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Die Unwirtlichkeit unserer Städte

Thematischer Aufriß 

Doku 1975 NDR wmv

9-27

Unsere Städte und unsere Wohnungen sind Produkte der Phantasie wie der Phantasielosigkeit, der Groß­zügigkeit wie des engen Eigensinns. Da sie aber aus harter Materie bestehen, wirken sie auch wie Prägestöcke; wir müssen uns ihnen anpassen. Und das ändert zum Teil unser Verhalten, unser Wesen. Es geht um einen im Wortsinn fatalen, einen schicksalsbildenden Zirkel: Menschen schaffen sich in den Städten einen Lebensraum, aber auch ein Ausdrucksfeld mit Tausenden von Facetten, doch rückläufig schafft diese Stadtgestalt am sozialen Charakter der Bewohner mit.

Vollziehen sich nun sehr tiefgreifende geschichtliche Veränderungen, wie Vermehrung und Ballung der Menschen in den Städten, eine radikale Änderung der Produktionstechniken und der Verkehrsweise, dann stoßen sich die neuen Erfordernisse, die neuen Wünsche sehr hart an der alten Stadtform. Der Vorgang der Überwältigung ist grausam und unerbittlich. Was neu entsteht, hat vorerst aber noch keineswegs den Zuschnitt langerprobter Formen; genug, wenn die Befriedigung vorgegebener Spezial­funktionen gewährleistet ist: Verkehrs- oder Vergnügungszentrum, Wohnsiedlung, Industrievorort. 

Die hochgradig integrierte alte Stadt hat sich funktionell entmischt. Die Unwirtlichkeit, die sich über diesen neuen Stadtregionen ausbreitet, ist niederdrückend. Die Frage lautet: muß das so sein, ist das unausweichlich? Sie sei illustriert mit der Absicht, zum Erlebnis eines bewußten statt eines unklaren Mißbehagens beizutragen.

»Die Kunst, zu Hause zu sein« läßt sich sicher nicht auf die Wohnkultur im engeren Sinne beschränkt denken. Das wird vollends deutlich, wenn man sich überlegt, was eigentlich als das Gegenteil zur Kunst, zu Hause zu sein, gelten könnte. Da ergeben sich mehrere Möglichkeiten: zum Beispiel die Kunst, von zu Hause weg zu sein, also etwa die Kunst zu reisen. Unangenehmer wird es, wenn die »Kunst« selbst ins Gegenteil verkehrt erscheint: etwa ins Unvermögen, es zu Hause auszuhalten, wofür es den alten Ausdruck Budenangst gibt.

Diese Antikunst des Daheimseins hat ein neues Requisit in der suchthaften Hingabe an das Fernsehprogramm; doch von diesen Formen der Unwirtlichkeit ist jetzt nicht die Rede. Angedeutet sei nur, daß die Wohnung, so sehr sie zum Kastell, zum Fort zu werden vermag, in dem ich mich von der Welt abschließe, doch Fenster behält, und die schauen auf die Stadt, bzw. auf das, was sie von diesem Standort aus zeigt. Stadt-Wohnung und Städter sind eine Einheit, die umschlossen wird von der angrenzenden Landschaft. Diese trägt nicht wenig dazu bei, ob wir uns an einem Ort zu Hause fühlen: Ist die Landschaft öde, wird der Wohnbereich wichtiger; umgekehrt ist es, wenn Landschaft und Klima zur Entfaltung der »Kunst«, außer Haus zu sein, einladen.

Wir hatten Anlaß, die Zerstörung unserer Städte zu beklagen — und dann die Formen ihres Wiederaufbaus; wir haben gegenwärtig Anlaß, die Zerstörung der an die Städte grenzenden Landschaften zu beklagen — und haben wenig Hoffnung, daß diese Schäden wieder gutzumachen sind. Nur weil die Gewohnheit abstumpft, wenn Bäume fallen und Baukräne aufwachsen, wenn Gärten asphaltiert werden, ertragen wir das alles so gleichmütig.

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Weil die Stadtwüste wächst, sind wir angesichts kommender Geschlechter gezwungen, unseren Verstand (nicht in der Form bodenspekulantischer Schlauheit) anzustrengen. Wir suchen nach Einsicht, die uns befähigt und vor allem die Kraft gibt, der großen Stadtverwüstung und Landzerstörung Einhalt zu gebieten. Die Unwirtlichkeit unserer wiedererbauten, unentwegt in die Breite verfließenden statt kühn in die Höhe konstruierten, monoton statt melodisch komponierten Städte drückt sich in deren Zentrum ebenso aus wie an der Peripherie; dort, wo sich der Horizont der Städte immer weiter hinausschiebt und die Landschaft in der Ferne gar nicht mehr erkennen läßt, wo Sicht und Zukunft des Städters gleichermaßen verbaut scheinen.

