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2.  Anpassung und Einsicht: Stufen der Bildung  

 

 

Sozialer Verzicht und Triebüberschuß  

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Die Kultur der Gegenwart ist von diesen soeben genannten Prothesen der technischen Ausrüstung nicht trennbar. Ihr zweites Moment ist die absolute Vermehrung der Menschheit in einer nicht abgeschlossenen Progression und die Bildung neuer Kulturräume relativer Einheitlichkeit. Sie überspringen landschaftliche, nationale Grenzen und Sprachgrenzen und orientieren sich am Stand der technischen Ausrüstung und den mit ihr verknüpften sozialen Wert- und Ordnungsvorstellungen.

Rivalität, wechselseitige feindliche Einschätzung, die Tendenz zur Binnenorientierung, zum Abschließen vor störenden Einflüssen von außen, wiederholen sich aber in diesen Großgesellschaften vorerst ebenso wie in der Feindschaft zwischen religiösen oder nationalen Kulturgruppen in der Vergangenheit. Die Vernichtungsmittel — und das ist die geschichtliche Neuheit — haben jedoch einen Grad der Wirksamkeit erreicht, der den Fortbestand der Menschheit gefährden kann. 

Kriegswunden wurden bisher durch langsames Überwachsen der Generation ausgeglichen. Wenn jetzt die Schädigung der Erbsubstanz als Kriegsfolge näherrückt, dann ist jener Punkt erreicht, wo die biologischen Prozesse — dieses Überwachsen der Generation — die Wunden nicht mehr ausgleichen können. Dann sind wir bei einem Punkt irreparabler Zerstörung der Erbsubstanz angelangt, die eine Fortdauer der menschlichen Kultur in Frage stellen würde.

Eine Reaktionsbereitschaft im Menschen hat also alle technischen Entwicklungen und sozialen Umschichtungen bisher unverändert überdauert: sein aggressiver Triebüberschuß. Es gelingt den so verschieden gearteten sozialen Zusammenschlüssen der Menschen offenbar nicht, die Verzichte auf unmittelbare Triebbefriedigung, die jedes Leben in der Gesellschaft fordert, ausreichend durch befriedigende Erfahrungen des gesellschaftlichen Daseins selbst aufzuwiegen.

Statt dessen widerfahren der Triebnatur im Raum der Gesellschaft »Schicksale«, das heißt, sie unterliegt unter anderem kollektiven Zwängen, die sie regressiv an die Ausgangssituation der Kultivierung zurückführen: Die ursprünglich rücksichtslose Triebäußerung, die, psychologisch formuliert, über das »Objekt«, das heißt den Mitmenschen, gebieten will, stellt sich in Krisenlagen und Konflikten partiell wieder her. Wer mehr soziale Macht hat, befriedigt seine Wünsche leichter im Binnenraum seiner Gesellschaft, und wer weniger Macht hat, dem steht die Hoffnung offen, daß er seine unbefriedigt und unsozialisiert gebliebenen Triebwünsche an kollektiv bezeichneten, gebrandmarkten Individuen und Gruppen außerhalb der eigenen befriedigen darf.

 

Der aggressive Triebüberschuß  

Jede Gruppe legt ihren Mitgliedern Verzichte auf. »Verzichten müssen« macht feindselig. Feindseligkeit stört den inneren Zusammenhalt der Gruppe. Um nicht zu neuen Verzichten zwingen zu müssen, eröffnen die Gruppen dem einzelnen Wege, auf denen er seine Feindseligkeiten ausagieren darf. Das wird in späteren Abschnitten genauer zu verfolgen sein. Im Moment behalten wir nur die Tatsache im Auge, daß Kriege, wie wir sie in unablässiger Folge erleben, auf einen reaktionslabilen, leicht aufzuwiegelnden aggressiven Triebüberschuß verweisen, zu dessen Befriedigung Weltanschauungen, Religionen und soziale Ideologien die rational sich gebärdende Begründung zu liefern haben. 

Den Fortschrittsoptimismus, der sich in dieser Beziehung an Naturforschung und Technisierung knüpfte, hat sich als ungerechtfertigt erwiesen. Vielleicht zeigt sich im Gegenteil in der gegenwärtigen Situation eine den menschlichen Ordnungsformen immanente Tendenz in besonderer Deutlichkeit: der Umschlag von sinnvollem in wabnhaftes Handeln. Das Ausmaß von paranoischer Realitätsverkennung, welches das politische Bewußtsein der Gegenwart durchsetzt, ist kaum zu überschätzen. Hier liegt der Zündstoff, der zur immer vollständigeren Destruktion der menschlichen Errungenschaften und des Lebens überhaupt führen könnte.

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Mit Selbstvorwürfen und Selbsteinschätzungen, die sich als Offenbarungen geben — etwa, der Mensch sei »böse« von Natur oder die eigene Rasse sei die »höchste« —, ist wenig gewonnen. Statt dessen müssen wir die prüfbare Kenntnis über den Menschen zu mehren suchen, die uns die Motive seiner »Bosheit«, seines Allmachtglaubens aus dem Zusammenspiel von gesellschaftlicher Situation und naturhaften Bedürfnissen besser verstehen lassen; »besser« kann in diesem Zusammenhang nur heißen: leidenschaftsloser. Der Mensch ist sich selber ein wissenschaftliches und nicht mehr nur ein philosophisches Problem. Wenn Wissenschaft auch nicht die Sinnorientierung allein übernehmen kann, so vermag sie jedenfalls dem philosophischen Reflektieren die Eigenart seines Gegenstandes faktisch genauer vorzustellen.

 

Wachstum und Bildung  

Da uns menschliches Wesen nur als gesellschaftlich geformtes und damit als gebildetes bekannt wird, müssen wir zuerst einige Unterscheidungen an jenen formenden Vorgängen treffen. Jeder kann zu dem, was er jeweils ist, nur durch Bildung geworden sein. Und der Bildungsprozeß beginnt beim Menschen einzigartig früh, in einer Periode, die bei den ihm verwandten Tieren noch als intrauteriner Wachstumsprozeß verläuft.

»Wachstum« und »Bildung« haben gemeinsam, daß sie dynamische Entwicklungsvorgänge sind. Während Wachstum auf ein definitives Ziel hin geschieht — die Verwirklichung der arthaften Gestalt —, ist Bildung zwar ebenfalls Aneignung einer Gestalt, als des Habitus einer Gruppe oder Gesamtgesellschaft, aber diese Gestalt ist keineswegs in sich als Ziel arteigentümlich festgelegt. Die Konstante ist demnach die Aneignung, nicht der angeeignete Inhalt. Die Bildbarkeit des Menschen ist offen für die unterschiedlichsten Inhalte, welche die soziale Mitwelt anbietet; zugleich ist sie eine Fähigkeit, sich nicht nur passiv bilden zu lassen, sondern sich selbst zu bilden. Und damit schließt sie die Möglichkeit zur Transzendierung, zur Überschreitung der angebotenen Bildungsinhalte in Richtung auf die Wahrheit ein. Da Wahrheit — sehr kursorisch formuliert — ein Symbol für ein Definitivum ist, dem man sich nur annähern, das man nicht erreichen kann, ist Bildung in diesem Aspekt dynamisch, unabgeschlossen und unabschließbar. Pragmatisch bedeutet das, daß ich durch Bildung versuchen kann, den Täuschungen über die Welt, über die anderen und vor allem über mich selbst zu entgehen.

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Bildung ist Koordination des Suchens   

Schon wegen der außerordentlichen Gefahr der Täuschungsmöglichkeiten - vor allem über sich selbst - kann Bildung im menschlichen Leben nie abgeschlossen sein. Es gibt eine abgeschlossene Schulbildung, aber es gibt keine abgeschlossene Bildung und Selbsterziehung. Der Gebildete ist als ein Mensch zu charakterisieren, der seine jugendliche Ansprechbarkeit auf Neues und Unbekanntes behalten hat. Er ist auf der Suche nach Wissen und nach den Methoden, Erfahrung zu prüfen. Was er über die Welt und den Menschen, seine Geschichte erfährt, soll ihn der Wahrheit über sich selbst nähern. Die Wahrheit über sich selbst hat man nicht, man sucht sie und ist unbefriedigt bis zum Ende des Lebens.

Die dynamische Definition von Bildung sagt uns, daß sie Suchbewegung und zunehmend koordiniertes Suchen ist. Wo sie in ein der Befragung unzugängliches, selbstgewisses »Wissen« umschlägt, hebt sie sich selbst auf. Alles dogmatisch Gewisse ist das Ende der Bildung (davon werden wir auch die religiöse Bildung nicht ausnehmen). Der Bildungsphilister ist so ungebildet wie der, der gar nichts weiß.

Wenn man Bildung in diesem Sinn als ein Begehren, als Wissensdurst versteht und nicht allein mit der Kategorie des Wissensbesitzes — so angenehm dieser auch ist — messen will, muß man erkennen, daß die Bildung unter Menschen eine Rarität, mindestens eine Kostbarkeit ist und daß die Gesellschaften sehr Verschiedenes dafür beziehungsweise sehr Intensives dagegen tun, daß eine solche Bildung unter Menschen entstehen kann.

Die Faktoren, die zum Festfahren der Bildung (zum Beispiel einem »Bildungs-l'art pour l'art«) führen, sind vielfältige. Alle enden damit, daß Vorurteile den weiteren Erkenntnisweg versperren. Die Intensität des Erkenntniswunsches und die Intensität des Suchverbotes, etwa in geheiligten Tabus, liegen miteinander im Kampf. Wo das vom Kollektiv verhängte Verbot, zu suchen und zu fragen, stärker ist, wird Angst im Fragenden erweckt.

