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Epilog

 

 

 

175-182

Frank McCourt schildert in <Die Asche meiner Mutter> sehr eindrucksvoll die Gefahr, die ein Kind noch in den sechziger Jahren lief, wenn es die Erwachsenen mit seinen Fragen verunsicherte. 

Immer wieder mußte es erleben, daß sie selber keine Antworten auf seine Fragen wußten, dies aber nicht zugeben konnten. Sie sprachen dann allzugern von einem Mysterium und sagten: »Wenn du groß bist, wirst du das verstehen, jetzt geh spielen«, oder sie entgegneten unwirsch wie bei McCourt: »Halt den Mund, wenn du was zu sagen hast.«

Das hat sich inzwischen merklich geändert. Selbständig zu denken und wissen zu wollen ist heute nicht mehr gefährlich. Wir sind nicht mehr allein damit. Einem Kind von heute kann man nicht mehr sagen »Geh spielen«, wenn es Fragen stellt. Es hat Zugang zu Informationen, ein großes Kind kann sie sich mit Hilfe des Computers selber verschaffen. 

Das Wissen verleiht ihm eine Unabhängigkeit von den Eltern, die es früher so nie gegeben hat.

Als ich noch Kind war, mußte ich lernen, Menschen, von denen ich lediglich Ausflüchte erwartete, keine Fragen mehr zu stellen. Später habe ich versucht, mir die Fragen selber zu beantworten, und dabei das oberste Gebot unserer Erziehung entdeckt: »Du sollst nicht merken, was dir angetan wurde und was du selber den anderen antust.« 

In dem Moment habe ich begriffen, daß dieses Gebot uns seit Jahrtausenden daran hindert, das Böse vom Guten zu unterscheiden, das Leiden, das uns in der Kindheit zugefügt wurde, zu erkennen und unseren Kindern zu ersparen.

Ich habe daher in all meinen Büchern darauf hingewiesen, daß die Ursachen und die Folgen der Kindesmißhandlung identisch sind: Die Verleugnung der einst erfahrenen Verletzungen führt dazu, daß man die nächste Generation auf die gleiche Weise schädigt. Es sei denn, man entschließt sich, das Wissen zuzulassen. Auch wenn sich diese Einsicht im allgemeinen Bewußtsein noch nicht durchgesetzt hat, wird die Öffentlichkeit früher oder später erkennen, daß wir unsere Töchter und Söhne schädigen und nicht lieben, wenn wir sie schlagen, und daß wir kein Recht mehr haben, die Verantwortung für unser Tun an den Apostel Paulus zu delegieren. Wir schaffen nämlich selber das Böse, das wir den Kindern austreiben wollen.

Denn die Züchtigung erzeugt Angst, sie versetzt das Kind oft in einen Stupor, einen Zustand der Erstarrung, in dem keine ruhige Überlegung mehr möglich ist, weil der Schrecken das ganze Bewußtsein ausfüllt. 

Viele Menschen, die in der Tradition der Schwarzen Pädagogik aufgewachsen sind, scheinen ihr Leben lang in diesem Stupor zu verharren, in der permanenten Furcht vor neuen Schlägen. Wie ich es am Beispiel von Stalin aufzeigte, haben neue Erfahrungen und Informationen keinen Einfluß auf diese sehr früh im Körper gespeicherten Ängste und die darauffolgenden Denkblockaden. Die erhaltenen Schläge hindern diesen Menschen unter Umständen daran, wirklich erwachsen zu werden und Verantwortung für seine Worte und Taten zu übernehmen. Daher bleibt er häufig sein Leben lang emotional unterentwickelt, er bleibt das gefolterte Kind, das das Böse nicht wirklich orten, geschweige denn bekämpfen kann.

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Wie Frank McCourt sagen heute viele Menschen: »Meine Kindheit war schlimm, aber es gab auch nette Momente, und die Hauptsache ist, ich habe alles überlebt und kann darüber schreiben. So ist halt die Welt.« Ich nenne eine solche Haltung fatalistisch und meine, wir können uns auch gegen solche Kindheiten auflehnen und dazu beitragen, daß sie in Zukunft nicht mehr oder zumindest nicht mehr in diesem Ausmaß möglich sind.

Ein arbeitsloser Vater, der wie McCourts Vater regelmäßig sein Stempelgeld vertrinkt, ist für sein Kind ein unabwendbares Schicksal, denn es hat oft keine andere Möglichkeit, als sich mit derartigen Realitäten abzufinden. Auch wenn das Kind fühlt, daß es von seinen Eltern nicht wirklich wahrgenommen und als Sündenbock benutzt wird, kann sein Verstand das noch nicht erfassen. Auch wenn der kindliche Körper den Mangel an echter Zuwendung registriert, kann das Kind das alles nicht einordnen. Es flieht in das Mitleid mit seinen Eltern, und das Gefühl der Liebe hilft ihm, seine Würde trotz allem zu erhalten.

