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1. Vorläufiges zur Dynamik der Anpassung  

 

Der Mensch, ein extremer Nesthocker  

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Der Mensch kommt ungebildet und unkultiviert zur Welt. Er ist — wie der Biologe in Anlehnung an tierische Verhaltensweisen sagt — ein extremer Nesthocker, das heißt, sein Reifungszustand bei der, Geburt ist sehr weit vom Reifungsziel entfernt. Aber im Gegensatz zu den Verhältnissen bei den tierischen Nesthockern (und Nestflüchtern) steht am Ende der Reifungszeit nicht ein perfektes Artwesen, sondern ein mit den sozialen Formen einigermaßen vertrauter und durch Lernen gebildeter Mensch. Er sieht sich in vielen Situationen vor Entscheidungen, die ihm — wie man sagt — keiner abnimmt. 

Aber es wird ihm doch vieles abgenommen; denn zum größten Teil entscheiden wir uns nach erlernten Mustern, wie sie unser Familienclan, unser Stand, unsere Kultur für uns bereithalten. Es steht uns dabei nur eine rudimentäre artspezifische Ausstattung mit angeborenen Verhaltensweisen zur Verfügung. Feind­erkennen, ritualisiertes Paarungsverhalten, Pflegeverhalten den Jungtieren gegenüber, um nur einige markante Beispiele ererbten Verhaltens zu nennen, sind bei uns nicht erblich festgelegt.

Begabungsentwicklung und soziales Milieu  

Es ist unbekannt, wie viele menschliche Verhaltensweisen angeboren sind. Sicher ist nur eines, daß sie bei weitem nicht ausreichen, unser Leben unter unseresgleichen zu regeln. Die eigentlichen Regulative unseres Verhaltens, der Kodex des Benehmens, werden langsam erlernt. Angeborene Begabungen und erworbene Fähigkeiten spielen dabei ineinander. Der Genetiker weiß zum Beispiel, daß das Aussehen eineiiger Zwillinge sehr hohe Ähnlichkeit aufweist, und auch mit ihren Begabungen und ihrem sozialen Charakter ist es so. Aber man vergißt über solchen Extremfällen — hier also der Auswirkung einer gleichartigen Keimanlage — zu leicht, wieviel komplizierter das Zusammenspiel von Umwelt und Individuen, die variable Erbbedingungen mitbringen, sich gestaltet.

Wieweit sogar Begabungen, die uns so schnell als eine unabänderliche, erbbedingte Mitgift erscheinen, durch die Umwelt gefördert oder gehemmt werden können, zeigt eine Untersuchung von Freeman und dessen Mitarbeitern an 125 Geschwisterpaaren, die im Durchschnittsalter von fünfeinhalb Jahren getrennt wurden. Eines der Geschwister wuchs in einer anderen Familie als Adoptivkind auf. Zum Zeitpunkt der Untersuchung hatte die Trennung fünf, zehn oder mehr Jahre gedauert. Die »Ähnlichkeit« der Geschwister hatte nur eine Korrelation von 0,25 gegenüber dem sonst unter Geschwistern anzutreffenden Wert von 0,5; dies »zeigt das Ausmaß, in dem Umweltsunterschiede die Begabung beeinflussen können«. 1

Sehr eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang auch eine Mitteilung von Margaret Mead: Bei den Mundugumor von Neuguinea besteht die Auffassung, daß ein Kind, »dem bei der Geburt die Nabelschnur eng um den Hals geschlungen ist, nach angeborenem und unbestreitbarem Recht als zum Maler bestimmt gilt«2. Hier hat eine Kultur »eigenmächtig, aber auf phantasievolle Weise zwei vollkommen beziehungslose Dinge zusammengebracht: den Verlauf der Geburt und die Fähigkeit, verschlungene Muster auf Baumrinde zu malen«. 

