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Kindern die Wahrheit sagen 

Vorwort 2007

 

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Es ist immer noch sehr verbreitet zu glauben, daß Kinder nicht fühlen können, daß das, was man ihnen antut, keine Folgen hat oder halt andere als bei erwachsenen Menschen, weil sie eben »noch Kinder« sind. Auch an Kindern ausgeführte Operationen ohne Narkose wurden noch vor kurzem erlaubt. Und vor allem der Brauch der Beschneidung von Mädchen und Knaben sowie sadistische Initiationsrituale sind immer noch in vielen Ländern üblich. 

Das Schlagen von Erwachsenen nennt man Folter, das von Kindern Erziehung. Zeigt nicht das allein schon klar und eindeutig einen Schaden im Gehirn der meisten Menschen, eine »Läsion«, ein gewaltiges Loch dort, wo Empathie zu finden sein sollte, insbesondere die für Kinder? Im Grunde ist schon allein diese Beobachtung Beweis für die These, daß alle geschlagenen Kinder Folgeschäden im Gehirn davontragen, weil fast alle Erwachsenen gegen Gewalt an Kindern abgestumpft sind! 

Um mir diese Tatsache zu erklären, wollte ich wissen, in welchem Alter ihres Kindes die Eltern meinen, es mit »kleinen« Schlägen zum guten Benehmen erziehen zu können. Ich fand darüber keine Statistik, daher gab ich, um einen Einblick in diese Dunkelziffer zu bekommen, im Jahre 2002 einem statistischen Institut einen entsprechenden Auftrag: 100 Mütter aus verschiedenen sozialen Schichten sollten befragt werden, in welchem Alter ihr erstes Kind war, als sie es für nötig hielten, es mit Klapsen auf die Hände oder das Gesäß zum besseren Verhalten zu ermahnen.

Die Antworten waren für mich sehr aufschlußreich: 89 Frauen antworteten fast einstimmig, sie hätten ihre Kinder körperlich »ermahnt«, als diese etwa 18 Monate alt waren, elf Frauen konnten sich an den Zeitpunkt nicht genau erinnern, aber keine einzige sagte, sie hätte ihr Kind niemals geschlagen.

Das Ergebnis wurde im gleichen Jahr in der französischen Zeitschrift Psychologies publiziert, doch es löste keinerlei Reaktionen aus, weder Befremden noch Empörung, was meines Erachtens bedeutet, daß diese Praxis sehr weit verbreitet ist und nur selten in Frage gestellt wird. Doch ich mußte mir die Frage stellen: Was geschieht im Gehirn eines Kindes, das in diesem Alter Klapse bekommt? 

Auch wenn diese nicht starke körperliche Schmerzen bewirken (was wir heute noch annehmen), registriert doch das Kind, daß es angegriffen wurde und dies von der Person, die es (das weiß sein Instinkt) vor Angriffen Fremder schützen müßte. Das muß ja im kindlichen Gehirn, das noch gar nicht fertig ausgebildet ist, eine unlösbare Konfusion bewirken. Das Kind wird sich fragen müssen: Ist meine Mutter die Beschützerin vor Gefahren oder die Gefahr selbst? Eine solche Frage kann sich ein Säugling natürlich nicht beantworten. Er entscheidet also im Sinne der Anpassung, indem er Gewalt als normal registriert und sie lernt. Was bleibt, ist Angst (vor dem nächsten Schlag), Mißtrauen und Verleugnung der Schmerzen.

Es bleibt auch das, was ich in Evas Erwachen als Denkblockaden beschrieben habe: Die Verwirrung des kleinen Kindes, gepaart mit der Verleugnung des Leidens, hinterläßt im Erwachsenen offenbar den Unwillen oder die Weigerung, das Problem des Schiagens kleiner Kinder zu reflektieren. Die Denkblockaden (und die sie stützende Angst) verhindern, daß man sich über deren Entstehung Gedanken macht. So wehrt man alles ab, was zu dieser Reflexion führen würde.