Doch da das Kind einst die Grausamkeit der mangelnden Verantwortung und Gleichgültigkeit seiner Eltern übersehen mußte, ist es später in Gefahr, diese Haltung blind zu übernehmen und in der fatalistischen Ideologie steckenzubleiben, die das Böse als naturgegeben deklariert. Noch als Erwachsener behält es so die Perspektive des machtlosen Kindes, das keine Wahl hat, als sich mit dem Schicksal abzufinden. Es weiß nicht, daß es heute die Ursachen des Bösen erfassen und sie mit der Zeit bekämpfen oder gar vollends beseitigen kann. Es weiß nicht, daß es paradoxerweise erst aus der Haltung des Kindes herauswachsen kann, wenn es die Angst vor der Strafe Gottes (der eigenen Eltern) verliert und bereit ist, sich über die zerstörerischen Folgen verleugneter Kindheitstraumen zu informieren.

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Doch falls der Erwachsene dies entdeckt, kann er die einst verlorene Sensibilität für das Leiden des Kindes wiedergewinnen und sich von der emotionalen Blindheit befreien. Die Gestalt Jesu widerlegt alle Prinzipien der Schwarzen Pädagogik, die die Kirche immer noch befürwortet: Erziehung zum Gehorsam und zur emotionalen Blindheit durch Strafen. Lange vor seiner Geburt empfing er durch seine Eltern höchste Ehrerbietung, Liebe und Schutz, und in dieser ersten, grundlegenden Erfahrung wurzelten seine reiche Gefühlswelt, sein Denken und seine Ethik. Seine irdischen Eltern betrachteten sich als seine Diener, es fiel ihnen niemals ein, ihn zu züchtigen. Ist er deshalb egoistisch, arrogant, habgierig, herrisch oder eitel geworden? Nein, ganz im Gegenteil. Er ist zu einem starken, bewußten, einfühlsamen und weisen Menschen herangewachsen, konnte intensive Gefühle erleben, ohne ihnen ausgeliefert zu sein; er war fähig, Verlogenheit und Lügen zu durchschauen, und hatte den Mut, sie aufzuzeigen.

Dennoch hat meines Wissens bis heute kein Vertreter der Kirche den offensichtlichen Zusammenhang zwischen seiner Erziehung und seinem Charakter gesehen. Dabei wäre es naheliegend, die Gläubigen zu ermutigen, dem Beispiel Marias und Josefs zu folgen und ihre Kinder nicht wie ihr Eigentum zu behandeln, sondern als Kinder Gottes zu betrachten. In gewissem Sinn sind sie es ja auch.

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Das Gottesbild eines geliebten Kindes spiegelt seine ersten guten Erfahrungen. Sein Gott wird verstehen, ermutigen, erklären, Wissen vermitteln und für Fehler des Kindes Toleranz aufbringen. Er wird niemals dessen Neugierde bestrafen, dessen Kreativität erdrosseln, es verführen, unverständliche Befehle erteilen und Angst erzeugen. Jesus, der einen solchen irdischen Vater in Josef hatte, hat genau dieses Ethos gepredigt. Doch die Männer der Kirche, denen diese Kindheitserfahrung fehlte, konnten diese Werte nur als leere Worte übernehmen. Viele handelten, wie das die Kreuzzüge und die Inquisition extrem deutlich machen, ihren eigenen Kindheitserfahrungen entsprechend: vernichtend, intolerant und im tiefsten Sinne böse. Auch derjenige, der sich für das Gute einsetzen will, verteidigt nur allzuoft das System, in dem er aufgewachsen ist, hält die Schläge immer noch für angemessen und notwendig. Die Tatsache, daß sich im Laufe der Geschichte kein einziger Theologe, mit Ausnahme von Comenius, gegen das Prügeln der Kinder ausgesprochen hat, zeigt, daß diese Praxis durchgängig zur Erfahrung von Kindheit gehörte. Daher ist das Wesen Jesu so einzigartig und seine Botschaft, zweitausend Jahre später, im Grunde immer noch nicht zur Kirche durchgedrungen.