»Wenn wir weiter erfahren«, schreibt Mead, »daß dieser willkürlich hergestellte Zusammenhang so hartnäckig behauptet wird, daß wirklich nur ein auf diese Weise Geborener gute Bilder malen kann, während der normal Geborene nie ein Künstler werden wird, dann erkennen wir die Macht solcher unsinniger Assoziationen, hat die Kultur sie sich erst einmal zu eigen gemacht.«

Es wirkt also nicht nur, wie im ersten Beispiel, das Milieu einer Intimgruppe, auf die ein Adoptivkind zufällig stößt, variierend auf die Entfaltung von Anlagen, sondern ebenso ein kollektives Verhalten: Durch die Erwartungs­haltung einer Stammesgruppe werden in einem Individuum potentielle Fähigkeiten mächtig gefördert — und bei anderen Individuen gehemmt.

Ganz unbekannt sind auch uns natürlich solche kulturspezifischen Annahmen nicht, die für jedes Mitglied dieser Kultur selbst­verständlich sind. Wenn in einer Familie von altem sozialem Status, also zum Beispiel einer Handwerker- oder Bauern­familie, von der Nobilität ganz zu schweigen, der erste Sohn geboren wird, nimmt die Familiengruppe mit mehr oder weniger Selbstverständlichkeit an, daß er die Stellung und den Beruf des Vaters übernehmen wird.

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Sehr häufig geschieht das dann auch, wobei der Nachfolger mit mehr oder weniger Geschick in die Fußstapfen des Vaters tritt, sich diesem Erwartungsdruck der Beziehungspersonen beugt, die ihn für dieses bestimmte Amt erzieherisch vorbereitet haben. Beispiele wie diese zeigen die Rolle, welche die soziale Umwelt für die Charakter- und Begabungsentwicklung des Menschen, für den Stil seiner Bildung spielt. Je flexibler, arbeitsteiliger, je mehr von Sachbesitz entbunden und deshalb mobiler eine Kultur ist, desto mehr Chancen hat das Individuum, einer Neigungswahl bei der Entwicklung seiner Begabung folgen zu können. Es taucht in einer solchen Gesellschaft erst das Problem individueller Neigung auf. Da unsere Kultur einigen, wenn auch bei weitem nicht den oft vermuteten Spielraum in dieser Hinsicht bietet, sollten wir uns nicht über die eigene Geschichte und die Lage in vielen anderen Kulturen täuschen, in denen mit äußerster Strenge dem einzelnen der soziale Ort angewiesen und sein Verhalten in allen Einzelheiten vorgeschrieben wird.

Die Einbettung in die nähere soziale Umwelt formt aber nicht nur Lebensentscheidungen, Wertorientierung und Verhalten, sie spielt noch in den Formen des Versagens vor sozialen Ansprüchen eine Rolle. Viele Krankheiten zum Beispiel sind offenbar nicht nur von der Konstitution und von Einwirkungen der Natur allein hervorgerufen, sondern werden vom sozialen Milieu mitbeeinflußt. Das gilt vor allem von neurotischen und psychosomatischen Leiden, in denen wir den Versuch einer wenn auch gescheiterten Konfliktlösung durch das Individuum zu erkennen gelernt haben.3) 

Sehr eingehende Untersuchungen von Th. Lidz zeigten darüber hinaus den Einfluß der Familienumwelt auf die bisher überwiegend unter erbgenetischen Gesichtspunkten gesehene Krankheit Schizophrenie.4) »Vererbung« ist, wie Luxenburger formulierte, nicht »Schicksal«, sondern »drohendes Schicksal«. Die soziale Umwelt bestimmt in einem heute noch nicht abzusehenden Ausmaß, ob aus der Drohung Wirklichkeit wird; sie kann dazu beitragen, daß anlagebedingte, sozial störende Reaktionsneigungen im Ganzen der Person integriert, im Zaum gehalten werden; sie kann aber auch dazu beitragen, daß sie desintegrierend wirken und antisoziales oder asoziales Verhalten fördern oder »Krankheit« verursachen.