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An dieser Stelle endet Bildung und beginnt »sozialer Gehorsam« als Richtschnur des Verhaltens. Breite oder Enge der Bildung, das Fortdauern des Bildungshungers oder sein Erlöschen hängen sowohl von der Begabungs­stärke des einzelnen als auch ebenso von der gruppenspezifischen Einstellung ab, und zwar von der Bereitschaft, die eigenen kollektiven Urteilsschemata kritisch ins Bewußtsein rücken zu lassen. Keine Gesellschaft ist hierin sehr tolerant, was wiederum mit der Aufgabe zusammenhängt, die Individuen durch Anerkennung dieser Werte in die Gruppe eingegliedert zu erhalten.

Betrachtet man diese Einschüchterung des einzelnen bei seinen Versuchen, den Dingen, vor allem den sakrosankten Selbstverständlichkeiten in der eigenen Familie, im eigenen Stand, in der Politik und so weiter auf die Spur zu kommen, so kann man sich nicht einem Eindruck verschließen: Es gibt offenbar sehr viel mehr Menschen, die durch früh übernommene Vorurteile in ihren Neigungen zerstört und in ihrer natürlichen Neugier, in ihrem Suchen nicht angesprochen oder gar niedergeschrien wurden, als von der Anlage her unbegabte und unbewegliche.

 

Drei Bildungsebenen  

Erst nach diesem Versuch, das dynamische Element der Bildung hervorzuheben, können wir jetzt weitere Unterscheidungen an ihr treffen. Man wird eine im Leben des einzelnen frühe, vorkritische, relativ bewußtseinsarme Bildung von einer zunehmend des kritischen Bewußtseins sich bedienenden unterscheiden können. Imitation und fraglose Erfahrung stehen am Anfang unseres Weges. Es folgen Identifikationen mit Vorbildern, denen wir nachstreben, sowohl in Sachkenntnis wie in der Eigenart ihrer Selbstgestaltung und im Umgang mit anderen Menschen. Schließlich können wir diese unsere Entwicklung begleitenden Aneignungen, bei denen wir Vorbildliches in unser Wesen einbilden, nochmals ein Stück weit in der Richtung auf Selbstverwirklichung überschreiten.

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An welche Fähigkeiten kann der Bildungsanspruch anknüpfen, und welche Äußerungsformen der Persönlichkeit sollen geformt werden? Beim Wort »Bildung« denkt man zuerst an die intellektuellen Fähigkeiten des Erlernens von Sachwissen; Sachbildung wird am leichtesten assoziiert, wenn man von einem gebildeten Menschen spricht. Die Bildung der Affektäußerungen im Sinne einer Selbstformung des Verhaltens — zuerst in Identifikation und schließlich in einer ungehinderteren Selbsterfahrung — ist ein zweiter unerläßlicher Bildungsweg, den wir zurücklegen müssen. Mit der Affektbildung eng verknüpft, aber doch nicht mit ihr identisch ist die Sozialbildung. Damit ist unsere Fähigkeit gemeint, die Andersartigkeit der mit uns lebenden Menschen kritisch aufnehmen, anerkennen und uns auf ein gemeinsames Leben mit ihnen einstellen zu können.

Diese Formel ist freilich trügerisch, obgleich sie die kooperativen Leistungen in der »Sozialbildung« beschreibt. Denn sie berücksichtigt nicht die aktuellen Machtverhältnisse, das faktische Übergewicht der Bräuche, der wertenden Einschätzungen und des kollektiven Zwanges, sich auf sie einzustimmen. Die passive Anpassung zur Konformität wird meist mit wenig Einfühlung in die Eigenwelt des anderen erzwungen, in die individuelle Variante und ihre probierenden Versuche, sich zu entfalten. Erziehung ist unendlich öfter Terror als Führung zur Selbständigkeit. Die unüberschaubare Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der gegenwärtigen Großgesellschaften wird in der öffentlichen Meinung kunstvoll verdeckt und verniedlicht. Die öffentliche Meinung gibt sich aufgeklärt, aber in Wahrheit übt sie eine andere Funktion aus (wie seit je): über die Abgründe, das heißt über Widersprüche, Unkenntnis, das Sinnlose vieler Anstrengungen hinwegzutäuschen, aber doch zugleich so viel Angst zu erwecken, daß sich das Individuum zur Masse hält.

 

Die dialektische Funktion, die Erziehung erfüllen sollte  

Die Mittel der Vernichtung, zu deren Anwendung die öffentliche Meinung wieder einmal aufrufen könnte, sind jedoch so gefährlich, für die biologische Substanz so zerstörerisch geworden, daß Wege gefunden werden müssen, die Methoden der Erziehung zu ändern. Erziehung muß in sich selbst eine dialektische Funktion erfüllen: Sie muß in die Gesellschaft einüben und gegen sie immunisieren, wo diese zwingen will, Stereotypen des Denkens und Handelns zu folgen statt kritischer Einsicht. 

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Eine der wichtigsten Aufgaben der Gesellschaft liegt darin, eine öffentliche Meinung zu schaffen, die sich durch Gegensatz und Alternative auf ihre Entscheidungen vorbereitet. »Soll öffentliche Meinung legitim jene Kontrollfunktion ausüben, welche ihr seit Locke die Theorie einer demokratischen Gesellschaft zuschreibt, dann muß sie selbst in ihrer Wahrheit kontrollierbar sein.«1) Dieser Aufgabe sollte die Sozialbildung in unserem Kulturbereich dienen; in ihr muß jener Schritt über den Wiederholungszwang der Geschichte hinaus in eine neue Ordnungsstruktur des Sozialen erarbeitet werden, ohne dessen Vollzug unsere Freiheit sich entleeren wird. Gegen eine solche Forderung ist mit dem massiven Widerstand der Institutionen zu rechnen.

Die tradierten Religionen orientieren das Ziel ihrer Erziehung am Einüben in den Glauben, und die machtstarken autoritären Ideologien und ihre Machtkörper übertreffen sich selbst im selben Glaubensfanatismus. Unzweifelhaft haben sie in das tägliche Leben von Abermillionen Menschen Erleichterungen gebracht. Wer vor ein paar Jahrzehnten noch nichts weiter als ein passiv Geschichte erleidender Analphabet war, hat keinen Grund, sich den Kopf über die Wahrheit der Theorien zu zerbrechen, die ihm zu einem menschenwürdigeren Dasein verholfen haben. Die Asynchronie der Geschichte weist uns aber einen anderen Platz an; für uns steht die Frage offen, ob der Glaubensgehorsam, den wir so lange in der Geschichte praktiziert haben, jenen Grad der Differenzierung gültig beantwortet, der sich im geschichtlichen Prozeß in unserem Kulturraum hergestellt hat. 

Es gibt genügend traditionalistische Kräfte in unserer Gesellschaft, die keinen Grund für eine Revision der Bildungsaufgaben sehen. Fatalerweise treffen sie sich in der Methodik — nämlich dem Einschwören des Individuums auf unantastbare Tabus, im Setzen von Denkhemmungen der kritischen Vernunft — mit ihren geschworenen Gegnern, die aus anderen Bewußtseinsinhalten die gleiche Glaubensgewißheit ableiten und mit der statistischen Majorität der manipulierten Öffentlichkeit den Beweis der Richtigkeit antreten. Man muß sehr genau zu unterscheiden lernen, daß eine Revolution, wie zum Beispiel die russische, zu materiellen Erleichterungen führen kann, daß sich aber die Methoden der Herrschaftsform, der sie zur Macht verhilft, in ihrer inneren Struktur vorerst nur wenig von denen unterscheiden, die sie abgelöst hat.

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Es ist eine der Leitideen bei den Überlegungen, die in diesem Buch angestellt werden, zu zeigen, daß die Erhaltung der Freiheit im gegenwärtigen Augenblick der Geschichte nicht nach der Repetition der Erziehungsmaximen der Vergangenheit, sondern nach einer Revision der Bildungs- und Erziehungspraxis verlangt. Nur wenn es uns gelingt, den Terror, den Erziehung im Raum unserer Gesellschaft — unbemerkt, gleichsam als soziale Selbstverständlichkeit — ausübt, weiter ins Bewußtsein zu bringen und zu überwinden, können wir hoffen, uns gegen den so vorzüglich ausgeübten und erfolgsprämiierten Ideologiezwang jener Geschichtsmächte zu behaupten, denen das Individuum als Entscheidungsort der Freiheit ein Dorn im Auge ist. 

Eine Gesellschaft, die sich darin einig ist, die Wahrheit ihrer Grundlagen zu erforschen, und die korrigiert, was der Prüfung nicht standhält, immobilisiert sich dadurch nicht. Sie ist eben nicht dem Tausendfüßler gleich, der über der Besinnung auf den Rhythmus seiner Beinbewegungen heillos ins Stocken gerät. Der Mensch stolpert, wenn er nicht nachdenkt und nicht nachdenkend entscheidet, was als nächstes kommt — er stolpert so in sein persönliches wie in sein kollektives Unglück. Alte Freiheitsideale werden uns nicht beschützen, wenn wir sie nicht neu an der Wirklichkeit erproben. »Freiheit« ist ein Stück der Wahrheit, auch sie haben wir nicht für immer und nicht als Gewißheit; wir müssen sie mit viel Eingeständnis und Überwindung von Angst neu erfahren, um sie verteidigen zu können. Kehren wir jetzt aber nochmals zu den drei Bildungsaspekten zurück, um vorbereitend zu klären, was jeder von ihnen für die umrissene historische Aufgabe leisten kann.

