Nachwort
»Die Revolte des Körpers« — Eine Herausforderung
Von Alice Miller 2004
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Fast all meine Bücher haben gegensätzliche Reaktionen bewirkt, doch bei diesem Buch fällt gerade die emotionale Intensität auf, mit der dessen Ausführungen bestätigt oder abgelehnt werden. Ich habe den Eindruck, daß diese Intensität indirekt zum Ausdruck bringt, wie nahe oder wie fern sich der Leser sich selbst gegenüber befindet.
Nachdem dieses Buch im März 2004 erschienen ist, schrieben mir viele Leser, sie seien froh, sich nicht länger zu Gefühlen zwingen zu müssen, die sie in Wahrheit nicht empfinden würden. Sie seien auch froh, sich endlich die Gefühle nicht verbieten zu müssen, die immer wieder unverändert in ihnen entstünden. Doch in manchen Reaktionen, vor allem in der Presse, fand ich häufig ein grundsätzliches Mißverständnis, zu dem ich möglicherweise selbst beigetragen habe, indem ich das Wort Mißhandlung in einem viel weiteren Sinn gebrauchte, als dies üblich ist.
Wir sind gewohnt, mit diesem Wort das Bild eines womöglich am ganzen Körper versehrten Kindes zu verbinden, dessen Wunden eindeutig auf die erlittenen Verletzungen hinweisen. Was ich aber in diesem Buch beschreibe und mit dem Begriff Mißhandlung benenne, sind vielmehr Verletzungen der seelischen Integrität des Kindes, die zunächst unsichtbar bleiben.
Deren Folgen werden oft erst nach Jahrzehnten registriert, und auch dann wird der Zusammenhang mit den in der Kindheit erfahrenen Verletzungen nur selten gesehen und ernst genommen. Sowohl die Betroffenen selbst als auch die Gesellschaft (Ärzte, Anwälte, Lehrer und leider auch viele Therapeuten) wollen von den Ursachen der späteren »Störungen« oder des »Fehlverhaltens«, die in der Kindheit liegen, nichts wissen.
Wenn ich diese unsichtbaren Verletzungen Mißhandlungen nenne, stoße ich häufig auf Widerstand und auf laute Empörung. Diese Gefühle kann ich gut nachempfinden, weil ich sie sehr lange teilte. Ich hätte früher heftig protestiert, wenn man mir gesagt hätte, daß ich ein mißhandeltes Kind gewesen war. Erst jetzt weiß ich mit Bestimmtheit, dank Träumen, meiner Malerei und nicht zuletzt dank der Botschaften meines Körpers, daß ich als Kind über Jahre seelische Verletzungen hinnehmen mußte, aber dies als Erwachsene sehr lange nicht wahrhaben wollte (s. S. 24). Wie so viele andere Menschen habe ich gedacht: »Ich? Ich wurde doch nie geschlagen. Die paar Klapse haben ja kaum eine Bedeutung gehabt. Und meine Mutter hat sich doch so viel Mühe mit mir gegeben.« (Auf S. 79 findet der Leser ähnliche Äußerungen.)
Doch wir dürfen nicht vergessen, daß die schweren Folgen der frühen unsichtbaren Verletzungen gerade durch die Bagatellisierung des kindlichen Leidens entstehen, durch die Leugnung von dessen Bedeutung. Jeder Erwachsene kann sich mühelos vorstellen, daß er zu Tode erschrecken und sich entwürdigt fühlen würde, wenn ein Riese ihn plötzlich wütend überfallen würde. Doch vom kleinen Kind nehmen wir an, daß es diese Reaktion nicht verspürt, obwohl wir leicht beobachten können, wie wach und kompetent das Kind auf seine Umgebung reagiert (vgl. Domes 1993, Juul 1997).
