Einleitung
»... jetzt hast du diese Gesellschaft nackt gesehen. Nun weißt du es. Nun weißt du endgültig, was gemeint ist. Das ist gemeint. Ja, dieser Sozialismus der Unteroffiziere, diese Kasernenhofwelt, das ist weder links noch eine neue Gesellschaft, es ist einfach eine verkommene Macht. Eine alte Macht auch, mit faschistischem Rumgerede teilweise, mit Mißachtung des Menschen, mit all diesem Herummarschieren, alt und verkommen und gewalttätig. Und dann noch verlogen, weil es draußen und in den Zeitungen so anders dargestellt wird.« Jürgen Fuchs
Die DDR-Soldatensprache
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Die Soldatensprache ist so alt wie das Militär. Sie entstand mit der Schaffung regulärer militärischer Einheiten als besonderer Subsozietäten der Gesellschaft, und sie wird so lange existieren, wie es militärische Gruppierungen, Organisationen und Strukturen geben wird. Genauso alt wie die Soldatensprache selbst sind vermutlich auch die Beobachtungen über diese Sondersprache.
Die deutsche Soldatensprache ist besonders seit der Frühen Neuzeit durch zahlreiche Quellen belegt. Ein mehrseitiges Glossar der Feld-Sprach hat Hans Michael Moscherosch in den 2. Teil seiner Prosasatire Wunderliche und warhafftige Gesichte Philanders von Sittewald aufgenommen. Aber auch Flugschriften und Einblattdrucke aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, Romane und Satiren enthalten zahlreiche Hinweise auf soldatensprachliche Besonderheiten. Die erste umfangreichere Abhandlung, die speziell der deutschen Soldatensprache gewidmet war, wurde 1899 von Paul Horn1) vorgelegt.
Seitdem ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Gegenstand niemals abgerissen. Es gibt Wörterbücher und wissenschaftliche Untersuchungen aus den Jahren bis 1914, aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, aus den Jahren der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Diktatur. Noch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges rief eine bereits während des Ersten Weltkrieges innerhalb des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde gegründete Kommission für die Sammlung der Soldatensprache die »Kameraden an der Front und in der Heimat« zur Beteiligung an der Erfassung soldatensprachlichen Wortguts auf.2)
1) Paul Horn: Die deutsche Soldatensprache, Gießen 1899.
2) Sammlung der deutschen Soldatensprache. Sonderschrift des Oberkommandos der Wehrmacht [1939].
Auch in der Bundesrepublik hat es mehrere Veröffentlichungen über diese Thematik gegeben, unter anderem die beiden von Heinz Küpper zusammengetragenen Wörterbücher Am A... der Welt. Landserdeutsch 1939-1945 (1970) und ABC-Komiker bis Zwitschergemüse. Das Bundessoldatendeutsch (1979). Nur in der DDR gab es keine öffentlichkeitswirksamen wissenschaftlichen Untersuchungen der Soldatensprache, obwohl in der Belletristik, etwa den Erzählungen und Romanen, die im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik erschienen sind, das Thema durchaus eine Rolle spielte, wenn auch in verfremdeter Weise, diskriminierend und herablassend. Ein Buch, das die Probleme in der sozialistischen Volksarmee wahrhaft schilderte, konnte es in der DDR nicht geben.3)
Im vorliegenden Wörterbuch ist die in der DDR gesprochene Soldatensprache im weitesten Sinne erfaßt, also der inoffizielle Teil der Sondersprache, die in sämtlichen Bereichen, in denen Wehrdienstleistende in der DDR in militärischen Strukturen zusammenwirkten und kommunizierten, verbreitet war. Nicht nur in der NVA, auch in den anderen militärischen Einheiten der DDR, in denen Wehrdienstleistende eingesetzt waren, also in den Grenztruppen, den kasernierte Einheiten des Ministeriums des Innern (insbesondere der Bereitschaftspolizei und der Transportpolizei) und des Ministeriums für Staatssicherheit (insbesondere dem Wachregiment des MfS), in der Zivilverteidigung und in den Baueinheiten des Ministeriums für Nationale Verteidigung wurde, jeweils mit gewissen Besonderheiten, die DDR-Soldatensprache gesprochen, selbst in den Kampfgruppen, den bewaffneten Einheiten der Zollverwaltung und in der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) waren ähnliche sprachliche Erscheinungen zu beobachten.
Als die Brandenburgische Landeshochschule Potsdam 1990 die Gebäude der ehemaligen Juristischen Hochschule des MfS übernahm, fanden sich an den Wänden der kasernenähnlichen Gebäude die typischen, bei allen Wehrdienstleistenden üblichen EK-Symbole, die von den Vorgesetzten stets als EK-Schmierereien abgetan worden waren. Nicht einmal hier war es zu verhindern gewesen, daß sich die E-Bewegung ausbreitete und die EK’s ihre Zeichen deutlich sichtbar anbrachten.
Und wo fand man nicht überall diese Zeichen. Als ich nach dem Mauerfall die Heilandskirche von Sacrow besuchte, die jahrzehntelang ein Schattendasein geführt hatte, eingemauert, vergessen, heimgesucht nur von den Fledermäusen und den Grenzern, fand ich die charakteristischen Kacheln an den Außenseiten von Kirche und Turm übersät mit Inschriften aus den unterschiedlichsten Zeiten, so daß hier eine ganze Kulturgeschichte Europas von den Steinen abzulesen war.4)
3) Mit erstaunlicher Unkenntnis äußerte sich Cornelia Resik in ihrer Rezension in der Sächsischen Zeitung vom 17.5.1991 über den Roman »Harte Jahre« von Jürgen Ritschel, einen in seiner Dichte und Intensität mit den Werken von Jürgen Fuchs vergleichbaren Roman über das Militär der DDR. Seit dem Mauerfall ist die Reihe belletristischer, essayistischer und Memoirenwerke zum Thema Wehrdienst in der DDR nicht abgerissen.