 

Sachbildung

Es ist nicht einfach, die Sachkenntnis der Fachleute von der Sachbildung abzugrenzen. Wer alles über das »Hildebrandslied« oder alles über die »Syphilis« oder den »Benzolring« weiß, kann damit berufstauglich sein, aber er braucht deshalb nicht ein Gebildeter zu sein; denn sein Sachwissen kann ohne Beziehung zu seiner Selbstwahrnehmung und ohne gestaltenden Einfluß auf sein soziales Verhalten bleiben. 

Wieweit Fachbildung auch der Wahrheitssuche und nicht überwiegend pragmatisch der Existenzsicherung dient, hängt vom Überdauern der Neugierhaltung, von der Entwicklung der Gefühlsfähigkeit, hängt von der Art ab, wie Begabung in jedem einzelnen gefördert wurde, zum Beispiel, ob es ihm gelingt, über die momentanen Anforderungen seiner Karriere hinaus den Blick offen zu behalten, Interesse zu verspüren. Gelungene Sachbildung trägt ohne Zweifel zur Sinnorientierung bei, aber sie ist eine ihrer Voraussetzungen, nicht die Sinnorientierung selbst.

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Affektbildung

Affektbildung ist etwas davon wesentlich Verschiedenes. Vielleicht läßt sich mit »Affektbildung« am besten die »Kultiviertheit« eines Menschen umschreiben. Er soll sich in dem von seiner Kultur vorgeschriebenen Verhaltensstil und dennoch persönlich ausdrücken können.

Wissensdrang hat in dieser Form des Gebildetseins die eigene Person in actu, im Augenblick der Handlung erreicht. Ein solcher Mensch will wissen, wer er ist, wie er sich verhält, wenn er erregt ist; er will auch in der Erregung ein Gefühl für sich und ein Gefühl für den Partner behalten. In den Affekten erfahren wir innere Triebregungen im Zusammenspiel oder im Zusammenprall mit den Objekten der Außenwelt, die zur Milderung der Triebspannung verhelfen können. Wir sind gierig, hungrig, zornig, liebesverlangend. Diese inneren Gestimmtheiten entsprechen unseren in diesem Augenblick ungesättigten Triebwünschen. Wie verhelfen wir solchen Wünschen zur Befriedigung? Dafür gibt es kein arteigenes, eingeborenes Verhaltensmuster wie bei den sozial lebenden Tieren, sondern unser Verhalten wird gruppenspezifisch nach affektiven Verhaltensmustern bestimmt. Die soziale Mitwelt sagt uns, was wir tun müssen, dürfen, nicht dürfen, was absolut verboten ist und wie wir uns zu benehmen haben.

Die arteigenen Verhaltensmuster der Tiere bestimmen deren ganzes Verhalten in den Drangstimmungen der Paarung, der sozialen Rangkämpfe, dem Beutetier oder dem Feind gegenüber. Aus diesen Verhaltensweisen gibt es kein Entrinnen. Tiere können zwar auf der Nahrungssuche Entdeckungen machen, aber in ihrem sozialen Verhalten müssen sie sich starr nach arteigenen Verhaltensmustern

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benehmen, die sie nicht variieren können. Die Kohlmeisen in England zum Beispiel sind bei der Nahrungssuche zu der Entdeckung gekommen, daß unter dem Deckel der Milchflaschen auf den Fensterbänken sich ein als Nahrung beliebtes süßes Fett befindet. Das haben die englischen Kohlmeisen eine von der anderen gelernt. Sie haben ihr Sachwissen erweitert, aber keine englische Meise und auch keine andere Meise könnte sich in dem Verhalten ihren Artgenossen gegenüber auch nur im geringsten ändern. Etwa im Vollzug des Paarungsverhaltens gibt es keinerlei Möglichkeit individueller Gestaltung; jedenfalls können wir nichts dergleichen erkennen.

Die an Affekte geknüpften kultur- und gruppenspezifischen Verhaltensweisen, die dem Menschen anerzogen werden, sind demgegenüber sehr viel ungesicherter und unendlich kurzlebiger. Seit den Tagen des Ibykus hat sich das soziale Verhalten der Kraniche nicht geändert. Bei den Menschen aber gibt es kein Gebot, kein Tabu, kein Gesetz, das nicht übertreten würde; auch die schärfste Strafe kann davor nicht schützen. Die Motivierung solcher groben Verstöße sind Triebwünsche, die von den Lernvorgängen in der sozialen Gruppe nicht aufgefangen wurden, die also nicht in der Gruppe nutzbar gemacht worden sind und die auch der einzelne nicht kontrollieren kann, die durch ihn hindurch geschehen, gewissermaßen in einem Kurzschluß, in dem das Ich mehr oder weniger ausgeschaltet ist. Das Ich und das Gewissen des Menschen - beide vermögen sie nicht zu verhindern. Hier kommt der Triebüberschuß, den die Gesellschaft nicht auf ihre Ziele abzulenken vermochte, zum Zuge.

Im einzelnen mögen diese Vorgänge sehr kompliziert sein; sie alle sind die Folge davon, daß wir keine ausreichende Verhaltenslenkung durch eingeborene Steuerungen ererbt haben. Wir lernen individuell die Gesetze des Verhaltens in unserem sozialen Bereich. Aber moralische Gesetze sind veränderlich. Sie werden durch gesellschaftliche Prozesse, etwa die Änderung der Produktionsgrundlagen, zur Wandlung gezwungen. Andererseits wirkt auch die Suche nach dem »Glück«, nach einem Zustand unbedrohter und entspannter Freiheit, als dauernde Gegenkraft gegen das Joch der sozial diktierten Verzichte. Moralen werden übertreten. Ihre Veränderlichkeit und die Neigung, oft der Zwang, sie zu verletzen, hängen strukturell zusammen. 

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Solcher Zwang mag bald stärker aus den veränderten Grundlagen der Gesellschaft kommen, denen die Moral sich noch nicht angepaßt hat, bald mehr aus den ungebärdig gebliebenen oder anarchisch gewordenen Triebgrundlagen des Individuums. Der Kriminelle, der die Gesetze übertritt, ist dafür ein extremes Beispiel. Auch wir, die wir nicht kriminell sind, haben zahllose Affekte, in denen wir sehr triebgelenkt handeln, einem Triebbedürfnis ohne Ansehen des Eigenwertes des anderen zur schnellen Befriedigung verhelfen und in denen unser Verstand dann nichts anderes tut, als diesen Tatbestand mit Argumenten zu beschönigen. »<Das habe ich getan>, sagt mein Gedächtnis. <Das kann ich nicht getan haben> - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.« (Friedrich Nietzsche)2)

Nietzsche beschreibt hier zwei Funktionen des Ichs: die Realitätsprüfung und ihre Erinnerungsspur als Leistung des kritischen Ichs: »Das habe ich getan«, und die Realitätsverleugnung, die Verdrängung, die das gleiche Ich im Dienste der Selbstbehauptung, des Sozialprestiges, der Aufrechterhaltung der sozialen Rolle vornimmt: »Das kann ich nicht getan haben.« Die Tätigkeit dieses Ichanteils ist der Selbstbesinnung weitgehend, wenn auch nicht prinzipiell entzogen.

Unser Ich vermag offenbar unter den Argusaugen der sozialen Mitwelt und des Gewissens, als der verinnerlichten Mitwelt, die Genauigkeit seiner Wahrnehmung, die nackte Wahrheit, die Einsicht in das wirkliche, triebgelenkte Verhalten nicht festzuhalten; weil eben angsteinflößende Konflikte mit äußeren Richtern und mit dem inneren Richter des Gewissens drohen. Der Intellekt, das heißt das bewußte, verstandeslogische, kritische Ich, ist offenbar nicht ungestört Herr im Hause. Es trachtet, den Konflikt mit den Gesetzes- und Verbotsvorschriften zu vermeiden, und gibt sich -formalistisch vereinfacht gesprochen - dazu her, Motive zu erfinden, die nicht egoistisch, sondern altruistisch klingen. Dadurch entsteht eine innere Entfremdung in uns selbst, nämlich zwischen der rationalisierenden Täuschung über unsere eigenen Handlungsmotive und den Triebbedürfnissen, welche die Handlung tatsächlich erzwangen. Die Grade solcher inneren Entfremdung oder Spaltung zwischen den wirksamen, aber zur unbewußten Wirksamkeit gezwungenen Triebregungen und den rationalen Scheinbegründungen, die den

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Ansprüchen des Glaubens, der Ideologie, der Gewohnheiten genügen, sind schwankend; sie können sehr groß sein. Die Entfremdung kann auch nur einzelne Triebregungen betreffen, die besonders stark durch die Gruppenhaltung abgewertet und tabuiert sind.

Freud hat sehr deutlich zwei Arten von sozialer Äußerung unterschieden. Einmal das »kulturheuchlerische« Verhalten3, in dem nur oberflächlicher Konformismus erreicht wird. In ihm verhalte ich mich so lange sozial, als zum Beispiel ein äußerer Richter aufpaßt; meine egoistischen Triebregungen setzen sich aber sofort durch, wenn - Gelegenheit macht Diebe - niemand mehr da ist, der mich kontrolliert. Die zweite Verhaltensweise ist verführungsbeständiger; sie ist stärker an die Forderungen der Mitmenschlichkeit gebunden, sie stellt einen höheren Grad der »organisierten Kultureignung« dar. Diese auch in großen Triebspannungen und Erregungen nicht aussetzende Besonnenheit deutet auf eine starke Organisation der kritischen Ichleistungen, die sich nicht zur Rationalisierung - das heißt zur Scheinbegründung - mißbrauchen lassen. Romain Rolland hat diese aequanimitas, diesen Gleichmut eines fühlenden Menschen, in hohem Maße besessen. Deshalb sind seine Tagebücher aus den Jahren 1914 bis 19194 ein Dokument von größter Bedeutung. Vielleicht keine andere Quelle hat so unerbittlich festgehalten, wie 1914 bis in die höchsten Ränge der geistigen Aristokratie hinein ein vollkommener Zusammenbruch der Reali-täts- und Selbstkontrolle auf beiden Seiten der Kriegführenden stattgefunden hat.

