Antwort an meine Kritiker
Von Stephane Courtois (1999)
Rede vor der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft für Internationalen Dialog
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Mit der Veröffentlichung des Schwarzbuchs des Kommunismus vor fast einem Jahr kam es in Frankreich und Europa, ja sogar in den Vereinigten Staaten, in Brasilien und Asien zu zahlreichen Debatten unterschiedlichster Art: Man hatte es einerseits mit den stupidesten Formen der Polemik zu tun, andererseits kamen aber auch überaus notwendige Grundsatzdiskussionen auf.
Ausschlaggebend für das ungewöhnlich große Ausmaß dieser Debatten sind in erster Linie das Thema und die Art und Weise, wie dieses Thema bisher behandelt worden ist. Mit den Verbrechen des kommunistischen Systems behandelt das Schwarzbuch nämlich einen Bereich, der bisher für die Forschung an den Hochschulen und Akademien nahezu völlig tabu war.
In den vergangenen Jahrzehnten wurden zwar unzählige Abhandlungen über die kommunistische Welt geschrieben, doch abgesehen von einigen wohlbekannten Studien zu ganz bestimmten Schwerpunkten – beispielsweise die Veröffentlichungen von Robert Conquest über den Großen Terror und die sowjetische Kollektivierung oder von Jean-Luc Domenach über den chinesischen Laogai – ist bis jetzt keine Arbeit erschienen, die den ganzen Zeitraum (von 1917 bis heute) und das gesamte kommunistische System (und zwar sowohl der an der Macht sitzenden als auch der für die Machtübernahme kämpfenden Parteien) auf seine kriminelle Dimension hin untersucht hätte.
Neu am Schwarzbuch ist auch die Tatsache, daß es sich hier nicht um eine allgemeine geschichtliche Zusammenfassung der verschiedenen Repressionsformen handelt, untersucht wurden nämlich lediglich Mord- und Todesfälle, die direkt auf die Politik der kommunistischen Machthaber zurückzuführen sind. Zahlreiche weitere Aspekte repressiver Politik – wie etwa die Gefängnis- oder Exilstrafen, die kulturellen Zerstörungen usw. – wurden nicht berücksichtigt.
Im Schwarzbuch werden verschiedene Bereiche angesprochen. Der ursprüngliche Titel – Le Livre des crimes communistes (dt: »Das Buch der kommunistischen Verbrechen«) – hat dies deutlicher zum Ausdruck gebracht: Das französische Wort crime hat nämlich mehrere Bedeutungen. Zum einen bezeichnet es ganz allgemein einen Tatbestand: die Mordhandlung an einer Person. Daneben besitzt das Wort aber auch noch eine juristische Bedeutung: Das französische Strafgesetzbuch unterscheidet zwischen Verbrechen und Vergehen, und die Tötung stellt das schwerste Verbrechen dar.
Außerdem kennt das Wort crime noch einen moralischen Aspekt. Dieser kommt in dem wohlbekannten französischen Ausspruch »Plus qu'une faute, c'est un crime« (dt: Das ist kein Fehltritt mehr, sondern ein Verbrechen) deutlich zum Ausdruck. Auch wenn die Autoren des Schwarzbuchs nur den historischen Aspekt — die Ausarbeitung von Tatbeständen — im Auge hatten, ergeben sich aus ihrer Arbeit unweigerlich auch moralische Überlegungen, ja selbst juristische Konsequenzen.
Das Schwarzbuch ist ein Produkt seiner Zeit. Denn es waren konkrete historische Umstände, die zu seiner Realisierung geführt haben. Erst durch das Eintreten von zwei Bedingungen war nämlich die Arbeit am Schwarzbuch möglich geworden.
Wir hätten das Buch sicherlich nie angefangen, wenn das Kräfteverhältnis im Lager der Intellektuellen und innerhalb der Forschung sich nicht grundlegend verschoben hätte. Offenbar vergißt man heute, daß die UdSSR noch vor sieben Jahren die zweitstärkste Weltmacht darstellte und als solche im Zentrum eines stark strukturierten kommunistischen Weltsystems stand. Zu diesem System gehörten auch Staatsparteien, die in vier Kontinenten an der Macht saßen, ferner ein in der ganzen Welt fest installiertes Netz von mehr als achtzig kommunistischen Parteien und ein Bündnissystem mit nichtkommunistischen Kräften — beispielsweise beim Kampf gegen den Kolonialismus und Imperialismus, beim »Kampf für den Frieden« oder etwa bei den Kämpfen der Gewerkschaften.
Dieses System verfügte damals über eine politische Macht und Mittel der propagandistischen Einschüchterung und schuf damit auch im intellektuellen Lager ein Kräfteverhältnis, dem sogar die unabhängigsten Forscher – ob sie wollten oder nicht – unterworfen waren. Kein französischer Universitätsdozent hätte sich vor zehn Jahren in ein so gefährliches Unternehmen wie das Schwarzbuch gestürzt, und außerdem wären damals für ein solches Buch weder ein Herausgeber noch Autoren zu finden gewesen.