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Einer, vielleicht ein Theologiestudent, hatte sogar die berühmten drei Anfangsworte der Thora in hebräischer Sprache an die Wand geschrieben. An der Südseite fand sich die Eintragung »1. / O. B. Ausb. Abtg. 2. Ln Zug, Febr. 1945, Reinhard Dahrendorf, Hamburg beim Stellungsbau« und nicht weit davon entfernt »Miki Bori Kalenow 23/VIII.1945« und »Jakowenko Iwan 8.9.45« und wieder ein kleines Stück weiter »Good look from the Church of Heiland of Sacrow, May 1947«.
Besonders zahlreich waren die Inschriften von ehemaligen Angehörigen der Deutschen Grenzpolizei und der Grenztruppen der DDR. EK’s der unterschiedlichsten Jahrgänge hatten hier ihre Zeichen hinterlassen. Aus der DDR-Zeit stammten aber auch Inschriften wie »Wir standen hier so manche Nacht / und keiner hat an uns gedacht. / Turm, 0, 2, 22, Gefr. Horst Kurt Ueberfuhr Kamenz Sa. Bez. Dresden DGP den 15.1.58.« und »Dies ist mein Spandau, Wolfgang Kolbe, 22.9.62« und »Sacrow Das Grab unserer Jugend DGP« und »Adolf Hitler 13.4.64«.
Als einer der letzten regulären Wehrdienstleistenden der DDR-Zeit hatte sich, ohne seinen Namen zu nennen, ein Grenzsoldat eingeschrieben, dessen Wehrdienst 1990 enden sollte, und zwar mit der 2. Entlassungsrate.5) Er hat zwar nur ein Kryptogramm hinterlassen: »EK 90/II«, trotzdem wissen wir von ihm eine ganze Menge: Er ist Anfang November 1988 einberufen worden. Er war ein politisch zuverlässiger junger Mann, jedenfalls gab es keinen Zweifel daran, sonst wäre er niemals an den Kanten gekommen, bis an die vorderste Position. Er ist mehrere Monate in einem Ausbildungsregiment auf den Grenzdienst vorbereitet worden, wurde im Laufe des Jahres 1989 hierher versetzt, ging zunächst als Posten mit einem Postenführer auf Grenzdienst, wurde im Winterhalbjahr 1989/90 selbst Postenführer. Seine Postennummer ließe sich ermitteln, sein Regiment, unter Umständen sogar sein Herkunftsort und sein Name, vielleicht auch der Tag der Eintragung. Als er Ende April 1990 entlassen wurde, gab es nichts mehr zu bewachen. Zu denen, die an der Grenze endgültig das Licht ausschalteten, gehörte Frank Wover, der sich am 18.4.90 als »EK 90/III« eintrug (Abb. S. 10).
Abb.: Heilandskirche Sacrow, Inschriften an einer Kachel, März 2000
4) Die Unsitte, die Kacheln der Heilandskirche als Gästebuch zu benutzen, ist so alt wie die Kirche selbst, die ältesten Inschriften sind allerdings überstrichen worden.
5) Zu den Grenztruppen wurde zuletzt nicht nur an den üblichen Einberufungsterminen Anfang November und Anfang Mai, sondern auch im Februar und August gezogen, es gab also, anders als bei den anderen Truppen, vier Einberufungsraten.
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Die Bezeichnung EK, die in zahllosen Inschriften dieser Art enthalten ist, wie man sie selbst heute noch an vielen Stellen findet, an denen sich Wehrdienstleistende in der DDR während der Zeit ihres Wehrdienstes aufhielten, steht für Entlassungskandidat, einen Begriff, der in der DDR-Soldatensprache eine zentrale Rolle spielte.
Als Entlassungskandidaten wurden die Soldaten des 3. Diensthalbjahrs bezeichnet. Sie waren die nächsten, die entlassen werden würden. Ihr Kennzeichen war das Bandmaß, von dem sie jeden Tag einen Schnipsel abschnitten. Sie hatten die Spitze der inoffiziellen Hierarchie erreicht, die sich unter den Soldaten herausgebildet hatte und die sich auf die Anzahl der noch zu dienenden Tage berief. Je weniger Tage ein Wehrdienstleistender hatte, desto höher stieg er in der inoffiziellen Hierarchie.
Für die Soldaten war es mithin von eminenter Wichtigkeit, stets die aktuelle Tageszahl nennen zu können. Der gesetzlich vorgeschriebene Grundwehrdienst betrug in der DDR 18 Monate (1½ Jahre). Da die Einberufungen halbjährlich erfolgten, hatte jeder Soldat drei Diensthalbjahre zu durchlaufen. Im 1. Diensthalbjahr wurde er als Neueinberufener von den Soldaten des 2. und 3. Diensthalbjahres auf der untersten Stufe der Rangfolge eingeordnet. Er wurde mit zahllosen Schimpfwörtern bezeichnet — am meisten verbreitet war Spritzer — und von den Soldaten des 2. und 3. Diensthalbjahres herumkommandiert. Im 2. Diensthalbjahr erlangte der Soldat eine Zwischenstellung. Er wurde Zwischenpisser, nach dem Bergfest und einem entsprechenden Initiationsritual Vize, also 2. Entlassungskandidat. Er beteiligte sich an der Unterdrückung der Spritzer und war den EK’s unterworfen. Im 3. Diensthalbjahr wurde er selbst EK und hatte in der inoffiziellen Hierarchie der Soldaten die höchste Position erreicht.