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Meines Wissens wurde die Frage, was ein kleines Kind fühlt, wenn es körperlich angegriffen wird, und wie sich die Unterdrückung dieser Gefühle auf das Leben des Erwachsenen und das gesamte soziale Gefüge auswirkt, bisher weder von Philosophen noch von Soziologen oder Theologen gestellt. 

Wie kraß diese Thematik gemieden wird, fiel mir auf, als ich neulich ein glänzend geschriebenes und sehr lehrreiches Buch über den Zorn gelesen habe. Das Buch beschreibt mit einer minutiösen Genauigkeit, was der menschliche, auf Sündenböcke gerichtete Zorn im Lauf der Geschichte angerichtet hat, doch es findet sich auf den beinahe 400 Seiten kein einziger Hinweis auf das Entstehen dieses Gefühls. Es wird nirgends darauf hingewiesen, daß der Zorn jedes einzelnen Menschen aus dem primären, berechtigten Zorn des kleinen Kindes auf die schlagenden Eltern entsteht, dessen unmittelbarer Ausdruck unterdrückt wird und der sich später mit hemmungsloser Gewalt auf Unschuldige richtet.

Da die Folterung der Kinder und deren Verdrängung und Verleugnung so weit verbreitet sind, könnte man annehmen, daß dieser (Schutz-)Mechanismus zur menschlichen Natur gehört, daß er dem Menschen Schmerzen erspart und daher eine positive Rolle spielt. 

Doch zumindest zwei Fakten sprechen dagegen:

Erstens die Tatsache, daß gerade verleugnete Mißhandlungen an die nächste Generation weitergegeben werden und so sich die Kette der Gewalt nicht aufhalten läßt, und zweitens, daß die Erinnerung an die erfahrenen Mißhandlungen zur Auflösung der Krankheitssymptome führt.

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Die nun erwiesene Tatsache, daß die Entdeckung des eigenen Leidens in der Kindheit in der Gegenwart eines einfühlsamen Zeugens (vgl. Seite 27 u. 59 f.) zur Auflösung der körperlichen und seelischen Symptome (wie zum Beispiel der Depression) führt, zwingt uns dazu, eine völlig neue Form der Therapie zu suchen, denn nicht die bisher übliche Unterstützung der Verleugnung, sondern die Konfrontation mit der eigenen schmerzhaften Wahrheit führt zur Befreiung.

Die gleiche Erkenntnis gilt meines Erachtens für die Therapie der Kinder. Ich habe lange, wie die meisten Menschen, gemeint, daß Kinder unbedingt die Illusion und Verleugnung der Tatsachen brauchen, um zu überleben, weil sie die Schmerzen der Wahrheit nicht aushalten würden. Heute bin ich aber davon überzeugt, daß für sie das gleiche wie für die Erwachsenen gilt, nämlich daß die Kenntnis ihrer Wahrheit, ihrer Geschichte, sie vor den Krankheiten und Störungen schützt. Doch dazu brauchen sie die Hilfe der Eltern. 

Es gibt heutzutage eine Menge von verhaltensgestörten Kindern und eine Menge von Therapieprogrammen. Leider beruhen die meisten auf den pädagogischen Vorstellungen, daß man das »schwierige« Kind zur Anpassung und Fügsamkeit erziehen müsse und könne. Es handelt sich also um eine mehr oder weniger gelungene Verhaltenstherapie, die in einer Art »Reparatur« des Kindes besteht.

In all diesen Konzepten wird die Tatsache verschwiegen und ignoriert, daß jedes Problemkind eine Geschichte der Verletzungen seiner Integrität hat, die bereits sehr früh in seinem Leben, in der Zeit der Ausformung seines Gehirns bis zum Alter von vier Jahren, stattgefunden hat. Diese Geschichte bleibt meistens verdrängt.

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Doch man kann einem verletzten Menschen nicht wirklich helfen, seine Wunden auszuheilen, wenn man sich weigert, diese zu sehen. Zum Glück hat der junge Organismus bessere Chancen für die Wundheilung, und das gilt ebenfalls für psychische Wunden. So müßte der erste Schritt darin bestehen, dafür bereit zu sein, sich die Wunden anzuschauen, diese ernst zu nehmen und deren Verleugnung aufzugeben. Es geht hier nicht um eine »Reparatur« des »gestörten« Kindes, sondern um die Pflege seiner Wunden, die in der Empathie besteht und im Erteilen der korrekten Informationen. 