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Seit sechs oder sieben Jahren hat sich dieses mit einem Schlag außer Kraft gesetzte Kräfteverhältnis umgekehrt. Wir haben es nicht mehr mit einer auf Propaganda, Lüge, aber auch auf administrativen und politischen Druck fußenden Macht zu tun, so wie sie noch bis vor kurzem auf unserer intellektuellen Arbeit lastete. Dies ist natürlich auf den Systemzusammenbruch in Moskau zurückzuführen, aber auch – als zweiten Faktor – auf eine Revolution im dokumentarischen Bereich, die sich in den Jahren 1990 und 1991 abzeichnete und eine Öffnung der Archive der ehemaligen Sowjetunion und der meisten Länder des einstigen Ostens zur Folge hatte.
Natürlich ist der Öffnungsgrad dieser Archive heute nicht überall derselbe, und einige der entscheidenden Archive – etwa das Stalins oder seiner politischen Polizei (Tscheka-GPU-NKWD-KGB) – sind nach wie vor nicht zugänglich. Trotzdem: Ohne ein Minimum an über alle Zweifel erhabenen neuen Archivbeständen hätte ich nie den Entschluß gefaßt, ein Schwarzbuch zu schreiben. Ohne diese Dokumente hätten wir uns mit einem Gesamtüberblick über die vorhandenen Zeugnisse zufriedengeben müssen. Für die Geschichtsschreibung wäre dies sicherlich von Interesse gewesen, aber die Last der historischen Wahrheit hätte ein solches Buch nicht getragen. Durch die heute zugänglichen Archive kennen wir nämlich unbestreitbare Fakten. Fakten, mit denen die kommunistische Propaganda mangels Beweisen bisher ein leichtes Spiel hatte.
Ich verweise hier lediglich auf die umfangreichen Zeugenberichte über den kommunistischen Terror, angefangen bei Sergej Melgunows <Roter Terror in Rußland> aus dem Jahre 1924 bis hin zu Alexander Solschenizyns in den siebziger Jahren erschienenen Roman <Archipel Gulag>.
Sie alle wurden von den Kommunisten, ihren Freunden und Bundesgenossen pauschal als Machwerke der antikommunistischen und reaktionären Propaganda abgetan. Absolute Verschwiegenheit war übrigens schon immer eine Waffe totalitärer Henker gewesen, besonders dann, wenn es um ihre tatsächlichen Ziele und die dafür eingesetzten Mittel ging, und deshalb ist die Tatsache, daß deren Entscheidungen nun bis ins kleinste Detail nachvollziehbar sind, für die Historiker eine grundlegende Veränderung.
Von einigen geringfügigen und sofort korrigierten Fehlern einmal abgesehen, ist die im Schwarzbuch veröffentlichte Fülle von Information von niemandem ernsthaft in Frage gestellt worden.
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Die Reaktionen auf diese Informationsflut waren jedoch äußerst zwiespältig. Einerseits nahm die Öffentlichkeit das Werk triumphierend auf. Dies ist für ein so dickes und relativ teures Werk, für das kein einziger Autor mit großem Namen verantwortlich zeichnet, ziemlich ungewöhnlich. In Frankreich wurden bereits an die 180.000 Exemplare verkauft, ebenso viele in Italien, und auch in Deutschland steht das Buch sechs Monate nach seiner Veröffentlichung auf den Bestsellerlisten immer noch ganz oben. Auf dieses Buch, das inzwischen in 26 Sprachen übersetzt wird, hatte man ganz offensichtlich gewartet. Auf der anderen Seite entfachte das Buch eine heftige Polemik, auch gegen den einen oder anderen Koautor. Es gab auch Versuche, eine entsprechende Debatte zu verhindern, und in mehreren Ländern war zeitweise sogar das Buch zum Gegenstand einer politischen Debatte geworden.
Die beiden eben genannten Vorbedingungen des Buches – die Umkehrung des bis dahin für den Kommunismus günstigen Kräfteverhältnisses und die im dokumentarischen Bereich einsetzende Revolution – sind also auch Voraussetzung für einen Großteil der heute in den Debatten zur Sprache kommenden Themen. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die nicht begreifen oder nicht begreifen wollen, daß sich mit diesen beiden Bedingungen weitreichende Konsequenzen für die Erforschung der kriminellen Dimension des Kommunismus ergeben, und auf der anderen Seite diejenigen, die diesen Veränderungen Rechnung tragen, um mehr über das fundamentale Phänomen des 20. Jahrhunderts in Erfahrung zu bringen.
Die Erstgenannten sind entschiedene Gegner einer Grundsatzdebatte und inszenieren deshalb eine Polemik der niederträchtigsten Art, die an die alten Methoden der kommunistischen Propaganda erinnert.