Bleiben wir an dieser Peripherie. Jeder hat seine Augenblicke, die ihn schockieren und zu neuem Bedenken eines Zustandes provozieren. Bei mir waren es Gänge durch Villenvororte in verschiedenen Ländern: Deutschland, Italien, Holland, England, die mich zur Rechenschaft zwangen. 

Durchstreift man diese oft reichen Einfamilienweiden, so ist man überwältigt von dem Komfortgreuel, den unsere technischen Mittel hervorzubringen erlauben. Deutschland und Italien bilden dabei eine echte »Achse« der rücksichtsfreien Demonstration von pekuniärer Potenz und dem Geschmacksniveau von Devotionalien­händlern. Von Sanssouci-Assoziationen über Alpenchalets zu Breeker'scher Versicherungspracht ist alles zu haben: eine Anhäufung von Zufälligkeiten des Gestaltungswillens, ob er nun unter einer stolzen Pineta unterkriecht, wie in der Umgebung Roms, oder die Apfelwiesen des südlichen Taunus überzieht. Ich nehme an, daß diese Häuser neben dem Rasen, der sie alle in schöner Klassenbewußtheit umgibt, auch noch anderes gemein haben, zum Beispiel perfekt getüftelte Kücheneinrichtungen, störungsfreie automatische Heizanlagen etc.

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Hier wirkt das technische Zeitalter für seine Produkte stilbildend, und keiner kann aus der Reihe tanzen; der Fortschritt läßt ausnahmsweise keinen Rückschritt zu; das heiligste Ziel der Epoche: Bedürfnis-, Markterschließung, Designer und die Industrie schreiben diktatorisch vor, und der Bauherr kuscht wie selbstverständlich. Nicht so, wo es seinen Schmucktrieb, die Lust des Herzeigens betrifft. Da schwelgt er in Rundbögen und vorgekragten Blumenfenstern, in mosaikumrandeten Entrees, getriebenen kupfernen Dachrinnen und schmiedeeiserner Künstlichkeit.

 

Natürlich hat es immer Epochen des Protzentums gegeben. Darum geht es jetzt aber gar nicht, sondern darum, daß die — wie man in der Schweiz sagt — vermöglichen Leute aus den Städten ausgezogen sind und in den Vorstädten und Vororten jeden Halt, jeden Rest vor städtischer Würde und stadt-bürgerlicher Obligation verloren haben. Mit Verlust der Obligation an die Stadt meine ich, daß dem sozial uralten Bedürfnis des Bauherrn, seinen Status zu demonstrieren, kein Kanon mehr vorgeschrieben ist, höchstens Firsthöhe und Abstand von der Straße. Er hat sich in eine Pseudo-Privatheit zurückgezogen, wofür es viele gewichtige Gründe in unseren lärmenden, verpesteten Städten gibt. 

Vom Geist der bürgerlichen Stadt her betrachtet, hat diese Entbindung eine schlimme Wirkung. Es werden, je nachdem, von welchen zufälligen Sympathiegefühlen man bewegt ist, Fragmente aus vorgegebenen, einmal verbindlich gewesenen Formgebungen aufgenommen und der Versuch gemacht, sie als Merkmal der eigenen Identität auszugeben. Was herauskommt — mit Hilfe des willigen Architekten — ist eine permanente Maskerade in Architektur und keine Identitätsfindung durch den Zwang, Verbindendes, Verbindliches zu variieren, ohne aus der Rolle, aus der Ästhetik der Gruppe zu fallen.

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Denn ein Teil der eigenen Identität ist immer Stoff, der aus der Gruppe stammt; diese Verzahnung von Individuum und Gruppe wird im Stil bewußt. Mindestens wird bewußtseinsnäher, daß man im individuellen Ausdruck nicht aus der Reihe tanzen darf, dem Ganzen eines Platzes, einer Melodie der Straßenfronten sich einzuordnen hat. Das Vorort-Einfamilienhaus, dieser Nachkömmling der noch stadtbezogeneren Villa des späten 19. Jahrhunderts, ist der Begriff städtischer Verantwortungslosigkeit: Dem Bauherrn ist gestattet, seine Wunschträume mit seiner Identität zu verwechseln. Für diesen Sachverhalt müssen wir einen klaren Blick gewinnen.

Ich möchte jetzt nicht mit einer Schilderung der finanziellen Decrescendos ermüden über das Wüstenrot- und Leonberghaus, die Bimsblock-Tristesse, die sich um jedes einigermaßen stadtnahe Dorf legt, bis zu den geplanten Slums, die man gemeinhin sozialen Wohnungsbau nennt und die einem in ihrer Monotonie an den Ausfallstraßen der Großstädte die Lektion erteilen, daß alles noch viel schlimmer ist, als man es sich einreden möchte. 

