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Berliner 2013 |
Großer Respekt Als ich vor knapp zwei Wochen im Tagesspiegel von Martin Millers Buch erstmals gelesen hatte, war ich regelrecht geschockt. Die Erkenntnisse von Alice Miller haben mir in einer schwierigen Zeit enorm geholfen, mich selber besser zu verstehen. Eine psychologische Beraterin, der ich sehr viel verdanke, hat mir ihre Werke empfohlen. Insbesondere Alice Millers "Am Anfang war Erziehung" gehört für mich zu den wichtigsten Büchern, die ich überhaupt je gelesen habe. Um so verwirrter war ich, was ich in diesem Zeitungsartikel über die "reale" Alice Miller und das Leid ihres Sohnes erstmals erfahren habe. Mit durchaus gemischten Gefühlen habe ich mir daher Martin Millers Buch vorbestellt und nun gelesen. Nach dem erwähnten Zeitungsartikel empfand ich eine diffuse Sorge, dass ich bei Alice Miller quasi einer Art Täuschung aufgesessen bin. Aber Martin Miller rechnet in seinem Buch nicht mit Alice Miller und erst recht nicht ihrer Arbeit ab, sondern betont in seinem Buch vielmehr die Wichtigkeit ihrer Erkenntnisse. Aber er führt diese Erkenntnisse seiner Mutter quasi auch in entscheidenden Punkten weiter. Mit Weiterführen meine ich persönlich dabei vor allem, dass bei Alice Millers Werken vielfach eine massive Unversöhnlichkeit gegenüber Eltern erkennbar war. Es erschien mir manchmal so, als wäre nach Alice Miller das kompromisslose Einfühlen in das innere Kind nur um den Preis zu haben, dass man die Eltern kompromisslos ablehnt. Es ist sicherlich enorm wichtig ist, dass man das eigene Leid als Kind nicht nachträglich nivelliert, nur um sich um des lieben Friedens willen in Übereinstimmung mit dem Vierten Gebot mit den Eltern zu versöhnen. Aber ebenso wichtig - und das nehme ich aus Martin Millers Buch mit - ist, dass es nicht reicht, das innere Kind zu erkennen, zu bedauern und sich über das Verhalten der Eltern zu empören, sondern man muss dem eigenen inneren verletzten Kind schlussendlich hier und heute empathisch begegnen, damit man in der Gegenwart leben kann und nicht in der Vergangenheit bleibt. So kann man vielleicht auch (muss man aber nicht - das ist ganz individuell) einen echten Frieden mit seinen Eltern machen: nicht indem man ihnen zwanghaft verzeiht, sondern indem man emanzipiert Verantwortung für sein Leben in der Gegenwart und Zukunft zu übernehmen bereit ist. Martin Millers Mutter blieb tragischer Weise offenbar - anders als Martin Miller - trotz aller ihrer bahnbrechenden Erkenntnisse eine Gefangene ihrer Geschichte - ein Drama für Alice Miller, aber erst recht für Martin Miller. Martin Miller gebührt großer Respekt für sein Buch. |
In vielerlei Hinsicht empfehlenswert --- Enrica 2013 Jedem, der sich auch nur ansatzweise mit Alice Miller, ihren Erkenntnissen und Werken beschäftigt hat, kann das Buch von Martin Miller in vielerlei Hinsicht nur stärkstens empfohlen werden. Es hat viele Fragen beantwortet, die ich mir über den Menschen Alice Miller gestellt hatte – die meisten davon so, wie ich es vermutet hatte. Der Name Martin Miller als Autor und Sohn der berühmten Alice Miller macht schon allein neugierig auf sein Buch; auf seine Perspektive und weckt daher gewisse Erwartungen im Leser. Meine wurden bei Weitem übertroffen! Nicht nur, dass ihm die Gratwanderung gelungen ist, seine eigene, höchst tragische Geschichte als Sohn darzustellen, dessen Erleben seiner Mutter in krassem Gegensatz zu dem steht, was Alice Miller so vehement für alle Kinder gefordert hat- es ist ihm gelungen – so, wie er es vor hatte - in keinster Weise die wichtigen und bahnbrechenden Erkenntnisse von Alice Miller zu schmälern. Alice Millers Erkenntnisse waren sehr wichtig und ein Durchbruch auf dem Gebiet der Kindheitsforschung. Doch vor allem war sie ein “durchschnittlicher” Mensch, weder ein Übermensch noch ein Guru. Oft sehen Menschen gerade die Seiten an sich selbst nicht, die sie selbst nicht haben wollen oder gar verabscheuen. Auch wenn es “menschlich” ist, in dem Sinne, dass es viele Menschen “so” machen, oft verletzen sie damit gerade diejenigen, die um sie herum sind und machen sich damit quasi unmenschlich. Es ist keine Frage des Intellekts. So war es auch bei Alice Miller und so war es auch schon zu vermuten. Und somit ergänzt das Werk von Martin Miller m.E. die Werke von Alice Miller auf einzigartige Weise. Es gelingt Martin Miller außerdem - und das ist eine wichtige und zentrale Botschaft - den Leser für die Auswirkungen von Kriegstraumata zu sensibilisieren, und zwar nicht nur was die Traumatisierung derjenigen angeht, die Kriegsereignisse als Teilnehmer, Frauen, Alte oder Kinder erlebt haben, sondern weit darüber hinaus die massiven Auswirkungen auf die zweite, dritte und folgende Generationen – ein vielschichtiges Thema, dem hierzulande noch viel zu wenig Bedeutung beigemessen wird. Sicher werden einge Leser hierdurch angeregt, ihre eigene Geschichte zu reflektieren. Was meine Erwartungen allerdings noch stärker übertroffen hat, und zwar im negativen Sinn, ist die Art und Weise, mit der sich einige Rezensenten und Kommentatoren, offenbar Anhänger von Alice Miller, in ihren Kommentaren zum Buch von Martin Miller äußern. Die Respektlosigkeit gegenüber dem Autor ist teilweise beispiellos und verachtenswert! Leider erlebe ich es im deutschsprachigen Raum nicht zum ersten Mal, dass Personen, die ihre eigenen Erlebnisse, Erkenntnisse und Wahrnehmungen zum Ausdruck bringen, derart rabiat, fast vernichtend und jenseits des gebotenen Respekts begegnet wird. Ich halte es für erschreckend und für ein Armutszeugnis, dass es offenbar selbst dann nicht selbstverständlich ist, eine abweichende Meinung auf respektvolle Art und Weise zu äußern, wenn es um die Themen Beziehung und Trauma geht! Vielen Dank an Herrn Miller für seinen Mut, dieses erhellende Buch zu schreiben und zu veröffentlichen. |
Beantwortete Fragen -- Michael Bender 2013
Ich habe mir das Buch sofort gekauft als ich von der Veröffentlichung erfuhr. Hier beantwortet Martin Miller eine Frage, die ich mir bei der Lektüre der Bücher von Alice Miller gestellt habe. Sie stellte in ihren Büchern da, wie verdrängte Missbrauchstraumata sich in der Gegenwart zwangswiederholen wenn sie nicht aufgearbeitet wurden. Mir machte sie klar, unter dieser Voraussetzung ist das Erwachsen-sein nur eine potenzierte Rekonstruktion der eigenen Kindheit. Dabei stellte ich mir zwangsläufig die Frage, was ihre eigene Geschichte ist. Zumal sie in ihren eigenen Veröffentlichungen selbst eine Schweigemauer vor ihr eigenes Schicksal gebaut hatte.
Auch mich hat das Buch zunächst irritiert, da Alice Miller offenbar niemals ihre eigene Theorie auf ihr Leben anwenden konnte. Menschen, die gegenteilig zu ihrem Reden handeln, halte ich für gewöhnlich für Heuchler. Ich war bestürzt über Martins Erfahrungen mit seiner Mutter, überrascht hat es mich jedoch nicht. Dass sie in die Psychoanalyse ging, war wahrscheinlich auch ihrer speziellen und eigenen Kriegserlebnissen geschuldet und hat eben auf diese Weise einen Ausdruck gefunden wie die mitunter genialen Künstler die sie analysierte. Paradoxerweise agierte sie selbst aus und reihte sich letztlich unter die Täter ein, die ihre eigenen Kinder als Projektionsfläche missbrauchten.
Martin Miller war für mich eine Pflichtlektüre. Sein Einblick in die Vergangenheit seiner Mutter und die Übertragung auf ihr späteres Leben als Mutter und Autorin hat meine Frage beantwortet und mich auch tief schockiert. Martin Miller spielt weder das verletzende und tragische Verhältnis zu seiner Mutter herunter, noch rächt er sich mit diesem Buch an seiner Mutter. Weder idealisiert er, noch wertet er ab.
Letztendlich zweifle ich nicht an der Wirkung der Bücher von Alice Miller. Die positive und befreiende Wirkung habe ich an eigener Haut erfahren und das konnte, so denke ich jedenfalls, auch nur durch Millers absolute Radikalität geschehen. Auch Martin Miller bestätigt dies, jedoch sieht er die Arbeit seiner Mutter nur als eine (notwendige) Stufe einer mehrstufigen therapeutischen Behandlung.
Fünf Sterne habe ich gegeben, weil Martin Miller mir mit diesem Buch einen persönlichen Abschluss gegeben hat, den Alice in ihren Bücher offen ließ, und dabei ähnlich intelligent und einfühlend argumentierte und recherchierte wie seine Mutter.