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Die definitive und die geschichtsoffene Anpassung  

Wir können diesen eben genannten Problemkreis, soweit die Erblichkeit in Frage steht, nur streifen, aber uns dabei an einer Tatsache orientieren: Es gehört offenbar zu den Eigentümlichkeiten seiner Art, daß der Mensch einerseits keine definitive Umwelteinpassung als Erbmitgift besitzt; andererseits hat er aber die außerordentliche Fähigkeit, sich an sehr verschiedene und an sich ändernde, unter Umständen sich rasch ändernde soziale Umwelten anpassen zu können.

Da wir im weiteren den Vorgang der Anpassung vornehmlich unter diesen sozialen Gesichtspunkten betrachten werden, also nur einen Aspekt dieses Leistungsvermögens herausgreifen, ist es gut, gleich zu Anfang danach zu fragen, was mit Anpassung im größeren biologischen Zusammenhang gemeint ist. Nehmen wir ein Beispiel: den Biber. Seine Dammbauten sind bekannt; er staut mit ihnen fließendes Wasser so hoch an, daß die Eingänge zu seiner Burg unter Wasser liegen, womit die Bewohner gegen ihre natürlichen Feinde geschützt sind. Die Bauten und Dämme sind äußerst kunstvoll und umsichtig angelegt. Man kennt Stausysteme, die über siebzig Jahre von dreißig Generationen von Bibern unterhalten wurden.5) 

Die Biologie hat Hypothesen, welche die einzelnen Forscher mehr oder weniger befriedigen und die uns erklären, welche Voraussetzungen des Körperbaus oder von Organentwicklungen nötig sind, um überhaupt derartige Leistungen hervorbringen zu können.6) Das hängt zum Beispiel vom Ausmaß der Entwicklung der Großhirnrinde ab. Ferner hat uns die relativ junge Wissenschaft der Erbgenetik die Verankerung bestimmter Fähigkeiten — eben der arteigentümlichen Verhaltensweisen — in den Genen und deren Anordnung in den Chromosomen gezeigt. Wir wissen, daß Lebewesen in sich Gleichgewichtssysteme (homöostatische Systeme) sind mit unzähligen Rücksteuerungsvorgängen, mit wechselseitigen Beeinflussungen, der Organ­funktionen untereinander; seit Norbert Wiener spricht man von »kybernetischen Systemen«, aber auch in den Theorien Pawlows spielt das Ineinandergreifen von den Organismus steuernden nervösen Erregungs- und Hemmungsprozessen eine zentrale Rolle.

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Dies alles erlaubt einem Lebewesen, sich einer bestimmten Umwelt anzupassen und sich zugleich auch die Umwelt — ein Stück weit jedenfalls — angepaßter zu gestalten. Wir hätten statt des Beispiels der ingeniösen Biber auch das nicht weniger verblüffende der netzbauenden Spinnen oder der hochsozialisierten Insekten wählen können. Dabei geht es immer darum, daß Leben sich konstant zu organisieren bestrebt ist, und zwar auf die einem Lebewesen spezifische Umwelt (J. v. Uexküll) hin. Bei dieser Anpassung entwickeln die Lebewesen Fähigkeiten, mit denen sie aktiv ihre Umweltbedingungen zu verbessern trachten.

All diese biologischen Anpassungsvorgänge — die sicher nur einen und, wie uns seit Darwin scheint, einen wichtigen Prozeß des Lebens beschreiben — haben eines gemeinsam: Sie vollziehen sich außerordentlich langsam, und sie sind, wie der belgische Paläontologe Luis Dollo nachgewiesen hat, nicht umkehrbar; eine einmal in der Körpergestalt wie in den vererbbaren Verhaltensformen vollzogene Anpassung läßt sich nicht mehr entspezialisieren. Verändert sich die Umwelt, an die ein Lebewesen sich in einem langen Zeitraum (wie man sich vorstellt, auf dem Wege über Mutationen) angepaßt hat, zuungunsten dieses Lebewesens, dann kann die einmal spezialisierte Art ihre Anpassungsform nicht mehr rückbilden und sich erneut anpassen, sondern stirbt im Extremfall aus.