Für seine emotionale Entwicklung, seine echte Reife braucht das Kind mehr als angepaßtes Benehmen. Damit es später keine Depression und keine Eßstörungen entwickelt, auch nicht einer Drogensucht zum Opfer fällt, bedarf es des Zugangs zu seiner Geschichte. Ich denke, daß auch die gut gemeinten erzieherischen oder therapeutischen Bemühungen bei einst geschlagenen Kindern auf Dauer scheitern müssen, wenn die damals erfahrene Demütigung niemals angesprochen wurde, das heißt wenn das Kind mit diesem Erlebnis allein bleibt. 

Um diese Isolation (das Alleinsein mit dem Geheimnis) aufzuheben, müßten die Eltern den Mut finden, dem Kind ihren Fehler einzugestehen. Das würde die ganze Situation verändern. Sie könnten dem Kind in einem ruhigen Gespräch zum Beispiel sagen:

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»Wir haben dich geschlagen, als du noch klein warst, weil auch wir so erzogen wurden und meinten, daß dies richtig sei. Erst jetzt wissen wir, daß wir dies niemals hätten tun dürfen, und es tut uns leid, daß wir es getan haben, daß wir dich gedemütigt und dir Schmerzen zugefügt haben, das wollen wir nie mehr tun. Wir bitten dich, uns an dieses Gespräch zu erinnern, wenn wir wieder in Gefahr kommen sollten, unser Versprechen zu vergessen. In 17 Ländern ist dieser Brauch bereits strafbar, weil gesetzlich verboten. Denn man hat in den letzten Jahrzehnten verstanden, daß ein geschlagenes Kind in Angst lebt, daß es in der ständigen Angst vor dem nächsten Schlag aufwächst. Das beeinträchtigt viele seiner normalen Funktionen. Unter anderem wird es sich später nicht wehren können, wenn es angegriffen wird, oder über alle Maßen im Schock zurückschlagen, vor lauter Angst. Ein verängstigtes Kind kann sich schwer auf seine Aufgaben konzentrieren, sowohl zu Hause als auch in der Schule. Seine Aufmerksamkeit gilt weniger dem Stoff als dem Verhalten der Lehrer oder Eltern, von denen es nie weiß, wann ihnen die Hand ausrutscht. Das Verhalten der Erwachsenen scheint ihm total unberechenbar, es muß also ständig auf der Hut sein. Das Kind verliert sein Vertrauen in die Eltern, die es doch vor Angriffen Fremder schützen müßten, aber niemals selber angreifen. Doch ohne Vertrauen zu den Eltern fühlt sich das Kind sehr verunsichert und isoliert, weil die ganze Gesellschaft auf der Seite der Eltern steht und nicht auf der Seite der Kinder.«

Diese Informationen der Eltern bedeuten für das Kind keine Offenbarung, denn sein Körper weiß all das seit langem.

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Aber der Mut der Eltern und ihr Entschluß, den Fakten nicht mehr auszuweichen, wird zweifellos eine wohltuende und befreiende Wirkung haben, die von Dauer sein wird. Und dem Kind wird ein wichtiges Vorbild angeboten, nicht mit Worten, sondern im Verhalten: Zivilcourage sowie Respekt für die Wahrheit und die Würde des Kindes anstatt der Gewalt und des Mangels an Beherrschung. Da jedes Kind aus dem Verhalten der Eltern lernt und nicht aus ihren Worten, kann von einem solchen Geständnis nur Gutes erwartet werden. Das Geheimnis, mit dem das Kind allein war, wurde nun benannt und in die Beziehung eingebracht, die jetzt auf gegenseitigem Respekt beruhen kann und nicht auf autoritärer Machtausübung. Die bisher verschwiegenen Verletzungen können heilen, weil sie nicht länger im Unbewußten gelagert bleiben. 