Man wird mir trotzdem vorhalten, daß diese Schilderung von einer sarkastischen oder depressiven Stimmung eingegeben sei. Zugestanden: aber machen nicht unsere Städte, so wie sie wiedererstanden sind, wenn man nicht in ihnen zwischen Büro, Selbstbedienungsladen, Friseur und Wohnung funktioniert, sondern wenn man sie betrachtet, als spaziere man in der Fremde umher und sehe sie zum ersten Mal — machen sie dann nicht depressiv? Kann man in ihnen, die keine von Bäumen bestandenen Boulevards mehr haben, keine Bänke, die sich zum Ausruhen im faszinierenden Kaleidoskop der Stadt anbieten — kann man in ihnen mit Lust verweilen, zu Hause sein?

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Sicher, es gab Menschen, bevor es Städte gab. Das sind in der Tat prähistorische Vorfahren. Die Stadt ist so alt, daß man den Städtebau als etwas dem tierischen Instinktverhalten Ähnliches ansehen darf. Der Trieb, der die Biber zu den kunstvollen Schutzanlagen für ihre Bauten zwingt oder die Vögel zur Gestaltung ihrer Nester, der ist, wie immer weiter entfaltet — oder auch verkümmert —, im Bau der menschlichen Behausungen am Werk.

Der Biologe Adolf Portmann schreibt dem Lebendigen die Tendenz zur Selbstdarstellung zu. Damit ist ein den Organismen jeder Art innewohnender Zwang zur immer markanteren Entwicklung der Gestaltmerkmale und Verhaltensweisen gemeint. Sehen wir die Stadt in diesem Zusammenhang, dann treten zwei Funktionen hervor, die sie für ihre Bewohner hat. Sie ist, einerseits, Ort der Sicherheit, der Produktion, der Befriedigung vieler Vitalbedürfnisse. Andererseits ist sie der Nährboden, der einzigartige Ort der menschlichen Bewußtseinsentwicklung — sowohl im Einzelnen wie auf der Gruppenebene als Wir-Bewußtsein.

Und in der Tat sind es diese Merkmale, um deren ausgeprägtere, perfektere Darbietung durch die Geschichte gerungen wird. Erinnern wir uns an all die Türme und Mauern, Plätze und Theater, aber auch an Stadtgestalten als ganze, an die Silhouette Roms, wie sie sich aus dem Sommerdunst der Campagna erhebt, an die Skyline New Yorks bei der Einfahrt in den Hafen. Sie wirken, mit Richard Neutra zu sprechen, als Psychotope — als seelische Ruhepunkte, stellen ein Stück der Selbstvergewisserung für den dar, der dieser Stadt mit verdankt, was er ist. Wer an einem Herbsttag durch Amsterdam oder im Dezember durch Aries oder Venedig wandert, spürt das Unverwechselbare dieser Gebilde.

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Ob jemand hingegen die Wohnsilos von Ludwigshafen oder von Dortmund vor sich hat, weiß er nur, weil er da- oder dorthin gefahren ist. Die gestaltete Stadt kann »Heimat« werden, die bloß agglomerierte nicht, denn Heimat verlangt Markierungen der Identität eines Ortes.

Dies alles wird nicht als negative Kritik vorgebracht — wie schön war es doch einst, und wie wenig schön ist es heute! Erstens war es niemals, bei aller städtischen Lebensfreude, besonders anziehend, unter vielen Menschen zu leben, und zweitens geht es nur darum, festzustellen, daß der gesellschaftliche Gesamtprozeß nicht abzuhandelnde Änderungen unserer Existenzgrundlagen geschaffen hat. Die gilt es zu sehen — so bewertungsfrei wie irgend möglich; und das fällt uns schwer. 

So tun wir zum Beispiel in den Einfamiliensiedlungen so, als bestünden keine Anlässe, Konsequenzen prinzipieller Art zu ziehen. Man paßt sich an, man zieht ein wenig um und hinaus ins Vorortgrün, und das ist alles; oder es sind mehr Menschen zu behausen — also baut man mehr Unterkünfte nebeneinander, und das ist alles. Ich wage dem die These entgegenzustellen: das schafft faits accomplis, die auf eine verbaute Zukunft des Stadtbewohners hinauslaufen. Nicht weil es nicht besser ginge — sondern weil man es nicht wagt, in neuen Konzepten zu denken, weil man die umstürzenden Konsequenzen der Wandlungen im gesamtgesellschaftlichen Prozeß weitgehend leugnet. 

Zum Beispiel: ist die Entmischung von Wohn- und Arbeitsgegend so notwendig, wie uns dies suggeriert wird? Das mag für die »schmutzigen« Industrien noch angehen, nicht aber für die zahllosen sauberen Fertigungs- oder die Verwaltungsbetriebe gelten. Eine berufstätige Mutter, die in wenigen Minuten zu Hause sein kann, verliert keine wichtige Zeit des Zusammenseins mit den Kindern durch lange Verbindungs­wege.