Die Übergänge zwischen den Hierarchiestufen wurden durch bestimmte Rituale vollzogen, bei denen sich in den Kasernen oft unglaubliche Szenen abgespielt haben. Charakteristisch und vergleichsweise harmlos ist der Bericht eines Angehöriger der 15. VP-Bereitschaft Eisenhüttenstadt in einem Brief an seine Mutter, der hier im Auszug wiedergeben wird.
[...] Jetzt werde ich am 26.4. zweites Diensthalbjahr, und dafür giebt es bei uns zwei Sammelbegriffe, entweder wird man als »Zwischenpisser« oder als »Zwischenkeim« bezeichnet, und da hat man schon etwas mehr zu sagen, aber man braucht weniger Arbeiten machen, z.B. Stube, Revier und sonstiges, was keinen Spaß macht, denn das machen ja ab 4.5.83 die »Frischen« oder auch »Löffel« genannt. Bis nächste Woche bin ich auch noch »Löffel«, aber am 26.4. abend wird mein Löffel (aus der Bestecktasche) am Stiel verdreht und das Runde plattgeklopft, damit er nicht mehr zu verwänden ist. Aber davor muß ich mich in unsere Stube hinknien und den Stahlhelm aufsetzen. Dann fragen mich die beiden EK’s (Abgänger): »Willst du ewig ein Frischer sein???« Und da schreie ich ganz laut: »Nein!«
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Fotos vom Anschnitt, etc.
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Und dann lassen sie einen Hocker auf meinen Kopf fallen (das tut aber nicht weh), dabei sprechen sie dann die herrlichen, und seit einem halben Jahr sehnsüchtig erwarteten Worte: »Dann schlag ich dich zum Zwischenkeim!« Dann bin ich endlich »Zwipi«. Und dann trinken wir zusammen mit unseren EK’s ein bissel Schnaps. Danach renne ich mit dem verunstalteten Löffel zur Tür und schmeiße ihn in einem hohem Bogen auf den Exazierplatz. Das war die Hauptsache dann! Dann beißen meine beiden EK’s in meine Schulterstücke, und sie werden geknickt, damit die Neuen sehen, daß sie einen vom 2. Diensthalbjahr vor sich haben. Dann überlegen sie sich, ob sie rummaulen oder »Putschen«. Das war mal ein Bericht über die Zeremonie des sogenannten »Löffelschlags«. Das fetzt was!
Und damit wir Schnaps trinken können, bitte ich Dich, schicke mir bitte gut gepolstert und verpackt zwei, bitte zwei große Flaschen Schnaps, aber bitte mache das, denn ansonsten werde ich nicht zum Zwischenkeim geschlagen und habe noch ein halbes Jahr »Löffel« und muß Reviere Schruppen (z B. Scheißhaus, Waschraum, Flur oder Stube) und habe nichts zu sagen. Und dagegen kann man sich nicht wehren, denn dann würde man immer den Kürzeren ziehen. Und man wird als 2. Klasse behandelt. Und das willst du ja sicher auch nicht. [...]
Als umfassende Bezeichnung für das aus der noch verbleibenden Dienstzeit der Wehrdienstleistenden abgeleitete inoffizielle Hierarchie- und Unterdrückungssystem der Soldaten und Unteroffiziere und die damit im Zusammenhang stehenden Handlungen (Bräuche, Rituale), Gegenstände besonderer Bedeutung (Idole) und sprachlichen Erscheinungen (Hierarchiebezeichnungen, Redensarten) hatte sich der Begriff E-Bewegung etabliert.
Durch die E-Bewegung, von den Vorgesetzten auch als negative Traditionspflege bezeichnet, wurde die offizielle Hierarchiestruktur der Streitkräfte negiert und auf den Kopf gestellt — je kürzer die verbleibende Dienstzeit eines Wehrdienstleistenden war, desto höher stieg er in der Hierarchie. Die E-Bewegung war — jeweils mit spezifischen Besonderheiten — in allen militärischen Einheiten, in denen Wehrpflichtige in der DDR ihren Wehrdienst leisteten, auf ähnliche Weise ausgeprägt.
Ausnahmslos alle Grundwehrdienstleistenden und ein beträchtlicher Teil der Unteroffiziere auf Zeit wurden von der E-Bewegung erfaßt, sogar in Offizierskreisen gab es ansatzweise adäquate Systeme, etwa an den Offiziershochschulen.6)
Für den Soldatenalltag und die Soldatensprache der DDR von konstitutiver Bedeutung, wurde die E-Bewegung von offizieller Seite verschwiegen, denn sie befand sich im Widerspruch zu den Vorschriften und dem propagierten Bild einer sozialistischen Landesverteidigung mit sozialistischen Soldatenpersönlichkeiten und deren Beziehungen untereinander.
6) Natürlich gab es Soldaten und Unteroffiziere, die sich nicht an den menschenverachtenden, entwürdigenden Praktiken beteiligten. Es gab echte Kameradschaft, es gab Freunde, ohne sie wäre es nicht zum Aushalten gewesen. Aber wie sich der einzelne auch zur E-Bewegung verhielt, ob er sich aktiv oder passiv beteiligte an der Unterdrückung der Dienstjüngeren oder ob er offen dagegen auftrat und selbst Nachteile in Kauf nahm, konfrontiert waren alle Wehrdienstleistenden mit den Erscheinungen der Hierarchie der Diensthalbjahre.