 

Gelungene Anpassung ist nicht Fortschritt  

Dies alles sind zum Teil bestechende Theorien. Wir besitzen für viele Anpassungsvorgänge keine besseren Erklärungs­möglichkeiten. Aber wir sollten uns von einer Vorstellung lösen, die das 19. Jahrhundert vorschnell optimistisch gebildet und verehrt hat, nämlich daß die Evolution, wie sie Darwin gedacht hat, »Fortschritt« bedeute. Das ist ein typischer Anthropomorphismus, ein Hineintragen von Ideen, die wir uns für unsere soziale Welt gebildet haben, in die Lebensprozesse im allgemeinen. 

»Aufwärts! Fortschritt! Evolution! Insoweit der <gewöhnliche Zeitgenosse> Evolution akzeptiert, tut er es wahrscheinlich, weil diese Theorie sich an die Rockschöße des populärsten aller Götter, des Fortschritts, klammert.« 

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Aber ist Evolution Fortschritt ? fragt Garret Hardin in einem ausgezeichneten Kapitel seines Buches Natur und das Schicksal des Menschen(7) und zitiert Bertrand Russell: »Ein Prozeß, der von der Amöbe zum Menschen geführt hat, schien den Philosophen augenscheinlichen Fortschritt zu bedeuten — aber ob die Amöbe dieser Auffassung zustimmen würde, ist nicht bekannt.« »Biologen«, meint Hardin, »sind keineswegs übereinstimmender Meinung.« Denn: »Darwins Anpassung ist ihrem Wesen nach nicht fortschrittliche Veränderung, sondern vielmehr ein dynamischer Weg zur Aufrechterhaltung des Status quo.« Und der Status quo ist die Erhaltung des Lebens durch Änderung der Lebensbedingungen hindurch. Die Fliegen, die sich dem Insektenmittel DDT »angepaßt« haben, sind genetisch verschieden von dem Typ, der vor Anwendung des Giftes vorherrschte. Sind die gegen DDT widerstandskräftigen Fliegen besser? Unter einer veränderten Umwelt haben sie eine neue Eigenschaft erworben.

Wenn dagegen ein Mensch jeder Schwankung politischer Machtverhältnisse folgt und dabei ohne Gewissenseinspruch bisherige Freunde aufgibt, ist dies zwar anpassungsgewandt, wohl auch vom Standort der Verteidiger der Macht her gesehen eine positive, von der Verläßlichkeit als Tugend aus eine schlechte Eigenschaft.

 

Kulturelle Anpassung, ein Vorgang selektiver Zuordnung  

Die Beispiele zeigen, daß die Anpassungsaufgaben des Menschen in einem Feld widersprüchlicher Maßstäbe geleistet werden. Ist der Schurke am besten gerüstet, den Lebenskampf zu bestehen; und wenn er es sein sollte, ist das für eine Kultur der Menschenachtung eine erwünschte Eigenschaft? Im Falle der kulturellen Anpassung drängen sich sofort Fragen auf: Wer ist besser angepaßt, der »Primitive« oder der fortschrittlich »Hochzivilisierte«? Was ist »primitiv«? Was ist »fortgeschritten«? Hier kann man doch nur die Gegenfrage stellen: angepaßt woran? Und wo liegt die »Primitivität«, zum Beispiel die mangelhafte Angepaßtheit eines mitteleuropäischen Großstadtbewohners im Angestelltenverhältnis mit Zweizimmer­wohnung und typischen Konsumgewohnheiten? Worin ist er weniger primitiv als ein Berg-Arapesch von Neuguinea, also ein Mitglied einer für uns typisch »primitiven«, risikoreichen Kultur?