Wir finden also beim Menschen kein biologisch, das heißt erbgenetisch festgelegtes Sozialverhalten. Statt dessen erlernt er grup-pen- und kulturspezifisch seine Triebkontrolle. Er lernt, daß man mit den Triebanlagen sozial angepaßt umgehen muß, um in einer kulturell erträglichen Weise leben zu können. Nur unter dieser Voraussetzung kann langsam aus Aggressivität, das heißt »blindem«, sozial nicht geprägtem Drang, Aktivität in gekonnter Leistung werden, aus purem Sexualdrang eine liebende mitmenschliche Beziehung.

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Eine gleichsam stumme Alternative zur flagranten Verletzung der Sozialgebote ist die Überanpassung. Hier ist das »Gewissen« zu einer so bedrohlichen Kraft angewachsen, daß es auch die feineren individuellen Abweichungen der moralischen Entscheidung unterbinden und das Individuum starr automatisiert handeln lassen will. Die psychische Situation ist dann durch einen Gewissensterror ausgezeichnet, der mit der Erweckung unerträglicher Schuldgefühle und Schuldangst ausgeübt wird. Diese formale Rechtgläubigkeit, Rechtschaffenheit, Konformität steht aber einer Vermenschlichung als wachsender Freiheit der Entscheidung ebenso im Wege wie das Unterworfensein unter blinde Triebdiktate. Bei genauerer Analyse findet sich im Überangepaßten häufig ein geheimes »Ausschweifen« in recht unverhüllter Art, noch häufiger ist seine Rechtschaffenheit durchsäuert mit sadistischen Triebbefriedigungen, die jede Verfeinerung der mitmenschlichen Beziehungen erst gar nicht aufkommen lassen. Die Trostlosigkeit eines solchen »Sittenrichters« und des »Sittenbrechers« haben viel miteinander gemein.

Affektbildung kann also nur heißen, daß die Konflikte zwischen den unausweichlichen inneren Drangerlebnissen und den sozialen Normen gemildert werden, daß wir eine innere Toleranz für den Umgang mit Konflikten entwickeln, die wir erleben, und bestrebt sind, das »Gedächtnis« im Sinne des Nietzsche-Wortes gegen jene Vergeßlichkeit zu sichern, die uns von uns selbst entfremdet. Die Kultur der Affekte ist das eigentlich schwerste Bildungsziel. Mehr von sich selbst, von der Wirklichkeit über sich selbst als Triebwesen zu wissen ist nur in schmerzhaften Erfahrungen zu erreichen. Nietzsche setzt die oben zitierte Stelle mit folgenden Worten fort: »Man hat schlecht dem Leben zugeschaut, wenn man nicht auch die Hand gesehen hat, die auf eine schonende Weise - tötet.« Und schon bei Pascal heißt es: »Niemals tut man so vollständig und so fröhlich das Böse, als wenn man es mit gutem Gewissen tut.«5 Dieser Satz beschreibt die komplette Vorurteils-Blindheit, über die wir, was die Vergangenheit betrifft, schon so oft selbstsicher gelächelt haben, zum Beispiel über die Menschen, die Hexen verbrannten; aber man wird zugeben müssen, daß sich solches Geschehen unverändert und vervielfacht in unserer Zeit und unter unseren Augen abgespielt hat und abspielt.

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Wir haben jetzt einige Voraussetzungen für die Definition des Bildungsbegriffs gewonnen. Bildung hat eine vielfältige und oft nicht klar abgrenzbare Bedeutung. Ein gebildeter Mensch ist jemand, der Kenntnisse erworben hat, aber zugleich auch in seiner Triebhaftigkeit, seiner Affektivität »kultiviert« ist, »Manieren« hat — wie unsere Großeltern noch in einem umfassenderen Sinn als dem bloßer Etikette zu sagen pflegten; er soll sich in dem von der Kultur vorgeschriebenen Verhaltensstil persönlich ausdrücken können. Im Deutschen haben wir noch das etwas sentimental stilisierte Wort der »Herzensbildung«, das wieder durch die Zusammensetzung von »Herz« gleich »Affekt«, »Gemüt«, »Leidenschaft« und »Bildung« gleich »Formung«, »Gestalt« beziehungsweise »Gebildetsein« gleich »Erzogensein« auf diesen Aspekt der affektiven Bildung verweist. Ein Gelehrter allein braucht kein Gebildeter zu sein, ein hochbegabter und erfolgreicher Fachmann auf irgendeinem Gebiet schon gar nicht. Die Aufmerksamen unter den sogenannten »Gebildeten« sind oft überrascht, welche Einsicht, welche Abgewogenheit des Urteils, welche Sicherheit in sich selbst sogenannte »einfache Leute« besitzen können. Affektbildung ist also kein Klassen- oder Kastenprivileg, sie ist auf den verschiedensten Ebenen der Berufsvorbildung erreichbar. Das wird so leicht übersehen, weil man Bildung meist sehr gruppenzentrisch denkt, nur die gruppeneigenen Merkmale sieht und gelten läßt.

Man spricht dann zum Beispiel von einem ungebildeten Menschen, wenn er eine bestimmt komponierte »Allgemeinbildung« vermissen läßt, oder noch sorgloser schon dann, wenn er einer niederen sozialen Sphäre angehört als man selbst. Bildung zu haben, als gebildet angesehen zu werden ist mit Prestige verbunden, und dieses Prestige reserviert man gern für sich und seinesgleichen - das heißt für die Eigengruppe. Nach gelungenen Revolutionen ist die Abwertung der Bildung der bisher führenden Schichten und die Einsetzung eines neuen Bildungstypus sehr deutlich. Wir können daraus einen interessanten Hinweis entnehmen, wie gruppenabhängig das Bildungsgeschehen in der Breite ist und wie wenig es vorerst tolerant zu stimmen braucht. Einfühlen und Eindenken in die Wertungen fremder Gruppen stellt die meisten Menschen vor eine unlösbare Aufgabe. Die Relativierung der eigenen Gruppennormen, die damit vollzogen werden muß, erweckt so viel Angst und Schuldgefühl, daß der einzelne dem gewöhnlich nicht gewachsen ist. Nur die kollektiven Umschwünge zu neuen Gruppenwerten vollzieht er leichter. 

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Die soziale Verteilung des Sachwissens hat sich in der Neuzeit gänzlich geändert. Hier hat sich eine » Fundamen taldemokratisie-rung«8 vollzogen. Die auf magischem Denken begründeten Privilegien, die mehr noch in der Kasten- als in der Klassengesellschaft unüberspringbare Schranken darstellen, sind im Hinblick auf Wissensbildung eingeebnet. Affektive Bildungskontakte über die Grenzen der eigenen sozialen oder politischen Provinz hinaus stellen uns immer noch vor die größten Schwierigkeiten des Erlebens und Er-fahrens. Ein in diesem Sinne ungebildeter Minister oder Wirtschaftsführer sind schließlich keine Ausnahmen, und Reisende, die wenig vom Fremden am Menschen, der ihnen außerhalb des gewöhnten Umkreises begegnet, verstehen, sind eher die Regel. So reist man auch leichter zu Landschaften, Sehenswürdigkeiten, wie Baudenkmälern, Museen und so weiter, als zu den leibhaftigen Bewohnern dieser Landschaften und Städte. Die Sprachgrenzen zeigen deutlich genug die Unauflösbarkeit des Problems. Einerseits sind die historisch gewachsenen Gruppen sprachgetrennt (und damit entschieden kommunikationsgehindert), andererseits ist dieses Sonderwachstum ein Ausdruck der Fülle der Gestaltungsmöglichkeiten auch im affektiven Verhalten. Die wachsende Weltzivilisation bringt wohl eine Einebnung dieser Vielheit zu wenigen Hauptstilen der Gruppenbildung mit sich, wobei viel von der geschichtlichen Fülle (bei kleiner Menschenzahl in den Gruppen) der Masse und ihren Lebensrechten geopfert werden muß. Welche neuen Differenzierungen im Wachstum zur Massenhaftigkeit, welche Gliederungen der Massen selbst noch geschaffen werden, ist ganz unklar. Das Massendasein erfordert keine sehr tiefe affektive Einstimmung vom einzelnen; er wird vielmehr von kollektiv sich ausbreitenden Stimmungen (Unlust, Resignation u. ä.) erfaßt. Dabei hat er gegenwärtig nur die beschränkte Möglichkeit, seine Triebspannungen, vor allem die aggressiven, in gekonnter Aktivität auszuleben.

 

Sozialbildung

Bisher haben wir von der Such- und Affektbildung (oder Gemütsbildung) gesprochen. Im folgenden widmen wir uns der Sozialbildung, in welcher die affektiven Verhaltensweisen der einzelnen

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Mitglieder aneinander Form gewinnen. Hier entscheidet sich der soziale Stil einer Gruppe. Hier wird das Gewissen geformt, und hier wurzeln auch Vorurteile aller Art. Was in der Sittenerziehung absichtlich angestrebt wird, die Sachkenntnisse und vor allem die Affektäußerungen in den Gruppenstil einzufangen, geschieht im Medium des täglichen Zusammenlebens wie von allein.