In Frankreich haben sie bereits vor der Veröffentlichung des Buches versucht, über Machenschaften und Druckmittel, die selbst in den Forschungseinrichtungen zu spüren waren, einen Konflikt zwischen den Koautoren vom Zaun zu brechen. Man wollte mit allen Mitteln eine Trennung zwischen den »guten« Historikern und dem widerwärtigen Ideologen Courtois, der für dieses Buch die Einführung geschrieben hat. Als ob diese Einführung nicht genau den verschiedenen Texten des Buches entspräche und nicht mit den wichtigsten Autoren ausführlich in der Gruppe diskutiert worden wäre.
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Und ebendiese Leute wiesen sowohl in Frankreich als auch in Deutschland und in Italien ständig darauf hin, wie sehr das Schwarzbuch des Kommunismus den Rechtsextremismus begünstigen würde. Als ob die Historiker das Ergebnis ihrer Arbeit nur unter Berücksichtigung einer wie auch immer gearteten politischen Wetterkarte veröffentlichen dürften, einer Wetterkarte natürlich, nach der die – meist nur in der Einbildung existierende – rechtsextreme Gefahr immer viel zu bedrohlich ist, um der kommunistischen Frage nachgehen zu dürfen.
Dieselben Leute gingen sogar so weit, zu behaupten, wer das Augenmerk auf die Opfer des Kommunismus richte, wolle den von den Nazis begangenen jüdischen Völkermord banalisieren. Und selbst in einer so angesehenen Zeitung wie <Le Monde> suggerierte man, daß diese Banalisierung eine heimliche Taktik wäre, um - ich zitiere - »schlicht und einfach im Gedächtnis der Völker die Verbrechen der Nazis durch die Verbrechen der Kommunisten zu ersetzen«.
Es begreift wohl jeder, daß die Opfer des Kommunismus die Opfer des Nationalsozialismus in keinster Weise ins Abseits stellen. Andererseits wird jedoch klar, was diese Polemik bezwecken soll: Die Opfer des Nationalsozialismus, über die man seit fünfzig Jahren zu Recht sehr viel spricht, sollen die Opfer des Kommunismus in den Hintergrund drängen, und manch einer sähe es sicherlich gern, wenn man überhaupt nicht mehr über sie sprechen würde.
Vor dem Hintergrund einer solchen Polemik möchte ich lediglich auf drei Fragenkomplexe näher eingehen. Sie beziehen sich im Gegensatz zu den anderen Fragen auf den Inhalt des Buches und verdienen deshalb eine Antwort. Der erste Fragenkomplex betrifft die Zahlen: Warum konzentriert man sich über weite Strecken der Einführung in so starkem Maße auf die Opferzahlen (zwischen 85 und 100 Millionen)? Stand da nicht ein billiges Geschäftsmanöver im Vordergrund? Wollte man da nicht um jeden Preis mit Sensationen aufwarten? Habe ich, was die Methode angeht, nicht eine »Geschichtsforschung mit dem Taschenrechner« betrieben? So zumindest lautet der mehr als deplazierte Vorwurf eines deutschen Kollegen. Machen wir uns doch zunächst einmal bewußt, daß der Leser anhand dieses ominösen »Taschenrechners« erfährt, wie zigmillionen unschuldige Männer, Frauen und Kinder ihr Leben auf dem Opfertisch der von ihrer Ideologie überzeugten Einheitspartei lassen mußten.
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Selbst wenn es sich nur um annähernde Zahlen handelt, der Rückgriff auf Opferzahlen ist sehr wohl legitim, ja sogar unverzichtbar. Ferner möchte ich daran erinnern, daß auch bei den historischen Studien zur Shoa das Zählen der Opfer lange Zeit eines der Hauptanliegen der Historiker war. Erst seitdem sich die Spezialisten auf eine Richtzahl von ungefähr 5,1 Millionen Toten geeinigt haben, steht die Frage nach den Opferzahlen in der Shoa-Forschung nicht mehr im Vordergrund. Es versteht sich von selbst, daß allein schon die Zahl der Opfer ein Gegenstand der historischen Forschung ist. Hätte das kommunistische System »nur« hunderttausend Menschen das Leben gekostet, hätte es nie ein Schwarzbuch gegeben. Das Problem ist jedoch, daß das System etwa 100 Millionen Menschen umgebracht hat.
Der zweite Kritikpunkt zielt auf die Art und Weise, wie gezählt wird. Zum Teil wirft man mir vor, »Karotten, Rüben und Lauchstangen zusammengezählt zu haben«. Ich enthalte mich hier eines Kommentars zu diesem völlig deplazierten Bild, das jedoch über die Denkungsart dieser Kritiker und ihres Respekts gegenüber den Opfern sehr viel aussagt, und möchte hier lediglich die Kriterien der Schwarzbuch-Zählung erläutern.