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Das Verhältnis, in dem die drei Diensthalbjahre tatsächlich zueinander standen, wurde treffend durch eine allgemein verbreitete Redensart charakterisiert: Der E denkt, der Vize lenkt, der Sprutz rennt.
Es gab ein ausgeklügeltes Regelsystem, das teilweise in sogenannten EK-Statuten kodifiziert wurde (vgl. S. 294ff). Nicht selten war auch die Sprache der einzelnen Wehrdienstleistenden der Reglementierung unterworfen, etwa durch Ausschluß oder Vorbehalt bestimmter Begriffe wie Abgang, schwarz, heiß, glatt, Zeit für bestimmte Diensthalbjahre.
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Die E-Bewegung darf nicht losgelöst von den allgemeinen Verhältnissen beim Militär betrachtet werden. Sie stand im Zusammenhang mit dem offiziellen Hierarchiesystem, bezog sich darauf, ahmte die offiziellen Strukturen und die inoffiziellen Praktiken der Vorgesetzten nach und war selbst ein Bestandteil dieser Strukturen. Wenn die E-Bewegung auch nicht mit dem von offizieller Seite propagierten Selbstbild einer sozialistischen Armee in Übereinstimmung zu bringen war, wirkte sie doch insgesamt systemstabilisierend.
Jedenfalls wurde das von den EK’s dominierte System von vielen Offizieren nicht nur toleriert, sondern bewußt genutzt, um unter dem Vorwand der Selbsterziehung die Selbstorganisation der Truppe zu gewährleisten. Mit disziplinarischen Mitteln und mit den Mitteln der Militärgerichtsbarkeit wurden lediglich die exzeptionellen Fälle geahndet, in denen schwere Sach- oder Personenschäden entstanden waren und die als Verstoß gegen die sozialistischen Beziehungen zwischen Wehrdienstleistenden bezeichnet wurden. Prinzipiell standen offizielles und inoffizielles System einander feindlich gegenüber, aber sie konkurrierten nicht miteinander, sondern waren ineinander verzahnt wie die Räder einer Maschine.
Die Hierarchiebezeichnungen der E-Bewegung und die mit den verschiedenen Hierarchiestufen in Zusammenhang stehenden Begriffe bilden einen wesentlichen Bestandteil der Lexik der DDR-Soldatensprache. Sämtliche inoffiziellen Hierarchiebezeichnungen, sofern sie nicht die oberste Stufe benannten, konnten als Schimpfwörter verwendet werden bzw. besaßen per se den Charakter von Schimpfwörtern. Die Sprache war eines der wichtigsten Instrumente, mit dem die Soldaten den Rangkampf untereinander austrugen.
Jede Hierarchiestufe verfügte über ein Arsenal an charakteristischen Ritualen, Bräuchen, Erkennungszeichen, Redensarten und Symbolen. Gegenstände, die von den Wehrdienstleistenden verwendet wurden, um ihre Stellung in der E-Bewegung (Tageszahl) und ihr Verhältnis zu den anderen Wehrdienstleistenden zu markieren, werden hier als Idole bezeichnet. Selbst die Idole der niedrigsten Hierarchiestufe gewannen durch die starke emotionale Aufladung Fetischcharakter.
Die Funktionsweise der Idole war das gegenseitige Vorzeigen (Anbieten) bzw. die demonstrative Zurschaustellung. Das wichtigste Idol war das Bandmaß, mit dem die letzten 150 Tage des Wehrdienstes gezählt wurden.
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Soldatensprache — Militärsprache — Offizierssprache
Ohne sich die Soldatensprache anzueignen, konnte kein Wehrdienstleistender die Zeit des Wehrdienstes überstehen. Er mußte die Fachsprache erlernen, er mußte sich den Gleichgestellten gegenüber behaupten, und er mußte verstehen lernen, was ein Vorgesetzter meinte, wenn er ihn anbrüllte: Sie wollen sich wohl eine beidseitige Lungenentzündung holen?, was, in die Militärsprache übersetzt, etwa folgendermaßen hätte ausgedrückt werden müssen: Genosse Soldat! Anzugsordnung herstellen! Knopf Brusttasche links und rechts schließen! Ausführung!
Zur Soldatensprache gehört also in einem weiteren Sinne auch die militärische Fachsprache (Militärsprache) und die inoffizielle Sondersprache der Vorgesetzten (Offizierssprache).
Ein bedeutender Teil der Soldatensprache korrespondiert mit der militärischen Fachsprache. Teilweise wurde die offizielle Sprache unverändert in die Soldatensprache integriert, teilweise wurde sie ihr anverwandelt, einige Wörter und Wendungen wurden vollständig vermieden. Auf vielfache Weise wurde in der Soldatensprache das Fachvokabular umgewertet, umgedeutet, umfunktioniert oder umbenannt. Rief beispielsweise ein Soldat einem anderen, der gar keine Gasmaske trug, das Kommando Entwarnung! zu, mit dem normalerweise der Befehl erteilt wurde, die Truppenschutzmaske abzusetzen, so unterstellte er damit, daß der Betreffende sehr häßlich aussähe. Ein militärsprachliches Kommando wurde umfunktioniert zu einer scherzhaft gemeinten Insultation.