Die Problematik der Sozialbildung wird uns in den weiteren Kapiteln immer wieder beschäftigen. Im Augenblick soll nur ein leicht zu beobachtendes Phänomen herausgegriffen werden, und zwar die allgemein tief verankerte Ablehnung jeder strukturkritischen Annäherung an die großen Gruppenbildungen, etwa der Schule und schulähnlichen Institutionen, der politischen Körperschaften, unter ihnen vor allem der Parteien und ihrer Bürokratien. Am ehesten werden noch betriebspsychologische Untersuchungen gestattet, weil sich hier ökonomische Überlegungen zu Worte melden; obwohl auch im Bereich industrieller Organisationen immer noch eine psychologiefeindliche Einstellung vorherrscht. Persönliche Erfahrung, gesunder Menschenverstand scheinen zur Bewältigung der Lage auszureichen. Notwendigkeiten, zwingende Umstände, sachliche Erfordernisse treiben hier ihr Wesen, als wären sie Naturgesetze ohne Bezug zu psychischen Erfahrungen, zu inneren Vorgängen im Menschen, der das Gruppenmilieu zu bewältigen hat. Als hätte man sich diesen Regulationen mit Umsicht, Schläue, Taktik anzupassen und als spielten persönliche Strebungen neben solcher »Sachlichkeit«, Dienlichkeit, bei pflichtschuldigem Gehorsam, bei Strebsamkeit und Unterordnung, im Kräftespiel der Gruppe keine Rolle; als gäbe es keinen rücksichtslosen Ehrgeiz, keine Angst, als seien erlebte Enttäuschung, Aufsässigkeit keine natürlichen Regungen, sondern gleichsam strafwürdige Abirrungen. Sie werden in der offiziellen Darstellung schlicht verleugnet oder mit Autorität unterdrückt, wie die schlechten Gewohnheiten der Kinder, wie kriminelle Neigungen. Was übrigbleibt, ist das Vorstellungsskelett eines konformistischen Verhaltensaggregates mit einer gewissen bedauerlichen Störungsquote durch normunfähige Individuen.

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Gruppenpsychologie ist für den Lehrer, wenn dabei die Auswirkung seines Verhaltens auf das »Klassenziel« untersucht werden sollte, lange eine unbekannte und abgelehnte Wissenschaft geblieben. Praktisch wäre eine gruppenpsychologische Selbstanalyse der Lehrer zur Erforschung der wirksamen Verhaltenselemente im Lehrkörper durchaus nicht unmöglich. Study groups, Forschungs- und Lehrgruppen dieser Art sind in der dynamischen Gruppenpsychologie wohlbekannt. Eine solche Selbstuntersuchung der Wirkung ihrer Haltungs- und Wertstereotype aufeinander und auf ihre Schüler würde in der Regel vom durchschnittlichen Lehrergremium einer Schule mit Entrüstung abgelehnt werden.

Daß die Wissenschaft von der Politik etwas mit den Gesetzen affektiven Gruppenverhaltens, mit Verhaltensstereotypen, Vorurteilsverankerung und ähnlichen seelischen Prozessen zu tun haben könnte, kann man aus Studienplänen und Publikationen nur selten entnehmen; und wenn, dann meist nur in der herabsetzenden globalen Behauptung von »Massenseele«, »Vermassung« und ähnlichem. Was bewegt einen Politiker zu seiner Parteiwahl, was zur Wahl seiner Mittel, wie stellt sich ihm als erlebender Persönlichkeit die Welt dar, wo ist seine Entscheidung von umsichtiger, distanzierter Realitätseinschätzung, wieweit von seiner Erziehung, sozialen Herkunft, seiner eigenen Charakterproblematik bestimmt? Fragen, die tabu zu sein scheinen, weil sie, wie wir in späteren Kapiteln sehen werden, mit dem Rollenprestige in Konflikt geraten. Einen Lehrer, einen Professor, einen Minister, Industriellen auf seine kooperativen Fähigkeiten in der Gruppe hin zu untersuchen wird als eine Art grober Ungehörigkeit und nicht als Hilfe für die Gesamtgruppe angesehen. Man hat eben das Zeug zu einer führenden Position oder nicht; daß dabei aber oft die störendsten persönlichen Eigenschaften »von oben« ertragen werden müssen und nicht die besten Eigenschaften »unten« mobilisiert werden, wird fatalistisch hingenommen. Die Bemerkung E. H. Eriksons7, es stecke immer eine besondere Psychologie hinter einer ausdrücklichen Antipsychologie, trifft im allgemeinen zu, im besonderen auf die deutsche Situation; hier nimmt die Relation von Befehlen und Gehorchen einen höchsten Wert der Sittenerziehung ein. Diesem Aspekt der Sozialordnung wird dann die erwähnte Interpretation der sachlichen Notwendigkeit zuteil, mit der man sich weit über den Niederungen der Psychologie weiß.

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Soziale Bildung wird in Gesellschaften relativer Rollenstabilität, überschaubarer und wenig bezweifelter Machtverhältnisse ein Eingewöhnungsvorgang sein, der unausweichlich in Stagnation und Repetition des Gleichen übergeht, sobald der einzelne seine Persönlichkeit mit der definitiven Rolle verschmilzt. Unsere gesellschaftliche Situation läßt sich - auch bei ausgesprochener Vorliebe für die Erfolge restaurativer und traditionalistischer Tendenzen - nicht als gesichert bezeichnen, wenn man etwa als Vergleich das gesellschaftliche Selbstgefühl des Bürgertums auf der Höhe seiner imperialen Strukturbildungen heranzieht. Zwar funktioniert die Gesellschaft trotz einer durch Vermehrung und Produktions- und Verwaltungs-komplizierung außerordentlich erhöhten Interdependenz.

Bei allem Recht zur Klage mögen die Mißstände nicht größer sein, als sie eben bei der Unvollkommenheit menschlicher Einrichtungen immer fühlbar werden. Was die eigentliche Beunruhigung schafft, ist die Konkurrenzierung unserer grundsätzlichen Wertorientierung durch rivalisierende aufstrebende neue Gesellschaftsordnungen, die sich alle der gleichen naturforschenden Technik als Werkzeug bedienen. Sie werden, wenn nicht heute, so doch in absehbarer Zukunft, den gleichen materiellen Lebensstandard anbieten. An welchen gemeinsam erfahrenen Werten wird in einem zukünftigen Zeitpunkt, wenn die Angleichung der materiellen Befriedigungsmöglichkeiten eingetreten ist, unsere Gesellschaft sich orientieren, und welche wird sie als kollektive Identität verteidigen? Wobei »verteidigen« weder ein defensives noch ein aggressives Gewalthandeln bezeichnen muß, sondern ebenso einen Vorgang der inneren Sicherung im Sinne der Erhöhung der Kultureignung bedeuten kann, das heißt eines Beharrens auf kritischer Prüfung der Wirklichkeit und auf der gesellschaftlich garantierten Freiheit dazu. Es läßt sich jetzt schon voraussehen, daß viele Mitglieder unserer Gesellschaft nicht für die religiöse Glaubensgewißheit und viele andere nicht für die Besitzordnung auf die Barrikaden steigen, um so weniger als die Machtkämpfe, von denen hier die Rede ist, ganz im Gegensatz zur öffentlichen Meinung in Wirklichkeit nicht durch Drohgebärden und kriegerische Auseinandersetzungen, sondern vielmehr durch Angleichung administrativer Praktiken, durch Werbefeldzüge und Sprach- beziehungsweise Symbolkorruption (zum Beispiel des Wortes »Freiheit« oder »Frieden« oder »Partei« und »Parlament«) entschieden werden.

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Es wäre doch unrealistisch, um nicht zu sagen töricht, nun zu glauben, man könne vom Mann auf der Straße, der weder hungert noch friert, weder um seine Altersversorgung bangt noch auf die Nutzung seiner Begabungen verzichten muß, sondern in Maßen am Überfluß teilhat, verlangen, rot für rot zu erklären, wenn seine Gesellschaft gebietet, daß er rot grün nenne. Es muß schon ein entschlossener Wahrheitskämpfer sein, der einer Konvention um den Preis des Verlustes von Brot und Stellung entgegentritt; und die Konvention muß schon drückend sein, damit er anderen mit seiner Opposition Mut macht. Aber müssen denn die Konventionen für das Identitätsgefühl des sozial geborgenen einzelnen in den Überflußgesellschaften drückend sein? Welcher Hunger wird hier und welcher dort trotzdem ungestillt bleiben?

Stellt man die Fragen einer Sozialpsychologie so, dann muß man sich damit bescheiden, daß wir sie nur insoweit behandeln können, als die Konstante in diesen unabsehbaren Entwicklungen in Frage steht: die menschliche Natur selbst mit ihrer offenen, unabgeschlossenen Anpassungsfähigkeit.

So wichtig, so unersetzlich uns der Halt ist, den uns im Augenblick das System von Werten (und Vorurteilen) unserer Gesellschaft gibt, so müssen wir doch auch unser kritisches Bewußtsein aufrufen, das uns sagt, wie vergänglich menschliche Ordnungen sind, wie die natürlichen Triebkräfte des Menschen das Bestehende immer wieder unterhöhlt und zugleich zur Etablierung neuer Ordnungen beigetragen haben. Nennt man dies ein »kritisches Bewußtsein«, so ist es durchaus kein Katastrophenbewußtsein; aber dieses kritische Bewußtsein kann uns die Einsicht nicht ersparen, daß jene Leistungen, die zur Entfaltung des Bewußtseins in der Geschichte geführt haben, gegen die Aushöhlung nicht besser gesichert sind, als es Sozialordnungen waren, die überwiegend einem magischen Denken entsprangen. Wir wissen um die Paradoxien, an die uns die Erfahrungen der Psychoanalyse gewöhnt haben, daß sowohl im einzelnen wie in Kollektiven ein hoher Grad technischer Fähigkeit und Findigkeit — also Sachkenntnis, vielleicht sogar Sachbildung - und magische Weltorientierung durchaus gleichzeitig nebeneinander bestehen können. Ein Staat, in dem es gemäß der Orwellschen Vision höchst rational und höchst wahnhaft zugleich zugeht, ist keine Utopie, sondern ein Gebilde mit einer Fülle historischer Anklänge und mit hohem Grad der Wahrscheinlichkeit einer oder vieler Wiederholungen.