Sesterheim 2015 |
"Das wahre 'Drama des begabten Kindes'"
Es gibt Bücher, aus deren Lektüre kommt der Leser mit einem anderen Menschenbild heraus, er sieht sich selbst und die Mitmenschen aus einer neuen Perspektive. Bücher, die dieses Potential in sich bergen, sind die von Alice Miller. Drei Jahre nach ihrem Tod hat nun ihr Sohn Martin eine Biographie seiner Mutter herausgebracht, die einen intimen, anerkennend-verstehend-kritischen Blick hinter das von ihr so sorgfältig gehütete Geheimnis ihrer Familie und tragischen Wechselschläge ihres Lebens schenkt. So ist es erstaunlich zu erfahren, daß Alice Miller, die zwar die Rolle ihrer behinderten Tochter für die Entwicklung ihrer Einsichten erwähnte, ihren Sohn hinter einer „Schweigemauer“ versteckte. Dies ist umso befremdlicher, als Martin beim Entstehen ihrer ersten drei Werke, mit denen sie weltweit bekannt wurde, durch intensive Diskussionen eine Art Geburtshelferrolle gespielt hat. Für Martin Miller war diese Phase die einzige kurze Blütezeit intensiver Beziehung zu seiner Mutter. „Für einige Jahre hatten wir tatsächlich Frieden.“ Ein weiteres wichtiges Verdienst erwarb der Sohn sich bei der Entlarvung und Überführung eines Gurus und Scharlatans, dem Alice Miller blind aufgesessen war und der die Reputation ihres Lebenswerks gefährdete und gar Martin und weitere Patienten an den Rand des Suizids trieb. Alice Miller kam nie so weit, ihrem Sohn dafür dankbar zu sein – im Gegenteil – das wovor sie uns in ihren Büchern so drastisch warnt – die eigenen Traumata an Schwächere, insbesondere an Kinder, weiterzugeben – davon befreite sie sich in ihrer Beziehung zu ihrem ältesten Kind bis zum Lebensende nicht: „Die größte Angst meiner Mutter während des Krieges bestand darin, entdeckt, enttarnt zu werden. Genau in diese emotionale Befindlichkeit traf ich, als ich sie mit der Wahrheit über Stettbacher konfrontierte. Ich enttarnte sie ... und ich wurde ein Verfolger.“ Dieses Buch ist allen an Menschlichkeit Interessierten ans Herz zu legen und liest sich gleichzeitig wie ein vielschichtiger Tatsachen-Thriller, in welchem es dem Opfer (Martin) gelingt, einer ganzen Verschwörung von Tätern – Mutter Alice, Vater und dem Guru der Mutter, – auf die Schliche zu kommen, sich vom Gebot „Du sollst nicht merken“ zu befreien und sie ihrer Machenschaften zu überführen. Der misshandelte Sohn der „Anwältin der Rechte des Kindes“ erkennt dabei ihre Verdienste um die Antipädagogik ungeschmälert an, legt aber gleichzeitig ihre massiven Lebenslügen, ihre Widersprüche zwischen Theorie und Praxis in der Behandlung ihrer beiden eigenen Kinder offen. Trotz ihrer Erkenntnis- und Entwicklungsschritte, die sie in ihren Büchern (und Martin Miller in seinem) offenbart, malte auch sie in ihrem Jahrzehnte dauernden Krieg gegen Martin „Bilder einer Kindheit“ und verletzte damit dessen Seele aufs schwerste. So wie Alice Miller Pionierarbeit geleistet hat, hat auch ihr Sohn eine weitere Tür zu mehr Klarheit und weiterer Forschungs- und Praxisarbeit aufgestoßen. Es lohnt sich zur besseren Verarbeitung, die Biographie selbst gründlich zu durchforsten wie auch in einige der Rezensionen, beispielsweise bei Amazon, hineinzuschauen. Denn der Neuigkeitswert der Fakten kann zunächst verwirren: Wer von ihren Lesern hatte auch nur die geringste Ahnung davon, daß Alice Miller, die sich doch so sensibel in die Kindheit Hitlers – und damit in die der meisten Deutschen der Kriegs- wie auch der Adenauergeneration eingefühlt hatte – von ihrer Abstammung her Jüdin war und seit dem Überfall unserer Naziväter oder –großväter auf Polen für fünf Jahre unter ständiger Lebensgefahr stand? Wer hatte Ahnung davon, daß neben vielen ihrer Freunde und Verwandten die „wundersame, interessante … Welt“ ihrer Kindheit und Jugend „durch den Zweiten Weltkrieg und die Verfolgung der Juden … brutal vernichtet wurde(n).“? Dennoch: Das was Alice Miller primär geprägt hat, lag vor 1939. Wie übermächtig auch immer der Naziterror auf ihr gelastet hat – nichts kann einen Menschen so verstören wie die Erziehungsjahre im Elternhaus. „Am Anfang war Erziehung“! Das machen Martin Millers Enthüllungen über das tragische Unvermögen seiner Mutter, ihre Kindheits- und Kriegstraumata aufzulösen, nur um so deutlicher. Er nimmt seine Leser mit auf seine Expedition in vier Generationen Familien- und Zeitgeschichte und vermittelt ihnen einen einmaligen Einblick in die komplexe Entstehung von Alice Millers Ideen- und Bücherwelten. Wenn durch die Enthüllungen ihres Sohnes Alice Miller als Heilige vom Sockel gestoßen wird, so tritt dadurch ihr menschliches Anliegen umso klarer hervor – nämlich, daß wir als Leser zur eigenen wie zur Heilung der Menschheit ihre Thesen von der Heiligkeit des Kindes in die Praxis umsetzen.
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Theodor Breit a2014
Die wahre Alice Miller und die Fassade, die sie von sich selbst verkaufte. Zwei Gegensätze, die niemals zusammengepasst haben
Betreffen
Alice Millers Darlegungen über Missbrauch und den Unwert von Erziehung die
gesamte Gesellschaft, oder hatte Alice Miller nur ihre höchstpersönliche
Geschichte thematisiert - und projizierte die eigenen Erfahrungen auf alle
Kinder dieser Welt.
Martin Millers Buch liefert meines Erachtens einen wichtigen Beitrag, diese bis
heute nicht eindeutig geklärte Frage zu beantworten.
In einem Wertesystem, in dem Individualität und Eigen-Verantwortung keinerlei Bedeutung haben, erfolgt die Identitätsbildung der Kinder mittels bedingungsloser Unterwerfung unter Gebote, Werte und Normen. Da das kindliche Selbst innerhalb fundamentalistisch geprägter Familienstrukturen keine Resonanz oder Spiegelung erfährt und es als eigenständiges Wesen quasi nicht-existent ist, muss das Kind diesen unerträglichen Schmerz des Nicht-Wahrgenommen-werdens abspalten und aus dem Bewusstsein verbannen. Dies geschieht, indem der emotionale Kontakt zur >Außenwelt< und damit auch der zur Quelle des Schmerzes abgebrochen wird.
In der daraus entstehenden Selbst-Isolation erlebt das Kind den Kontakt zu den Eltern und auch zu anderen Menschen fortan als eine Weitergabe ideologischer Werte und Dogmen - und es glaubt, dass diese Art Verhältnis zu anderen Menschen die einzige Form ist, wie Menschen in Verbindung zueinander treten können. Das gefühlsmäßige, bindungsorientierte und individualitätsbezogene Reagieren aufeinander, das in gegenseitiger Resonanz zueinander stehen ist eine Erlebniswelt, zu der der selbst-isolierte Mensch keinen Zugang (mehr) hat.
Alice Miller hat in ihren Texten diese Problematik niemals thematisiert, weil sie ihr zentrales Trauma (das Fehlen von individuellen Bindungen und von elterlicher Resonanz) nie wirklich als persönliches Trauma begriffen hat. Und doch ist dieses Trauma um ein Vielfaches schmerzhafter und für die Entwicklung der Seele bedeutsamer als all die Grenzüberschreitungen der Eltern, die Alice Miller in ihren Büchern thematisiert hat.
Es zeigt sich auch immer wieder, dass Kinder, die extrem misshandelt und missbraucht werden, weitaus mehr den Verlust der Bindungen zu den Eltern (auch wenn es sich um inzestuöse Bindungen handelt) befürchten als die Gewalt und Abwertung, die von diesen ausgehen. Weil Bindungsverlust eine weitaus größere Last und Schmerz darstellen.
Anstatt dass
Alice Miller daran arbeitete, den Kontakt zu ihren Mitmenschen zum Besseren zu
verändern und ihn unmittelbarer zu gestalten, beobachtete sie die Welt durch die
Brille des Außenstehenden. Sie verbrachte ihr ganzes Leben mit dem emotionslosen
Analysieren und Bewerten anderer, so als wäre sie selbst kein Teil dieser Welt.
Überdies vergeudete sie ihr Leben damit, ein TOTES Denkmal ihrer Grandiosität zu
erschaffen, welches dann von Hunderttausenden ihrer Anhänger verehrt wurde -
einem Denkmal, das zeigt auch Martin Miller's Buch, welches mit der Wirklichkeit
nie das Geringste zu tun gehabt hat.
Anhand dieses Vorverständnisses lässt sich der wesentliche Unterschied zwischen
den Werken einer Alice Miller und dem vorliegenden Buch ihres Sohnes festmachen.
Während Alice Miller ihre eigene Selbstisolation (Beziehungslosigkeit zur Welt)
nie hinterfragte, sondern sich auf dieser Basis vielmehr eine eigene Ideologie
zusammenzimmerte, macht Martin die empfundene Isolation in der Familie und die
Beziehungsunfähigkeit, die von seiner Mutter ausging, zu einem zentralen Punkt
seiner Betrachtungen.
Während sie wie ein nicht zugehöriger Gott die >Sünden< der Menschen
verurteilte, verzichtet Martin Miller weitgehend auf objektive Wertungen über
die Person Alice Miller, sondern unterzieht die Beziehungsverhältnisse - seine
Mutter zu ihm, seine Mutter zu ihren Eltern, die Ehe seiner Eltern - einer
kritischen Betrachtung. Er verzichtet dabei weitgehend auf klassische und starre
Opfer-Täter-Rollenzuweisungen.
Und damit ist er der >Lösung seelischer Probleme< weitaus näher als es Alice
Miller jemals gewesen sein konnte. Weil sich innerhalb einer Haltung, die die
eigene Selbst-Isolation nicht hinterfragt, niemals >Heilung< vollziehen kann.
Sondern nur dadurch, dass man daran arbeitet, die Beziehungsstrukturen zu
anderen Menschen realitätsnäher und authentischer zu gestalten. Allein dieser
Weg lässt Blockaden aus der Kindheit sichtbar werden und spült vormals
verdrängte ECHTE Gefühle ans Tageslicht.
Ein wichtiges Element im Buch bilden die Recherchen zu Alice Millers
Familiengeschichte. Martin Miller nahm hierzu Kontakt zu 2 Cousinen seiner
Mutter auf. Er erfuhr von einer Großfamilie mit vielfältigen Schattierungen von
liberal über unangepasst bis zu streng orthodox.
Alice Miller war in ihrer Kindheit, im Gegensatz zu Schwester und Cousinen, ein
in sich zurückgezogener Mensch mit nur wenig sozialen Kontakten und keinen
wirklichen Freundschaften. Sie war ein Eigenbrötler, der es allerdings verstand,
gegenüber den schwachen und wenig selbstbewussten Eltern stets ihren Willen
durchzusetzen.
Alice Millers Ursprungs-Familie war dem streng-orthodoxen Umfeld zuzuordnen. Vor
allem ihr Vater Meylech war fromm, folgsam und unterwürfig. Die Ehe von Alice
Millers Eltern war von Meylechs Vater vorgeschrieben worden und eine reine
Zweckheirat. Martin Miller schreibt dazu in seinem Buch: >Beide, Meylech und
Gutta, hatten keine emotionale Beziehung zueinander. Sie blieben sich fremd. Es
war eben eine arrangierte, verordnete Beziehung, die für beide im Grunde eine
Qual war.<
Meines Erachtens ist die Mischung, dass das Kind Alice ein repressiv-orthodoxes
Elternhaus erlebte, und dass sie sich insbesondere einem schwachen und unreifen
Vater gegenüber maßlos überlegen gefühlt haben muss, der Schlüssel zu ihrer
späteren kruden Welterlösungs-Theorie.
Alice Miller übertrug die kindliche Erfahrung, einerseits die Verlogenheit
fundamentalistischer Wertesysteme durchschauen zu können, auf der anderen Seite
dazu fähig zu sein, dem kraftlosen und passiven Vater, der diese verlogenen
Normen und Regeln vertrat, ihren Willen aufzwingen zu können, später auf die
gesamte gesellschaftliche Situation.
Repressive Strukturen sind im normalen Leben in der Regel aber nicht schwach und
nachgiebig sondern >stark<, autoritär und dominant. Gegenüber einer
gewaltbereiten Repression hatte Alice Miller wohlbemerkt nie ein Rezept parat,
außer dem des Solidarisierens und des Totschweigens.
Unterdrückende Strukturen sind nur selten so labil und schwach, wie es Alice
Millers Vater gewesen ist. Sich gegen diesen schwachen Vater aufzulehnen und
gegen die Unsinnigkeit seiner (religiösen) Regeln zu rebellieren, ist sicherlich
keine außerordentliche und mutige Leistung gewesen. Tatsächlich hat sich Alice
Miller in ihrem Leben mit Machtstrukturen stets identifiziert und solidarisiert.
Das belegen viele Beispiele aus Alice Millers Lebensgeschichte. Der Fokus ihrer
später entwickelten Kritik richtete sich alleinig gegen die Eltern, die ja
heute, da wir selbst erwachsen sind, keine unmittelbare und reale Macht mehr
darstellen.
Martin Miller beschreibt, dass die Ehe zwischen Alice Miller und ihrem Mann
Andreas auch nicht viel mehr als eine Art Zweckheirat gewesen ist. Während der
spätere Ehemann ihr >hinterher gerannt< ist, brachte sie ihm Ablehnung und
Verachtung entgegen, Die Beschreibungen lassen auf jeden Fall eine höchst
neurotische, infantile und symbiotische Paar-Kollusion vermuten. Alice Miller,
der von ihren Eltern kein Rüstzeug mitgegeben worden ist, anhand dessen sie
Partnerschaft, Freundschaft und emotionale Bindung hätte erlernen können, hat
die Ehe mit ihrer egozentrischen und rein objektorientierten Haltung sicherlich
nicht gerade in eine positive Richtung gelenkt.