Charakteristisch sind ferner die emotional konnotierten Dubletten, durch die zahlreiche militärische Fachbegriffe ersetzt wurden, etwa die Bezeichnungen einzelner Teile von Bekleidung und Ausrüstung, allen voran Stahlhelm und Truppenschutzmaske, der Dienstgrade, der Elemente des Dienstalltags, der Verpflegung usw. Der Anhang zu diesem Wörterbuch enthält eine Zusammenstellung von Lexemen der Militärsprache der DDR als einfache Auflistung ohne Erläuterungen zu den einzelnen Wörtern. Einige Begriffe von zentraler Bedeutung, die von den Soldaten auch in der nichtoffiziellen Kommunikation verwendet wurden bzw. die notwendig sind, um bestimmte Erscheinungen der DDR-Soldatensprache zu verstehen, wurden auch in den Hauptteil des Wörterbuchs aufgenommen. Sie wurden als militärsprachlich gekennzeichnet.
Die Militärsprache, bestehend aus klar definierten Fachausdrücken, reglementierten Standardsätzen und in Dienstvorschriften festgelegten Kommandos und Befehlen, ist das offizielle Kommunikationsmittel für den dienstlichen Verkehr zwischen Vorgesetzten und Unterstellten. Bei der Arbeit an diesem Wörterbuch stellte sich jedoch heraus, daß die Vorgesetzten in der Kommunikation mit den Soldaten oder untereinander nicht nur die Militärsprache verwendeten, sondern daß sie auch eine eigene inoffizielle Sprache benutzten.
Teilweise war die Offizierssprache nicht von der Soldatensprache zu unterscheiden, an bestimmten Lexemen hatten Soldaten nur passiv Anteil, an bestimmten überhaupt nicht. Einen Versuch, die Sprache der Offiziere in ihrem Verhältnis zur Soldatensprache zu beschreiben, hat es, so weit ich sehe, noch nie gegeben.7
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Da die Offizierssprache den Soldaten als Element der offiziellen Hierarchie gegenübertrat und auf die Unterstellten stark traumatisierend wirkte, konnte diese auffällige Erscheinung lange Zeit in ihrem Wesen unerkannt bleiben. Charakteristisch ist die Annahme, daß die Offiziere die Soldatensprache, den Jargon der Mannschaftsdienstgrade, zwar kannten, diese aber als eine niedrigere Ebene der Sprache betrachteten und sie normalerweise nicht verwendeten, sondern nur gelegentlich davon Gebrauch machten, um ihre streng normierte Sprache etwas aufzulockern, etwa wenn ein Hauptfeldwebel während der Dienstausgabe einen Scherz anbrachte, im übrigen aber um eine korrekte Dienstsprache bemüht waren.
Tatsächlich verhielt es sich ganz anders. Im Verlauf der Arbeit bemerkte ich immer mehr Lexeme, die mit der Soldatensprache unvereinbar waren, deren Verwendung durch Soldaten und Unteroffiziere widersinnig oder unmöglich gewesen wäre. Kein Soldat käme auf die Idee, den Spieß als Mutter der Kompanie oder die MPi als Soldatenbraut zu bezeichnen. Was damit gemeint war, wußten sie natürlich.
Daß sie aber auch den Apfelsinenorden kannten oder daß sie sich jemals an einem Pickeltrinken beteiligt hätten, muß bezweifelt werden. Es sind also inhaltliche Kriterien, insbesondere Unverträglichkeit mit der Soldatensprache im engeren Sinne und spezielles Wissen, das bei Soldaten nicht vermutet werden konnte, die eine Kennzeichnung bestimmter Lexeme als offizierssprachlich notwendig machten.
Offizierssprache und Soldatensprache stehen offenbar in einem komplizierten Wechselverhältnis. Die Sprache der Mannschaften, die Soldatensprache im engeren Sinne, wurde durch die Offizierssprache in entscheidendem Maße geprägt. Umgekehrt hat auch die Soldatensprache auf die Offizierssprache zurückgewirkt, auch in der Offizierssprache lassen sich wesensfremde Elemente nachweisen. Eine ambivalente Zwischenstellung nahmen die Unteroffiziere (UaZ) ein. Teilweise traten sie wie Vorgesetzte auf, in der Mehrheit aber hatten sie engere Bindungen an die Wehrdienstleistenden im Grundwehrdienst.
Auch die Unterscheidung zwischen Offizierssprache und Militärsprache brachte zahlreiche Schwierigkeiten mit sich. Schwer zu entscheiden war oft, welchem Bereich ein Lexem zuzuordnen ist. Wörter wie Stiefelputz, Schrankbau oder Wäschepäckchen ähneln militärsprachlichen Begriffen wie Waffenreinigen, Bettenbau oder Schrankordnung, sind aber in der einschlägigen Dienstvorschrift (010/0/003 Innendienstvorschrift) nicht nachzuweisen. Offenbar sind die Grenzen zwischen kodifizierter und inoffizieller Sprache fließend.
Wörter, die emotional unauffällig sind und in der offiziellen Kommunikation problemlos verwendet werden konnten, müssen der Militärsprache zugerechnet werden, auch wenn sie nicht kodifiziert sind.
7) Allerdings finden sich insbesondere in der pazifistischen Literatur zahlreiche Einzelbeobachtungen, etwa in GÜNTER WALLRAFF: Mein Tagebuch aus der Bundeswehr. Mit einem Beitrag von Heinrich Böll, Flottillenadmiral Elmar Schmähling und einem Dialog zwischen Günter Wallraff und Jürgen Fuchs, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1992, S. 70.
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DDR-Soldatensprache — Bundessoldatendeutsch
Trotz des Neuanfangs nach 1945 und der Bemühungen um eine grundsätzliche Erneuerung des Personalbestandes der militärischen und Polizeitruppen war die Tradition der deutschen Soldatensprache auch in der DDR-Soldatensprache ungebrochen wirksam. Ein Hauptfeldwebel der NVA wäre in der Wehrmacht oder der Bundeswehr vermutlich überhaupt nicht aufgefallen.