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Die Eltern denken, daß Klapse keineswegs weh tun, sie sollten dem Kind nur bestimmte Werte vermitteln, und das Kind übernimmt dieses Urteil. Manche Kinder lernen sogar, darüber zu lachen und ihren Schmerz über die erfahrene Entwürdigung und Erniedrigung zu verspotten. Als Erwachsene halten sie sich an diesem Spott fest, sind stolz auf ihren Zynismus, machen sogar Literatur daraus, wie wir es bei James Joyce, Frank McCourt u. a. sehen können. Wenn sie an Symptomen wie Angst und Depressionen leiden, was angesichts der verdrängten echten Gefühle unvermeidbar ist, finden sie mühelos Ärzte, die ihnen für eine Weile mit Medikamenten helfen. So können sie ihre Selbstironie, die bewährte und geschätzte Waffe gegen alle aus der Vergangenheit aufsteigenden Gefühle, ruhig aufrechterhalten. Damit passen sie sich auch den Forderungen der Gesellschaft an, für die die Schonung der Eltern ein oberstes Gebot darstellt.
Auch viele Therapeuten sind bemüht, die Klienten von ihrer Kindheit abzulenken. Wie und warum sie sich so verhalten, zeige ich in diesem Buch sehr deutlich. Der Leser kann sich aufgrund meiner Beschreibung selbst orientieren, ob er auf diesem Weg zu sich selbst begleitet oder von sich selbst entfremdet wird. Letzteres kommt leider häufig vor. Ein in analytischen Kreisen sehr geschätzter Autor behauptet sogar in seinem Buch, daß es das wahre Selbst gar nicht geben könne, daß es irreführend sei, darüber zu sprechen. Wie kann ein auf diese Weise in der Therapie begleiteter Erwachsener seine kindliche Realität finden? Wie kann er erfahren, in welcher Ohnmacht er als Kind gelebt hat? In welcher Verzweiflung er sich befand, als die Verletzungen stattfanden, immer wieder, jahrelang, ohne daß das Kind sich wehren, ohne daß es die Realität wahrnehmen durfte, weil niemand da war, der ihm geholfen hätte, sie zu sehen?
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So mußte das Kind versuchen, sich alleine zu retten, indem es in die Verwirrung flüchtete, und zuweilen eben in den Spott. Wenn es dem Erwachsenen später nicht gelingt, diese Verwirrung in Therapien aufzulösen, die den Zugang zu den verschollenen Gefühlen des Kindes nicht blockieren, bleibt er im Spott über das eigene Schicksal verhaftet.
Sollte es ihm aber doch gelingen, mit Hilfe seiner heutigen Gefühle zu den einfachsten, berechtigten und starken Emotionen des kleinen Kindes zu gelangen und diese als begreifliche Reaktionen auf (gewollte oder ungewollte) Grausamkeiten der Eltern oder Ersatzeltern zu verstehen, dann vergeht ihm das Lachen, verschwinden der Spott, der Zynismus und die Selbstironie. Und es verschwinden meistens auch die Symptome, mit denen man für diesen Luxus bezahlt hat. Dann wird das wahre Selbst, d.h., es werden die authentischen Gefühle und Bedürfnisse eines Menschen erlebbar. Ich selber bin darüber verblüfft, wenn ich auf mein Leben zurückschaue, mit welcher Konsequenz, Ausdauer und Unnachgiebigkeit sich mein wahres Selbst gegen alle äußeren und inneren Widerstände durchgesetzt hat und daß dies auch weiter ohne die Hilfe von Therapeuten geschieht, weil ich sein Wissender Zeuge geworden bin.
Natürlich reicht der Verzicht auf Zynismus und Selbstironie nicht aus, um die Folgen einer grausamen Kindheit aufzuarbeiten. Aber er ist dafür eine notwendige, unerläßliche Voraussetzung. In der Haltung der Selbstverspottung hingegen könnte man zahlreiche Therapien absolvieren und käme doch nicht vom Fleck, weil die wahren Gefühle und damit die Empathie für das Kind, das man war, weiterhin verschlossen blieben.