Ihre Erfahrung mit einem schwachen und passiven Vater, dem sie sich weit
überlegen gefühlt hat, der emotional für sie aber nie erreichbar gewesen ist,
bestimmte ihre spätere beziehungsgestörte Haltung zu Männern. Ihre
männerfeindliche Einstellung wird auch durch ihr archaisches und
zurückgebliebenes Frauenbild dokumentiert. So sah sie den Sinn des Lebens und
insbesondere dem des Frauseins einzig in der Aufgabe der Kindererziehung.
Als Alice Miller in den 70er Jahren mit den progressiven Thesen der
humanistischen Psychologie konfrontiert wurde, muss ihr klar geworden sein, dass
sie in ihrer zentralen Lebenskompetenz, der Kindererziehung, kläglich versagt
hatte. Ihr weiteres Leben war geprägt von dem Bemühen, sich dieser in ihren
Augen gewaltigen Schuld wieder entledigen zu können. Die intellektuelle
Fixierung auf dieses Thema und die Veröffentlichung ihrer Bücher waren ein
Mittel, um damit quasi den Makel des eigenen Versagens tilgen zu können. Doch
eine wirkliche Motivation, die eigenen destruktiven Einstellungen zu
hinterfragen und an einer Inneren Veränderung zu arbeiten, ist bei Alice Miller
niemals vorhanden gewesen. Ihre spätere Ideologie zielte einzig darauf ab,
Schuld und Verantwortung für die eigenen Sünden auf Sündenböcke und Feindbilder
umzulenken. Zu diesem Zweck hat sie die angelesenen humanistischen und
traumatherapeutischen Erkenntnisse uminterpretiert und letztendlich bis zur
Unkenntlichkeit trivialisiert.
Den Kern des Buches bilden meines Erachtens die drei Briefe (1987/1998/2010),
die Alice Miller an ihren Sohn geschrieben hat. Sie sind selbsterklärend und
entlarven Alice Miller als eine Heuchlerin, die sich selbst als liebende Person
inszenierte, während sie gleichzeitig mit perfiden Manipulationen den Willen und
die Selbstliebe (Selbst-Akzeptanz) ihres Sohnes zu brechen versucht. Sie zeigen
unmissverständlich auf, dass es zwischen dem Ich-Ideal, dass Alice Miller von
sich so überzeugend zu verkaufen verstanden hat und dem Handelnden Menschen
Alice Miller keinerlei Übereinstimmung gab. Dass diese Frau nur aus Fassade
bestand, und dass Alice Miller wahrscheinlich selbst diese glamouröse Fassade
(Anwalt und Retter aller Kinder - und auch der traumatisierten Menschen dieser
Welt) irrtümlich für die Realität gehalten hat.
Wahrheit ist, dass es nicht bekannt ist, dass sich Alice Miller in irgendeiner
Weise bei Kinderrechts- oder Kinderschutz-Organisationen aktiv beteiligt hätte.
Wahrscheinlich hat sie nicht einmal Geld dafür gespendet. Ihr Therapie-Konzept
existierte einzig in der Theorie. Es gibt keinerlei Studien, die eine
Wirksamkeit nachgewiesen hätten. Und natürlich konnte sie auch keine Therapeuten
benennen, die ihre Thesen erfolgreich in die Praxis hätten umsetzen können.
Es ist faszinierend, in den Rezensionen und Kommentaren zu diesem Buch nun zu beobachten, wie schnell die Anhänger einer Alice Miller nach dem ersten Schock wieder zur Tagesordnung übergehen, frei nach dem Motto, Alice Miller hatte in allem Recht, sie hat sich - aus unterschiedlichen Gründen - leider selbst nicht an die Maßgaben ihrer Ideologie gehalten. Und schon sehen sich ihre Anhänger auch für die Zukunft legitimiert, in ihrer Selbstisolation zu verharren, und mit ihren verkopften Idealen eine friedliche und gewaltlose Welt herbeizuphantasieren. Ohne sich in irgendeiner Weise gefordert zu sehen, die eigenen Fehler zu reflektieren und in der Realität an einer gerechteren, ehrlicheren und wahrhaftigeren Welt konkret mitarbeiten zu müssen.
Ihre humanistischen Botschaften hat Alice Miller aus Büchern von Heinz Kohut,
Donald W. Winnicott,und John Bowlby entliehen. Die darin vorkommenden
Themengebiete wie Echte Gefühle, Empathie, Wahres Selbst, Überwindung der
Selbstentfremdung etc. haben jedoch ihr reales Vorstellungsvermögen und ihren
beschränkten Horizont bei weitem überstiegen.
Sie hat diese Thesen intellektuell für sich vereinnahmt und für ihre Bücher
instrumentalisiert, gleichzeitig daraus infantil abstruse Schlussfolgerungen
abgeleitet. Die mitfühlenden und menschenfreundlichen Sichtweisen, die sie von
diesen Autoren übernommen aber nicht verstanden hatte, waren das Zugpferd, die
Alice Millers Bücher ihren humanistischen Touch und eine scheinbar
aufklärerische Botschaft verliehen.
In ihrer Selbstisolation gefangen, vertrat Alice Miller in Wirklichkeit eine
neoliberale Haltung, die von solchen Werten wie Dominanz, Allmacht und Kontrolle
geprägt war. Sie sah die Einschränkung ihres uneingeschränkten Willens und des
um jeden Preis Erfolg haben wollens als das größte Drama in ihrer
Lebensgeschichte an, nicht den des Verlusts ihrer menschlichen und sozialen
Kompetenzen.
Obwohl sie ein Leben lang die humanistischen Gedanken eines Kohut, Winnicott und
Bowly in ihren Ausführungen und Büchern reproduzierte, hat sie in ihrem
konkreten Leben das genaue Gegenteil gesucht und angestrebt. Sie hat die Abwehr
von Gefühlen (Schmerz) zu ihrer obersten Religion erkoren. Viele Beispiele in
Martin Millers Buch dokumentieren dies!
Alice Miller war ein Mensch, der rein erfolgsorientiert dachte und sich
zugunsten einer glamourösen und grandiosen Fassade einem authentischen Leben
verweigerte. Ihr Leben blieb ungelebt. Den Schmerzen, die sie in die
Selbst-Isolation geführt hatte, hat sie sich nie gestellt. Bezeichnend ist, dass
Alice Miller den Schrecken und Terror der Nazizeit (Krieg und Verfolgung)
gegenüber ihrem Sohn - und wohl auch anderen Menschen gegenüber - fast
vollständig totgeschwiegen hat.
Tanzen, Malen und Schreiben mögen sicherlich eine entlastende Wirkung auf die
Seele des Menschen haben. Aber sie sind ganz bestimmt kein wirksames Mittel, um
aus der Selbstisolation ausbrechen und Entwicklung, Reife und Erwachsenwerden
nachholen zu können. Andere Menschen emotional an sich heran zu lassen und
Vertrauen aufzubauen (Nähe), lernt man auf diesem Weg nicht. Insofern sehe ich
Alice Millers therapeutischen Ansatz als intellektuelles Hirngespinst an. Alice
Miller hat die letzten zwei Generationen eher dazu motiviert, Kindheits-Traumata
zu verdrängen anstatt sich diesen alten Schmerzen gefühlsmäßig zu stellen und
konkrete Aufarbeitung zu leisten. Das belegen auch die meisten Reaktionen auf
Martin Millers Buch. Niemand, der sich seiner Kindheits-Geschichte gestellt hat,
wird Täter (wie Alice Miller einer war) in irgendeiner Weise idealisieren,
verharmlosen oder verteidigen. Vor allem wird er niemals die Opfer dieser Täter
diskreditieren und verunglimpfen!
Fundamentalismus ist Lüge! >Unverfälschte< Menschen definieren sich nicht über
Ideale, Ideologien oder Normen, sondern über Emotionen, Gefühle und soziale
Bindungen. Alice Miller war zwar in der Lage, die Lügenwelt des Fundamentalismus
bis ins feinste Detail zu durchschauen und zu entlarven. Dass sie selbst auch
ein Bestandteil dieser Lügenwelt und heillos im eigenen Lügengestrüpp verfangen
war, wollte sie aber niemals wahrhaben. Insofern kann ihre gesamte Ideologie
auch als nutzlos und wertlos betrachtet werden. Weil niemanden ist damit
geholfen, wenn er die Fehler beim anderen (Bs. Eltern) glasklar erkennt,
gleichzeitig aber eigene prinzipiell verleugnet. Alice Millers Ideologie ist
nichts anderes als eine Art archaischer Religion, die solche Grundprinzipien wie
Individualität und Verantwortung zu verleugnen versucht, und die mit dieser
Haltung genau die negativen Gesellschaftsstrukturen erschafft, die sie
gleichzeitig so vehement anprangert!
Für mich wurde diese verdrängte Problematik besonders deutlich, als Martin
Miller in der Sendung Nachtcafe (August 2014 SWR) auf diesen Aspekt der
Beziehung zu seiner Mutter aufmerksam zu machen suchte, nämlich dass Alice
Miller in der Welt der Lüge gefangen war und es ihm deswegen auch unmöglich ist,
ihr konkret vergeben zu können.
Einem Fehler bzw. einem Sünder kann man verzeihen. Aber wie soll man dem
Machtanspruch, keinen Fehler begangen zu haben, Vergebung zuteilwerden lassen?
Dem Prinzip Macht kann man nicht verzeihen, man kann sich Macht allenfalls
gehorsam unterordnen. Es gibt nicht wenige, die diese Unterwerfung unter die
Macht allzu gerne als praktizierte Vergebung/Verzeihung hinzustellen versuchen.
Sich hierarchischen Strukturen willenlos zu fügen hat aber mit echter Vergebung
nicht das Geringste zu tun!
Die Talk-Runde, und das ist meines Erachtens auch ein Sinnbild einer weit
verbreiteten gesellschaftlichen Einstellung, hat diese von Martin Miller
vorgetragene Problematik abgeblockt. Unauflösliche Konflikte passen nicht in
unsere Friede-Freude-Eierkuchenwelt.
Wenn sich Probleme in der Realität als unlösbar erweisen, dann erschaffen wir
uns eben in der Phantasie eine auf Pseudo-Lösungen aufgebaute Schein-Welt des
>Inneren Friedens<.
Genauso aber leben wir in der Illusion, dass mit Kommunikation, Verständnis und
Kompromiss wirklich alle Probleme aus der Welt geschafft werden könnten. >Lüge<
stellt aber eine konkrete gewaltausübende und unterdrückende Macht dar, der wir
im Grunde machtlos gegenüberstehen. Dass wir heute die Problematik der
allgegenwärtigen Machtlosigkeit innerhalb der Gesellschaft allzu gerne einfach
ausblenden und totschweigen, zu dieser Verdrängung haben die
Alice-Miller-Ideologien maßgeblich beigetragen.
Der von anderen aufgeführte Kritikpunkt, Martin Miller versuche mit der
Thematisierung von Kriegstraumata von der Bedeutung frühkindlicher
Traumatisierungen abzulenken, ist schlichtweg falsch. Er hat sich in dem Buch
auf das spezielle Thema Kriegstraumata fokussiert, weil er dessen Verdrängungen
in der konkreten Beziehung zu seiner Mutter eine besondere Relevanz zumisst. Mit
keinem einzigen Satz negiert er die Realität frühkindlicher Traumata.
Das Buch beantwortet sicherlich nicht alle Fragen über Alice Miller. Mir
zumindest hat es weitere wichtige Puzzlesteine geliefert, warum Alice Millers
Lebensweg so dermaßen fehlgeschlagen ist und warum ihre Ambition, sich als
Anwalt missbrauchter Kinder zu sehen, eine Ausgeburt ihrer Phantasie war, und
nicht mehr darstellte als die Projektion eines eigenen verschrobenen
Selbstmitleids auf alle Kinder dieser Welt.
#
A. Zanker
Did she walk her Talk?