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Der Gewinn dieser unserer Überlegung ist aber trotz aller Einsicht in die Relativität sozialer Werte nicht gering. Die Alternative, die sich geschichtlich immer wieder herstellen wird, ist in sich doch wieder eine Konstante, die an die Existenz des Menschen geknüpft ist. Sie lautet nicht, ob diese oder jene Ordnung »besser«, »möglicher« - »besser«, »nützlicher« für wen? — ist, sondern ob und wo sie »wahrer« und wo sie »unwahr« ist. Unter Wahrheit verstanden wir ein Symbol, an dem sich der Erkenntniswille, die kritische Ichleistung mißt, keinen endgültigen Besitz, dessen wir in einem überhistorischen Sinn habhaft werden könnten. Übt, fordert also eine Gesellschaft in ihrer Sozialbildung von ihren Mitgliedern die Akte kritischer Wahrheitssuche: gegen eigene Affekte, gegen Magie, gegen Allmachtswahn, oder macht sie ihnen dabei Angst, um sie im Zaum, in Gehorsam zu halten? Das wird die entscheidende Wahlfrage sein, die auch in der Uberflußgesellschaft über ihren Rang entscheidet. Aber, um es zu wiederholen: Woher soll der so abhängige Mensch dieser unserer Mammutgesellschaften den Impetus, die Kraft nehmen, um die Wahrheitsfrage zu stellen, wenn seine Gesellschaft diese Frage nicht oder nur in genau abgezirkelten Grenzen vorsieht? Wo ist der Unterschied zwischen Personenkult in offen totalitären Systemen und in solchen, die sich neben totalitären Bereichen auch andere der kritischen Freiheit erhalten haben? Es ist sicher kein prinzipieller Unterschied, sondern einer der Begrenzung. Solche Grenzen verwischen sich aber rasch in der Geschichte.

Wir haben in dieser Apologie für Wahrheit nicht einer ihrer physischen Grenzen gedacht: des Hungers. Je deutlicher er als Körpergefühl ein Großkollektiv begleitet, desto wesenloser wird der Einfluß der Wahrheit. Die pädagogische Absicht dieses Buches ist es, dem antipsychologischen Affekt in unserer Sozialbildung entgegenzuarbeiten. Unsere Prämisse beruht darauf, daß nur die Stärkung wachen, kritischen Denkens das Erlöschen der europäischen Tradition verhindern kann. Diese Tradition verlangt seit den Anfängen der Aufklärung Selbstverantwortung neben dem kollektiven Gehorsam - ehrfurchtsloses Fragen angesichts von Tabus, welche frag-

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würdige Herrschaftsansprüche sichern. Hier liegt die Chance des einzelnen, mehr zu sein als ein »Knoten oder ein relativ ausgezeichneter Punkt in einem superindividuellen Netzwerk« (Gardner Murphy8). Es mag eine seltene Lebenslage sein, die diesen Einsatz erfordert, aber es muß in ihr legitim sein, sich gegen die herrschende Meinung zu entscheiden, ohne von Tod und Ächtung bedroht zu werden. Wir sehen voraus, daß um diese Freiheit der Entscheidung hinter den großen ideologischen Auseinandersetzungen gerungen werden wird.

 

Bildung, ein Kompositum

Bildung ist also ein Kompositum, ein Zusammengesetztes aus Formungsvorgängen ganz verschiedener Art. Unterscheiden wir zusammenfassend zweierlei Markantes an ihr: Sie enthält das Ergebnis von Lernvorgängen auf der Ebene der Intelligenz, im gröbsten Stoffaneignung. Pures lexikalisches Wissen empfinden wir mit Recht als einseitige, fragmentarische Bildung. Die andere Forderung, daß Inhaltswissen mit Kritik verbunden sein müsse, um wirkliche Bildung zu verraten, weist auf einen zweiten Bildungsweg, den wir durchlaufen: die Formung, die unsere Affekte und unser affektives Verhalten erfahren, und zwar gruppen- und kulturspezifisch. Vieles Wissen, das wir aufspeichern, vor allem das geschichtliche, ist in hohem Maße mit Werturteilen verknüpft. Sie sind das Ergebnis einer affektiven Reaktion auf Vorgänge in der Welt, und an ihnen entzünden sich die Affekte von neuem. Auf diese Weise standen affektive Vorurteile und das in ihnen enthaltene Scheinwissen von jeher erfolgreich einer prüfbaren Sachkenntnis im Wege. Auf dem Gebiet der alltäglichen Menschenkenntnis und Menschenbeurteilung ist das augenfällig genug. Wir beobachten, »daß sich die scharfsinnigsten Menschen plötzlich einsichtslos wie Schwachsinnige benehmen, sobald die verlangte Einsicht einem Gefühlswiderstand bei ihnen begegnet, aber auch alles Verständnis wiedererlangen, wenn dieser Widerstand überwunden ist«.(9)

Ein Vorurteil ist in der Regel die vorgebildete Form, in der sich Gefühlsregungen einordnen, die den Status quo bedrohen. Der Vorgang der Überprüfung eines Vorurteils erschüttert erst einmal den

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Status quo, untergräbt ein Stück weit unsere eigenen sozialen Selbstverständlichkeiten, weil ja auch den fremden Einstellungen, die das Vorurteil abtun will, eine faszinierende Sicherheit anzumerken ist. Erkennendes Eindringen in das bisher Unverstandene leitet den so quälenden Vorgang einer drohenden Selbstentwertung ein, den wir - und das ist die ökonomische Funktion des Vorurteils — möglichst noch vor den schmerzlichen oder unlustbereitenden Erfahrungen fast reflexhaft beenden. Für nichts anderes vermögen wir so zahlreiche Begründungen zu mobilisieren, als wenn es darum geht, die mit unserem Selbstgefühl verbundenen Wertungen aufrechtzuerhalten und dabei die Wertorientierung der »Fremden« abzulehnen.

Als gutes Beispiel für die unbewußte affektive Gebundenheit auch wissenschaftlicher Interpretation eines Phänomens bietet sich abermals die Schizophrenie an. Sie galt lange und gilt noch für eine beträchtliche Gruppe psychiatrischer Forscher als eine organische Psychose, das heißt als ein Prozeßgeschehen, das sich unbeeinflußt von Konflikten mit der sozialen Mitwelt durchsetzt. Nun ist sicher die Schizophrenie vorerst eine Sammeldiagnose für eine Reihe psychopathologischer Erscheinungen. Hinter dieser beschreibenden Zusammenfassung verbirgt sich eine Vielzahl von Entwicklungswegen, die in diesen Verband von Symptomen einmünden. Einmal mag es eine besonders niedrige Belastbarkeit des Individuums für die unvermeidlichen Enttäuschungen des Lebens sein, also ein konstitutionelles Element, das vorherrscht; das andere Mal eine, wie Lidz nachwies, sehr spezifische psychische Entbehrungssituation in der Kindheit. Zwischen überwiegendem somatisch-psychischem Entgegenkommen und extremer psychischer Belastung durch soziale Faktoren liegt ein breites Mischungsspektrum. Diese Alternative wird aber mit der Annahme, eine schizophrene Erkrankung sei primär (wenn auch unbekannten) organischen Ursprungs abgelehnt. Die Hartnäckigkeit, mit der diese Theorie durch Jahrzehnte verteidigt wurde, hat nicht ihren Ursprung in unvoreingenommenem wissenschaftlichem Denken, sondern in der unbewußten Abwehrhaltung derer, die mit Geisteskranken umzugehen haben. Wenn die Wahninhalte gar keinen Bezug zu unserer sozialen Realität haben, wenn sie keinen Konflikt widerspiegeln, der von einzelnen nicht anders als mit einer wahnhaften Verleugnung der Realität beant-

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wortet werden kann, dann kann der Arzt, wie der Mitmensch überhaupt, zu dieser höchst beunruhigenden Krankheit als purer Verrücktheit, als sinnlosem Zerfall der geistigen Persönlichkeit ungestörte Distanz halten.

An der Einschätzung dessen, der mit unserer sozialen Welt zerfallen ist (und das gilt auch für viele Kriminelle), sind demnach nicht nur Erkenntnis-, sondern auch Abwehrvorgänge beteiligt. Sie stützen das psychische Gleichgewicht der Gesunden, die dadurch Sicherheit über alle rationalen Beweismittel hinaus zu besitzen glauben10. Aber das kann nur gelingen, wenn die Abwehr als solche unerkannt bleibt; die Theorie von der Schizophrenie als einer rein organisch bedingten Erkrankung - ohne Mitbedingungen in der sozialen Mitwelt - liefert die unverdächtige Aussage; die affektive Heftigkeit, mit welcher sie gegen andere Auffassungen verteidigt wird, verrät den unbewußten Zusammenhang. Auch bei weniger erschütternden Krankheiten ist es ein unbeliebtes Vorgehen, das persönliche Leben und seine Ereignisse in einem Wirkzusammenhang mit der Krankheit zu sehen11. Die Widerstände, die sich gegen ein ruhiges Durchdenken dieser Möglichkeit bei vielen Ärzten und wahrscheinlich der Mehrzahl ihrer Patienten erheben, sind irrationaler Art. Eine amerikanische Untersuchung an einer psychiatrischen Klinik zeigte, daß zwischen der jeweiligen Schulrichtung der diagnostizierenden Psychiater und der Häufigkeit der von ihnen festgestellten Schizophrenien beziehungsweise Psychoneurosen (also erlebnisbedingten Erkrankungen) eine eindeutige Beziehung bestand12.