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Ist einer von beiden »angepaßter«? Die Fragestellung ist in sich unrichtig; beide leben, wie Menschen überhaupt, in selektiver Zuordnung zu ihrer Umwelt. Natürlich lebt, wie wir seit Jakob v. Uexküll wissen, ein Indianer des Orinoko in einer Welt völlig anderer Inhalte als wir in unserer hochtechnisierten und spezialisierten Industriezivilisation. Jener Primitive und wir sind gleichermaßen angepaßt an unsere Umwelt und weisen charakteristische Anpassungsdefizite auf.

Jede Anpassung an gegebene natürliche und kulturelle Verhältnisse bedeutet Entwicklung und zugleich Hemmung von Fähigkeiten. Unsere Kultur hat großartige Leistungen in der Bewältigung der Naturkräfte vollbracht. Sind ihre Fortschritte im Erkennen der Naturkräfte in uns selbst ebenso groß? Was wir als »primitiv« einschätzen, ist nicht selten das Unbekannte und noch mehr das Unverstandene, das, worin wir uns beim anderen Menschen nicht einzufühlen, einzuleben verstehen. In diesem Sinne halten wir nicht nur die Wilden, sondern auch viele Menschen unserer Kultur für primitiv und werden umgekehrt selbst von anderen so eingeschätzt8.

 

Vier Grundkomponenten der Anpassung an die menschliche Mitwelt  

Wir können zum Zweck modellhafter Vergegenwärtigung vier Grundkomponenten der Anpassung an die menschliche Mitwelt unterscheiden:

1. Anpassung passiver Art an die bestehenden Verhältnisse. Dieser Vorgang ist augenfällig mit Lernen verknüpft, mit Erlernen von Regeln, Vermeidungen, Symbolen, vorsprachlicher und sprachlicher Art.

2. Als Spiegelung dieser passiven Anpassung an den Status quo der sozialen Lebensformen vollziehen wir eine ebensolche Anpassung nach innen, das heißt, wir formen unsere Triebkräfte und Befriedigungen nach den Forderungen der Außenwelt. »Passiv« in dieser Definition heißt also, daß wir in uns entstehende triebhafte Impulse nicht nur egoistisch, autistisch, sondern nach dem vorgefundenen Verhaltensstil gestalten, in dem oft ein Verzicht, ein Aufschieben, eine Zielvertauschung gefordert werden.

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3. Aktive Anpassung nach außen erreichen wir dann, wenn es uns gelingt, unsere Mitwelt durch unsere Impulse so weit auf uns einzustimmen, daß sie auf uns eingeht und damit unsere Absichten sich durchzusetzen vermögen.

In der aktiven kulturellen Anpassung zielen wir auf eine Abänderung des sozialen Status quo. Wir geben dabei aber nicht den affektiven Kontakt mit den Menschen unserer Gruppe, Klasse, Kultur auf. Man sollte dabei weniger an die umwälzenden gesellschaftlichen Veränderungen denken als an den Alltag, in dem z. B. ein Kind seinen Eltern ein Zugeständnis abringt; Gewerkschaften eine Arbeitszeitverkürzung und ähnliches erreichen. Die Partner bleiben letztlich im Gespräch und passen sich im Lauf der Zeit veränderten Forderungen an; einmal vollzieht der eine, einmal der andere passive, dann wieder aktive Anpassung.

4. Spiegelbildlich entspricht dem die aktive Anpassung nach innen. Wir übernehmen dann nicht blindlings, passiv-gehorsam vorgeschriebene Formen des Verhaltens, sondern modifizieren. Bestimmte Triebregungen gegenüber bestimmten Personen der Mitwelt mögen nach der Idealnorm der Gesellschaft nicht passend sein, wir erlauben es uns trotzdem, sie zu empfinden, in uns wahrzunehmen oder gar zu äußern. Das ist seit dem Spottvers: »Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren« im Überschwang geschehen. Wir übernehmen aber mit der Initiative auch eine doppelte Verantwortung — vor uns selber wie vor der sozialen Mitwelt. Denn an unserem Gesamtverhalten kann die Gesellschaft nur ein bescheidenes Maß von Verhaltensabweichung ertragen, wenn nicht der Gruppenzusammenhalt gesprengt werden soll.