Das Gebrülle unterschied sich nicht, teilweise wurden wörtlich dieselben drastischen Redensarten verwendet und dieselben Zoten gerissen. Dafür ließen sich zahlreiche Beispiele anführen, ich beschränke mich hier auf einen Witz und eine offizierssprachliche Redensart: »Die NVA wurde schon in der Bibel erwähnt. Dort steht: Sie trugen seltsame Gewänder und irrten ziellos umher.«8) Ein Soldat, dem ein Knopf an der Uniform fehlte, wurde von seinem Vorgesetzten angeschrien: »Wollen Sie etwa auf eigene Faust abrüsten?«9)
Allerdings gab es auch einige Besonderheiten der DDR-Soldatensprache. Bestimmte Lexeme wurden verdrängt und ersetzt, andere umgedeutet oder bevorzugt. Außerdem sind in beiden deutschen Staaten und in ihren Armeen zahlreiche Neuprägungen festzustellen, durch die sie sich von der jeweils anderen Seite unterscheiden. Wörter wie Rekrut oder Kommiß wurden in der DDR nur noch selten verwendet, Kameradschaft spielte praktisch keine Rolle.
Wenn man von Kameraden sprach, waren damit die Soldaten der Sowjetarmee gemeint. Außerdem war Kamerad die offizielle Anrede für Mitglieder der Gesellschaft für Sport und Technik (GST). Unter Zivi verstand man in der DDR etwas ganz anderes als in der Bundesrepublik. Es gab keinen zivilen Wehrersatzdienst und keine Zivildienstleistenden. Wörter wie E und EK, die in der DDR-Soldatensprache allgemein verbreitet und jedem Wehrdienstleistenden verständlich waren, spielten in den Untersuchungen über das Bundessoldatendeutsch bisher keine Rolle.
Auch durch die Einflüsse der unterschiedlichen Bündnispartner unterscheiden sich BundessoldatenDeutsch und DDR-Soldatensprache. Zwar trifft man verbreitet auf die Meinung, die russische Sprache hätte so gut wie keinen Einfluß auf die Sprache der DDR gehabt. Tatsächlich lassen sich in der DDR-Soldatensprache zahlreiche russische Lehnwörter und Lehnbildungen nachweisen, eine Tatsache, die nicht überrascht, wenn man bedenkt, wie viele Offiziere in der Sowjetunion studiert hatten.
Da trotz des Verbots auch die Wehrdienstleistenden der DDR das Fernsehen und die Rundfunkprogramme der Bundesrepublik aufmerksam verfolgten, sind in der DDR-Soldatensprache auch Einflüsse der Sprache der Bundesrepublik nachweisbar, etwa Lexeme wie ZDF und Chappi.
8) Derselbe Witz wurde auch über die Bundeswehr erzählt, vgl. Humor in Uniform, Berlin: Verlagsunion Erich Pabel-Arthur Moewig KG, Rastatt 1990, S. [121] und MARKUS GANSEL: Das Bundeswehr-Lexikon (http://www.freunde.imperium.de/gansel/ bundeswehr.htm).
9) Humor in Uniform (wie Anm. 8), S. [9].
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Nationalsozialistische Lexik in der DDR-Soldatensprache
Auf dem Wege direkter Übernahme aus dem Dritten Reich sind auch nazistische Lexeme, Redensarten und Witze in die DDR-Soldatensprache gelangt. Sie lassen sich bis in die 1980er Jahre hinein nachweisen. Von isolierten Gruppen wurden Feiern zu Hitlers Geburtstag organisiert, auf denen Nazilieder gegrölt und nationalsozialistische Symbole verherrlicht wurden.10) Auch Vorgesetzte und Offiziere standen der deutschen Militärtradition und dem Nationalsozialismus durchaus positiv gegenüber. Geahndet wurden lediglich gröbere Exzesse.
Sprachlicher Faschismus wurde teilweise kritiklos, teilweise in bewußter Absicht übernommen. Verbreitet stieß man auf Bewunderung für den Nationalsozialismus, die SS und Adolf Hitler. Auch das durch den Nationalsozialismus geprägte Vokabular des Antisemitismus läßt sich in der DDR-Soldatensprache nachweisen.
LQI — Sprache des Vierten Reiches
Aufarbeiten heißt, sich erinnern. Wie zuverlässig ist unsere Erinnerung? Neigt sie dazu, vergangene Zeiten zu verklären? Sieht sie alles in einem besonderen Licht? Die Sprache, sagt Martin Luther, ist die Scheide, darinnen die Messer des Geistes stecken. Aber sie ist auch das Messer selbst, das mit schneidender Schärfe verletzt, sie ist das Gleisnetz, auf dem Gedanken und Gefühle einherfahren, sie ist der materialisierte Ausdruck der Lebensbedingungen ihrer Sprachträger. Und Sprache ist ein Erinnerungsmittel, sie ist Gegenstand und Medium der Erinnerung. Die Sprache ist es, die für uns dichtet und denkt, die das Gefühl lenkt und das ganze seelische Wesen steuert, stellte Viktor Klemperer fest. »Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.«11)
Es kam also darauf an, mit Hilfe der Lexikographie zu zeigen, wie es wirklich war, was die Menschen dachten und taten, was sie bewegte. Es kam darauf an zu fragen, welche Sprache die Wörter eigentlich reden, welche Geschichten sie erzählen. Das Wörterbuch stellt also den Versuch dar, den auffälligsten und charakteristischsten Teil des Wortschatzes der DDR-Soldatensprache zu erfassen und zu dokumentieren und mit dem Sprachzustand den Charakter der Armee und der Epoche zu beschreiben.