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Tausenderlei solcher Beispiele zeigen den Unsinn der Entmischung der Stadtfunktionen, die trotzdem weiter gefördert wird. Am wenigsten scheint diese Stadtzerstörung dem kritischen Verstand der Städtebewohner zu bekommen. Das ist es: die Stadt dieser Art wird zur Provinz, der citoyen, der Stadtmensch, zum bloßen Bewohner einer wenig rühmenswerten Gegend. Der Mensch wird so, wie die Stadt ihn macht, und umgekehrt; mit fortschreitender Urbanisierung trifft das auf immer mehr Menschen zu.

Wir haben nach dem Krieg die Chance, klüger durchdachte, eigentlich neue Städte zu bauen, vertan. Oder anders ausgedrückt: wenn Städte Selbstdarstellungen von Kollektiven sind, dann ist das, was uns hier an Selbstdarstellung begegnet, alarmierend. Wem ist das zuzuschreiben? Den Architekten, den Bauherren, den Stadtbauämtern, den Planungsämtern? Den Stadtparlamenten? Es muß kein Sündenbock gefunden werden — aber auch die Antwort: alle werden schuld haben, ist nichtssagend.

Um die Analyse etwas ergiebiger zu machen, muß man zuerst diese Schuldfrage ausklammern. Alle hätten Besseres gewollt, wenn sie gekonnt hätten. Warum haben sie nicht gekonnt? Zwei Vorgegebenheiten spielen ineinander: ein rastlos Druck ausübendes und ein retardierendes Moment. Das Handlungen erpressende Moment — die Vermehrung und gleichzeitige Ballung von Menschen mit all den Verkehrsproblemen — wird gern und immer wieder genannt; das bremsende ist ein Tabu. Dementsprechend können wir uns beim ersten kürzer fassen und müssen, so peinigend es sein mag, beim zweiten Moment, den Besitzverhältnissen an städtischem Grund und Boden, ausführlicher verweilen.

Wenn ich die Situation noch einmal als Biologe auslege, so muß zugestanden werden, daß es der Städteplaner mit Verhältnissen zu tun hat, die ihren natürlichen Rahmen völlig gesprengt haben.

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Der Menschheit in ihren technisch fortgeschrittenen Teilen ist es gelungen (und gelingt es in den Entwicklungs­ländern mit großer Schnelligkeit), sich ihrer natürlichen Feinde oder Widersacher zu entledigen. Sie hat den Haushalt der Erde gründlich in Unordnung gebracht. Es ist nicht der geringste Grund vorhanden, sich noch an die Devise zu klammern, mit der der deutsche Kaiser das Jahrhundert eingeläutet hatte: »Ich führe Euch herrlichen Zeiten entgegen!« Vom Stadtplaner wird verlangt, daß er etwas, was ungezügelt gewachsen ist, nachträglich in Ordnung einfängt - und das noch in Quantitäten, die in der Geschichte bisher unbekannt waren. Wir beobachten ein schroffes Nebeneinander von Rationalität und blinder Selbstsucht. Ja noch schlimmer: Rationalität und Selbstsucht sind oft eins, weil Rationalität sich in unserer Gesellschaft meist nur auf unmittelbare, begrenzte Zwecke bezieht, nicht auf die Stimmigkeit des Ganzen.

Die Menschheit wächst mit einer zentrifugalen Progression, die alle Planungen noch vor ihrer Verwirklichung überholt. Da werden Häuser über Häuser in wildem Durcheinander oder in erschreckender, starrer Gleichförmigkeit gebaut, ohne daß irgend jemand die spezifische Aufgabe in den Griff bekäme, in dieser, wie Isbary mit einem treffenden Paradoxon es benannt hat, »explosiven Ballung« einen unersetzlichen Vorgang anzustoßen, und zwar das Einschwören, das Verpflichten der einzelnen Gruppenmitglieder, den Interessen der ganzen Gruppe den gebührenden Tribut zu entrichten. Da uns die technischen Möglichkeiten in die Hand gegeben sind, die vernünftigsten Dinge von der Welt ungehemmt für ideologischen Terror auszubeuten, kann alles leicht zum Unsinn entarten: Du bist nichts, dein Volk ist alles, war ein solcher sinnloser Wahlspruch — eher ein Wahnspruch, der nach dem Mißbrauch den schieren Egoismus hinterlassen hat.

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Im Zustand dieser tiefen Störung der inneren Gruppenorientierung fällt dann aber die stimulierende Anregung des Einzelnen durch den spezifischen Esprit der Gruppe aus. Dabei war es doch gerade dieses Wechselverhältnis zwischen der Begabung Einzelner, die die Gruppe aufschreckten, und den in der Gruppe lebendigen Leitbildern, die den Einzelnen anregten, was die Stadt, nicht allein in ihren klassischen Exemplaren, charakterisierte. Das alles stimmte bis zum Einbruch der industriellen Technik, die sich als antistädtisch erwies. Sie lagerte sich in ihren ersten Phasen den Städten an, quoll ins flache Land und höhlte zugleich die vorindustrielle Substanz der Städte bis auf museale Reste aus. Sie schuf Siedlungsverdichtungen, Ballungsräume der Produktion, und vorerst nichts der herkömmlichen Stadt Ähnliches und noch wenig überzeugend Neues, wenngleich alles in großer Quantität.