Oktober 2013
Im Englischen gibt es den Ausdruck, "He walk his talk", gemeint ist damit, dass ein Mensch der redet, auch das lebt, was er von sich gibt, erzählt, schreibt usw. Wenn man das Buch von Martin Miller (*1950) liest, kommt man unweigerlich zu der Erkenntnis, Alice Miller (1923-2010) hat das nicht getan. Nach dem Motto, sie habe zwar gute Bücher geschrieben, konnte aber die Theorie in der eigenen Praxis, der eigenen Familie nicht umsetzen, was ihr Sohn ja hier gross und breit verkündet.
Und natürlich quotieren wir es, wenn das gelebt wird, was auch
"gepredigt" wird und umgekehrt: Erfahren wir im Nachhinein, wie hier, die hat ja
gar nicht das gelebt, was sie ihren Leser zu vermitteln versucht hat, sinkt
unweigerlich die Glaubhaftigkeit dieser Person. Insofern könnte man von einem
imageschädigendem Buch sprechen, auch wenn ihr Sohn Martin schreibt: "Die
Bedeutung ihres Werkes bleibt davon unberührt", und sein Buch gar als "Kritische
Würdigung" sieht. Was mir Mühe macht bei diesem Buch, wie wenig Martin Miller
eigentlich über seine Mutter weiss. Viel zu viel wird hier gedeutet und
interpretiert, das einem schlecht werden könnte, unabhängig davon, was man
bisher von Alice Miller gehalten hat. Die Cousinen der Mutter wissen mehr über
sie als der eigene Sohn (!), dort holt er sich seine Informationen über seine
Mutter, für dieses Buch. Müsste man Objektivität und Subjektivität gegenüber
stellen, bekomme ich zumindest das Gefühl hat, dass hier 70-80% des
Geschriebenen emotional eingefärbt ist, oder besser die Objektivität
grösstenteils auf der Strecke geblieben ist. Wie soll man einem Martin Miller
all das emotionale Geschwafel abnehmen, wenn man permanent das Gefühl hat,
dieser Mann steckt selbst mit seinen 63 Jahren, noch immer in einer emotionalen
Verstrickung, auch wenn Alice Miller schon seit 3 Jahren verstorben ist. Und
dass man bereits verstorbene Menschen für etwas das sie angeblich in ihrem Leben
getan haben, über ihren Tod hinaus anklagt, beschuldigt, vorwirft, kann man
bewerten wie man will, nur ich halte davon rein gar nichts. Und dass sich die
Leserschaft in 2 Gemeinden aufteilt, nämlich der Kritiker und der Befürworter,
ist mittlerweile auch nichts mehr Neues. Das vorliegende Buch ist über weite
Strecken eher eine Anklage eines Pubertierenden, aber nicht eines reifen
Therapeuten. Versöhnungsarbeit scheint in dieser Familie ein Fremdwort zu sein.
Was mir jedoch an diesem Buch gefallen hat, sind die etwa 30% an objektiv
Geschildertem, den Rest jedoch kann man aus meiner Sicht getrost in die Tonne
treten. Interessiert uns denn das Ausbreiten dieser lebenslangen Streitigkeit,
dessen verwickelte Darstellung eher langweilt und anödet? Und das Kinder
berühmter Persönlichkeiten, Schwierigkeiten mit der Bekanntheit eines
Elternteils haben, ist auch nichts Neues..
Wer erinnert sich nicht an ihre Bücher Anfang der achtziger Jahre: Das Drama des
begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst (1979), dann: Am Anfang war
Erziehung (1980) und schliesslich: Du sollst nicht merken: Variationen über das
Paradies-Thema (1981), (andere Bücher folgten). Es sollte der Auftakt einer
neuen Gesellschaftskritikerin sein, die den Missbrauch und die Gewalt an Kindern
anprangerte, den damaligen Nerv der Zeit traf. Ihre Bücher hatten den Charakter
des Authentischen, sie revolutionierte damals nicht nur die psychotherapeutische
Arbeitsweise, sondern setzte sich auch u.a. für die Entwicklung von Potentialen
ein, definierte und kritisierte die "schwarze Pädagogik". Ihr Fokus war die
Biographie-Arbeit, wo die Entwicklung des Kindes im Vordergrund bzw. die
Verhinderung stand. Elterliches Verhalten wurde von Alice Miller kritisch und
unaufhaltsam unter die Lupe genommen. Alice Miller war so etwas wie der Anwalt
der Kinder. Ihre Bücher machten so etwas wie Hoffnung, ich erinnere mich noch,
wie ich das Gefühl hatte ,wie sehr doch diese Frau ihrer Zeit und ihrem Wunsch
nach Selbstbestimmung doch voraus war. Durch nichts und niemand war sie
aufzuhalten, zumindest für mich jemand, der den Machtmissbrauch anprangerte,
oder gar Religion als elterliche Rechtfertigung nie wirklich zuliess. Während
mich Alice Miller immer wieder mit Hoffnung und Positivem aufrichtete, empfinde
ich das vorliegende Buch von Martin Miller, eher deprimierend, denn wir lesen
wie unfähig AM angeblich war, Kritik anzunehmen, wie aggressiv sie ihm gegenüber
angeblich war, wiederholend schildert er, wie besitzergreifend, hasserfüllt,
gefährlich und destruktiv angeblich seine Mutter war, die Liste ist lang. Lt.
Martin Miller schuf Alice Miller den Begriff des "Wissenden Zeugen", der die
Kraft findet, sich der eigenen Geschichte zu stellen, autonom zu werden, um
schliesslich die Interessen des Kindes auf Entwicklung und der veränderten Kraft
auf die Biographiearbeit zu legen. Für Alice Miller war es wichtig, seine eigene
Leidensgeschichte zu kennen sowie deren Verursacher. Weg von der
Fremdbestimmung, hin zur Selbstbestimmung. Sie stand für das Recht des Kindes,
das sich nicht wehren konnte, sein originales Selbst, wie MM schreibt, im
Schutze seiner liebevollen elterlichen Beziehung sich entwickeln zu können.
Obwohl MM auch über diesen Bereich schreibt, finde ich ihn viel zu wenig
hervorgehoben. Denn für MM war es wohl wichtiger, vor allem die Mutter als
Versagerin darzustellen, nur sie alleine scheint am schlechten Verhältnis schuld
zu sein, wie albern, wie erbärmlich. Wem das wirklich etwas bringt und wie viel
daran wahr ist, sei dahin gestellt...
Was ich jedoch interessant zu lesen fand, ist die geschichtliche Darstellung von
Alice Miller. Wir lesen von ihrer polnisch-jüdischen Herkunft, vom Getto in
Piotrkow / Polen, wo ein Teil auch ihrer Familie umgebracht wurde und sie das
nicht verhindern konnte. Die damals 16-Jährige hat den Einmarsch der Deutschen
mit ihren Bomben erlebt, sieht die Judenverfolgung, die eigene Notwendigkeit,
die jüdische Herkunft die lebensbedrohlich war, zu verleugnen - um nur irgendwie
überleben zu können. Ihr ursprünglicher Name: Alicija Englard. Über ihre
jüdische Abstammung schreibt sie: "..Ich hatte vor allem die grösste Angst vor
mir selber, nicht mehr nur vor der äusseren Bedrohung. Ich musste meine ganze
Biographie auslöschen. Ich musste mir immer wieder sagen, dass ich keine Jüdin
mehr sein darf, sondern, dass ich eine Polin bin. Ich musste meinen Namen
ändern, ich musste eine polnische Identität annehmen. Alles, was mich verraten
hätte, musste ich abspalten und vergessen. Ich musste mich verwandeln, ich
musste aus mir eine neue Person, eine falsche Identität konstruieren, um zu
überleben. Ich musste lernen, als diese neue Person mich richtig in der
Öffentlichkeit zu zeigen. Ich spürte, dass ich zwar lebte, aber irgendwie musste
ich mich umbringen, um zu überleben." Wie eindrücklich!! Ich werde also nur auf
Alice Miller eingehen, und die "biographische Darstellung" von MM auf der Seite
lassen, weil sie mich schlicht und einfach zu wenig interessiert. (Wäre sie
objektiver gehalten, wäre das sicher anders und hätte dem Buch eine andere
Richtung gegeben.
1949 kommt AM mit ihrem Mann in die Schweiz, eine Ehe die 24 Jahre dauern
sollte, anfangs glücklich war und sich zunehmend schwierig gestaltete. 1950 ist
die Geburt ihres Sohnes Martin, danach kommt die Schwester Julika, ein
Downsyndromkind. 1953 findet AM den Eintritt in die Psychoanalyse, die sie als
wirkliche Befreiung erlebt. Sie arbeitet dort auch mit als Lehranalytikerin, und
hat in den frühen sechziger Jahren eine eigene Praxis in Zürich, an der
Universität hat sie Seminare gegeben. Aufgrund unhaltbarer Entwicklungen
bezüglich der damaligen Ausbildungssituation, erlebt AM das Zerwürfnis innerhalb
der psychoanalytischen Gesellschaft, die 1958 gegründet wurde. 1973 wird sie
sich von ihrem Mann scheiden lassen, was ihr den Weg eröffnet, ihre Bücher zu
schreiben. 1979 erscheint " Das Drama des begabten Kindes". AM Lebt fast 40
Jahre in der Schweiz, die restlichen 25 Jahre in Südfrankreich, in Remis, wo sie
in der Nähe eines Bergsees ihre Bücher unter freiem Himmel konzipiert und
entwirft. Die Beziehung zu ihrem Sohn MM, wird hier überwiegend als distanziert
und kalt beschrieben. MM schreibt: "In diesen Jahren hatten wir fast keinen
Kontakt mehr. Aber ich besuchte häufig ihre Webseite. Mich interessierte sehr,
wie sie die Beziehung zu ihrer Leserschaft pflegte und wie sie versuchte, ihre
Ideen zu verbreiten."
Natürlich wirft dieses Buch Fragen auf, etwa inwiefern, war Alice Miller selbst durch die Kriegserlebnisse traumarisiert und waren es vielleicht nicht genau diese, die ihr den Antrieb, für ihre Forschungsarbeit gab? Welche Rolle spielten ihre Kriegserfahrungen in Bezug auf ihre Ehe und schlechte Verhältnis zu ihrem Sohn? MM sollte seiner Mutter folgen, auch wenn er zeitlebens mit seiner Mutter verstritten war, worauf ich nicht eingehen möchte. (Welcher Leser soll das beurteilen können?) Sein Resümee: "Wie schön wäre es gewesen, wenn ich mit meiner Mutter Alice Miller, darüber hätte austauschen können." Das klingt schon paradox, jedoch angesichts einer lebenslangen Konfliktsituation allzu verständlich.
Lässt man all das Psycho-Anklage-Geschwafel eines MM auf der Seite, kann man wirklich trotz alledem einiges über Alice Miller erfahren, auch wenn ich das Gefühl nicht los werde, dass hier die berühmte Mutter für die eigene Argumentation und Opferhaltung herhalten muss. So ganz nach dem Trittbrettfahrerprinzip: Eine Reduzierung von emotionalen und verwickelten Schilderungen und die Erweiterung auf mehr "Objektivität" hätte diesem Buch gut getan. Es gibt eine website von Alice Miller, wo sich Interessierte umschauen können, interessanterweise gibt es wenig Filmmaterial über AM und wenige Tonaufnahmen. Ich zumindest werde mir irgendwann eines ihrer späten Bücher besorgen...denn...unabhängig davon, ob sie gelebt hat was sie geschrieben hat oder nicht, (did she walk her talk?) ihre Bücher halte ich zumindest nach wie vor, als einen Meilenstein, in Sachen Selbstbestimmung und Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheit- und Biographiearbeit...Ich bezweifle nicht, dass vielleicht AM eine schwierige Mutter war. Nur wenn ein erfahrener Therapeut wie MM am Ende seines Buches, das er über seine Mutter schreibt: " Es war nicht schön, der Sohn Alice Millers zu sein", kann ich nur sagen, schade dass Sie's nicht geschafft haben, trotz aller Schwierigkeiten, mehr aus dem Kontakt und der Beziehung zu Ihrer Mutter heraus zu holen, wirklich schade. Etwa hierbei einen eigenen Anteil für zu reflektieren, wird man hier vergeblich suchen. Die Anklagen und Vorwürfe, welch' ein Armutszeugnis, gegenüber AM in diesem Buch werde ich schnell vergessen haben. Das jedoch was uns Alice Miller an Hoffnung und Zuversicht gegeben hat, werde zumindest ich mit Sicherheit in mir bewahren. Für mich ist das aber keine Idealisierung dieser Autorin, sondern ganz einfach eine Wertschätzung dem gegenüber, was sie uns unserer Gesellschaft mit ihrer Arbeit gegeben hat. Und das eine Frau, den Brustkrebs übersteht, eine Judenverfolgung erlebt, eine Scheidung hinter sich bringt, den schmerzlichen Verlust der eigenen Familie durch die Nazis erlebt und trotzdem solche Bücher schreiben konnte, (vergessen wir mal das hier ausgebreitete schlechte Verhältnis zu ihrem Sohn) das alleine schon erachte ich für bewundernswert, auch wenn Martin Miller ausgiebigst und ausufernd betont, wie kalt und hasserfüllt Ihre Mutter angeblich war...