Die Abgeschlossenheit der auf engstem Raum konzentrierten Kommunikationsgemeinschaft, die durch den Dienstalltag, die Hierarchiestrukturen, die Anforderungen von außen ständig erzeugten und latent gehaltenen Spannungen, die extreme Aufladung des gesamten Bereichs mit gesellschaftlicher Bedeutsamkeit bewirkten eine intensive produktive sprachliche Auseinandersetzung mit einer Reihe zentraler Themen.
10) Vgl. Bernd Eisenfeld: Nazistischer Geist im sozialistischen Waffenrock, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Gegenwart, Nr. 65, 18.3.1999, S. 14.
11) Viktor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig: Reclam 1975, 6. Aufl. 1980, S. 21.
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In immer neuen Allegorien und Vergleichen wurde das Wesen des Militärs in seinen Erscheinungsformen von der Soldatensprache dekuvriert und mit ätzendem Spott bedacht — die militärische Doktrin, das Gehabe von Vorgesetzten und Unterstellten, die Rangstufen und die offiziellen Rituale.
Asche war eine gängige soldatensprachliche Vokabel für die Armee, die offizielle Bezeichnung Ehrendienst nicht mehr als ein Euphemismus, ein ideologisch verbogenes, verlogenes Wort. Wäre es wirklich eine so große Ehre gewesen, wäre kaum jemand auf die Idee gekommen, die Arreststrafe noch dadurch zu verschärfen, daß die Soldaten die im Strafarrest verbrachten Tage nachdienen mußten.
Offizielle Ehrenzeichen wurden durch radikal wertende Lexeme herabgewürdigt. Das Verhältnis zwischen den Vorgesetzten und den Soldaten wird durch Bezeichnungen wie Bonzen oder Zecken für Offiziere charakterisiert. Die durch nichts gerechtfertigte Arroganz der Berufsunteroffiziere schlug sich in zahlreichen Lexemen nieder, unter anderem in der Umdeutung der offiziellen Abkürzung BU zu blind und unfähig, blind und unbeholfen, besonders unfähig, besoffen unterschrieben, bildungsunfähig, berufsunfähig.
Einige Begriffe des Wörterbuchs lassen wichtige Rückschlüsse zu auf das politische Unterdrückungssystem in der DDR, in dem es niemals einen zivilen Wehrersatzdienst gegeben hat. Die Alternativen lauteten Bausoldat oder Schießsoldat; Totalverweigerer mußten empfindliche Gefängnisstrafen in Kauf nehmen.
Auch das Versagen der ideologischen Indoktrination kann an der von den Soldaten und Unteroffizieren verwendeten Lexik nachgewiesen werden. Zielscheibe des Spottes war das gesamte Arsenal der politischen Einflußnahme mit ihren Funktionsoffizieren, Politschulungen, Schulungsmaterialien usw. In der Märchenstunde wurde unter der Aufsicht des Wünsch-dir-was das Bummiheft durchgearbeitet, in dem zwar nichts als Gesülze stand, aber wer gut aufgepaßt hatte, konnte das Abzeichen für gute Witze bekommen oder sogar die Kratzerplatte.
Das propagierte Feindbild und die Lehre von der vernichtenden Abfuhr, die den aggressivsten Kräften des Imperialismus im Falle eines militärischen Konflikts erteilt werden würde, stießen bei breitesten Kreisen auf Ablehnung. Kampfkraft, Gefechtsbereitschaft, Verteidigungsfähigkeit waren nur Propagandawörter, geglaubt hat kaum einer daran, daß mit den veralteten und maroden Waffen ein moderner Krieg zu gewinnen sei.
Im Zeitalter der Mittelstreckenraketen, angesichts der verzweifelten Kraftakte des Wettrüstens und der ständig wachsenden Vernichtungspotentiale in Europa machten sich bei den Soldaten zunehmend Skepsis über den Sinn des Soldatseins in der DDR, Pessimismus und Hoffnungslosigkeit bemerkbar.
Bevor wir aus dem Tor raus sind, stehen die Amis schon am KdL und verteilen Urlaubsscheine und Kaugummis!, war eine gängige Redensart.12)
12) Von den Minderwertigkeitskomplexen des kleinen Bündnispartners war nicht nur die NVA betroffen: »Es gibt Leute, die behaupten, die Bundeswehr sei eine Trachtengruppe, die den Feind an der Grenze so lange aufhalten soll, bis richtiges Militär kommt.« (Humor in Uniform, wie Anm. 8, S. [54]).
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Und bei der Verabschiedung am Freitag wünschten sich die Offiziere gegenseitig ein atomfreies Wochenende und einen guten Westempfang. So spiegeln sich in der Sprache die Haltungen der Wehrdienstleistenden zur Frage des Wehrdienstes im Sozialismus wieder, dem als Friedensdienst und als notwendige Maßnahme zum »Schutz der sozialistischen Ordnung« und der »sozialistischen Errungenschaften des Volkes gegen alle Angriffe von außen«13 eine erstrangige Stellung im ideologischen System der DDR beigemessen wurde.
Die Freude an Sprachspielereien, ein wichtiges Motiv für die Produktivität der Sprache, ist für die Soldatensprache in besonderem Maße charakteristisch. Der spielerische Umgang mit Sprache führte zu lexikalischen Ungetümen wie Zwischenkeim-kotzkübel-kastendeckelum-die-eckespring-schwein. Mit ähnlichen Bausteinen wurden immer neue und längere Kombinationen hervorgebracht, die in einem Wörterbuch kaum vollständig zu erfassen sind.