Man zahlt dann lediglich (oder läßt die Krankenkassen bezahlen) für eine Begleitung, die eher behilflich ist, vor der eigenen Realität zu fliehen, was logischerweise kaum Veränderungen bewirken kann.
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Sigmund Freud unterwarf sich vor mehr als 100 Jahren uneingeschränkt der herrschenden Moral, indem er eindeutig das Kind beschuldigte und die Eltern schonte. So verfuhren auch seine Nachfolger. In meinen letzten drei Büchern habe ich darauf hingewiesen, daß sich die Psychoanalyse zwar mittlerweile den Fakten über Kindesmißhandlung und sexuellen Mißbrauch von Kindern mehr geöffnet hat und diese Fakten in ihre theoretischen Überlegungen zu integrieren versucht, daß aber leider diese Versuche häufig am Vierten Gebot scheitern. Die Rolle der Eltern beim Entstehen der Symptomatik des Kindes wird weiterhin verbrämt und verschleiert. Ob die angebliche Erweiterung des Horizontes die innere Haltung der Mehrheit der Therapeuten wirklich verändert hat, kann ich nicht beurteilen, doch aus den Publikationen habe ich den Eindruck, daß die Reflexion über die traditionelle Moral immer noch aussteht. Das Verhalten der Eltern wird weiterhin verteidigt, in der Praxis, aber auch in den Theorien. Das bestätigte mir das Buch von Eli Zaretsky, Secrets of the Soul, mit seiner ausführlichen Geschichte der Psychoanalyse bis heute (ohne das Problem des Vierten Gebotes überhaupt zu thematisieren). Daher beschäftige ich mich in diesem Buch eher am Rande mit der Psychoanalyse.
Leser, die meine anderen Bücher nicht kennen, haben vielleicht Mühe zu realisieren, worin der große Unterschied zwischen dem, was ich schreibe, und den Theorien der Psychoanalyse liegt. Denn auch Analytiker befassen sich ja bekanntlich mit der Kindheit und lassen heute zunehmend den Gedanken zu, daß die frühen Traumen das spätere Leben beeinflussen.
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Doch die von den Eltern zugefügten Verletzungen werden häufig umgangen. Zu den meisten Traumen gehören Todesfälle der Eltern, schwere Erkrankungen, Scheidungen, Naturkatastrophen, Kriege usw. Mit ihnen fühlt sich der Patient nicht allein gelassen, der Analytiker kann sich in seine Situation als Kind mühelos einfühlen und ihm als Wissender Zeuge helfen, seine Kindheitsleiden zu bewältigen, zumindest solche, die ihn nicht an seine eigenen erinnern.
Anders ist es da, wo es um Verletzungen geht, die die meisten Menschen erfahren mußten, wenn es nämlich darum geht, den Haß der eigenen Eltern, aber auch später die Feindseligkeit der Erwachsenen gegenüber den Kindern wahrzunehmen.
Das verdienstvolle Buch von Martin Domes, Der kompetente Säugling, zeigt m.E. sehr deutlich, wie schwer sich die bisherigen Vorstellungen der Analytiker mit den neuesten Forschungen über den Säugling vereinbaren lassen, obwohl sich der Autor sehr darum bemüht, den Leser vom Gegenteil zu überzeugen. Es gibt dafür viele Ursachen, auf die ich in meinen Büchern hinweise, doch ich meine, daß die Hauptursachen in der Wirkung der Denkblockaden liegen (vgl. AM 2001, S. 109-133), die, zusammen mit dem Vierten Gebot, von der Realität der Kindheit wegführen. Schon Sigmund Freud, aber vor allem Melanie Klein, Otto Kernberg, deren Nachfolgerschaft sowie die Ich-Psychologie Heinz Hartmanns haben dem Säugling all das zugeschrieben, was ihnen die einst von ihnen selbst erfahrene Erziehung im Geiste der Schwarzen Pädagogik diktiert hatte, nämlich daß Kinder von Natur aus böse oder »polymorph pervers« seien. (Im Verbannten Wissen habe ich eine ausführliche Passage des bis heute sehr angesehenen Analytikers Glover zitiert, die seine Sicht auf das Kind beschreibt.)