Es steht also überhaupt nicht mehr in Frage, daß wir alte Städte, Gebilde, von denen wir wie von einer Vorzeit weit getrennt sind, neu schaffen, wiederbeleben, uns als Richtmaß vorhalten könnten. Unsere Aufgabe liegt bei einer neuen Selbstdarstellung. Vorher muß von einer geschichtlichen Veränderung des Menschen selbst in einer von ihm geschaffenen neuen Umwelt Kenntnis genommen werden. Nichts anderes als ein in Städten geschultes Bewußtsein hat die technische Welt hervorgebracht - und diese technische Welt verlangt nun ihrerseits hohe Bewußtheit als Integrationsleistung. Hier sind wir statt dessen konfus, tränenreich, von allerlei Flucht- und Verleugnungstendenzen beherrscht (wie zum Beispiel die jährlichen Urlaubsmigrationen zj| noch »unberührten« Gestaden zeigen).

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In diesem überraschend geschaffenen Umweltraum vollziehen sich, wie immer in der Entwicklung, nur besonders akzentuiert, die Konflikte zwischen älteren biologischen Funktionen, bewußtseinsfern gebliebenen Reaktionen, wie etwa den primitiven Selbst­erhaltungs­reflexen, und den planenden Anstrengungen, die nach neuer Verbindlichkeit suchen. Was ich vom Villenvorort sagte, bringt ganz unverhüllt vor Augen, wie man geschichtliche Herausforderungen verleugnet. Und wenn ich an die giebeldächigen Wohnblocks denke, zu denen einem das alte Wort Kaserne und sonst nichts einfällt — aber Kasernen sollen zum Teil heute freundlicher als diese Häuser sein, vielleicht weil Soldaten knapp sind, nicht aber Wohnungssuchende —, wenn ich also diese Wohnblocks betrachte, dann erscheinen sie mir als der Inbegriff der Kapitulation vor der hohen Kopfzahl. Die Monotonie der Fensterreihung der meisten Hochhäuser und der starren Addition von Siedlungshäusern sind ein abstoßender Beweis für die schwache Fähigkeit, gestalterisch mit den biologischen Prozessen (der Vermehrung) und den technologisch ausgelösten (der Ballung) Schritt zu halten.

Alte Städte hatten ein Herz. Die Herzlosigkeit, die Unwirtlichkeit der neuen Bauwelse hat jedoch eine ins Gewicht fallende Entschuldigung auf ihrer Seite: das Tabu der Besitzverhältnisse an Grund und Boden in den Städten, welches jede schöpferische, tiefergreifende Neugestaltung unmöglich macht.

Es ist wohl von niemandem ernstlich bestritten, daß die Misere des deutschen Wiederaufbaus eng mit der Zufälligkeit der Besitzverteilung, den spekulativen Bodenpreisen und dem ausgebliebenen politischen Versuch zu räumlicher Neuordnung der Stadtareale zusammenhängt. Denn Privatbesitz, unbeschadet seiner unter Umständen für die Gemeinschaft tödlichen Auswirkungen, ist ein Tabu, ein Fetisch, an den niemand zu rühren wagte. Keine der gesetzgebenden Körperschaften, keine der Parteien.

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Nun wird man einwenden, das Experiment des russischen Kommunismus zeige uns, daß es sich da um eine Ordnung oder Neuordnung oder Neu-Unordnung handle, die uns nicht erstrebenswert erscheint. Darauf läßt sich antworten: gut — aber seit wann beweist ein nicht geglücktes Experiment, daß das, was man damit erreichen wollte, falsch ist? Und seit wann ist es in unserer experimentierfreudigen Zeit (soweit es sich nicht um die Sphäre des Politischen handelt) ausgemacht, daß ein mißlungenes Experiment notwendig den Schluß zur Folge hat, Experimente als solche seien etwas zu Vermeidendes? Im Gegenteil: sie sind unvermeidlich.

Jeder Einsichtige weiß, daß die Notwendigkeit, zu einer Neuregelung der Bodenbesitzverhältnisse in den Städten zu kommen, überhaupt nichts mit Ideologie zu tun hat, sondern eine Konsequenz der veränderten Lage darstellt, in der wir alle uns befinden. In den Gegenkräften, die hier Angst säen, längst überholte Sozialkrisen und ihre Devisen (zum Beispiel: Expropriation der Expropriateure) als Schreckgespenster an die Wand zu malen, in diesen Gegenkräften kommen die bewußtseinsfeindlichen Züge, kommen die Aspekte primitiver Trieborganisationen in unserem Charakter ans Licht und zur Wirkung. Wir alle haben sie in uns. Denn wir alle sind selbstsüchtig. Was anderes als der Gruppenkanon könnte uns dazu zwingen, unsere Interessen eine Strecke weit denen der Gemeinde unterzuordnen? Dabei wäre dieses vom Bewußtsein getragene Unterordnen nur Voraussetzung für besseres Aufgehobensein, für eine dem technischen Zeitalter adäquatere Form, dem Individuum Spielraum zu geben. 