 

Grenzen der sozialen Toleranz bei der Anpassung  

Die Wirklichkeit des Lebens in der Gesellschaft wird also von diesen beiden antagonistischen Tendenzen beherrscht. Statt aktiv und passiv können wir sie auch assimilativ und integrativ nennen. Wir assimilieren uns unserer sozialen Mitwelt; überwiegt diese Tendenz, unsere Initiative mit den Normen des Sozialverhaltens ganz zu verschmelzen, so verwandeln wir uns in Sozialautomaten. 

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Entfalten wir Aktivität, die den Normen mehr oder weniger widerspricht, die aber doch von den Mitspielern übereinstimmend beantwortet wird, so verhalten wir uns integrativ. Aktivität, die ein solches Echo nicht findet, die sich rücksichtslos über die Normen hinwegsetzt und die Eigenart der anderen verletzt, ist antisozial und isoliert den, der so handelt. Hier wird sogleich der Einwand erhoben, daß es im Klassenkrieg auf solche Rücksichtslosigkeit ankomme.

Es gilt die Macht ohne Zimperlichkeit, unter Umständen mit terroristischen Mitteln zu erobern. Erst nach einem erfolgreichen Umsturz der Machtverhältnisse werde auch das Bewußtsein der in ängstlicher passiver Anpassung eingeengten Massen weckbar. Zur Verteidigung dieses Arguments stehen gute Gründe zur Verfügung. Auch Gegengründe, etwa, daß die wirklich und die nur scheinbar »befreiten« Massen in der Geschichte bis zur Gegenwart sich neuer Einschüchterung ausgesetzt sahen, die wiederum zur kollektiven passiven Anpassung zwangen, oft unter neuer drakonischer Knebelung individueller Versuche der aktiven Sozialanpassung.

Sozialpsychologisch mindestens ebenso bedeutungsvoll wie diese großen Entschuldungen (oder Versuche dazu) der revolutionären Auftritte sind die unzähligen Rücksichtslosigkeiten, Ausbeutungen der Schwäche des anderen, für die von den Subjekten und den verschiedensten Gruppen mildernde oder ganz und gar entlastende Umstände vorgebracht werden. Sie desintegrieren, gleichsam unbeachtet, mindestens in ihrer wahren Bedeutung unterschätzt, das affektive Gefüge der Gesellschaft. Mit Erik Erikson zu sprechen: es wird »Urmißtrauen« vermehrt und »Urvertrauen« zur Dummheit deklariert.

Die Übergänge zwischen triebhaftem, normgemäßem und ichgerechtem Verhalten sind fließend. Es handelt sich um eine Folge, in der in steigendem Maße integrative Leistungen gefordert werden. Individuen mit variierender Triebstärke und vielleicht auch unterschiedlicher Stärke der Ichanlagen entwickeln in sozialen Umwelten ebenfalls unterschiedlicher Integrationskraft ein wechselndes Maß an Starrheit, Tabugebundenheit oder Wandlungswilligkeit. Einen entscheidenden Einfluß wird dabei das Ausmaß von Intoleranz, von Forderung nach absolut normgemäßem Verhalten oder von »An' mie« (Durkheim), von Führungslosigkeit, schließlich von echter Toleranz für individuelle Lebensäußerungen ausüben.

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Der spezifisch menschliche Anpassungsmodus und seine Dynamik  

Angesichts der Vielzahl vergangener und noch bestehender Kulturumwelten zeigt sich, daß der Mensch einen gegenüber anderen sozialen Lebewesen veränderten Anpassungsmodus und eine abweichende Anpassungsdynamik entwickelt hat. Menschliche Spezialisierung hat die werkzeughafte Differenzierung auf einen Typus von Umwelt hin (Hanglerhand, Schwimmflossen und so weiter) vermieden, statt dessen hat sich eine Spezialisierung in der Unspezialisiertheit (K. Lorenz) vollzogen. Das heißt, die Spezialisierung ist eine der »Werkzeugintelligenz«, eine der Entwicklung der Erfindungsfähigkeiten, welche die Unangepaßtheit im Sinne erbvermittelter Körperwerkzeuge und Verhaltensweisen ausgleicht. Und diese Fähigkeiten sind an Bewußtseinsleistungen geknüpft, obgleich sie nicht allein vom Bewußtsein geleistet werden, wie jeder spontane Einfall beweist.