Auch die oft sehr umfangreichen Synonymenketten, horrenden Übertreibungen, Sprachwitze und scherzhaften Metaphern erklären sich, wenigstens zu einem Teil, durch den Genuß an sprachlicher Betätigung und Produktivität. Allerdings ist der in älteren Arbeiten oft als Ansatzpunkt und Motiv für die Sammlung und Erforschung der Soldatensprache verabsolutierte »feldgraue Humor« ein ohnmächtiger, schwarzer, sarkastischer Humor.
Mit der ästhetischen Funktion verknüpft ist die Kompensationsfunktion der Soldatensprache. Die Fäkaliensprache, von der traditionell in Soldatenkreisen exzessiver Gebrauch gemacht wird, diente nicht nur der sexuellen Kompensation, sondern überhaupt der Abwehr von Angriffen auf die persönliche Integrität des Einzelnen. Charakteristisch ist die Abnutzung selbst der extremsten Lexeme und die daraus resultierende Suche nach immer neuen Steigerungsmöglichkeiten der Sprache.
Zahlreiche sprachliche Erscheinungen lassen sich nicht aus dem Bezug der getroffenen Aussagen zur Realität erklären, sondern nur aus den besonderen Verhältnissen der Kommunizierenden zueinander und zu bestimmten Erscheinungen der Wirklichkeit, aus ihren psychologischen Motiven, die ebenfalls eine Art Realität bildeten. Der Affekt, der mit einer Aussage verknüpft werden konnte, war nicht selten der einzige Zweck einer Äußerung.
Der wahre E geht vor dem Schnee!, diese Redensart kannte wohl jeder Wehrdienstleistende in der DDR. Sie brachte die Überlegenheit und Schadenfreude der Soldaten des 3. Diensthalbjahres denen gegenüber zum Ausdruck, die erst nach dem Winter entlassen werden würden. Allerdings gab es auch einen Spruch für diejenigen, die im Frühjahr nach Hause gehen durften: Der wahre E geht nach dem Schnee. Es kam also gar nicht darauf an, ob die Entlassung im Frühjahr oder im Herbst erfolgte, wichtig war das Aufrücken in die oberste, privilegierte Stufe in der Hierarchie der Diensthalbjahre, wichtig war, selbst bald entlassen zu werden und der Freude auf dieses Ereignis Ausdruck zu verleihen.
13) Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1988, Abschn. I, 1. Kap., Artikel 7.
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Der wahre E ... — wie war er denn, was bewegte ihn, wie sprach, dachte, fühlte er? War er klug und weise, wie er von sich selbst behauptete, der große E, oder war er die verkörperte Perversion des Soldatenstandes, ein ins Gemeine und Boshafte verkehrter Schwejk? Wie sah er die Welt? Und welcher Art war seine Renitenz gegen das System?
Bei der Sammlung zur Soldatensprache kam es mir hauptsächlich darauf an zu zeigen, welche Geschichten man den Wörtern ablauschen kann. Das ist, wenn ich Klemperer und sein LTI richtig verstanden habe, die wichtigste Aufgabe eines Lexikologen. Als die spanischen Juden im Mittelalter zwangschristianisiert wurden, nannte man sie nicht etwa Christen, sondern Neuchristen. Die DDR-Bürger wurden nach dem Beitritt Neubundesbürger, ihre Länder neue Bundesländer. Ein Unterschied mußte gemacht werden, und das Wort ist es, das distinguiert und die Distinktion sinnfällig zum Ausdruck bringt, sie handhabbar werden läßt wie eine Münze, die man wohl einmal betrachtet, besonders wenn sie noch neu in der Börse klingelt, dann aber bedenkenlos ausgibt und einnimmt.
In vielen Zuschriften und Gesprächen ist die Sprache, die in den Kasernen der DDR gesprochen wurde, mit der von Viktor Klemperer beschriebenen LTI verglichen worden. Mehrfach wurde dabei eine offenbar naheliegende Bezeichnung geprägt: LQI, die Sprache des Vierten Reiches. Gemeint war damit nicht nur die offizielle Militärsprache mit ihren verlogenen Losungen, ihrem verheuchelten Pathos, ihren verknöcherten politischen Inhalten, gemeint war die Gesamtheit der Sprache als Lebenselement der Sprachträger, die alle Lebensbereiche wie ein Gift durchdrang, der gegenüber sich der einzelne fremd und hilflos fühlte.
Gemeint war auch die Soldatensprache, die, obwohl sie zahlreiche Unwahrheiten der offiziellen Sprache aufzudecken und mit schlagender Sicherheit und Klarheit zu benennen vermochte, ebenfalls nicht in der Lage war, das System aufzuheben, sondern, selbst ein Bestandteil des Systems, die Phrasenhaftigkeit und die Inhumanität des militärischen Lebens unter anderem Vorzeichen reproduzierte. Zu einer wirklichen Lebensmöglichkeit, zu einer lebbaren Alternative konnte sie für die Masse der Soldaten und Unteroffiziere nicht werden.
Die ausweglose Zwangssituation, in der sich die Wehrdienstleistenden in der DDR befanden, wird auch in ihrer zwiespältigen Haltung zur Soldatensprache deutlich. Und sie spiegelt sich in ihrer Sprache wieder. Der Wahrheit, die sich in der Sprache offenbart, nachzuspüren, war der Sinn dieser Arbeit.
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