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Aber dieser Kanon fehlt, und deshalb verprovinzialisieren unsere Städte in Unwirtlichkeit, verfällt die städtische Hochkultur, die einmal die Trägerin der Aufklärung war.

Ebenso scharf wie folgenlos hat der Kölner Oberbürgermeister der zwanziger Jahre, Dr. Konrad Adenauer, die Lage dargestellt:

»Wir sind die erste deutsche Generation, die Großstadtleben wirklich durchlebt hat. Das Ergebnis kennen Sie alle. Wir leiden nach meiner tiefsten Überzeugung in der Hauptsache in unserem Volk an der falschen Bodenpolitik der vergangenen Jahrzehnte. Ich betrachte diese falsche Bodenpolitik als die Hauptquelle aller physischen und psychischen Entartungserscheinungen, unter denen wir leiden.«

 Und: 

»Die bodenreformerischen Fragen sind, nach meiner Überzeugung, Fragen der höchsten Sittlichkeit.«

Man sieht, vor den machtvollen Tabus kapituliert die »tiefste Überzeugung« der Politiker; denn was ist in der Ära Adenauer zur Bodenreform geschehen? Nichts. Und in Fragen der Ethik empfiehlt sich größte Wachsamkeit; man möchte erlebt haben, wie sie funktioniert, wenn sie auf die Probe gestellt wird.

Daraus ist eine Konsequenz zu ziehen. Eine freiheitliche Städteplanung ist so lange unmöglich, als es kein Bewußtsein ihrer wahren Hemmnisse in der Bevölkerung gibt. Nicht zu erwarten ist, daß die Institutionen der politischen Öffentlichkeit, also die Parteien, den Besitzbestand antastende Forderungen erheben werden, solange sie nicht von der Wählerschaft unter Druck gesetzt werden. Ich kann nur an die Zivilcourage der Städteplaner und Architekten appellieren, im Elan des Entwerfens, Voraus- und Umdenkens nicht zu erlahmen. Sie sind die Fachleute, die der Vernunft gegen die irrationalen und egoistischen Motive der Bodenbesitzer den Weg bahnen müssen. 

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Es wird nicht ohne grobe Verdächtigungen von der Gegenseite abgehen. In diesem Tabu von der Heiligkeit des Besitzes, besonders des Grundbesitzes (denn unser Geld hat man uns schon oft genommen) — in diesem Tabu stecken nicht zu unterschätzende emotionelle Kräfte. Sie zu entdecken, zu entziffern und der Einsicht zugänglich zu machen, ist ein heißes Problem. Vorerst wird es der Baufachmann nicht anpacken, weil er gegen den Egoismus der Besitzenden machtlos ist. Der Politiker wird es noch weniger tun, weil er sich davon keine Summen verspricht, wohl aber die Verketzerung: Du Kommunist! fürchtet. Also kann erst eine genau bezeichnete Unzufriedenheit der ausgebeuteten Besiedler der Städte eine Änderung erzwingen.

Hamburgs Stadtbaumeister Hebebrand hat auf eine Regelung der städtischen Bodenverhältnisse hingewiesen, die durch lange Jahrhunderte im Mittelalter bestanden hat und als Anregung für die Lösung uns aufgegebener Probleme wertvoll erscheint: es ist das Prinzip der Erbpacht, »eine klare Trennung von Boden und Bauwerk; juristisch ausgedrückt — ein Obereigentum und ein Untereigentum«. Das Obereigentum liegt bei der Stadt, das Untereigentum beim Bürger. Es bedarf sicher großer Anstrengungen, um eine gerechte und als gerecht empfundene Lösung in unserer Lage zu erarbeiten. Aber es schien mir ein charakteristisches Zurückweichen vor der mit soviel hemmenden Emotionen besetzten Problematik, daß Hebebrands Gedanken auch im Kreis der Fachleute in der Diskussion übergangen wurden. 

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Immerhin berichtete Hebebrand vom Kongreß des Forschungsinstituts für die lombardischen Städte 1962 in Stresa. Dort kam man zu dem Schluß, daß, »wenn der Westen nicht eine sehr viel stärkere Planung auf allen Gebieten betreibe und — damit zusammenhängend — nicht stärkeren Einfluß auf die <Kontrolle des Grundes und Bodens> gewänne, er niemals gegen den <Osten> gewinnen könne. Man sprach sehr offen und deutlich in diesem Zusammenhang vom <Chaos>, das vor der Tür stehe.« 

Ich denke, es ist schon durch die Tür getreten! Man merkt es an der Unwirtlichkeit unserer Städte.