Wenn so informierte Kinder später Eltern werden, laufen sie nicht mehr Gefahr, das manchmal sehr brutale oder perverse Verhalten ihrer Eltern zwanghaft zu wiederholen, sie werden nicht mehr durch die verdrängten Wunden dazu getrieben. Die Reue der Eltern hat die tragischen Geschichten gelöscht und sie ihrer gefährlichen Aktivität beraubt. Das von den Eltern geschlagene Kind hat aus dem Verhalten der Eltern Gewalt gelernt, das läßt sich kaum bestreiten, und jede Kindergärtnerin könnte dies bestätigen, wenn sie sich den freien Blick erlauben würde: Das zu Hause geschlagene Kind schlägt die schwächeren hier und in der Familie. Dort wird es dafür bestraft, daß es den kleinen Bruder schlägt, und es begreift die Welt nicht mehr. Ist es nicht das, was es von den Eltern gelernt hat? So entsteht sehr früh eine Verwirrung, die sich als »Störung« manifestiert, und das Kind wird in die Therapie gebracht.

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Aber an die Wurzeln dieser Störung wagt sich niemand, obwohl dies doch so naheliegend wäre. Die Spieltherapie bei einfühlsamen Therapeuten kann zwar dem Kind helfen, sich auszudrücken und Vertrauen in einem geschützten, konstanten Raum zu entwickeln. Aber da der Therapeut über die ersten erfahrenen Wunden schweigt, bleibt das Kind mit seiner Erfahrung gewöhnlich allein. Auch die begabtesten Therapeuten können diese Isolierung nicht aufheben, wenn sie, um den Schutz der Eltern bemüht, zögern, die Verletzungen der ersten Jahre in ihre Überlegungen mit einzubeziehen. Doch nicht sie sollten sie zur Sprache bringen, weil das verängstigte Kind sofort die Strafe der Eltern erwarten würde. Der Therapeut muß nur mit den Eltern des Kindes arbeiten und ihnen erklären, weshalb solche Gespräche für sie selbst und für das Kind befreiend sein könnten.

Sicher werden nicht alle Eltern auf diesen Vorschlag eingehen, auch wenn er ihnen von Therapeuten empfohlen wird. Manche mögen diese Idee verspotten und meinen, der Therapeut sei naiv und wisse nicht, wie verschlagen Kinder sein können und daß sie die Gutmütigkeit der Eltern sicher werden ausnützen wollen. Über solche Reaktionen muß man sich nicht wundern, denn die meisten Eltern sehen ihre eigenen Eltern in den eigenen Kindern und haben Angst, einen Fehler einzugestehen, wenn ihnen früher schwere Strafen für jeden Fehler gedroht haben. Sie klammern sich krampfhaft an die Maske der Fehlerlosigkeit und mögen unbelehrbar sein. Aber ich nehme gerne an, daß nicht alle Eltern unbelehrbar und Besserwisser sind. 

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Ich denke, daß es trotz dieser Angst viele Eltern geben wird, die gerne auf das Machtspiel verzichten würden, die seit langem ihren Kindern helfen wollten, aber bisher nicht wußten wie, weil sie die Offenheit fürchteten. Diese Eltern werden sich vermutlich zu einem ehrlichen Gespräch über das »Geheimnis« leichter durchringen und aus der Reaktion des Kindes selber erfahren dürfen, welche positive Wirkung die Offenlegung der Wahrheit hat. Sie werden nun selber feststellen, wie nutzlos die von oben autoritär gepredigten Werte sind im Vergleich mit einem ehrlichen Eingeständnis der Fehler, das dem Erwachsenen erst die echte Autorität, weil Glaubwürdigkeit verleiht. 

Selbstverständlich braucht jedes Kind eine solche Autorität, um sich in der Welt zu orientieren. Ein Kind, dem die Wahrheit gesagt und das nicht zur Tolerierung von Lügen und Grausamkeiten erzogen wurde, kann sich so frei entfalten wie eine Pflanze, deren Wurzeln nicht von Schädlingen (den Lügen) angefressen werden. Ich habe diese Idee unter Freunden zu testen versucht, habe Eltern aber auch Kinder gefragt, was sie dazu meinen. Sehr häufig stellte ich fest, daß ich mißverstanden wurde, daß meine Zuhörer annahmen, es würde sich um eine Entschuldigung seitens der Eltern handeln. Die Kinder erwiderten, man müsse doch den Eltern verzeihen können usw. Doch meine Idee ist weit davon entfernt. Wenn die Eltern sich entschuldigen, können die Kinder das Gefühl bekommen, es werde von ihnen Vergebung erwartet, um die Eltern zu entlasten, sie von den Schuldgefühlen zu befreien.