Alice Miller hat sich 1980 nach 20jähriger Tätigkeit als Psychoanalytikerin verabschiedet und sich als Kindheitsforscherin" bezeichnet. Ihre Praxis sowie ihre Lehrtätigkeit gab sie auf. Immer mehr hat sie damals die Psychoanalyse kritisiert und in Frage gestellt. 1988 trat Alice Miller aus Schweizerischen Gesellschaft Psychoanalyse sowie der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung aus.
Aus meiner Sicht bringt es viel mehr, von Alice Miller selbst etwas zu lesen, entweder über das Internet oder über ihre geschriebenen Bücher, als das vorliegende Buch, wo ich doch meine Zweifel hege.
Doris Wolf
Der Irrtum
Alice Millers war selbst das begabte Kind, das sie in ihren Büchern beschreibt. Das Kind, das einst der Härte, der Lieblosigkeit, der emotionalen Ausbeutung und den Züchtigungen der Mutter und den Wutausbrüchen ihres Vaters ausgeliefert war. Kein Wunder, dass sie nach Einschätzung ihrer Umgebung ›ein zorniges, ein ungewöhnliches, ein sogenannt schwieriges Kind‹ gewesen sein soll. Urvertrauen, Liebes- und Bindungsfähigkeit für ihre eigene spätere Mutterrolle konnten sich in dieser belasteten Eltern-Kind-Beziehung kaum entwickeln. Martin Miller konnte sich die, wie er sagt, »maßlose Wut, die meine Mutter in sich trug, die alle Erinnerungen an ihre Eltern, ihre Familie begleiteten« nicht recht erklären« (S. 32)!
Er schreibt,
das Beispiel seiner Mutter zeige »auf erschreckende Weise, was geschehen kann,
wenn schwere Traumatisierungen – wie Krieg, Verfolgung oder andere
Gewalterfahrungen – nicht aufgearbeitet werden« (S. 25). » Heute bin ich davon
überzeugt, dass die Unfähigkeit Alice Millers, für mich eine liebevolle Mutter
zu sein, in dem fest abgekapselten Trauma der Verfolgungsjahre von 1939 bis 1945
begründet liegt.« (dradio.de vom 18.10.13)
Doch das ist genau der Irrtum, der Denkfehler, auf den AM immer wieder
hingewiesen hat: Das Verdrängen des ursprünglichen Dramas, das Schonen der
Eltern, der Religion und der Umgebung durch das Ablenken auf einen
Nebenschauplatz. In all ihren Büchern beschreibt AM das Drama des ungeliebten
Kindes in seiner frühkindlichen Beziehung zur Mutter – und nicht das Drama ›Im
Schatten des Krieges‹ wie MM glaubt und auf dem Cover des Buches geschrieben
wird. Es sind nicht in erster Linie die entsetzlichen, im Krieg erlebten
Traumen, die später an die Kinder weitergegeben werden, sondern die frühen
Verletzungen in der eigenen lieblosen Beziehung mit den Eltern, die selbst zur
Liebe nicht fähig waren.
Das Drama des ungeliebten Kindes ist das Ergebnis der entwerteten, unterdrückten
und unfreien Frau und Mutter in der patriarchalen Gesellschaft.
Im Buch von MM kommt die Biographie von AM und wie sie zu der Frau wurde, die
sie als Mutter für MM war, zu kurz. Ihr Drama begann schon vor ihrer Geburt.
AMs’ Vater, ein streng orthodoxer polnischer Jude, heiratete die Mutter, obwohl
er eine andere Frau liebte, weil sein Vater es so für ihn beschlossen hatte. Ob
die Mutter ebenfalls zu dieser Heirat gezwungen wurde, wissen wir nicht, es ist
aber anzunehmen. Mädchen sind in patriarchalen Familien weit weniger wert und
haben noch weniger Rechte als ihre Brüder. Entsprechend der patriarchalen
Ideologie, hat der Vater als ›Haupt der Familie‹ das Recht, über seine
Familienmitglieder nach eigenem Gutdünken, wie über eine Ware, zu verfügen. Und
das schon seit mehr als dreitausend Jahren. Es gibt Ausnahmen, aber das ist die
Norm. Dazu gehört die von den Vätern verfügte Zwangsverheiratung der Kinder. Die
Heirat mit einem ungeliebten oder unbekannten Mann ist für eine Frau eine
schwerwiegende, verletzende Demütigung, ja eine psychische und sexuelle
Vergewaltigung und nicht vergleichbar mit jener des Mannes. (Für einen Mann
scheint das nicht einfühlbar zu sein; immerhin besuchen täglich eine Million
Männer in Deutschland – völlig freiwillig – eine ihnen meistens unbekannte
Prostituierte! Und das obwohl sie wissen, dass es in diesem Milieu viel um Zwang
und Frauenhandel geht. In andern Länder ist es selbstverständlich nicht viel
anders!)
Die Schwierigkeiten sind in solchen auf Vaterherrschaft, Zwang und
Herabwürdigung der Frauen basierenden Familien vorprogrammiert und so war das in
der Herkunftsfamilie von AM. In dieser patriarchalen Konstellation nimmt das
Schicksal seinen üblichen Lauf – über alle Generationen hinweg. Das aus der
ehelich sanktionierten Vergewaltigung stammende unerwünschte und ungeliebte Kind
wird als Frau noch einmal zutiefst verletzt und kann wiederum ihr Kind nicht
lieben. Diese ungeliebten Kinder, die aus dem schmerzlichen, lebenslangen
Schicksal der Frauen im Patriarchat geboren werden, haben wenig Chancen, selbst
einmal glückliche, freie Menschen und einfühlsame Eltern zu werden.
Alice Miller, die am 12. Januar 1923 in Polen geboren wurde, war nicht in erster
Linie ein Opfer des Krieges. Hitlers Angriff auf Polen geschah am 1. September
1939. AM war damals sechszehneinhalb Jahre alt, also ein Teenager. Die
Verletzungen waren längst da und trotzdem hat sie als siebzehnjähriges Mädchen
die ungeheure Kraft aufgebracht,ihre ungeliebte Mutter und ihre jüngere
Schwester unter Todesgefahr aus dem Getto zu retten. (S. 56) Es gelang ihr für
ihre Mutter »auf dem Land ein Versteck zu organisieren. Ihr 12-jährige Schwester
Irena brachte sie in einem Nonnenkloster nahe des Warschauer Gettos unter.« (S.
49)
Was im Buch fehlt, ist auch die Auseinandersetzung mit dem Vater von MM. Er
bleibt der große Unbekannte. Er tritt nur auf, als unglücklicher Ehemann und als
Vater, der seinen Sohn – übrigens nach biblischer Anweisung! – züchtigt, ›weil
er ihn liebt‹; aber nur in Abwesenheit der Mutter (S. 14)! Das Schlagen von
Kindern war auch in christlich-patriarchalen Familien derart weit verbreitet,
das vor wenigen Jahren ein Gesetz eingebracht werden musste, das die
brutal-sadistische Behandlung von Kindern unter Strafe stellt.
Was ebenfalls fehlt ist das Nachdenken über das Patriarchat, das Judentum, die
patriarchale Ideologie, die patriarchalen Religionen – auch über das
Christentum, über die Abwertung, die Unterdrückung und den Missbrauch der Frau,
die auf eine Gebärerin des vom Patriarchat ausdrücklich geforderten Nachwuchses
reduziert wird (s. die heutige Frau im orthodoxen Judentum Jerusalems)! Eben all
das, was AM ebenfalls erlitten hat, die das Judentum als eine »insgesamt
verfolgende, unterdrückende, menschenfeindliche Ideologie« empfand (S. 44).
Diese Religion und diese Kultur erlebte sie als »ein einengendes Gefängnis« (S.
32). »Nicht umsonst hat Alice Miller in allen ihren Werken, besonders im Buch
›Du sollst nicht merken‹ die Religion und ihre repressiven Mechanismen
angeprangert.« (S. 148) AM »lehnte die orthodoxe jüdische Welt immer vehementer
ab« (S. 40).
Die Eltern von MM, Alice und Andreas Miller, »lebten als
assimilierte Juden sehr liberal«. Der nicht jüdisch, sondern mindestens im
katholischen Internat christlich erzogene MM nimmt dieses Erleben seiner Mutter,
ihre eigene Wahrnehmung nicht ernst und tut sie als ›subjektive innere Welt‹ ab:
»Charakteristisch für die Kindheitserfahrungen meiner Mutter waren, so stellte
sie es dar, nicht die äußeren existentiellen Gefahren für die Juden in einer
diskriminierenden Umwelt, sondern die repressiven Einschränkungen durch die
religiösen Gesetze innerhalb der Familie.« Der Sohn, der sich beklagt, dass
seine Eltern immer alles besser wussten, weiß es nun besser als sein Mutter und
das was sie erlitten hat. »Ich hatte immer wieder das Gefühl, dass meine Mutter
mit ihrer Fundamentalkritik gegenüber dem Judentum ein Sakrileg beging.
Verhöhnte sie nicht die Opfer der Verfolgung? Ich schämte mich für sie (s. 32
f.).« Beschämend ist das nur für MM!
Kein Wunder, dass das Thema bis zu ihrem
Tod ein Tabu war, das sie mit ihrem Sohn nicht mehr besprach (S. 33). Wer möchte
schon ein derart prägendes, schmerzhaftes Trauma seiner Kindheit mit jemandem
besprechen, der dafür kein Verständnis und keine Empathie aufbringen kann?
Normalerweise ist es nicht die Aufgabe des Kindes, sich in die Neurosen der
Eltern und Großeltern einzufühlen und sie zu verstehen, wenn MM aber behauptet,
er habe mit diesem Buch seine Identität erschrieben, wobei ihm das Verständnis
für seine Mutter geholfen habe, ist dies ein fragwürdiger Anspruch. Sein Hass
auf die Mutter ist noch immer spürbar, obwohl seine Lektorin konsequent
interveniert habe und ihn dadurch vor einer rachsüchtigen Haltung bewahrte.
Die Tragödie des ungeliebten, begabten Kindes teilen Millionen von Menschen in
dieser vom Patriarchat vergifteten Welt. Alice Millers Tragödie ist kein
Einzelschicksal, das wusste sie und das zeigen die Auflagen ihrer Bücher und das
weltweite Echo, das sie berühmt machte.
Auch ihr Sohn MM gehört zu diesen geschädigten und vergifteten Kindern. Aber er
verkennt das, was seine Mutter in allen Büchern hervorhebt, das Drama des
begabten Kindes, ist das Drama, das ihm und allen andern Geschädigten in der
eigenen Familie geschah – und nicht der ›Schatten des Krieges‹.
