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Nachwort 1977 von Margarete Mitscherlich

 

 

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Seitdem das letzte Nachwort im Jahre 1970 geschrieben wurde, haben wir eine zunehmende allgemeine Unsicherheit erfahren. Die Arbeitslosigkeit hat zugenommen. Die Möglichkeit einer Berufsausbildung und damit die Chancen einer sicheren beruflichen Zukunft haben sich für junge Menschen aller sozialen Schichten in diesem Jahrzehnt zusehends verschlechtert.

Die Entstehung einer Terrorszene, deren Mitglieder sich vorwiegend aus jungen Leuten der mittleren und oberen Mittelschicht zusammensetzen, hat Schrecken, Entsetzen und hilfloses Nichtverstehen ausgelöst. Was diese meist jungen Menschen zu ihren Taten bewegt, ist politisch oft schwer einsehbar, psychologisch nur annäherungsweise verständlich.

Psychoanalytische Betrachtungen, darin Wiedergutmachungsversuche für Versäumnisse der Eltern zu sehen, die durch ihre Handlungen oder ihr tatenloses Mitläufertum im »Dritten Reich« schuldig geworden sind, mögen hier und da zutreffen, bringen uns aber nicht sehr weit.

Das alles führt dazu, daß die Demokratie, deren Grundlage die Gedankenfreiheit ist, schon wieder Angriffen ausgesetzt ist. Mit Erschrecken liest man einen Artikel in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, in welchem schon das Nachdenken, das heißt der Gebrauch der Gedankenfreiheit, über das, was die Terroristen bei ihrem Tun bewegt, quasi als kriminell und verfolgungswürdig hingestellt wird.1

Die Wut über die Versuche, den meisten unverständliche Verhaltens- und Handlungsweisen zu erklären, teilt der Verfasser des [dieses] Artikels übrigens mit den Mitgliedern der Terrorszene. Wer dort nur von der Möglichkeit einer psychologischen und damit einer anderen als der von ihnen angegebenen politischen Motivation spricht, gilt ihnen als Klassenfeind.

1)  Vgl. K. H. Frommes Leitartikel in der FAZ vom 2.8.1977: »Diese Sympathisanten, die nie einem Terroristen Nachtlager und Reisegeld gegeben haben, sind die wirklich Gefährlichen. Sie haben zwar nichts getan, sie haben nur ihre Meinung gesagt, sie haben nur nachgedacht.«

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Also Gedankenfreiheit weder rechts noch links unbestritten, sondern schon wieder in hohem Maße Gefährdung solcher Freiheit. Woran liegt das? Wir wissen aus unserer jüngsten Vergangenheit und aus psycho­analytischen Forschungen, daß junge Menschen oft Führer zweifelhafter Art wählen, »falsche« Ideale ergreifen oder bestimmte, als »richtig« angesehene Ziele rücksichtslos durchzusetzen suchen, wenn in Kindheit und Jugend das Bedürfnis, sich ein Ideal aufzubauen, nicht der kindlichen Entwicklung entsprechend befriedigt wurde. 

In dieser rücksichtslosen Art, »richtige« Ziele zu verfolgen, entdecken wir oft Aggressionen, die als Folge von Kränkungen des Selbstwertgefühls entstanden sind. Die Ursache dieser Kränkungen, die meist in der frühen Kindheit zu suchen sind, bleibt dem jeweiligen Individuum häufig unbewußt. 

Daß wir aber auf Grund falscher Idealbildung zu unvorstellbaren Grausamkeiten fähig sind, haben wir in unserem Buch darzustellen versucht. Wir haben darin auch beschrieben, daß in Deutschland Aggressionen und Idealisierungen besonders haltbar miteinander verbunden sind. Die Vorgänge im »Dritten Reich« haben dies auf krasse Weise zur Erscheinung gebracht.

Die Liebe auf der Basis der Überhöhung ihrer Objekte wurde in einer autoritätsgläubigen Gesellschaft wie der deutschen zur Regel, in der es galt, die Aggressionen wegen der mit ihnen verbundenen Strafangst den Autoritäten gegenüber zu unterdrücken und zu verleugnen. Eine solche idealisierende Form der Liebe erträgt aber die Konfrontation mit der Realität der Liebesobjekte schlecht und läßt die ursprüngliche Liebe dann leicht in Mißachtung und Haß umschlagen.

In Deutschland waren nach der Niederlage Hitlers für alle, die nicht bewußt oder unbewußt an den Idealen der jüngsten Vergangenheit festhielten, die demokratischen Grundrechte die politischen Ideale, auf deren Realisierung vor allem die politisch interessierte Jugend hoffte. 

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Die scheinbare Apathie und Angepaßtheit der Jugendlichen in den fünfziger Jahren läßt sich deswegen nicht nur als Folge des überwältigenden Verlustes von ideellen Werten verstehen, sondern auch darauf zurückführen, daß viele nach der Katastrophe des Hitlerregimes an eine intensivierte Verwirklichung demokratischer und sozialer Ideale in der westlichen Welt fest glaubten, dann aber in dieser Hinsicht oft leer ausgingen. 

Als die, besonders am Beispiel des Vietnam-Krieges deutlich werdende Diskrepanz zwischen Realität und Idealen nicht mehr zu übersehen war, war die Desillusionierung für manche Gruppen junger Menschen schmerzlich und offenbarte ihnen ihre Ohnmacht.

Wir beschäftigen uns im vorliegenden Buch mit dem psychologischen Immobilismus der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Er offenbart sich zum Beispiel in der Ablehnung vieler Deutscher, das Auseinanderfallen von Wirklichkeit und Ideal im eigenen Lande auch nur wahrzunehmen.

Wenn aber die eigene Gesellschaft, innerhalb derer sich die Identifikationsprozesse ihrer Mitglieder abspielen, kein überzeugendes Ideal vermitteln kann, allzu verschiedenartige und einander entwertende Ideale aufstellt oder sich widersprüchlich ihren eigenen Wertvorstellungen gegenüber verhält, erweckt das naturgemäß Verwirrung, Hilflosigkeit oder auch Gleichgültigkeit oder Wut. Als Folge dieser vielfältigen Widersprüche, die von der älteren Generation in ihrer Abwehr von Schuld und Scham oft verleugnet werden, versuchen manche junge Menschen durch kurzsichtigen Aktivismus oder sektiererische Zusammenschlüsse ihre Hoffnungslosigkeit zu überspielen.

Die Sehnsucht nach der universalistischen, allgemeingültigen Moral kann sie unter Opferung der Realitätsprüfung in die Terroristenszene treiben. Der Zweck heiligt dann die Mittel. Daß sie damit auch eine Regression zu den Bedürfnissen und Verhaltensweisen ihrer Eltern und Großeltern vollziehen, denen Hitler die gewünschten eindeutigen Wertvorstellungen verschaffte und sie, wenn nötig, mit Terror durchzusetzen wußte, wird dabei übersehen.

Die »Unfähigkeit zu trauern« offenbart sich in Deutschland nach wie vor, und zwar in dem Widerstand, sich mit der jüngsten Geschichte auseinander­zusetzen, sie als bedeutungsvoll für die gegenwärtigen politischen Zustände und menschlichen Verhaltensweisen anzuerkennen und entsprechend zu analysieren. Aber erst nach der Durcharbeitung seiner Vergangenheit ist ein Volk imstande, aus seiner Geschichte zu lernen, den Wiederholungszwang zu durchbrechen und notwendige gesellschaftliche Veränderungen und Erneuerungen durchzuführen.

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August 1977,

M. M. 

 

 

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