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Mit der Realität eines lebenden Kindes hatte das wenig zu tun, schon gar nicht mit der eines verletzten und leidenden Kindes, zu denen ja unbestreitbar die Mehrheit gehört, solange körperliche Strafen und andere seelische Verletzungen fast allgemein als legitimer Teil einer richtigen Erziehung gelten.
Analytiker, wie etwa Sándor Ferenczi, John Bowlby, Heinz Kohut und andere, die sich dieser Realität zuwandten, blieben am Rande der Psychoanalyse, weil ihre Forschungen der Triebtheorie kraß widersprachen. Trotzdem ist meines Wissens keiner von ihnen aus der IPA (International Psychoanalytical Association) ausgetreten. Warum? Weil sie alle, wie viele auch noch heute, vermutlich hofften, die Psychoanalyse sei kein dogmatisches, sondern ein offenes System und könne Ergebnisse der neuesten Forschungen integrieren. Ich will das für die Zukunft nicht ausschließen, doch ich meine, daß eine unabdingbare Voraussetzung für diese Öffnung die Freiheit wäre, die realen seelischen Verletzungen im Säuglingsalter (Mißhandlungen) wahrzunehmen und die bagatellisierende Haltung der Eltern dem kindlichen Leiden gegenüber zu erkennen.
Das wird erst möglich sein, wenn die Arbeit an den Emotionen in die psychoanalytische Praxis Einzug hält, wenn die Entdeckungskraft der Emotionen nicht mehr gefürchtet wird, was ganz und gar nicht mit der Primärtherapie identisch zu sein braucht. Dann kann sich der Überlebende seinen frühesten Verletzungen stellen und sich mit Hilfe des Wissenden Zeugen und der Botschaften seines Körpers den Weg zu seinen Ursprüngen, zu seinem wahren Selbst bahnen. Soviel ich weiß, ist dies im Rahmen der Psychoanalyse noch nicht geschehen.
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In meinem Buch Evas Erwachen (2001) habe ich meine Kritik der Psychoanalyse an einem konkreten Beispiel illustriert (S. 149-156). Ich konnte zeigen, daß sogar der weitgehend aufgeschlossene Donald W. Winnicott dem Kollegen Harry Guntrip in dessen Analyse nicht wirklich helfen konnte, weil es ihm unmöglich war, den Haß der Mutter auf das Kind Harry wahrzunehmen. Dieses Beispiel zeigt deutlich die Grenzen der Psychoanalyse, die mich seinerzeit dazu bewogen haben, mich von der Psychoanalytischen Gesellschaft zu trennen und eigene Wege zu suchen, was mir die Position einer abgelehnten Ketzerin verschaffte. Abgelehnt und mißverstanden zu sein ist zwar nicht angenehm, aber die Situation der Ketzerin brachte mir anderseits Vorteile. Sie erwies sich als sehr ergiebig in meiner Forschung, und sie schenkte mir die Freiheit, die ich brauchte, um meine Fragen weiterzuverfolgen. Diese Denk- und Schreibfreiheit schätze ich ganz besonders. Dank ihrer konnte ich es mir unter anderem leisten, die Eltern, die die Zukunft ihrer Kinder ruinieren, nicht mehr zu schonen. Damit verstieß ich gegen ein großes Tabu. Denn nicht nur innerhalb der Psychoanalyse, sondern in unserer Gesellschaft insgesamt dürfen Eltern und Familie auf gar keinen Fall als Quelle der Gewalt und des Leidens gezeigt werden. Die Furcht vor diesem Wissen läßt sich deutlich in den meisten TV-Sendungen zum Thema Gewalt beobachten.