Abermillionen von Menschen, die ebenfalls von ihren Müttern nicht geliebt und
von den Vätern geschlagen wurden, haben im Unterschied zu MM keine berühmten
Mütter, mit denen sie – trotz aller Dementis – mit einer harten öffentlichen
Konfrontation noch nach ihrem Tod abrechnen können.
MM findet schlussendlich zum Judentum und rühmt sich: »Also, meine Identität
ist, dass ich eine Schlauheit und eine geistige Beweglichkeit entwickelt habe,
aus der Überlebensgeschichte der Juden. Ich wusste, irgendwie muss ich eine
Geschichte in mir haben, auch wenn meine Mutter überlebt hat und mit allen
Begleiterscheinungen. Letzten Endes hat sie mir eine Überlebensstrategie
vermittelt, indem sie sagte, du musst deinen Verstand, deine Intelligenz, deine
Psychologie, deine Chuzpe entwickeln, um zu überleben. Und das hat mir irgendwie
Kraft gegeben. Wenn ich jetzt das Buch so sehe, sage ich, das ist ein
schriftliches Zeugnis, das ist für mich so ein Feedback: Du hast es geschafft.«
(Interview mit dem Tages Anzeiger vom 19.09.2013)
»Ich kann von Glück sagen, dass ich nicht psychotisch geworden bin, sondern eine
große Begabung, eine Sensibilität für das Erfassen von menschlichem Verhalten
entwickelt habe... Wenn ein Mensch in seiner Kindheit emotional zu kurz kommt,
kämpft er später wie ein Raubtier um emotionale Nahrung«, schreibt MM. Ob er
darin auch ein Stück von sich selbst wieder erkennt, ist zu bezweifeln.
Wolfgang von Lüttichau
Ein neuer Zugang zu Alice Millers Werk
November 2013
Das Buch dokumentiert den Versuch eines Sohnes (Martin Miller, geboren 1950), das schwierige, teilweise traumatisierende Verhältnis mit seiner kriegstraumatisierten Mutter (Alice Miller, 1923-2010) aufzuarbeiten. Es bezeugt, daß die bedeutende Kämpferin gegen Kindesmißhandlung und Kindesmißbrauch - vor allem in der elterlichen Familie - im Verhältnis zu ihrem Sohn im Sinne der transgenerationellen Traumaweitergabe selbst zur Täterin geworden ist.
Die
Veröffentlichung ist bedeutsam in drei Aspekten. - Zunächst ist es eine sehr
lesenswerte Fallstudie zum Thema intergenerationelle Traumatisierung und
Parentifizierung nach Kriegs- und familiärer Traumatisierung.
Daneben bewahrt es die Erinnerung an Alice Miller als einer jüdischen
Überlebenden des NS-Terrors. Sie selbst hatte über diese Zusammenhänge
lebenslang Schweigen bewahrt - aus Gründen, die durch das Buch des Sohnes
ansatzweise nachvollziehbar werden.
Und last not least ermöglicht es einen neuen Zugang zu Alice Millers
psychotherapeutisch relevantem Werk. - Alice Miller hat über Jahrzehnte in
allgemeinverständlichen Werken ihre Einsichten in die Kind-Eltern-Beziehung und
ihre Kritik an der Psychoanalyse dargestellt. Im Oktober 1982 wurde ihr Artikel
"Die Töchter schweigen nicht mehr" (in einem Sonderheft der Zeitschrift
Brigitte) zur Initialzündung der öffentlichen Aufmerksamkeit für sexuellen
Mißbrauch in der Familie (Inzest). Vehement trat sie für einen anderen, neuen
Umgang mit kindlichen Traumatisierungen ein; sie gehörte dadurch zu den
bedeutenden AnregerInnen der heutigen traumasensiblen Psychotherapie. Dennoch
sucht man in ihren Publikationen (in Büchern wie auf ihrer bis heute bestehenden
Website) vergebens nach methodischen Hinweisen zur traumatherapeutischen Arbeit.
Mit den neueren psychotraumatologischen Forschungen und therapeutischen
Erfahrungen hat Alice Miller sich offenbar bis zum Ende ihres Lebens kaum
auseinandergesetzt. Man konnte dies bedauern, aber unabänderlich kam Alice
Millers Werk auf diese Weise insgesamt in fachliche Isolation.
Der durch Martin Millers Buch mögliche erweiterte Blick auf die Lebensgeschichte
der Mutter, auf ihr persönliches Leid, auf ihr Versagen als Mutter macht
nachvollziehbar, wieso Alice Miller ihre wesentlich aus existenziellen
Erfahrungen erwachsenen Erkenntnisse über Kindheit, Eltern, Gewalt und
Psychoanalyse kaum einbringen konnte in fachliche Diskurse. Das Buch bietet die
Grundlage für einen Blickwinkel, von dem aus Alice Millers Werk neu,
differenzierter und auf dem Stand heutiger traumatherapeutischer Erkenntnisse
rezipiert werden kann.
Martin Miller ist selbst Psychotherapeut. Am Schluß seines Buches skizziert er
bestimmte Aspekte im Werk seiner Mutter, die für ihn zu den bedeutsamen
Grundlagen seiner eigenen therapeutischen Arbeit gehören. Deutlich kritisiert er
andere Momente. Zu solchen therapiepraktischen Überlegungen würde ich mir
fachliche Diskussion wünschen!
Alice Millers vor Jahrzehnten nuanciert begründete Ablehnung psychoanalytisch
begründeter Therapie korreliert inzwischen durchaus mit traumabezogenen
Modifikationen der Psychoanalyse, für die heute in Deutschland
Psychotraumatologen wie Luise Reddemann, Ulrich Sachsse oder Jochen Peichl
stehen. (Dazu kommt Sandor Ferenczi als früher psychoanalytischer Dissident und
die schon von Alice Miller rezipierten Klassiker Donald Winnicott, John Bowlby
und Heinz Kohut.)
Der Traumatherapeut Oliver Schubbe nennt Alice Miller in seinem Nachwort als
eine der Begründerinnen der psychohistorischen (Kindheits-)Forschung. Auch unter
diesem Blickwinkel finden sich in Millers Werk Anregungen, die keineswegs
überholt sind.
Ein ungutes Gefühl bleibt mir bei der Rezension dieser wichtigen
Veröffentlichung, weil es auch hier wieder vorrangig um Alice Miller geht.
Martin Miller, der neben der berühmten, unangreifbaren, gleichwohl in vielem
tyrannisierenden, traumatisierenden Mutter überlebt hat und der sich dann auf
den ebenso mutigen wie behutsamen Weg einer Aufarbeitung gemacht hat - sicher im
Wissen, daß sein Buch nicht nur Beifall finden würde! - dieser Sohn und Autor
kommt hier deutlich zu kurz.
TRAUMA BERATUNG LEIPZIG
DISSOZIATION UND TRAUMA
Manfred
Sandau
TOP 1000 REZENSENT
Ein bisher verborgenes Trauma
Oktober 2013
Ich wünsche
Martin Miller von ganzem Herzen, dass er eines Tages über seine Mutter ein
gnädigeres und nachsichtigeres Buch schreiben kann.
Dieses Buch ist nicht nur eine Beleuchtung der Kriegstraumatisierungen der Alice
Miller und der tiefgreifenden Verletzungen und Brüche, die das in der Familie
auslöste. Schweigen, Dissoziation, Verleugnen, und Identifikation mit dem
Agressor.
Dieses Buch ist ein Zeugnis dafür, wie tiefgreifend die Folgen des Krieges in
eine Familie eingegraben sind. Eine Frau musste als Jugendliche mit ihrer Mutter
aus einer polnischen Stadt fliehen. Sie ist jetzt fast 80. Sie spricht nicht
über das, was sie erlebt hat, Gewalt und Vergewaltigung, aber man spürt, dass
sie eine tiefe Wunde mit sich herumträgt. Wenn man sich die Kinder und Enkel
genau anschaut, dann sieht man, dass auch diese Verletzungen mit sich tragen,
für die bisher keiner eine Erklärung gefunden hat.
Dass Mutterliebe nicht selbstverständlich ist, konnte man vor 20 Jahren bei
Elisabeth Badinter lesen, und in einer neueren Veröffentlichung von Gaby
Gschwend (Mütter ohne Liebe).
Bisher kannte ich nur die Veröffentlichungen von Alice Miller. Diese werden für
mich durch das Buch ihres Sohnes, aus dem ersichtlich ist, dass zwischen der
Theorie und dem persönlichen Lebensvollzug Lücken klaffen, nicht unwahr, und
auch nicht entwertet.
Wenn ich nach Ursachen suchen würde, für das was Martin Miller schildert, so
würde ich in dem Fachgebiet der Psychotraumatologie suchen. Ich würde bei den
Erfahrungen im Getto beginnen, und mir die Frage stellen, was macht das mit
einem Menschen, der solche Erfahrungen machen muss. Gibt es so etwas wie eine
Überlebensschuld, wenn man so viele seiner früheren Freunde ins KZ, und in die
Gaskammer gehen sieht?
Wie sieht es aus mit Introjektion, und Identifikation mit den Vorgaben des
Peinigers, daran wurde ich erinnert, als Martin Miller die Haltung seiner Mutter
zum Judentum schildert.
Für mich hat in diesem Buch der Sohn von Alice Miller, sich seinen Kummer von
der Seele geschrieben. Das ist sein gutes Recht. Ich bin froh, dass der
Traumatherapeut Oliver Schubbe, dessen Lehrbuch ohnehin in greifbarer Nähe
liegt, weil ich darin lesen wollte, eine einfühlsame und kluge Deutung in das
Buch gestellt hat, die trotzdem Fragen offen lässt.
Dass auch Frau Miller gelitten hat, ist für mich daraus ersichtlich, dass sie
den Therapeuten aufgesucht und zumindest versuchsweise eine Aufarbeitung
unternommen hat. Da sie unter Schmerzen litt, wäre sie vielleicht auch bei
Ellert Niejenhuis, oder Peter Levine gut aufgehoben gewesen.
Dieses Buch bestätigt eine Beobachtung, dass traumatisierte Menschen, auch wenn
sie noch so klug und reflektiert sind, das Trauma weiter geben. Vielleicht
brauchen wir für solche generations-übergreifenden Themen, noch ganz neue
Therapieformen.
Thomas Weber
Ein Werk, dass die reale Beziehung zwischen Mutter Alice Miller in ein neues Licht rückt
August 2020
Dieses Buch
von Martin Miller hat mich sehr berührt und zeigt eindrucksvoll ein ergänzendes
Bild der bekannten Buchautorin Alice Miller und rückt ihre Bücher in ein neues
Licht. Mit Scharfsinn, Sensibilität und Galgenhumor beschreibt der Autor die
Beziehung zwischen Sohn und Mutter, die ihr eigenes Dasein in ihren Bestseller
Büchern offensichtlich nicht reflektiert zu haben scheint, sich erst nach
Jahrzehnten in Briefen an den eigenen Sohn Martin gewandt hat, der von ihr davor
nicht wahrgenommen zu sein scheint. Das Drama der begabten Alice Miller und
vieler ihrer Generation liegt wohl darin, sich mit dem eigenen Kriegstrauma
nicht auseinandergesetzt zu haben. Dies scheint in dem vorliegenden Buch dem
Nachfolger Miller gelungen zu sein. Ein Buch, das all denen Mut machen kann, die
an den Folgen der Generation des Zweiten Weltkriegs unter Gewalt und emotionaler
Vernachlässigung noch heute leiden.
Thomas Weber, Leiter des Instituts für Neuropsychotherapie Wien.
innenreich
Erwartungen nicht gerecht geworden, schade!
Oktober 2013
Ich habe wohlwollend und neugierig den schmalen Band durchgelesen.
Aber jetzt, danach, wünsche ich mir erst recht eine "richtige" Biografie über Alice Miller.
Positiv fand ich, dass das Buch überhaupt geschrieben wurde vom Sohn.
Und der Titel passt auch, da es ja wirklich eine Tragödie ist, dass traumatisierte Menschen einerseits höchst funktional sein können (auch als Psychologin/Forscherin oder Therapeut), und andererseits in ihren Familien destruktiv unterwegs sein können.