Zweitens zeigt sich, daß im Vergleich zu anderen arthaften Spezialisierungen, die eben erbgenetisch definitiv sind, in der Menschheitsgeschichte die Anpassungsvorgänge ungleich rascher verlaufen; sie können aber ebenso rasch wieder zerfallen und Neuordnungen weichen. Mit anderen Worten: Die Anpassungsvorgänge affektiven menschlichen Verhaltens in Sozialformen wie in den sozialen Stilen der Bewältigung natürlicher Umwelt sind ungleich oberflächlicher, flüchtiger als bei Tieren.9)  

Was beim Menschen biologisch hartnäckig festgehalten wird — wo also eine definitive Spezialisierung erreicht scheint —, ist die primäre Unangepaßtheit. Ob man das als Fortschritt im Sinne der Evolution, das heißt der Erhaltung des Status quo lebendiger Organisation auffassen will, bleibt zumindest offen, besonders wenn man an die potentiellen Vernichtungsmöglichkeiten denkt, die uns aus dieser unserer Unangepaßtheit und Werkzeugintelligenz erwachsen sind. Je nachdem wie die uns bekannten Fakten ausgelegt werden, kann man zu sehr gegensätzlichen Schlußfolgerungen kommen.

 

Wir können uns natürlich nie so weit von unserer subjektiven menschlichen Position distanzieren, daß wir unsere Existenz — sei es die biologische, sei es die intellektuelle — unbeteiligt betrachten könnten. 

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Werturteilen über uns und über andere vermögen wir nicht zu entrinnen, sowohl Vorurteilen über das relativ Bekannte wie über das relativ oder ganz und gar Unbekannte in der eigenen oder in zeitlich oder örtlich abgelegeneren Kulturformen. Wenn wir aber — wie in diesen Kapiteln — von den durch die primäre Unangepaßtheit bedingten spezifisch menschlichen Unsicherheiten sprechen wollen, so sollten wir nachdenklich in unserem Urteil Toleranz üben. 

Toleranz als Wissensmethodik ist nicht nur Relativierung und nicht Entschuldigung. Glücklich und schuldig können wir immer nur in unserer eigenen Kultur werden. Aber vielleicht können wir Erkenntnis gewinnen für die besonderen Schwächen und Unsicherheiten, denen wir ausgesetzt sind, und Wege zu ihrer leidlichen Bemeisterung finden, wenn wir mehr von den Tatsachen, insbesondere von der Tatsache einsehen gelernt haben, daß dem Menschen nicht gegeben ist, eine »beste« Kultur zu haben, eine, an der er endgültig genesen könnte, und daß das ganz bestimmt nicht die eigene ist. Dafür sind die Würfel im Sinne des Dolloschen Gesetzes gefallen; wir sind endgültig Spezialisten der Unvollkommenheit. Der Mensch kommt nicht mit erbgenetisch verankertem Verhalten zur Welt, das ihn in allen entscheidenden Fragen des Lebens definitiv einer Umwelt zuordnet, sondern, wie wir eingangs sagten, ungebildet und unkultiviert. Er ist ein Neuling in jeder seiner Kulturen. Das ist vorerst ein naturgeschichtliches Faktum.