Das hier herangezogene medizinische Beispiel ließe sich durch nicht wenige vergleichbare aus anderen Forschungsgebieten, aus der Politik und so weiter in Gegenwart und Vergangenheit ergänzen.

Geprüftes Urteil, Sicherheit in der Beurteilung der Wertvorstellungen der eigenen Kultur, weiter Horizont für das, was in anderen Kulturen hohe Achtung erfährt, das sind Eigenschaften der Reife, einer Bildung, in welcher die Affekte im Wahrnehmen zurücktreten können und dadurch unser Bild von der Welt nicht im Augenblick des Wahrnehmens bereits stören und verzerren. Die Funktion der Affekte in diesem Augenblick ist Abwehr des Unbekannten, Fremden. Denn Fremdes, das mit Macht ausgestattet erlebt wird, stört das Gleichgewicht, erweckt Angst.

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Die Vorurteile, die mit dem Affekt verschmelzen, dienen also der Erhaltung des Gleichgewichtes. Auf die Komplexität des Vorganges werden wir später noch mehrfach zurückkommen. Insgesamt sind die Fähigkeiten der Affektkontrolle und der Distanzierung von Gefühl, das sich automatisch mit Werten einstellt, Eigenschaften, die nicht leicht zu entwickeln, deshalb selten sind. Aber es sind die Eigenschaften, auf die es in einer Welt der Massengesellschaften, die über ihre eigene Vernichtung bestimmen kann, ankommt - zukünftig noch mehr als heute.

 

Affekte und die Abwehr des Fremden

Ein Blick auf die Sozialgeschichte zeigt, daß Affekte im Gruppenleben eine doppelte Auswirkung haben. Sie einen die Gruppe und dienen der Abwehr des Fremden. Ihnen gegenüber erweist sich das intellektuelle Neugierverhalten als lange Zeit unterlegen. Das Bekanntwerden sozialer Gruppen untereinander erfordert meist Generationen. Man denke an die Erbfeindschaft benachbarter Familiengruppen und auch an die zwischen Völkern. Ein Krieg zwischen Bayern und Preußen war vor hundert Jahren noch möglich, ein vergleichbarer Zwist scheint heute innerhalb der westeuropäischen Völker kaum noch stattfinden zu können. Aber welcher Preis wurde für diese Angleichung bezahlt! Zudem scheint sie nur dadurch erreichbar, daß sich die aggressiven Handlungsbereitschaften auf andere Objekte verschoben haben. Der Begriff der Nähe ist relativ. Zwischen den sozialen Wertskalen der Franzosen und Deutschen entsteht langsam wechselseitige Duldung; die Unterschiede werden nicht mehr als bedrohlich ausgelegt. Im gleichen Augenblick entstehen aber neue Polarisierungen der Macht, etwa zwischen der westlichen Welt und Rußland oder China. In ihnen erleben sich die Partner erneut als Feinde, als unverständlich, erhalten abstoßende Züge, die sie wechselseitig an sich wahrnehmen, und diese Wahrnehmungen sind emotionell im höchsten Grade besetzt. Diese Spannungen treten an die Stelle der gemilderten alten, so daß man hier einen Hinweis darauf erhält, wie in ihnen der ungesättigte, Unlust bereitende Triebüberschuß, der im eigenen Kulturbereich entsteht, auf den jeweiligen Feind abgelenkt wird. Das erklärt gewiß nicht

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alle Motivationen solcher Feindverhältnisse, wohl aber ihre zählebige, irrationale Eigenart. Sie entstehen eben nicht nur aus faktischen Interessenkonflikten, sondern aus emotionellen Bedürfnissen des menschlichen Gruppenlebens, insbesondere aus den Versagungen der eigenen Gruppe. Die affektiven Reaktionen darauf suchen sich außerhalb zu entladen und werden zu solcher Entladung auf gruppenspezifische Sündenböcke abgelenkt.

Lebte der Mensch in einer endgültigen Anpassung an die Umwelt, so gäbe es keine Wertsysteme und keine Konflikte zwischen seinen Triebansprüchen und den Verhaltensnormen, welche ihm die jeweilige Gruppe, der er zugehört, vorschreibt; und auch keine Versagungen mit dem aus ihnen folgenden Bedürfnis, einen Schuldigen außerhalb der eigenen Gruppe zu suchen, das heißt, ihn sich durch Projektion zurechtzumachen. Alle Phantasien von Endzuständen der Geschichte haben gemeinsam, daß sie ein konfliktfreies Gruppenleben entwerfen. Die wirkliche Geschichte ist bis jetzt noch nie so gewesen. Vielmehr ist Kultur ein Ideal, das wir nur mühsam und unvollkommen erreichen und nie endgültig. Die kleinste Verführung kann die guten Vorsätze, die erreichte Anpassung an die Wert-normen bei vielen Menschen umwerfen.

Ein zufälliges Beispiel: Ein Soldat reist im Zug. Er sucht die Toilette auf. Wenige Minuten später entdeckt er, daß er dort seine Brieftasche mit allen Ausweisen und einer größeren Summe Geldes vergessen hat. Er stürzt zurück -die Brieftasche ist nicht mehr da. Der Schaffner geht mit ihm von Abteil zu Abteil durch den ganzen Zug, ohne Erfolg. Gelegenheit macht Diebe, sagt das Sprichwort. Beschreiben wir den Vorgang psychologisch, so heißt das: Die Entdeckung der fremden Brieftasche mit dem Geld hat für den Finder eine Versuchung bedeutet. Die Kulturnorm sagt ihm, er habe fremdes Eigentum zu respektieren. Seine eigenen egoistischen Triebwünsche stehen damit offenbar in einem sogleich weckbaren Konflikt. Indem er sich rücksichtslos über ein Gebot hinwegsetzt, vermag er sich eine mühelose Triebbefriedigung zu verschaffen. Das Gewissen, diese innere Repräsentanz der gültigen Gebote einer Gesellschaft im Individuum, vermochte sich gegen die in der Versuchungssituation erwachte Triebspannung nicht durchzusetzen. Jener diebische Finder erwies sich in diesem Augenblick als ein Kulturheuchler.

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Das alles zwingt uns, den Grad der organisierten Kultureignung, den unsere bisher entwickelten Erziehungsformen herbeizuführen vermochten, nicht zu überschätzen. Vieles in den pädagogischen Provinzen wirkt wirklichkeitsfern und spiegelt die Wunschbilder der Erzieher wider, nicht aber ihr Vermögen, der Lage gerecht zu werden. »Menschenkenner und Philosophen«, meint Freud, »haben uns längst belehrt, daß wir unrecht daran tun, unsere Intelligenz als selbständige Macht zu schätzen und ihre Abhängigkeit vom Gefühlsleben zu übersehen. Unser Intellekt, sagen Menschenkenner, könne nur verläßlich arbeiten, wenn er den Einwirkungen starker Gefühlsregungen entrückt sei; im gegenteiligen Falle benehme er sich einfach wie ein Instrument zu Händen eines Willens und liefere das Resultat, das ihm von diesem aufgetragen sei. Logische Argumente seien also ohnmächtig gegen aktive Interessen, und darum sei das Streiten mit Gründen, die nach Falstaffs Worten so gemein seien wie Brombeeren, in der Welt der Interessen so unfruchtbar.«13

Auch der Dieb unserer Geschichte hat ein Sprichwort bei der Hand. »Aus Schaden wird der Verlierer klug werden«, mag er sich gesagt haben, als er die Brieftasche einsteckte. Mit solchen Scheinargumenten heuchelt der Intellekt vor dem Gewissen. Und die Schnelligkeit, mit welcher der Diebstahl sich ereignete, mag zeigen, wie gefährdet das kulturelle Verhalten allerorts und allezeit ist, wie rasch ein Konflikt zwischen den egoistischen, rücksichtslosen Triebstrebungen und ihren Beschränkungen durch die Moral einer Gruppe erweckt werden kann.

Das wichtigste Kennzeichen der Bildung ist demnach folgendes. Gebildet ist ein Mensch, der in affekterregenden Lebenslagen über eine einigermaßen beständige Selbstsicherheit im Umgang mit den eigenen Triebregungen verfügt. Der Mord ist die stärkste Verletzung unserer Gruppenmoral; er wird am schärfsten geahndet, und immer wieder wird diese Ahndung in den Kriegen, die wir führen, außer Kraft gesetzt. »Was keines Menschen Seele begehrt, braucht man nicht zu verbieten, es schließt sich von selbst aus. Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust wie vielleicht noch uns selbst im Blute lag.« Daraus folgert Freud: »Die ethischen Strebungen der Menschheit, an deren Stärke man nicht zu nörgeln braucht, sind ein Erwerb der Menschengeschichte ...«14 Die Mühsal der Anpassung, des Erwerbs einer Bildung, die hungrigen Trieben ein Stück ihrer Bewältigung läßt und sie doch mitmenschlich erträglich macht - das alles ist ein Unterfangen auf schwankendem Grund.