Die statistischen Erhebungen über Kindesmißhandlung, aber auch die vielen Klienten, die in den Therapien über ihre Erlebnisse als Kind berichteten, führten dazu, daß sich neue Therapieformen jenseits der Analyse etablierten, die sich auf die Behandlung des Traumas konzentrieren und in vielen Kliniken praktiziert werden.
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Es können auch in diesen Therapien (trotz aller guten Vorsätze, den Klienten empathisch zu begleiten) die echten Gefühle eines Menschen und der wahre Charakter seiner Eltern verschleiert werden, und zwar mit Hilfe von Übungen (Imaginationen und Kognitionen) oder spirituellen Tröstungen. Solche sogenannten therapeutischen Interventionen lenken von den authentischen Gefühlen eines Menschen wie von seiner Realität als Kind ab. Beides (den Zugang zu den Gefühlen und damit zu seinen realen Erfahrungen) braucht der Klient aber, um zu sich selbst finden und so die Depression auflösen zu können. Andernfalls können zwar einige Symptome verschwinden, aber beispielsweise in Form körperlicher Erkrankungen wieder auftauchen, solange die Realität des einstigen Kindes ignoriert wird.
Diese kann auch in Körpertherapien ignoriert werden, vor allem, wenn der Therapeut die eigenen Eltern noch fürchtet und sie deshalb nach wie vor idealisieren muß. Inzwischen sind viele Berichte erschienen, in denen Mütter (in den Ourchildhood-Foren im Internet auch Väter) ehrlich erzählen, wie sehr sie durch die Verletzungen in ihrer eigenen Kindheit daran gehindert waren, ihr Kind zu lieben. Wir können daraus lernen und aufhören, unentwegt weiter die Mutterliebe zu idealisieren. Dann müssen wir den Säugling nicht mehr als ein schreiendes Ungeheuer analysieren und werden beginnen, dessen Innenwelt zu verstehen, die Einsamkeit und Ohnmacht eines Kindes zu erfassen, das bei Eltern aufwachsen mußte, die ihm jede liebevolle Kommunikation verweigerten, weil sie diese selber nicht kannten.
Wir können dann im schreienden Säugling eine logische, berechtigte Reaktion auf zumeist unbewußte, aber faktische, reale Grausamkeiten der Eltern finden, die von der Gesellschaft noch nicht als solche erkannt werden.
Eine ebenso natürliche Reaktion ist die Verzweiflung eines Menschen über sein beschädigtes Leben, die in manchen Traumatherapien durch »positives Denken« beschwichtigt werden soll.
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Aber gerade die starken »negativen« Gefühle ermöglichen eine Erkenntnis darüber, wie es dem Kind einst bei mißhandelnden oder es »nur« ignorierenden Eltern ergangen ist. Diese Erkenntnis brauchen wir ja, um endlich von den Verleugnungen bzw. den quälenden Mutmaßungen und Zweifeln frei zu werden.
Die elterliche Grausamkeit ist nicht immer durch Schläge gekennzeichnet (wenn auch ca. 90 % der heutigen Weltbevölkerung in der Kindheit geschlagen wurden), sondern auch und vor allem im Mangel an freundlicher Zuwendung, im Mangel an Kommunikation, im Ignorieren der Bedürfnisse des Kindes und dessen seelischer Schmerzen, in sinnlosen, perversen Strafen, im sexuellen Mißbrauch, in der Ausbeutung der bedingungslosen Liebe des Kindes, in der emotionalen Erpressung, im Zerstören des Selbstgefühls und in den unzähligen Formen der Machtausübung. Die Liste ist unendlich. Und was das Schlimmste ist: Das Kind muß lernen, all dies als ganz normales Verhalten anzusehen, weil es nichts anderes kennt. Jedes Kind liebt seine Eltern bedingungslos, was auch immer sie mit ihm machen.
Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz beschreibt einmal sehr einfühlsam die Treue einer seiner Gänse zu seinem Stiefel. Dieser war nämlich der erste Gegenstand, den das Gänseküken bei seiner Geburt erblickte. Eine solche Bindung folgt dem Instinkt. Aber würden wir Menschen lebenslang diesem am Anfang des Lebens sehr sinnvollen natürlichen Instinkt folgen, so blieben wir für immer artige Kinder, ohne die Vorzüge des erwachsenen Daseins genießen zu können. Zu diesen gehören aber Bewußtheit, Denkfreiheit, Zugang zu den eigenen Gefühlen und die Fähigkeit, zu vergleichen.
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Daß Kirchen und Regierungen daran interessiert sind, diese Entwicklung zu erschweren und den Menschen in der Abhängigkeit von Elternfiguren zu belassen, ist allgemein bekannt. Daß der Körper einen hohen Preis dafür bezahlt, ist weniger bekannt. Denn wo kämen wir hin, wenn wir die Untaten der Eltern durchschauen wollten ...? Und wo kämen die Elternfiguren hin, wenn ihre Machtausübung nicht mehr wirkte? Daher genießt die Institution »Eltern« heute immer noch eine absolute Immunität. Sollte sich das aber eines Tages ändern (was dieses Buch postuliert), dann werden wir in der Lage sein, zu fühlen, was uns die Mißhandlungen unserer Eltern ausgemacht haben.
Dann werden wir die Signale unseres Körpers besser verstehen und mit ihm in Frieden leben, nicht als geliebte Kinder, die wir nie waren und nie werden können, aber als offene, bewußte und vielleicht liebende Erwachsene, die ihre Geschichte nicht mehr fürchten müssen, weil sie diese kennen. In den Reaktionen, die ich zu lesen bekam, sind mir noch andere Mißverständnisse aufgefallen, von denen ich hier nur zwei aufgreifen möchte. Sie beziehen sich auf die Frage der Distanz zu den verletzenden Eltern in Fällen von schweren Depressionen und auf meine persönliche Geschichte.
Zum ersten muß ich darauf hinweisen, daß ich im Buch immer wieder von den verinnerlichten, selten von den realen und nirgends von den »bösen« Eltern spreche. Ich gebe keine Ratschläge für Hänsel und Gretel, die selbstverständlich vor den bösen Eltern hätten fliehen müssen, sondern ich plädiere für das Ernstnehmen der echten Gefühle, die seit der Kindheit unterdrückt wurden und im Keller der Seele ihr Dasein fristen.
Es ist durchaus möglich, daß manchen Rezensenten ohne jegliche psychologische Ausbildung diese inneren Prozesse vollkommen fremd sind und daß diese dann meinen, ich würde die Leser gegen ihre angeblich »bösen Eltern« aufhetzen. Doch ich hoffe, daß etwas mehr mit dem Seelenleben vertraute Leser das Wort »verinnerlicht« nicht übersehen werden. Es würde mich natürlich auch freuen, wenn die Mitteilungen über meine Kindheit auf eine differenzierte und nicht oberflächliche, pauschale Leseart stoßen würden.
Seitdem ich mich mit Kindesmißhandlungen beschäftige, wird mir von Seiten meiner Kritiker vorgeworfen, daß ich sie überall sehe, weil ich selbst mißhandelt wurde. Zuerst reagierte ich darauf mit Staunen, weil ich ja über meine frühe Geschichte noch wenig wußte. Heute kann ich mir zwar vorstellen, daß gerade meine abgewehrten Leiden mich zur Beschäftigung mit diesem Thema drängten. Doch was ich gefunden habe, als ich dieses Gebiet zu erforschen begann, war nicht nur mein eigenes Schicksal, sondern das sehr vieler Menschen. Im Grunde waren sie meine Führer, dank ihrer Geschichten fing ich an, meine Abwehr abzubauen, mich umzuschauen und aus der hartnäckigen universellen Leugnung des kindlichen Leidens Schlüsse zu ziehen, die mir geholfen haben, mich zu verstehen. Dafür bin ich diesen Menschen sehr dankbar.
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Ende
Alice Miller 2004