Vielleicht wurde diese Einsicht, Andersartigkeit ertragen zu müssen, erst durch den zivilisatorischen Kosmopolitismus unserer Zeit möglich. Mit der Entwicklung technischer Mittel der Kommunikation, mit dem von der Maschine ausgehenden Zwang zur Nivellierung individueller Leistung und zum weltweiten Konsum der Industrieprodukte durch geschichtlich völlig voneinander gewachsene Kulturverbände brachte er die Notwendigkeit zu neuen Verständigungsformen. Ursprünglich war die Sozialform der Menschen »die der geschlossenen oder exklusiven Gruppe, der Horde oder des Stammes ..... Zur geschlossenen Gruppe gehört — beziehungsweise gehörte einst — eine >Ideal-Norm<, welche man mit keiner anderen Gruppe gemeinsam hat. Nur die Gruppenangehörigen sind in die Ideal-Norm des Menschseins eingeweiht, nur sie sind Träger der Aufgabe, welche echte Menschenwürde verleiht. >Inuit< nennen sich zum Beispiel die Eskimos, das heißt <wir Menschen vor allen>. 

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Während die Angehörigen der exklusiven Gruppe Repräsentanten der Ideal-Norm sind, trifft alle anderen das Odium der Un-Würde: Sie kennen und erfüllen nicht des Daseins Aufgabe. Noch in den Bezeichnungen >Barbar<, >Ketzer<, >Heide< — von den modernen, vorwiegend politisch getönten Ausdrücken ganz zu schweigen — ist der Gegensatz zur Ideal-Norm zu spüren, die >Norm der Un-Würde<.«10) 

Da wir alle mit unseren Phantasievorstellungen noch im ethnozentrischen beziehungsweise gruppen­zentrischen Denken verharren, gehört auch dies zu den zeittypischen »Demütigungen«, die wir zu verarbeiten haben, daß Neger, Chinesen, Juden, Kommunisten im gleichen Bewußtsein des Besitzes der Idealnorm leben und uns von der ihren her zu verachten geneigt sind. Ganz offen scheint zu sein, welche Merkmale der Exklusivität in der Zukunft den Charakter des Tabus erhalten werden, wie sich überhaupt die Funktion der ehemals räumlich abgeschlossenen (zum Beispiel Stammes-)Gruppe in die kosmopolitische Industriezivilisation übertragen wird. 

Denn es ist auch unter diesen geschichtlich neuartigen Bedingungen nicht zu erwarten, daß ein consensus omnium zu einer einzigen Idealnorm zustande kommen wird. Das ist schon deshalb nicht zu erwarten, weil der Triebüberschuß, der im Affektiven der Motor des dauernden Umbaus der sozialen Welt ist, immer einen »Gegner« braucht. Der unablässige Versuch, die durch das kulturelle Zusammenleben zur Unterdrückung verurteilten Triebimpulse doch noch zum Zug kommen zu lassen, hat sich bisher in der Menschheitsgeschichte in den furchtbarsten gegenseitigen Verfolgungen entladen. Es ist nicht leicht, einzusehen, wieso sich an dieser primären Natur des Menschen durch eine einheitliche Zivilisation — das heißt eine allen gemeinsame Technologie und die von ihr erzwungenen Anpassungen — etwas ändern sollte.

 

Eine neue Funktion des Lebens:  im Menschen verwirklichtes Bewußtsein 

Eine neue Funktion des Lebens ist im Menschen verwirklicht: Leben, das seiner selbst bewußt, innewerden und Leistungen des Lebendigen kontrollieren, lenken, gestalten kann. Damit steht das Bewußtsein in einem dialektischen Verhältnis zu älteren biologischen Funktionen, etwa ihrer erblichen Gestaltetheit, denen die Charakterisierung unbewußten, sich wie selbstverständlich aufnötigenden Verhaltens zuzusprechen ist. 

Die Reichweite des Bewußtseins liegt offenbar nicht endgültig fest; sie schwankt von Individuum zu Individuum, von Kultur zu Kultur, und es ist kaum zu bezweifeln, daß sie sich im Lauf der überblickbaren Geschichte gegen den Bereich der unbewußt wirkenden seelischen Prozesse hin vorgeschoben hat. Und zwar besonders intensiv dort, wo der Binnenbereich der Kultur die natürliche Umwelt mit der, wie Alfred Weber sagt, zweiten Natur einer technischen Welt am stärksten überdeckt. 

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