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Geschichtlicher Wandel und Informationszwang  

Das erste Fazit unserer Überlegungen, was Anpassung im Hinblick auf Bildung sei, zeigt, daß sie von zwei Organisationsformen in uns bewerkstelligt wird, die Adolf Portmann als »erblich fixierte Struktur der Erhaltung« und als »Zuwendungsstruktur« formuliert. »Zuwendung«, affektiver Kontakt spielt bei allen höheren Lebewesen eine wichtige Rolle. Er beruht immer auf einem Ineinandergreifen relativ unveränderlicher Momente, der Erbkoordination, und veränderungsfähiger Komponenten. Portmann illustriert die verschiedenen Mischungsformen »von Fixiertem und Offenem« im tierischen beziehungsweise im menschlichen Verhalten an einem einfachen Beispiel. Die am Tage fliegenden Zugvögel orientieren sich bei ihren großen Herbst- und Frühjahrswanderungen nach dem Sonnenstand. »Sie fliegen zu jeder Tagesstunde in einem ganz bestimmten Winkel und >rechnen< also die Wanderung der Sonne in ihre Bewegung ein.« Auch wir können die gleiche Methode der Orientierung anwenden, aber unter ganz anderen Voraussetzungen. »Ein kompliziertes Orientierungssystem, über Kontinente hinwegleitend, in einem Fall völlig ererbt, in unserm Dasein aber mühsam durch Generationen von Kenntnissen und durch gewaltige Anstrengungen unseres Geistes individuell erworben.«15 

Nicht nur unsere räumliche Orientierung beruht auf einer »offenen Erbstruktur«, das gleiche gilt für fast alle schwierigen Orientierungsaufgaben, vor die wir uns gestellt sehen, vor allem, wenn wir uns unserer sozialen Umwelt zuwenden. Der mächtige Triebanteil unseres Wesens drängt auf Befriedigung der Lebensbedürfnisse. Die triebhafte vitale Unruhe ist im menschlichen Dasein nicht durch Erbkoordinationen in der Zuwendung zur Außenwelt fest eingefangen, gleichsam ritualisiert. Die Rituale, Zeremonien, Gesetze, ja, die Gewohnheitsformen unseres alltäglichen Verhaltens sind in kollektiver Einstimmung gesetzt und müssen individuell erlernt werden. Das schwierigste Stück dieses Lernens liegt in der Befolgung des Erlernten.

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Unsere Rituale sind geschichtlich - im Sinne erinnerbarer Zeiträume - und sind wandelbar. Die Instanz, welcher die Formung und Koordinierung der Zuwendung zu unserer mitmenschlichen Umwelt, zur Welt überhaupt zufällt, ist im psychologischen Sprachgebrauch das »Ich«. Um es zu wiederholen: Das »Ich« als regulative Instanz des Verhaltens - das ja und nein sagende Ich - ist eine neue Funktion des Lebendigen, die den Menschen charakterisiert. Man kann deshalb sagen, daß seine Leistungen in einem ungleich größeren Ausmaß als bei den Tieren auf Informationszwang (P. Brückner) beruhen. Die Appetenz zum Unbekannten, das Neugierverhalten, das auch bei den Tieren, besonders im Jugendalter, stark ausgeprägt ist, muß beim Menschen länger wachbleiben, wenn ihm nicht Irrtümer, unter Umständen todbringende Irrtümer unterlaufen sollen.16) Da er sich selbst unbekannt genug ist, findet er in Vorurteilen aller Art Halt. Der prinzipiell nicht auflösbare Konflikt liegt in der Funktion dieser Vorurteile: Welche sind verläßlich, welche irrtümlich - aber beruhigend? Die Aufgabe des Ichs bleibt unabgeschlossen.

 

Aspekte des Ichs 

Bei der Schwierigkeit, ihres Gegenstandes habhaft zu werden, ist in der Psychologie die Gefahr der Verdinglichung, der unzulässigen Vereinfachung ihrer Begriffe besonders naheliegend und schwer zu vermeiden. Wenn wir soeben vom Ich als Instanz sprachen, so können wir das nur im Sinne einer Annäherung an etwas tun, was wir selbst als Wirklichkeit erfahren. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, daß dieses Ich keineswegs gleichbedeutend ist mit dem, was wir von uns selbst bewußt als »ich bin ...« wissen. Die Reaktionen unseres Partners in einem Gespräch können uns zeigen, daß wir an uns selbst mancherlei nicht beobachten, nicht wahrnehmen können - zum Beispiel eine Fülle von affektiven Tönungen unseres Verhaltens - was anderen augenfällig ist. Wenn Freud17) deshalb feststellt, daß vieles am Ich unbewußt bleibt, »gerade das, was man den Kern des Ichs nennen darf«, so verweist uns dies auf seelische Prozesse, die in ihrer Wirkungsweise dem vererbten Verhalten ähnlich sind,

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auf Äußerungsweisen, die das Individuum zwar erworben hat, zu denen es aber dann nicht mehr kritisch beeinflussend oder doch nur nach großer Anstrengung Stellung nehmen kann; sie geschehen vielmehr.18) Und doch ist dieser Unterschied der entscheidende, daß wir im Gegensatz zu den Tieren lernen können, unser soziales Verhalten kritisch, reflexiv zu kontrollieren und zu verändern.

Das »Ich« hat sich genetisch aus dem »Es« entwickelt, jener Gesamtheit psychischer Vorgänge, die zum organismischen Leben gehören und denen - nimmt man den evolutionistischen Standpunkt ein - als Regulativ des Verhaltens eine arterhaltende Funktion zufällt. Die realitätskritischen und selbstkritischen Leistungen des Ichs sind demgegenüber außerordentlich jung. Sie sind an die Erscheinungsform des Lebens in der Art »Mensch« geknüpft. Der Mangel an erbgenetisch festgelegten Auslösungen für ein artspezifisches Verhalten wird durch gruppenspezifisch erworbene Verhaltensweisen ersetzt. Die Tatsache, daß den Kulturunterschieden keine »taxo-nomische« Bedeutung im Sinne der Biologie, sondern eine »zufällige«, »provinzielle« Rolle zufällt, verlangt nach einer psychischen Leistung, welche die so tief voneinander unterschiedenen Verhaltensstile untereinander verstehbar macht und Orientierung erlaubt. Für diese Aufgabe der Orientierung in der Unterschiedlichkeit humaner Verhaltensweisen sind die Ichleistungen unerläßlich. Die Reichweite des Bewußtseins als Voraussetzung der kritischen Erfahrung der Realität wird für Gesellschaften wie die unsere, in der sich die Umweltverhältnisse wie die Strukturierung der Gesellschaft rasch verändern, von immer wachsender, möglicherweise arterhaltender Bedeutung.

Wir kennen nicht die Ursachen, wohl aber einige der Bedingungen für die »noch rätselhaften Eigenarten unserer Offenheit« zur Selbstwahrnehmung und Selbstgestaltung unseres Verhaltens, eben der Ichleistungen. Die wichtigste dieser Bedingungen ist die, an den höheren Säugetieren gemessen, verkürzte Tragzeit im Mutterkörper. Das neugeborene Kind ist, verglichen mit den Säugetierjungen, gestalthaft und in den Funktionen seines Verhaltens, wie wir andeuteten, unreif. Seine uterine Wachstumsperiode sollte nach Bolk19, Portmann und anderen vergleichsweise 20 bis 22 Monate dauern.

Das erste Lebensjahr des Menschen bezeichnet Portmann deshalb

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als »die Zeit des sozialen Uterus«, wo die soziale Gruppe »den Mutterkörper zu vertreten und die Rolle des mütterlichen Leibes zu übernehmen hat«. In dieser Zeit reifen die Fähigkeiten zu »aufrechter Haltung, Sprache und einsichtigem Weltverhalten« aus, also die leib-seelischen Voraussetzungen des menschlichen Daseins. Um Portmann zu zitieren: 

»Die Zweiteilung unserer wesentlichen Entwicklungsperiode der Frühzeit ist nicht irgendein beliebiger Zufall. Die Ausbildung der mensch­typischen Merkmale, die wir eben nannten, steht in schroffstem Gegensatz zum Entwicklungsweg aller höheren Säuger. Während bei den letzteren sich alle wesentlichen Züge in der Eintönigkeit und Geborgenheit des mütterlichen Leibes heranbilden, im Ausreifen von fixierten Erbanlagen, so geschieht bei uns die Entwicklung gerade der wesentlichen Züge in einer ausgesprochenen Mischung von Reifungsprozessen und Lernvorgängen ... die Eigenart dieser extrauterinen Frühperiode ... entspricht der Besonderheit der humanen Weltbeziehung, die wir die geistige oder weltoffene nennen.«20

Die Konsequenz dieser biologischen Voraussetzungen ist, daß wir uns vom frühesten Lebensanfang an nur bilden können im Wechselspiel mit unserer menschlichen Mitwelt. Das Erlernen des Verste-hens anderer Ich-Wesen ist die Voraussetzung unseres so begrenzten Selbstverstehens und rückt deshalb in den Mittelpunkt unserer humanen Aufgaben. Reifung zu einem Wesen, das sich als ein von anderen abgegrenztes Ich zu erleben vermag, setzt also ein hohes Maß von Anpassung voraus. Erst wenn ich mich lernend anzupassen verstehe, erfahre ich mich, hingebend an den anderen und empfangend von ihm. Ob und wieweit dieser Vorgang durch die Gefühlserfahrungen, die mit ihm verknüpft sind, offen bleibt, gerne vollzogen oder gemieden wird, das ist eigentlich der Maßstab für die tatsächliche Humanität, die einer erreichen konnte.

Wir wollen jetzt die biologisch verankerten und die gesellschaftlich übermittelten Anteile des menschlichen Verhaltens gegeneinander abwägen. Insbesondere soll uns im Hinblick auf Verständnis und Mißverständnis das Phänomen der sozialen Rolle beschäftigen. Die Dialektik, die unser soziales Verhalten beherrscht, wird dabei noch deutlicher hervortreten; wir lernen Rollen und werden von ihnen geführt. Sind wir in diesem Zustand aber eigentlich Individuen - so wie unsere Ethik dieses Wort versteht? Oder gehört dazu noch eine weitere Leistung, deren unsere Seele fähig ist: die Selbst-vergewisserung, das kritische Zurücktreten, das Besinnen und Bedenken des eigenen Rollen- und Triebverhaltens?

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