Doch darum geht es hier nicht. Was mir vorschwebt, ist eine Information, die das körperliche Wissen des Kindes bestätigt und dessen Erleben in den Mittelpunkt stellt. Der Fokus liegt beim Kind, bei seinen Gefühlen und legitimen Bedürfnissen.

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Wenn das Kind merkt, daß die Eltern sich dafür interessieren,, wie es ihre Übergriffe empfunden hat, erlebt es eine große Entlastung und auch eine Art von Gerechtigkeit. Da geht es nicht um Vergeben, sondern um das Ausräumen von Geheimnissen, die trennen. Es geht um den Aufbau einer neuen Beziehung, die auf gegenseitigem Vertrauen beruht, und um die Aufhebung der Isolierung, in der sich das geschlagene Kind bisher befand.

Wenn die Anerkennung der Verletzung seitens der Eltern stattgefunden hat, wird vieles möglich, das früher verbaut war und das einem spontanen Heilungsprozeß gleicht. Diese Leistung erwartet man eigentlich von Therapeuten, doch ohne die Hilfe der Eltern können sie sie nicht vollbringen. Wenn Eltern das Kind mit Empathie für seine Gefühle ansprechen und ihren Fehler ehrlich zugeben, ohne zu sagen: »Du hast uns mit deinem Verhalten dazu getrieben«, verändert sich vieles. 

Das Kind hat Vorbilder bekommen, an denen es sich orientieren kann; man versuchte nicht, Realitäten auszuweichen, man wollte es nicht »reparieren«, damit es den Eltern besser gefällt, man hat ihm gezeigt, daß die Wahrheit mit Worten benennbar und deren Heilkraft spürbar ist. Und vor allem: Es muß sich nicht mehr für die Verfehlungen der Eltern schuldig fühlen, wenn diese ihre Schuld gestanden haben. Auf solchen Schuldgefühlen beruhen nämlich gewöhnlich unzählige Depressionen der Erwachsenen. 

Kinder, die in solchen Gesprächen erlebt haben, daß ihre Verletzungen und ihre Gefühle von ihren Eltern ernst genommen wurden und daß ihre Würde respektiert wird, sind auch besser gegen die schädlichen Auswirkungen des Fernsehens geschützt als andere, die unbewußte,

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unterdrückte, auf ihre Eltern gerichtete Rachewünsche in sich tragen und sich daher mit gewalttätigen Szenen auf dem Bildschirm identifizieren. 

Mit Verboten, wie Politiker sie fordern, wird man sie schwerlich daran hindern, dieses Fernsehangebot zu »genießen«. Hingegen Kinder, die über ihre frühen Verletzungen informiert wurden, dürften sich kritischer brutale Filme anschauen oder rasch das Interesse daran verlieren. Sie mögen vielleicht sogar den abgespaltenen Sadismus der Filmemacher leichter durchschauen als manche Erwachsene, die vom Leiden des geschlagenen Kindes, das sie waren, nichts wissen wollen. Diese lassen sich eventuell von den Gewaltszenen faszinieren, ohne zu ahnen, daß sie dazu mißbraucht werden, emotionale Abfälle eines Lebens zu konsumieren, die der Filmemacher als »Kunst« anbietet und gut verkauft, solange er nicht weiß, daß es sich um seine eigene Geschichte handelt.

Das ist mir an einem Interview mit einem anerkannten amerikanischen Regisseur deutlich geworden, der gerne abscheuliche Monster und brutalen Sex mit Auspeitschungen in seinen Filmen zeigt. Er sagte, daß er erst dank der modernen Technik verständlich machen konnte, daß Liebe verschiedene Gesichter hätte und daß das Auspeitschen auch eine Form der Liebe sei. Er schien nicht die leiseste Ahnung davon zu haben und wird es womöglich bis an sein Ende nicht haben, wo, wann und von wem er diese verwirrende Philosophie als kleines Kind übernehmen mußte. Doch das, was er als seine Kunst versteht, verschafft ihm die Möglichkeit, seine Geschichte zu erzählen und sie doch vollständig aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Diese Blindheit hat natürlich schwere soziale Konsequenzen.