Wir haben die Menschen, deren Tod eine direkte Folge der Politik der kommunistischen Regimes ist, in drei Kategorien eingeteilt: diejenigen, die als Regimefeinde ermordet (erschossen, aufgehängt usw.) worden sind, diejenigen, die man in die Arbeitslager gebracht hatte und die dort infolge der katastrophalen Zustände und miserablen Lebensbedingungen umgekommen sind, und schließlich diejenigen, die den durch die Regierungspolitik (absichtlich oder nicht) ausgelösten großen Hungersnöten zum Opfer gefallen sind. Das den kommunistischen Regimes sehr wohl anzulastende Massensterben aufgrund der schweren Arbeitsunfälle, der chronisch schlechten Versorgungslage und des fehlenden (nämlich nur den von der Regierung Privilegierten zur Verfügung stehenden) Gesundheitswesens wird im Schwarzbuch nicht berücksichtigt. Bei dieser Gelegenheit möchte ich darauf hinweisen, daß die überwiegende Mehrheit der Opfer Arbeiter und Bauern waren und somit zu dem Teil der Bevölkerung zählten, aus dem angeblich auch die Regierung kam und für deren Rechte sie zu kämpfen vorgab.
Der letzte Kritikpunkt, auf den ich eingehen möchte, zielt auf die Tatsache, daß in ein und demselben Buch die »kommunistischen Verbrechen« von Regimes abgehandelt werden, die zum Teil recht unterschiedlichen Zeiten und Regionen angehören.
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Ist es sinnvoll, fragen unsere Kritiker, die unter Pol Pot und Ceaucescu, unter Stalin und Castro, unter Kim II Sung und Mengistu begangenen Untaten unter demselben Begriff (»kommunistisch«) zusammenzufassen und gemeinsam abzuhandeln?
Durch seine universelle Zielsetzung und globale Ausrichtung hat der Kommunismus tatsächlich in die unterschiedlichsten Länder eingegriffen, in Länder mit völlig verschiedenen Sozial- und Wirtschaftsstrukturen und diametral entgegengesetzten Kulturen. Es läßt sich jedoch nicht bestreiten, daß ein gewisser Lenin im November 1917 ein völlig neues Regime errichtet hat, ein Regime, das er im März 1918 zur besseren Unterscheidung von der vorausgehenden sozialistischen Bewegung »kommunistisch« nannte und im Frühjahr 1919 zur Grundlage einer Weltbewegung mit dem Namen »Kommunistische« Internationale machte.
Es entstand eine Weltpartei der »kommunistischen« Revolution, und jede »kommunistische« Partei bildete eine nationale Sektion dieser Weltpartei, in den Anfangszeiten auch die russische Sektion. Das leninistische und später stalinistische Regime hatte recht bald ein Modell erarbeitet, das in seinen Grundelementen in allen kommunistischen Regimes wiederzufinden ist. Im Handumdrehen war das idealtypische Konzept des Totalitarismus geboren: die alle Aufgaben des Staates übernehmende Einheitspartei mit einem allmächtigen Parteiführer, die obligatorische Einheitsideologie und der Massenterror.
In den heute großenteils offen zugänglichen Moskauer Archiven der Kommunistischen Internationale fanden die einen den Beweis und die anderen die Bestätigung dafür, daß die kommunistische Bewegung bis in die sechziger und siebziger Jahre hinein weitgehend von einer Gründergeneration von Männern getragen wurde, die vollkommen der Moskauer Kontrolle unterstanden: Dies gilt für sämtliche Führer der »Volksrepubliken« (Dimitrow, Ulbricht, Gottwald, Rakosi, Bierut, Tito), aber auch für die chinesischen und vietnamesischen Volksführer (Mao, Tschu En Lai, Ho Chi Minh, Kim II Sung) und alle kommunistischen Parteiführer (Thorez, Togliatti, Cunhal, Ibarruri und Carrillo).
Selbst den erst später zum Kommunismus stoßenden Führern aus der Dritten Welt wie Castro, Neto oder Nadschibullah wurden in großer Zahl alte Hasen der kommunistischen Bewegung zur Seite gestellt. Mit dieser sowohl für die Organisationsform als auch für die Doktrin und die strategisch-taktische Linie maßgeblichen sowjetischen Schablone erreichte man trotz aller nationalen Unterschiede eine derart starke Einheitlichkeit, daß man mit Recht nicht nur vom politologischen, sondern auch vom historischen Standpunkt aus von ein und demselben kommunistischen Phänomen sprechen kann. Und eines der gemeinsamen Grundelemente dieses kommunistischen Phänomens war eben der Terror.
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Seiner Geschichte und seinen Erfahrungen mit dem Kommunismus (und Nationalsozialismus) entsprechend reagierte jedes Land anders auf die Veröffentlichung des Schwarzbuchs. In Frankreich hat die von den Kommunisten und der extremen Linken entfachte Polemik mit erstaunlicher (und zum Teil verletzender) Heftigkeit Kritikpunkte aufgegriffen und weitergeführt, die schon drei Jahre zuvor in bezug auf Francois Furets Ende der Illusion zu hören gewesen waren. Alle sich als revolutionär ausgebenden Kräfte, die gegenüber unseren demokratischen Gesellschafts- und am Markt orientierten Wirtschaftssystemen radikale, absolute Kritik laut werden lassen, verbündeten sich zum Kampf gegen das Schwarzbuch.