Der Abgrund zwischen den beiden entgegengesetzten Wertsystemen wird sich mit der Zeit vermindern, weil die Menschen der zukünftigen Generationen eher den Mut haben werden, das Böse zu benennen. In einzelnen Fällen geschieht das bereits. Die Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gme-lin etwa sagte im Februar 2000 anläßlich einer Tagung: »Der alte Satz >Wer sein Kind liebt, züchtigt es< ist gefährlicher Unsinn. Gewalt wird in der Familie gelernt und später weitergegeben. Wir müssen diesen Teufelskreis durchbrechen.«

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Es ist naheliegend: 

Wer diesen verheerenden Satz heute noch bejaht, war zweifellos selber ein Kind der Schwarzen Pädagogik. Es ist höchste Zeit, die destruktiven Prinzipien aufzugeben und ganz besonders der Maxime »Gehorsam« zu mißtrauen. Wir brauchen keine gefügigen Kinder, die später auf Befehl von Terroristen und schwachsinnigen Ideologen töten werden. Von klein auf respektierte Kinder werden mit offenen Ohren und Augen durch die Welt gehen und gegen Unrecht, Dummheit und Ignoranz mit Worten und konstruktivem Handeln protestieren können. Jesus hat dies bereits mit zwölf Jahren getan, er konnte auch, falls nötig, seinen Eltern den Gehorsam verweigern, ohne sie zu verletzen, wie die Szene im Tempel beweist (Lukas 2,41-52). 

Wir können selbst bei bestem Willen nicht so werden wie Jesus, dazu müßten wir eine ganz andere Vorgeschichte als die unsere haben. Niemand von uns ist von seiner Mutter als Gotteskind getragen worden, allzu viele stellten für ihre Eltern vielmehr nur eine Last dar. Aber wir können, wenn wir es denn wirklich wollen, von den Eltern Jesu lernen. Sie forderten nicht Willfährigkeit ein und setzten nicht Gewalt gegen ihn ein. Wir bedürfen nur dann der Macht, wenn wir die Wahrheit unserer Geschichte fürchten, und klammern uns an sie, wenn wir uns zu schwach fühlen, um uns selber und unseren wahren Gefühlen treu zu bleiben. Doch gerade die Ehrlichkeit unseren Kindern gegenüber macht uns stark. Um die Wahrheit zu sagen, brauchen wir keine Macht. Wir benötigen diese nur, um Lügen und scheinheilige Worte zu verbreiten.

Wenn die Aufklärung von gut informierten Experten (wie zum Beispiel Frederick Leboyer, Michel Odent, Bessel van der Kolk und zahlreichen anderen) viele Eltern erreicht und wenn diese Eltern durch religiöse Autoritäten darin unterstützt sein werden, dem Vorbild von Maria und Josef zu folgen, wird die Welt unserer Kinder sicherlich friedlicher, ehrlicher und weniger irrational sein, als sie es heute ist.

Das Gebot »Du sollst den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht kennen« ging den Zehn Geboten voraus. Laut jüdisch-christlicher Tradition steht es am Anfang der Menschheitsgeschichte. Gleichwohl ist es nicht aufbauend, sondern zerstörerisch. Diese Tatsache aufzuzeigen war das Ziel dieses Buches. Wir stehen heute zwischen dem jahrtausendealten Gebot des Nichtwissens und der Fülle an Informationen über die destruktive Wirkung der emotionalen Blindheit, des Mangels an Sensibilität für das Leiden des Kindes. Wir können diese Informationen gebrauchen, um unseren Kindern und Kindeskindern das unnötige Leid und das Böse zu ersparen, mit dem unsere Ahnen aufgewachsen sind. Meines Erachtens sind wir dies den kommenden Generationen schuldig.

Wir wissen, daß es heutzutage immerhin schon Mütter und Väter gibt, die ohne Strafen auskommen, und wir wissen, wieviel Gutes Kinder entwickeln können, die vor ihren Eltern keine Angst haben müssen. Diese Kinder werden gegen die Bibeldichter, die einen angeblich liebenden Vater als strafend, widersprüchlich und ungerecht, wenn nicht gar grausam darstellen, immun sein. Sie werden seine Schuldzuweisungen nicht akzeptieren und Freude am Entdecken genießen können. 

Mit der lebendigen Erfahrung der echten Liebe in ihrer Kindheit werden sie die Ungerechtigkeit der Schöpfungsgeschichte deutlicher erkennen und die neuen Chancen der Kommunikation (wie Internet, Fernsehen, Reisen) wahrnehmen, um ihr Wissen zu verbreiten. Damit werden sie die Neugier der anderen wecken und ihre Lust am Wissendürfen unterstützen. Im Zeitalter des Internets können sich Adam und Eva selber von ihrer angeblichen Schuld befreien, um mündig zu werden.

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Ende

 

 

 ^^^^ 

  von Alice Miller 2001   www.detopia.de