Ich hätte mir
eine etwas bessere chronologische Ordnung gewünscht und eine reifere
"Metaebene", denn Martin Miller hat nun auch schon eine Lebenserfahrung von über
60 Jahren und manche Einschätzungen von ihm als Sohn und Therapeut empfand ich
als etwas naiv.
Mir fiel auf, dass der Autor mehrmals betonte, das andere Biografien von Töchter
oder Söhnen prominenter Eltern entweder "idealisierend" ODER "hasserfüllt" seien
- das mag sein, dass es solche gibt, aber das ist m. E. nicht die Mehrheit. Wozu
das also betonen - um sich präventiv vor Beschuldigungen zu schützen?
Das Schreiben gelingt ihm nicht so gut, wie Alice Miller, aber okay.
Was ich vermisst habe, ist, dass er seine "Schäden" beleuchtet; also wie sich
diese Sozialisierung der transgenerationalen Weitergabe von
Traumatisierungserfahrungen widerum in seinem Leben bemerkbar machte: in seinen
Beziehungen, zu seinen Kindern, in der Gesundheit etc.
Alice Miller war tatsächlich selbst traumatisiert, und deshalb hatte sie auch
bestimmte Verhaltensweisen oder Gefühle, wie zum Beispiel nicht viele Menschen
und keine enge Beziehungen ertragen zu können (S. 24), verübte selbst
Grenzüberschreitungen, hatte Ängste, Misstrauen und Paranoia.
Sie entwickelte Gegenstrategien wie schreiben, malen und Nutzung des Internets.
Ihre Rolle als "neue" Frau in der Welt der männlich dominierten Wissenschaft kam
mir auch zu kurz, ihr Spagat zwischen einem kontrollsüchtigen, wahrscheinlich
persönlichkeitsgestörten Mann, der behinderten Tochter, dann noch Brustkrebs,
ihr beruflicher Ehrgeiz, ihr Freiheitswillen und ihre jahrzehntelange
Heimatlosigkeit als Migrantin.
Und zu kurz kam mir auch die Rolle der Mutter von Alice Miller: ihre
Züchtigungen, (Alice im Brief 1987: "meine Mutter war ein grausamer Mensch"),
und das ausgerechnet Alice diese verhasste Mutter retten musste aus dem Ghetto.
In dem Leben der Alice Miller gab es Mehrfachtraumata: Jüdin sein,
Nationalsozialismus und Verfolgung, Krieg, Ghetto, eine sie als Kind nicht
spiegelnde, eher schädigende Familie, die Re-Konstruktion dieser Erfahrungen in
einer destruktiven Ehe usw. usf.
Beruflich hat sie m. E. das Beste aus sich rausgeholt; privat blieb so einiges
auf der Strecke, was sie trotz ihrer Erkenntnisse in ihren Nah-Beziehungen nicht
umsetzen konnte. Das sie so auch zu einer *Täterin* wurde - das ist die Tragödie
in ihrem Leben und im Leben ihres Sohnes.
Das Buch hätte m. E. angemessener, umfassender und strukturierter sein können.
Jemima Stevens
Eine wichtige Ergänzung für mich
Juli 2014
Das Buch ist sehr lesenswert, wenn man sich - wie viele meiner Generation wiedergefunden hat in den Theorien Alice Millers. Es hat keine Zweifel an mir in dem, was ich aus ihren Büchern mitgenommen habe, ausgelöst, weil es nicht an Alice Millers Lebensleistung schmälert. Auch kann der Sohn folgerichtig und gut lesbar schreiben wie seine Mutter und hat ihren vermutlich Mut geerbt.
Vielleicht ist es ungerecht, nicht 5 Sterne zu geben.
Ich habe halt diese Bauchschmerzen, dass ein Buch über einen Toten geschrieben wird, der nichts mehr dagegen einwenden kann. Es hätte mir besser gefallen es zu Alice Millers Lebzeiten zu lesen. Aber da wäre es wohl nicht möglich gewesen.
Niemand war dabei und kann den Wahrheitsgehalt überprüfen, aber der Martin Miller hat auf mich überzeugend gewirkt. Er setzt seine Mutter auch an keiner Stelle herab und würdigt ihre Lebensleistung.
Urs Geppert
Sehr lesenswert, für Leute, die es lesenwert finden
August 2014
Mein Titel klingt ein wenig sybillinisch. Dabei meine ich eigentlich nur, dass der individuelle biografische Hintergrund des Lesers schlachtentscheidend für die Frage ist, ob es sich lohnt, sich damit auseinandersetzen. Für mich war dies aus verschiedenen Gründen ausserordentlich interessant, vor allem weil ich Millers Buch parallel zum Buch von seiner Mutter Alice Miller gelesen habe auf deren Schicksal und Werk sich Martin Miller bezieht.
Um den vollen Gewinn aus der Lektüre zu ziehen, muss man in meinen Augen unbedingt beide Bücher kaufen (oder wenigstens lesen). Mir hat es vor allem dabei geholfen, andere Menschen besser zu verstehen. Eine eigene Neurose mag von Vorteil sein, ist aber vor diesem Hintergrund keine absolute Voraussetzung. Beide Bücher sind nicht gerade Mainstream, aber sie gehören meines Erachtens in den Bücherschrank aller, die selber therapeutisch arbeiten.
Valadon
Macht und Liebe
Juni 2018
Lieber
Martin,
Ich habe dich geliebt. Ich habe euch beide mehr geliebt, als alles andere in
meinem Erdenleben. Die Liebe zwischen Mutter und Kind ist die stärkste aller
Lieben, das hat der Erdenplanet so eingerichtet.
Nur, Mutter Sein will bei solch komplizierten sozialen Wesen, wie den Menschen,
gelernt sein, und wir lebten nicht in einem Matriarchat, sondern in einer
eiskalten Männerwelt. Macht war das Zauberwort. Frauen hatten nichts zu sagen.
Das war nicht gut für die Frauen, aber auch nicht für die Männer, und schon gar
nicht für die Kinder. Mein Vater war ein Schwächling, weshalb er orthodoxes
Judentum für die gesamte Familie verordnete. Da gab es keine Diskussionen. Ich
rebellierte, erreichte einiges und als ich bereit war zum Sprung in mein eigenes
neues Leben, kamen die Nazis und lehrten uns das Fürchten.
Als wir wieder frei waren, wollten wir studieren, aber weit weg. Dein Vater
schaffte es mitzukommen in die Schweiz, er war charmant, ein wenig Heimat für
mich, trotz allem. Wir blickten hoffnungsvoll in die Zukunft. Dass er sich aber
recht bald als ein weiterer Schwächling erweisen, mich mit seiner törichten
Eifersucht drangsalieren würde, war da nicht abzusehen.
Auch, dass ich ihm und vielen andern Männern intellektuell überlegen war, war
mir damals nicht klar.
Jedenfalls studierten wir intensiv und das war gut.
Dann kamst du, als Wunschkind, wie später auch deine Schwester.
Ich hatte allerdings keine Ahnung von dem, was da auf mich zukam. Ich wusste
nicht, was für eine unglaubliche körperliche Anstrengung eine Geburt ist, was
ein Säugling für unendlich viel Arbeit macht. Es hätte 1000 Mittel gegeben, um
dich zu stillen. Ich kannte sie nicht. Die mit Geburt und Stillen verbundenen
Hormonstürme überrollten mich, ich war überfordert, hatte keine Hilfe und wurde
auch gleich noch als unfähige Mutter abgestempelt. Wir gaben dich in eine
Pflegefamilie, was damals durchaus üblich war. Du brülltest weiter, bis unsere
liebende, immer wieder liebende Ala dich an sich nahm.
Es war meine schlimmste Niederlage.
Ich ging wieder Kopf nach vorn in den Kampf mit den Männern, darauf verstand ich
mich. Ich studierte, lernte, mich faszinierte die Psychologie, trotz allen
männlichen Dogmatismus lernte ich viel, arbeitete gut, auch dank der Intuition,
die deine Schwester mich gelehrt hat.
Und zuletzt kam der Krebs.
Der kam nicht von außen, von den anderen, sondern von innen, aus mir heraus,
öffnete mir die Augen. Als ich den besiegt hatte, war auch dein Vater und all
meine widersprüchliche Männerbezogenheit aus meinem Blick- und Gedankenfeld
entfernt.
Und nun drängte mit aller Heftigkeit mein Herz in mein kopflastiges Wesen.
Nicht, dass ich "Das Drama der begabten Frau" geschrieben hätte, was in der
damaligen Zeit sicher bestens angekommen wäre. Oder "Mein Warschauer Drama".
Nein, mein Herz wollte dich.
Du kamst. Und bliebst. Und ich durfte endlich das tun, was alle Mütter tun: ihr
Kind kennen lernen, ansehen, erforschen, sich an ihm erfreuen, seinen Werdegang
begleiten. Es war die schönste Zeit meines Lebens. Ich hatte genug Erfahrung aus
meiner Arbeit an den Menschen, und du warst reif für die gemeinsame Arbeit. Wir
haben Großartiges geschaffen.
Der Erfolg überstieg jegliche Erwartung, und ich war berühmter als alle
Kollegen, als ziemlich unwissenschaftliche Mutter.
Da war ich schon weit über den Zenit meines Lebens und meiner Kräfte hinaus.
Du wolltest mehr Mutter haben?
Lieber Martin: alle Mütter schicken ihre Kinder in die Welt, in ihr eigenes
Leben hinaus. Mädchen gehen leichtfüßiger, sie werden bald ihre eigene
Mutter-Kind-Liebe aufbauen. Jungen ist das nicht gegeben. Warum der Erdenplanet
das so eingerichtet hat, weiß ich nicht. Jedenfalls braucht ihr eben manchmal
einen Schubs. Meine Schubse mögen nicht gerade freundlich gewesen sein, aber ich
hatte guten Grund, dich von nun an rigoros von mir fern zu halten.
Alles Positive, was ich in meinem Leben schaffen konnte, alles Kreative, Schöne,
Zukunftsträchtige habe ich dir gewidmet, das Schlimme, Grausame wollte und
musste ich von dir fern halten.
Ich hatte ein wenig Mutterschaft und damit auch ein ganz klein wenig meiner
eigenen Kindheit nachholen dürfen, aber das schwarze höllische Gift der
Nazi-Zeit war noch nicht vertrieben.
Ich versuchte es noch einmal, indem ich den Stier wieder bei den Hörnern packte
und mich mit Hitlers Kindheit auseinandersetzte. Dort suchte ich den Ursprung
all des Grausamen, das wir gelebt haben. Nicht erlebt, nein, gelebt. Verwundete
Tiere sind unberechenbar, und wir waren alle verwundet. Täter und Opfer.
Selbstmordgedanken waren alltäglich, viele haben sie ausgeführt. Die Alternative
war mors tua vita mea. Und wenn auch nur um ein Stück Brot. Wer all dies
Undenkbare nicht persönlich durchlebt hat, kann es nicht verstehen, wer es
durchlebt hat, kann es nicht erklären und wird in seinem Erdenleben nie wahre
Ruhe finden.
Nun bin ich weit weg.
Geblieben ist mir die Barmherzigkeit einiger weniger wunderbarer Menschen, die
uns ohne wenn und aber halfen, unsere Schmerzen zu lindern und unsere Wunden zu
schließen.
Ala war eine von ihnen.
Und ich sehe Martin, der aus unserer Zusammenarbeit seinen Weg gefunden hat. Der
seinem Peiniger das Handwerk legen konnte, weil er in einem Rechtsstaat lebt.
Und der auf unserer gemeinsamen Arbeit aufbaut, sie korrigiert, verbessert,
weiterentwickelt.
Das ist wunderbar.
Barbara Rogers
Das wahre Selbst von Alice Miller hätte ihren Sohn bei diesem schwierigen Buch unterstützt.