Dazu zählen die orthodoxen Kommunisten, aber auch sämtliche trotzkistische und maoistische Gruppen, ja selbst dem Anarchismus nahestehende Strömungen und Randgruppen der sozialistischen und ökologischen Parteien. In Frankreich sind das 15 bis 18 Prozent der Wählerstimmen und lautstarke Minderheiten, die ihren Einfluß sogar bei den angesehensten Zeitungen, ja selbst bei der Regierung geltend machen können. Sie brachten sogar den Premierminister dazu, sich wegen der kommunistischen Minister in seiner Regierung glücklich zu schätzen. In Italien hingegen fiel die Reaktion auf das Schwarzbuch anders aus: Massimo d'Alema, der Vorsitzende der PDS, der ehemaligen kommunistischen Partei, nahm die Veröffentlichung des Schwarzbuchs zum Anlaß, um in der Zeitung Unitá einen langen Artikel abdrucken zu lassen. Darin verurteilte er entschieden das leninistische Experiment und bekannte sich erneut zu den demokratischen Idealen und der Marktwirtschaft. Heute ist er Premierminister ...
Auch innerhalb eines Landes kam es zu den unterschiedlichsten Reaktionen. Auf deutscher Seite versuchte man in Berlin, eine öffentliche Debatte über das Buch zu verhindern und die Frage nach der kriminellen Dimension des Kommunismus schlicht und einfach zu verneinen. Hier wird man mit einer kommunistischen Verneinung konfrontiert, die den Forschungen über den Terror und seine Opfer jegliche Legitimität abspricht.
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In Frankreich versuchten diese Verneiner neuen Typs mit der Veröffentlichung eines Schwarzbuchs des Kapitalismus* ein klägliches Ablenkungsmanöver. Das Buch ist jedoch in theoretischer und historischer Hinsicht so schwach, daß selbst die wohlmeinendsten Zeitungen nicht darüber zu berichten wagen.
Es wurden jedoch nicht nur kritische Stimmen laut. Am 18. Juni 1998 fand in Dresden eine bemerkenswerte Diskussionsrunde statt. Fast vier Stunden lang konnte jeder – auch die Kommunisten – vor 600 Zuhörern in aller Ruhe seine Ansichten darlegen. Der ehemalige kommunistische Bürgermeister der Stadt nutzte diese Gelegenheit und stellte sich mutig und in würdiger Haltung seinen Mitbürgern.
Er stürzte sich nicht in eine entehrende Selbstkritik oder in nutzlose Formeln des Bedauerns, sondern stellte sich in aller Öffentlichkeit die Frage, warum er sich in jungen Jahren dem kommunistischen Jugendverband und später der Partei angeschlossen hat, warum er anschließend den Bürgermeisterposten und die Zusammenarbeit mit der Stasi akzeptiert hat und zu welchem Zeitpunkt er schließlich diese Zusammenarbeit aufgekündigt und eine bestimmte Rolle beim Sturz des Regimes übernommen hat.
Dies war direkter Anschauungsunterricht in Sachen Demokratie und zeugt von einem staatsbürgerlichen Selbstverständnis. Hieran zeigt sich deutlich, daß für die Reaktionen auf das Schwarzbuch auch die persönlichen und kollektiven Erfahrungen mit dem Kommunismus maßgeblich sind. In der ehemaligen DDR braucht man bestimmte Gegebenheiten nicht erst lange zu erklären, sie sind allgemein bekannt und zählten für viele zu den ureigensten Erfahrungen. In Berlin hingegen scheinen die jungen Linken aus dem Westteil der Stadt an einer mythischen, völlig realitätsfernen Vision des Kommunismus festzuhalten.
In Lissabon fiel das Erscheinen der portugiesischen Ausgabe des Schwarzbuchs auf ein entscheidendes Datum: Der bedeutende Romancier Jose Saramago, einer der orthodoxesten Mitglieder der Portugiesischen Kommunistischen Partei, war soeben für den Nobelpreis der Literatur nominiert worden. Außerdem hatte man kurz zuvor Fidel Castro auf dem Jahrestreffen der lateinamerikanischen Staatsoberhäupter in Porto wie einen modernen Helden empfangen. Auch hier prallten Mythos und Wirklichkeit hart aufeinander. Als während des Castro-Besuchs General Pinochet in England verhaftet wurde, sah sich der bekannte Schriftsteller Mario Vargas Llosa veranlaßt, in der spanischen Tageszeitung El Pais einen langen Artikel zu veröffentlichen, in dem er die Verhaftung Pinochets guthieß, sich aber gleichzeitig darüber empörte, daß man mit Castro nicht genauso verfuhr.
* (d-2015:) Wohl nicht zu verwechseln mit Robert Kurz'ens Buch ?