Auch im Binnenraum der technischen Zivilisation, der ihn mehr und mehr als sekundäre, für ihn allein relevante Quasi-Natur umgibt, bleibt der Mensch der primären verhaftet. Seine Anpassungsfähigkeit ist zwar außerordentlich; was dabei aber leicht übersehen wird, ist die Tatsache, daß offenbar nur unter Einhaltung bestimmter Minimalbedingungen die Kümmerform seines Existierens überschritten wird. Mit anderen Worten: die Geschichte der Menschheit ist, wie die Ethnologie lehrt, voll von Beispielen unproduktiver, eben kümmerlicher Gesellungsformen, deren mentales Niveau sehr bescheiden blieb. In der Vergangenheit waren es vornehmlich die unzureichenden oder einseitigen Ernährungsbedingungen, klimatische Ungunst oder natürliche Feinde, die bedrückend wirkten. 

Im Binnenraum der zweiten, industrietechnischen Natur sind es andersartige feindliche Belastungsfaktoren, die eine freie Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten schleichend, aber deshalb nicht weniger gravierend hemmen und zu typischen Verkümmerungen führen können. Nochmals: Es ist nicht besser oder schlechter, als es früher war — es ist anders.

Und mit dieser unvorhersagbaren Entwicklung des menschlichen Lebens müssen wir rechnen. Es hat sie nie gegeben und es wird auch nie eine beste menschliche Selbstdarstellung geben — es gibt immer neue, andere — aber eben auch so sehr neuartige, daß wir von Mutationsvorgängen sprechen dürfen, wie es Julian Huxley, Waddington und, aus ganz anderer Perspektive, der geistreiche Franzose Pierre Berraux tun.

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Dieser Menschentyp ist ein Produkt der Erziehung. Der junge Mensch ist noch arm an höherer geistiger Leistungsfähigkeit — er ist weitgehend ein triebbestimmtes Spielwesen. Er braucht deshalb seinesgleichen — nämlich Tiere, überhaupt Elementares, Wasser, Dreck, Gebüsche, Spiel-Raum. 

Man kann ihn auch ohne das alles aufwachsen lassen, mit Teppichen, Stofftieren oder auf asphaltierten Straßen und Höfen. Er überlebt es — doch man soll sich dann nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nie mehr erlernt, zum Beispiel ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ort und Initiative. Um Schwung zu haben, muß man sich von einem festen Ort abstoßen können, ein Gefühl der Sicherheit erworben haben.

Wenn der Jugendliche aus den Slums oder aus komfortablem Vorstadtmilieu mit emotioneller Spar- und Rohkost aufgezogen — wenn beide Jugendliche, äußerlich so verschiedener Herkunft, plötzlich sadistische Gewalttaten verüben, an blindem Zerstörungsdrang Gefallen finden, wenn der Städter, dem die Einsamkeit angeblich nichts anhat, Jahr für Jahr mehr Alkohol trinkt, nicht weil er sich am Saft der Trauben labt, sondern weil er sich besaufen muß, wenn er Jahr für Jahr blindlings mehr Kilometer herunterrast in seiner zwecklosen Freizeit, weil er es nirgends mehr aushält — dann wird mir eine gewisse, sich ganz unsentimental gebende soziologische Auffassung, die das alles als Unvermeidlichkeiten des sozialen Daseins hinzunehmen bereit ist, fragwürdig.

Es gibt einen modernen Snobismus: er kommt sich wirklichkeitsnahe, aufgeklärt vor, weil er die sentimentalen Rückwärtsträume unter der Last dessen, was uns gegenwärtig weh tut, nicht mitmacht; aber de facto vollzieht er ein faules appeasement mit allem, was ungekonnt, brutal, verachtungswürdig an unserer Gegenwart ist. Ich rechne auch einige Soziologen und Sozialpsychologen unseres Landes zu dieser Gruppe der geheimen Beruhiger. 

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Hier hätte die harte Kritik anzufangen. Warum werden unsere städtischen Kinder nicht wie Kinder von Menschen behandelt, sondern wie Puppen oder Miniaturerwachsene, von infantilisierten Erwachsenen umgeben, deren städtische Vorerfahrungen sie dermaßen beschädigt haben, daß sie schon gar nicht mehr wissen, was der Mensch bis zum 6., bis zum 14. Lebensjahr für eine Umwelt braucht, um nicht später ein Renten- und Pensionsbettler zu werden? Das, und nicht nur die ästhetische Gestalt unserer Städte, ist zu bedenken, will man die Ursachen ihrer Unwirtlichkeit und der verbauten Zukunft der Städter auffinden. 

Der Mensch und seine Umwelt sind untrennbar. Der städtische, genauer: der Mensch der Siedlungs- und Produktionszentren und die Lebensbedingungen, die diese technischen Räume ihm geben, sind untrennbar. Wenn es nicht nur zu einer Planung für einen enthemmten Prozeß der Vermehrung und der wirtschaftlichen Produktion und des Verbrauches kommen soll, oder bei ihm sein Bewenden haben soll, dann müssen wir ganz scharf zu sehen lernen: was ist gelungene Anpassung und was ist Biopathologie der industriellen Massenzivilisation.