Oktober 2013
Es ist
ungemein schmerzlich, Martin Millers Buch zu lesen und die Auswirkungen
wahnwitziger und mörderischer Verfolgung durch Nazideutschland auf das Leben von
Alice Miller und das Leben ihres Sohnes wahrzunehmen. Mit großer Betroffenheit
empfinde ich die Tragik der Selbstverleugnung, die Alice Miller — durch die
deutsche Besatzung Polens, den virulenten Antisemitismus und den Zweiten
Weltkrieg — als eine extrem destruktive Folter und lebenslange Belastung
auferlegt wurde. Und mit großem Mitgefühl erlebe ich das Ringen ihres Sohnes, um
seine Würde und Menschlichkeit aus einem Abgrund von Grausamkeit und Verrat zu
retten, an dem er keine Schuld trägt, und in dem das wahre Selbst seiner Mutter
verloren ging.
Martin Miller hat mit großem Einfühlungsvermögen die entsetzliche Geschichte
seiner Mutter Alice Miller als einem Opfer von brutaler, konstant
lebensgefährlicher, jahrelanger Verfolgung erforscht und geschildert. Dabei hat
er ein wegweisendes Buch über die Auswirkungen von Kriegstraumata geschrieben,
das deshalb so schockiert, weil seine Mutter als weltbekannte
Kindheitsforscherin und erfolgreiche Schriftstellerin über die Ursachen und
Folgen traumatischer Kindheitsbelastungen so vielen Menschen vertraut war. Alice
Miller hat mit ihren Büchern unzähligen Lesern Unterstützung gegeben, neue Wege
in der Therapie, im Leben und als Eltern zu wagen — dafür wird sie unzähligen
Menschen, auch mir, unvergesslich in Erinnerung bleiben.
Es ist herzzerreißend, vom furchtbaren Leiden Alice Millers zu erfahren — und zugleich, wieviel schreckliches Leiden das für ihren Sohn Martin bedeutet hat. Er hat dieses Buch als Sohn seiner Mutter geschrieben, deren wahres Selbst ihn ermutigt hätte, seine Geschichte und Einsichten mitzuteilen. Alice Miller hat den Traumatherapeuten Oliver Schubbe von seiner Schweigepflicht entbunden; sie wollte also, dass wir von den Bürden ihres Kriegstraumas erfahren, welches sie selbst jedoch offenbar nicht weiter ansehen und bearbeiten wollte.
Beim Lesen dieser Biografie wird man unausweichlich mit der Vernichtung konfrontiert, die durch Nazideutschland und den zweiten Weltkrieg entfesselt wurde, wovon z. Bsp. auch Sandra Konrads Buch “Jeder hat seinen eigenen Holocaust”: Die Auswirkungen des Holocaust auf jüdische Frauen dreier Generationen” ergreifend berichtet. Martins Biografie führt über das Werk seiner Mutter hinaus, weil er Kriegstraumata ernst nimmt. Es hat mir, auf einer höchst persönlichen Ebene, zutiefst die Augen für diese Traumata geöffnet und mir eindringlich die Verheerung bewusst gemacht, die sie in den Psychen und Leben der Betroffenen anrichten. Wir wissen heute, dass mehr Kriegsveteranen der Kriege in Afghanistan und Iraq durch Selbstmord ums Leben kommen als Soldaten im aktiven Kampf. Dennoch fangen wir nur ganz allmählich an, die Zerstörungswut des Krieges auch auf die menschliche Psyche, noch Generationen später, wahr- und ernstzunehmen.
Martin Millers Buch hat mir geholfen, nicht nur meine eigenen Erfahrungen mit Alice Miller zu verstehen, sondern auch, dass ich gegen ihre tiefe Dissoziation, und das Verdrängen ihres schweren Kriegstraumas, machtlos war. Ich verdanke meiner Arbeit mit empathischen TherapeutInnen in den USA, dass ich die Wunde, die der Bruch mit Alice Miller in meiner Seele aufgerissen hatte, versorgen konnte. Die Offenheit und Ehrlichkeit ihres Sohnes haben mir jedoch nun die Wahrheit geschenkt, die ich allein nicht finden konnte. Ich bin Martin Miller so dankbar, dass er dieses mutige Buch geschrieben hat.
Seine Mutter
— bzw. was manche ein “falsches Selbst”, oder ich einen “Teil” von ihr nennen
würde — suchte immer mehr die Bewunderung — nicht die Wahrheit. Vor allem in der
Stettbacher Affäre wäre sie ihren LeserInnen und all denen, die sich so
vertrauensvoll mit therapeutischen Fragen noch Jahre später an sie wandten, die
ganze Wahrheit schuldig gewesen. Da geschah ein großer Verrat, begangen von zwei
TherapeutInnnen, die um ihre Schweigepflicht wussten und sie brachen. Es war
auch ein schwerer Verrat, begangen von einer Mutter — nicht nur an ihrem Sohn,
sondern auch von Alice Miller an ihren LeserInnen. Hätten diese die Wahrheit,
die uns nun Martin Miller schockierend und qualvoll berichtet, gewusst — dann
wäre dieses unerschütterliche Vertrauen in Alice Miller gefährdet, vermutlich
sogar gebrochen gewesen. Somit verdanken wir Martin Miller entscheidende
Aufklärung über diese im Nebel der Bewunderung verborgene und beinah darin
untergegangene Geschichte. Und ich persönlich verdanke dem Buch von Jennifer
Freyd: “Blind to Betrayal” ein noch klareres Verständnis über die unheilvolle
Rolle, mit der Verrat in menschliche Beziehungen eingreift und sie zerstört.
Manches hat mich nach dem Lesen dieses Buches noch lange verfolgt, u. a. dass
Alice Miller als Kind, nach zwei glücklichen, befreienden Jahren in Berlin, ihr
Leben dort aufgeben musste. Ihre ältere Cousine Ala sagt dazu: “Wäre Hitler
nicht an die Macht gekommen, sie wäre mit ihrer Familie sicher nie mehr nach
Polen zurückgekehrt.” Wie anders wäre das Leben von Alice Miller verlaufen, wenn
sie nicht dieser Hölle aus Todesangst, Verfolgung and Erpressung ausgeliefert
gewesen wäre, die ihr Leben die nächsten zwölf Jahre immer grauenvoller
beherrschen und quälen sollte. Martin Millers Biografie über das Leben seiner
Mutter Alice Miller macht das unvergesslich und erschütternd klar und hat für
mich tiefes Trauern gebracht. Martin Miller schreibt: “Je mehr sich meine Mutter
anstrengte, den quälenden Geistern des Krieges zu entkommen, umso mehr
manifestierte sich die Vergangenheit als gelebte Gegenwart. Und in den letzten
Jahren ihres Lebens richtete sich diese Vergangenheit immer mehr gegen den
eigenen Sohn.” Das wahre Selbst von Alice Miller hätte das niemals gewollt,
sondern hätte sich für die Wahrheit, einen offenen, ehrlichen Austausch und
Bericht über ihr Leben, für dieses Buch und Aufklärung über Kriegstraumata
eingesetzt.
R. Sauer
Das wahre Drama der Alice Miller.
Juli 2014
Zuerst war ich irritiert. Da zeigte sich ein Bild von Alice Miller, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Ihr erstes Buch, „Das Drama des begabten Kindes“, war für mich eine Offenbarung. Wegweisend für mein weiteres Leben und Denken. Von Alice lernte ich den Standpunkt des Kindes zu vertreten, konsequent und ohne Kompromisse. Das Kind ist Opfer. Immer. Es wird in eine Welt hinein gezeugt und geboren, die es sich nicht aussuchen kann. Das galt für Alice, für Martin und gilt für alle Kinder. Dann wurde mir langsam klar, dass Alice, natürlich, eine lange Entwicklungsphase durchgemacht hatte. Als sie ihr erstes Buch schrieb, war sie 56 Jahre alt. Ein paar Jahre vorher der Brustkrebs und endlich die Scheidung von einem ungeliebten Ehemann, mit dem sie zwei Kinder gezeugt hatte.
Sie hatte das Drama ihrer eigenen Eltern wiederholt. Trotz ihrer radikalen Abkehr von Judentum und Zwangsheirat, tappte sie in die teuflische Falle einer Ehe ohne Liebe. Sie war damals noch weit davon entfernt zu begreifen, in was für eine Not sie selbst hinein gezeugt wurde. Wie alle Kinder hoffte sie auf eine liebende Mutter, sie fand nur eine mehr oder weniger willige Gebärmutter vor. Keine Liebe zum Ehepartner bedeutet zwangsläufig keine Liebe zum Kind.
Das Kind ist nur ein Hirngespinst des Geistes. Familienzweck und kein Kind der Liebe. Woher sollte sie das ahnen? Sie tat es ihnen nach und ihre Kinder waren, wie sie, keine Kinder der Liebe, sondern üblicher Ehezweck. Was für Träume mag sie gehabt haben? Was für Hoffnungen? Wir wissen kaum etwas darüber. Dann zeugt sie selbst ein Kind. Martin. Kein Kind einer Liebe. Das Wunschkind einer Zweckehe. Das Kind lehnt die Mutter ab. Verständlich! Alice ist enttäuscht? Von was? Was hat sie erwartet? Ihre Ehe war eine Illusion, ein Hirngespinst, wie das Kind selbst. Dann das nächste Kind. Noch ein Schlag, eine Strafe, wie sie härter nicht sein kann. In ein offenes Messer gelaufen. Das hätte schon beim ersten Kind passieren können. Was für ein Drama. Was für Lügen. Alle müssen den Wahn aushalten, natürlich auch die Kinder. Wie immer leiden sie am meisten. Sie haben keine Wahl. Sie haben keine Mutter, wie Alice keine Mutter hatte. Die Ursünde wird an die nächste Generation weiter gegeben.
Jedes Kind, das nicht in Liebe gezeugt wurde, trägt den Makel der Ursünde in sich, gibt ihn weiter, wenn es den Frevel der Eltern wiederholt und Kinder ohne Liebe zeugt. Der Brustkrebs war für Alice ein Wendepunkt. Die Angst vor dem Tod treibt sie an. Da war sie 50. Ihre Kinder schon lange keine Kinder mehr. Erst danach wurde jene Alice Miller lebendig, die wir aus ihren Büchern kennen. Da hatte sie schon ein Leben hinter sich. Mit 56 endlich, schrieb sie „das Drama des Begabten Kindes“. Martin Miller ist über 60 als er sein eigenes „wahres Drama“ verfasst. Auch er gescheitert in seinen ersten Beziehungen. Auch zu seiner Mutter. „Er konnte nie eine emotionale Beziehung herstellen“, sagt er. Wie sollte er? Er hat nie begriffen, dass er nie eine Mutter hatte, dass er nie liebende Eltern hatte. Bis heute noch nicht! Alice war keine liebende Mutter, sie war keine liebende Ehefrau und ihre Kinder waren keine Kinder der Liebe. Ihre Kinder waren Wunschkinder. Züchtungen des Geistes.
Martin Miller hat die Sehnsucht nach einer liebenden Mutter nie überwunden. Das kann erst geschehen, wenn er begreift, dass er nie eine liebende Mutter hatte und die Chance eine liebende Mutter vorzufinden, schon bei seiner Zeugung vertan war.
Diese Erkenntnis ist unsere einzige Chance, die Sehnsucht nach einer liebenden Mutter endlich aufzugeben und ein erwachsenes Leben zu führen. Alice Miller hätte in dieser Ehe, nie eine liebende Mutter sein können, sie war keine liebende Frau. Diese Chance wurde bei der Zeugung ihrer Kinder vertan. Endgültig. Wir haben nur diese einzige Chance, einmal und nie wieder. Wenn wir nicht in Liebe gezeugt sind, kann das niemand ändern. Wir können nur mit unserer Vergangenheit leben und versuchen, die Todsünde unserer Züchter nicht zu wiederholen. Alice Miller hat uns den Weg gewiesen, den Standpunkt der Kinder einzunehmen. Wir sind alle Kinder gewesen, aber nur die Wenigsten dürften die Erfahrung machen, Kinder der Liebe zu sein.