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Vargas Llosa erinnerte bei dieser Gelegenheit daran, daß das Regime des Maximo Lider die letzte Diktatur Lateinamerikas ist... Die Veröffentlichung des Schwarzbuchs zeigt deutlich, wie jedes Land seinen Erfahrungen entsprechend reagiert. Entscheidend ist, wie der Kommunismus in die Erinnerung eingegangen ist. In Ländern wie Frankreich und Italien gilt der Kommunismus als die entscheidende Kraft im Kampf gegen Faschismus und Nationalsozialismus, er steht für den Patriotismus in seiner reinsten Form. Die Erinnerung an den Kommunismus ist in diesen Ländern positiv besetzt.
Mehr noch: In der Erinnerung wird der Kommunismus verklärt und verherrlicht. Eine Verherrlichung, die sogar zunimmt, denn seit zehn Jahren etwa bekommt die Erinnerung in unseren Gesellschaftssystemen einen immer höheren Stellenwert. Es besteht die Tendenz, die Arbeit des mit langem Atem forschenden Historikers durch die »Pflicht der Erinnerung« zu ersetzen. Träger dieser Erinnerung sind die Kommunisten und Ex-Kommunisten, die gesamte extreme Linke, aber nicht nur die Linke, sondern auch die Rechte, die sehr viel Respekt vor der kommunistischen Macht hat.
Dieses von den kommunistischen Parteien regelmäßig wieder aufgefrischte und gepflegte Bild der Verklärung hat nie einen Riß bekommen. Wer über irgendwelche dunklen Seiten des Systems informieren wollte, wurde sofort von der kommunistischen Propaganda niedergewalzt. Und da diese kommunistischen Parteien (PCF und PCI) nie direkt an der Macht saßen, waren sie auch nie gezwungen, durch ihre politische Praxis dieses Bild der Verklärung zu zerstören. Sie waren immer fest mit dem demokratischen System verwachsen und mußten, wenn sie keine schweren Sanktionen erleiden wollten, die fundamentalen Regeln dieses Systems respektieren.
Aus diesem Grund kamen die totalitären Züge ihrer Ideologie nie zum Vorschein. - Kurz: Die meisten der im Westen lebenden Anhänger dieses in der Opposition kämpfenden Kommunismus hatten ein nur vages (und vor allem falsches) Bild vom realen Kommunismus. Das Schwarzbuch entsprach ganz und gar nicht diesem verklärten Bild des Kommunismus. Der Konflikt zwischen einem Geschichtsbild, das sich auf Informationen aus den inzwischen geöffneten Archiven des kommunistischen Systems stützt, und einem vor allem die eigene Identität bestimmenden, emotional besetzten Bild der Verklärung war unausweichlich.
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Neben diesen unmittelbaren, oft recht oberflächlichen Reaktionen hat das Schwarzbuch auch eine Grundsatzdiskussion ausgelöst und vor allem die alte Streitfrage, inwieweit der Marxismus in die vom Kommunismus eingebrachte kriminelle Dimension verwickelt ist, wieder aufgegriffen. Für einen Historiker ist es natürlich absurd, wenn man Marx' 1848 veröffentlichtes Manifest der kommunistischen Partei in welcher Weise auch immer für Stalins Verbrechen von 1948 verantwortlich macht.
Außerdem ist nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß die bedeutendsten Marxisten zur Zeit Lenins die ersten waren, die den 1917 in Rußland von den Bolschewiki eingeschlagenen Weg schwer kritisierten, seien es Rosa Luxemburg und später Karl Kautsky in Deutschland oder Leon Blum in Frankreich. Es gibt jedoch bei Marx eine wissenschaftsgläubig-messianische Seite, welche die historische Notwendigkeit des als Bürgerkrieg verstandenen Klassenkampfes propagierte und so unbestreitbar zum Nährboden für das Vorgehen Lenins oder Stalins geworden ist.
Besonders deshalb, weil Marx in seiner Theorie Realitäten wie die Nation, den Staat und die Demokratie, die in den letzten zwei Jahrhunderten zu den Grundlagen unserer Geschichte wurden, nicht berücksichtigt und aus diesem Grunde seine Forderung nicht relativiert hat. Die marxistische Theorie war voller emanzipatorischer Ansätze, trug aber auch eindeutig totalitäre Keime in sich. Neben der abstrakten Ideologie fehlte gewissermaßen der Blick auf den wirklichen Menschen. Dies brachte Marx dazu, auf den ersten Seiten seines Manifestes folgenden, im nachhinein überraschenden Satz zu schreiben:
»Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freie und Sklaven, Patrizier und Plebejer, Barone und Leibeigene [...], kurz Unterdrücker und Unterdrückte standen in einem steten Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen [...] Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.«
Die Wahl war also bereits klar: entweder der Triumph der Ideologie oder der Untergang der Gesellschaft.
Dies scheint mir der beste Ansatzpunkt für eine gewinnbringende Diskussion zu sein: Was war im historischen Sinne das Neue am bolschewistischen Kommunismus, und was findet man davon in anderen totalitären Phänomenen wieder? In meinen Augen ist es die unbestreitbare Tatsache, daß man nun nach ideologischen und nicht mehr nach politischen Gesichtspunkten vorging.