Es ist natürlich lukrativer — wie die Dinge liegen —, ein Rasenstück an eine Versicherungsgesellschaft zu verkaufen, statt einen Spielplatz für Kinder daraus zu machen. Es ist ungleich bequemer, die noch produktiven alten Menschen irgendwo an gottverlassenen Orten in Altersheime auszusiedeln, als sich zu bemühen, Lösungen zu finden, in denen sie produktiv, und wenn nicht mehr dies, so doch respektiert unter uns bleiben können. Manches Altersschicksal verliefe anders, wenn die Struktur unserer Siedlungsräume nicht von bornierter Profitgier verzerrt wäre.

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»Nachbarschaft«, dieses sentimentalisierte Schlagwort, behält trotzdem seinen Aussagegehalt. Ohne emotionelle Nachbarschaft kann keine reife Mensch­lichkeit entstehen. 

Der Mensch ist ein Sozialwesen; »Nachbarschaft« aber, so sagt Elisabeth Pfeil,1) muß immer funktional gesehen werden; nur wo man auf den Nachbarn angewiesen ist, macht man von ihm als Nachbarn Gebrauch. In unseren Städten wird aber jede Anstrengung zur kommunikationslosen Bedürfnisbefriedigung unternommen. Die vollendete Auflösung der städtischen Gesellung spiegelt sich in dem Wort »Selbstbedienung«. So kann man an zahlreichen Stellen die kritische Beobachtung ansetzen. Was ist gelungene Bewältigung unserer Lebensproblematik, was ist Ausbeutung in neuem Gewand? Was wirkt bindend, beheimatend? Wo kann man den Horizont offen halten, und wo rennt man in die Selbstzerstörung?

Es ist der Mühe wert, diese Analysen zu versuchen, immer neue Experimente zu wagen, immer deutlicher die Tabus zu durchleuchten, denn wenig Heiliges und viel Egoistisches steckt in ihnen. Es ist aller Mühen wert, weil die Menschheit, wie sie geworden ist, in den Städten ihre Wurzeln hat. Die Stadt ist der Geburtsort dessen, was wir bürgerliche Freiheit nennen, dieses Lebensgefühls, das sich dumpfen Herrschaftsgewalten widersetzte. Es könnte sein, daß die Struktur dessen, was wir gewohn­heitsmäßig noch Stadt nennen, sich so verändert, daß sie kein Biotop mehr für freie Menschen ist, sondern eine soziale Umwelt, aus welcher, wie früher aus der natürlichen, unbegreifliche Katastrophen — Kriege statt Seuchen — hereinbrechen.

Die große Arbeitslosigkeit, die ideologische Sturmflut des Nazismus und Faschismus waren solche Katastrophen­einbrüche aus dem Milieu der technischen Massengesellschaft. Diesen neuen Gefahren einer, wie die Soziologen sagen, »zunehmenden Vergesellschaftung der Individuen«2) ist nur mit einer besseren Befriedung der Affekte des Menschen beizukommen. Befriedung soll nicht heißen Verödung der Leidenschaften durch Überanpassung im Auftrag des »großen Bruders«; denn Befriedung meint nicht Abwehr der Leidenschaften und Kanalisierung in manipulierten Richtungen, auf manipulierte Objekte hin, sondern höhere Cerebrierung mehr Intellektualität, freierer, bewußtseins­kontrollierter Umgang mit der Triebnatur, ein festeres Verhältnis von Einsicht und Leidenschaft. 

Das ist wünschenswert — aber es könnte leicht sein, daß der spürbare Mutationsschritt zur höheren Bewußtheit in einem relativ langsamen Verwirklichungs­tempo sich vollzieht, während er zugleich mächtige Gegenkräfte in Gang gesetzt hat, die nichts anderes im Sinn haben, als die zerbrechliche Spielbreite der menschlichen Freiheit einzuschränken, wenn nicht zu vernichten. 

So optimistisch sollten wir nicht sein, zu glauben, daß der Mensch in jedem Fall am Leben bleibt. Er bleibt vielleicht am Leben, die Frage ist aber, ob als freier, als einer also, der überhaupt mit diesem Wort Freiheit noch einen Sinn und ein Ziel verbindet.Was aus dem Biotop unserer Städte wird, trägt zu der Entscheidung bei, welche Seite in diesem Geschichtsabschnitt den Wettlauf gewinnt.

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1)  E. Pfeil: Zur Kritik der Nachbarschaftsidee. Arch. f. Kommunalwissenschaften 2, 1963, 40 

2)  Vgl. Ch. v. Ferber: Zum Begriff der gesellschaftlichen Konzentration, in: Delius, H. und G. Patzig (Hrsg.): Argumentationen. Göttingen 1964

 

 

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Alexander Mitscherlich 1965