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Ein Gespräch mit den eigenen Kindern über die ihnen zugefügten Verletzungen gelingt wahrscheinlich am besten im Alter zwischen vier und zwölf Jahren, also noch vor der Pubertät. Vermutlich wird nach der Adoleszenz das Interesse für diese Thematik abnehmen. Die Abwehr gegen das Erinnern von frühem Leiden mag bereits zementiert sein, zumal die nun erwachsenen Kinder vor der Chance stehen, bald eigene Kinder zu bekommen und sich als Eltern in der Rolle der Starken zu erleben, ihre frühere Ohnmacht endgültig zu vergessen. Aber auch hier gibt es Ausnahmen, und im Leben der Erwachsenen gibt es zudem Zeiten, in denen trotz großer Erfolge in der Gegenwart eine körperliche Erkrankung sie zwingt, sich den Fragen nach ihrer Kindheit zu stellen. Fast alle Briefe, die ich in meiner Mailbox finde, erzählen ähnliche Geschichten: »Ich wurde nicht mißhandelt, aber doch sehr oft geschlagen und gequält. Trotzdem habe ich es geschafft, eine eigene Familie zu gründen, habe Kinder, einen guten Job usw. Erst jetzt leide ich an Depressionen, Schmerzen, Schlaflosigkeit und weiß nicht weshalb. Könnte es sein, daß dies mit meiner Kindheit etwas zu tun hat? Doch das liegt so weit zurück, und ich kann mich kaum noch an diese Zeit erinnern.«

Menschen, die sich solche Fragen stellen und nach Antworten suchen, entdecken nicht selten ihr wahres Selbst, ihre Geschichte des einst mißhandelten Kindes und dessen verleugnete Schmerzen. Sie fangen an, mit ihren echten Gefühlen zu leben, statt vor ihnen zu fliehen, und staunen manchmal über ihre auf diesem Weg erfahrene Befreiung. 

Sie geben dem Kind, das sie waren, das, was ihre Eltern ihnen nie geben konnten: die Erlaubnis, ihre Wahrheit zu kennen, mit ihr zu leben, zu ihr zu stehen und sie nicht länger zu fürchten. Da sie um ihre Wahrheit nun wissen, brauchen sie ihren Körper nicht mehr zu belügen oder zu betäuben, weder mit Hilfe von Drogen, Medikamenten, Alkohol noch mit schön klingenden Theorien. So sparen sie Energien, die sie früher in die Flucht vor sich selber investieren mußten.

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In der Folge befinden sich Texte, die ich in den letzten Jahren dem Thema der inneren Befreiung (durch erwachte Emotionen wie Angst, Zorn und Trauer) und den Fragen der Therapie gewidmet habe und die teilweise bereits auf meiner Webseite publiziert wurden.

Diese Texte wurden hier nicht nach ihrem Entstehungs­datum aufgeführt, sondern nach bestimmten Gesichtspunkten gruppiert, um den Lesenden eine bessere Orientierung zu ermöglichen. Sie bestehen aus Artikeln, Interviews und Antworten auf Leserbriefe und münden in einer Erzählung, die die Befreiung einer Mutter aus dem Gefängnis ihrer Kindheit und aus der Enge der gesellschaftlichen Konventionen schildert.

Da die Sammlung verschiedene Artikel enthält, die als unabhängige Einheiten und nicht als Teile eines Buches konzipiert wurden, muß dem Leser der Nachteil mancher Wiederholungen zugemutet werden, die sich nicht entfernen ließen, ohne den jeweiligen Zusammenhang innerhalb des Artikels zu gefährden. Im Kontext der vorliegenden Sammlung werden somit einige Aspekte mehrfach aufgegriffen. Dies war notwendig, um die innere Logik des jeweiligen Textes zu bewahren.

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