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Man verabschiedete sich von der modernen, machiavellistischen Vorstellung von Politik, die dank rechtsstaatlicher Formen und einer friedlichen Konfliktlösung auf das Allgemeininteresse ausgerichtet war, und orientierte sich statt dessen an einem archaischen, vom reinen Machtdenken geprägten Politikbild, bei dem das Freund-Feind-Verhältnis als Vorwand diente, um aus jedem Konflikt einen Bürgerkrieg machen zu können. Bei Marx entwickelte sich der Bürgerkrieg sozusagen aus einer natürlichen Bewegung heraus, einer natürlichen Bewegung sozialer und historischer Kräfte.
Lenin hingegen war fest entschlossen, diese Bewegung zu beschleunigen, und führte – ganz gegen die Tradition der Zweiten Internationale – als ad-hoc-Instrument eine geheime, professionelle Revolutionspartei ein, die sofort nach der Machtübernahme den Staat als rechtsgültigen Ort der Politik ablösen und nicht nur die Gesellschaft, sondern auch den Menschen selbst im Sinne der kommunistischen Ideologie völlig umgestalten sollte.
Marx war Philosoph und Sozialkritiker. Seine Schriften hätten auf Jahrzehnte hinaus den Stoff für interessante Diskussionsrunden liefern können. Lenin hingegen war ein Ideologe der Tat. Er sah sich als Messias des Marxismus und war fest entschlossen, seiner ideologischen Vision der Begriff »Vision« ist hier im eigentlichen Sinne zu verstehen – überall zum Triumph zu verhelfen, notfalls auch mit Terror, wenn es nicht anders zu machen war. Er beschritt so einen Weg, den in der Folge auch andere – beispielsweise Mussolini oder Hitler – recht bald einschlugen.
Diese erste Diskussionsrunde zieht eine zweite nach sich: Es ist der nicht zu umgehende und lohnende Vergleich zwischen dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus. Mit der Veröffentlichung des Schwarzbuchs richtete sich das Augenmerk vor allem auf das Verbrechen gegen die Menschlichkeit und den Völkermord, zwei Phänomene, die zwar in der bisherigen Weltgeschichte auch nicht unbekannt waren, aber im 20. Jahrhundert unter dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus eine starke Intensivierung und Verallgemeinerung erfuhren und deshalb für den Historiker ebenso viele Fragen aufwerfen wie für den Philosophen. Diese Fragen zielen jedoch weiter: Inwieweit gleichen sich die beiden Systeme in ihren grundlegenden Punkten, die sich keineswegs nur auf den Terror und das Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschränken?
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In dieser Frage stelle ich mich ganz hinter Francois Furet, wenn er schreibt:
»Die absurde Ansicht, daß der Kommunismus und der Nationalsozialismus das gleiche seien, wurde noch von keinem ernstzunehmenden Menschen geäußert. Die Frage [...] ist hier vielmehr, ob der Vergleich legitim ist und inwieweit man die Geschichte unseres Jahrhunderts begreifen kann, ohne die beiden Systeme unter verschiedenen Gesichtspunkten miteinander zu vergleichen. Ich wähle ausdrücklich den Begriff <legitim>, denn die Kommunisten haben selbst das Ansinnen eines solchen Vergleichs immer mit Entschlossenheit zurückgewiesen.«
Als Ergänzung zu Furet möchte ich daran erinnern, daß in diesem Jahrhundert der Kommunismus und der Nationalsozialismus die beiden großen Feinde der Demokratie, des staatsbürgerlichen Selbstverständnisses und der individuellen Freiheit waren. Schon allein aufgrund dieser Tatsache hat es durchaus seine Berechtigung, wenn die sich mit dem 20. Jahrhundert beschäftigende Forschung diese beiden Systeme zum Vergleich einander gegenüberstellt. Bis zu den neunziger Jahren war dieser Vergleich ausschließlich Sache der politologischen und philosophischen Spezialisten gewesen. Denn für den Kommunismus fehlte jegliche Dokumentationsgrundlage.
Mit der Öffnung der Archive können sich nun auch die Historiker endlich an die entscheidende Arbeit machen. Es wird jedoch noch eine Weile dauern, bis man einen mit der am Nationalsozialismus arbeitenden Forschung vergleichbaren Wissensstand erreicht haben wird. Doch trotz dieses ungleichen Forschungsstandes ist der Vergleich Nationalsozialismus/Kommunismus nicht mehr auf den Bereich theoretischer Überlegungen beschränkt. Vielmehr treten wir nun in die entscheidende Phase eines effektiven Vergleichs, und zwar beinahe mit einer Eins-zu-Eins-Entsprechung.
