude hatte, nicht Unmögliches von ihnen erwartete und sie nicht strafte.
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Daher schufen sie ein Gottesbild, dessen sadistische Züge ihnen nicht auffielen. Ihr Gott dachte sich ein grausames Szenario aus, schenkte Adam und Eva den Baum der Erkenntnis, verbot ihnen aber ausgerechnet dessen Früchte zu essen, das heißt zu wissenden und autonomen Menschen aufzuwachsen. Er wollte sie ganz von sich abhängig machen. Ein solches Vorgehen eines Vaters bezeichne ich als sadistisch, weil es die Freude am Quälen des Kindes enthält. Das Kind dann auch noch für die Folgen des väterlichen Sadismus zu bestrafen hat nichts mit Liebe, sondern eher mit der Schwarzen Pädagogik zu tun. Aber so haben die Bibeldichter unbewußt ihre angeblich liebenden Väter gesehen. Im Brief an die Hebräer 12,6-8 sagt Paulus deutlich, daß die Züchtigung uns die Sicherheit verleihe, wahre Söhne Gottes zu sein und nicht Bastarde: »So ihr die Züchtigung erduldet, so erbietet sich euch Gott als Kindern; denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Seid ihr aber ohne Züchtigung, welcher sie alle teilhaftig geworden, so seid ihr Bastarde und nicht Kinder.«
Heute kann ich mir vorstellen, daß Menschen, die ihre Kindheit in Respekt, ohne Schläge und Demütigungen verbrachten, später, als Erwachsene, an einen anderen Gott glauben werden, an einen liebevollen, führenden, erklärenden, Orientierung vermittelnden Gott. Oder daß sie vielleicht ohne Gottesbilder auskommen, sich aber an Vorbildern orientieren, die für sie wirkliche Liebe verkörpern. In diesem Buch identifiziere ich mich mit Eva. Nicht mit der infantilisierten Eva der Überlieferung, die wie das Rotkäppchen im Märchen ahnungslos der Verführung durch ein Tier erlegen war, sondern mit einer Eva, die die Ungerechtigkeit ihrer Situation durchschaute, das Gebot »Du sollst nicht wissen« ablehnte, den Unterschied zwischen Gut und Böse unbedingt in der Tiefe verstehen wollte und entschlossen war, die volle Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen.
Das vorliegende Buch berichtet über Erkenntnisse, die sich mir erschlossen haben, nachdem ich bereit war, den Mitteilungen meines Körpers zu folgen und auf diesem Weg die Anfänge meines Lebens zu entschlüsseln. Die Reise in meine frühe Kindheit bis zu den Anfängen meines Lebens ermöglichte mir, viele Mechanismen zu entdecken, die auch bei anderen Menschen auf der ganzen Welt aktiv sind. Leider werden sie allzu selten erkannt, weil uns das lähmende Gebot »Du sollst nicht wissen« an dieser Wahrnehmung hindert.
Ich meine, daß wir nicht nur wissen dürfen, sondern auch unbedingt wissen müssen, was gut und böse ist, um Verantwortung für unser Leben und das unserer Kinder tragen zu können. Damit wir endlich aus der Angst des beschuldigten und bestraften Kindes herauswachsen können, der verhängnisvollen Angst vor der Sünde des Ungehorsams, die das Leben so vieler Menschen zerstörte und sie auch noch heute an ihre Kindheit kettet. Als Erwachsene können wir uns mit geeigneter Hilfe von diesen Ketten befreien, uns lebenswichtige Informationen verschaffen und befriedigt feststellen, daß wir nicht mehr genötigt sind, in allem, was uns unsere Erzieher und Religionslehrer aus der eigenen Angst heraus erzählten, einen tieferen Sinn zu erblicken.
Wenn wir diese Anstrengung aufgeben, erleben wir mit Staunen die Erleichterung, daß wir nicht mehr die Kinder sind, die sich zwingen müssen, die tiefere Logik des Unlogischen zu ergründen, wie es viele Philosophen und Theologen noch tun (AM 1988a), weil wir uns (endlich) als Erwachsene das Recht genommen haben, Realitäten nicht auszuweichen, unlogische Begründungen abzulehnen und unserem Wissen, unserer Geschichte treu zu bleiben.
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Alice Miller, 2001