Die kürzlich veröffentlichte Privatdiskussion zwischen Francois Furet und Ernst Nolte zeugt von einer Annäherung der Sichtweisen. Ein wesentlicher Gegensatz bleibt jedoch bestehen: Für Furet liegt dem nationalsozialistischen Vorgehen ein irrationaler Trieb zugrunde. Bei den Kommunisten hingegen sieht er in einem rational begründeten Ideal den Ausgangspunkt des Handelns. Die Frage nach der Tragweite dieser revolutionären Idee und ihrer bewußt angestrebten radikalen Kritik an unseren Gesellschaftssystemen bringt die Diskussion wieder in Gang.
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Die Zahl derer, die in der nationalsozialistischen Katastrophe eine logische Folge der nationalsozialistischen Idee sehen, entspricht exakt der Zahl derer, die nach wie vor davon überzeugt sind, daß zwischen der kommunistischen Katastrophe und dem Ideal der auf vollkommener Gleichheit und absoluter Gerechtigkeit beruhenden kommunistischen Gesellschaft kein Ursache-Wirkung-Zusammenhang besteht. Immer noch gibt es viele von revolutionärer Leidenschaft beseelte Menschen, die für die Idee der universellen Befreiung große utopische Vorhaben zur Veränderung unserer unvollkommenen Gesellschaftssysteme unterbreiten.
Manche Leute verweisen auf einen idealen Kommunismus, einen Kommunismus, der nie existiert hat und also reine Fiktion ist, und machen uns Vorhaltungen, weil wir über die Verbrechen des real existierenden Kommunismus berichtet haben. Es sind Leute, die sich als Marxisten und Materialisten ausgeben ... Die kommunistische Tragödie ist jedoch eine schreckliche Lektion, die jedem begreiflich machen muß, daß die Gesellschaft und auch der Mensch keine vulgären Mechanismen und Organismen sind, an denen jeder im Namen einer Ideologie – ganz gleich ob Klassen- oder Rassenideologie – irgendwie herumexperimentieren darf, sei es nun im genetischen oder soziologischen Sinne.
Natürlich ist die Utopie für denjenigen, der die augenblickliche Situation des Menschen und der Gesellschaft kritisch hinterfragt, ein fundamentales Element. Doch sobald die Utopie sich von ihrer philosophischen Dimension entfernt und sich in einen Machtgedanken und in ein Handlungskriterium verwandelt, löst sie furchtbare Tragödien aus. Dies gilt sowohl für den Kommunismus als auch für den Nationalsozialismus, den man ja durchaus als Utopismus der reinen Rasse betrachten kann. In diesem Zusammenhang kann man sich sehr wohl vorstellen, zu was für Katastrophen der menschliche Stolz und ein von der Wissenschaft geprägtes Menschenbild mit den Genmanipulationen führen können, zu Katastrophen, die den jeweiligen Zeitgenossen genauso unwahrscheinlich erscheinen wie diejenigen des Kommunismus und des Nationalsozialismus.
Zum Schluß stellt sich die Frage, warum sich so viele intelligente, kultivierte und aufrichtige Menschen auf solche Bewegungen einlassen konnten und es heute noch ablehnen, die tragischen Folgen »ihrer« Bewegung zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn die Verantwortung für sie zu übernehmen.
Die Archive des ehemaligen Ostens – diejenigen von Moskau genauso wie diejenigen von Prag – zeigen die führenden Kommunisten als gläubige Anhänger einer von Lenin gegründeten messianischen Bewegung religiösen Charakters, deren Ziel die proletarische Weltrevolution war. —
Marcel Proust schrieb seinerzeit: »Die Fakten dringen nicht in die Welt unserer Glaubensvorstellungen ein.« Die historischen Fakten – auch wenn sie noch so schrecklich und einwandfrei belegt sind – dringen nicht in die Welt der marxistisch-leninistischen (oder maoistischen, guevarischen, trotzkistischen) Glaubensvorstellung der orthodoxen oder kritischen Kommunisten ein.
Ganz gleich, wie groß die Blockaden, Schwierigkeiten und Hindernisse sind, unsere Gesellschaftssysteme kommen um die unvermeidliche historische Aufarbeitung der kommunistischen Tragödie nicht herum. Doch wir Westeuropäer, die wir den Kommunismus nur in seiner abgemilderten Form kennengelernt haben, dürfen das Trauma unserer osteuropäischen Brüder nicht unterschätzen.
Das eklatanteste Beispiel für dieses Trauma ist die augenblickliche Situation in Rußland. Europas tausendjähriges Streben nach Einheit ist 1917 das erste Mal und 1945 das zweite Mal zerbrochen. Wenn wir an diese Einheitsbestrebung wieder anknüpfen wollen, müssen wir uns um eine genauere Kenntnis und ein stärkeres Bewußtsein des kommunistischen Desasters bemühen, damit wir die Opfer der Tragödie genauer verstehen und besser unterstützen können. Wenn das Schwarzbuch des Kommunismus auch nur einen bescheidenen Beitrag zur Stärkung dieses Verantwortungsgefühls leisten kann, glauben seine Autoren, ihre Aufgabe erfüllt zu haben.
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Quelle: Alfred Herrhausen Gesellschaft für internationalen Dialog, Frankfurt am Main.
Ende