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VII. Ausblick und Resümee

2. Resümee

 

 

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Das Ziel des vorliegenden Buches bestand darin, die Gruppe der Unteroffiziere auf Zeit hinsichtlich ihrer Motivationen zum Dienst als Zeitsoldat, ihrer Rolle in den Streitkräften und ihrem Selbstverständnis zu untersuchen.

Das Erkenntnisinteresse war dabei zum einen auf die formale und die tatsächliche Rolle der UaZ im sozialen Gebilde NVA, also auf ihren Status und dessen Entwicklung während des Wehrdienstes gerichtet. Zum anderen war es mit der Frage nach der Motivation zur Längerverpflichtung, zum Verständnis der eigenen Rolle und zur subjektiven Wahrnehmung des Wehrdienstes auf die Mentalität dieser Gruppe ausgerichtet.

Ist die gesamte Arbeit als Beitrag zur Militärgeschichte »von unten« zu begreifen, bei dem die Erkenntnismöglichkeiten verschiedener Wissenschaftsdisziplinen* genutzt werden sollten, so wurde die historiographische Analyse in erster Linie durch soziologische Instrumentarien unterstützt. Handlungsleitend war dabei das Bestreben, die in der SBZ/DDR-Forschung bislang weitverbreitete Fixierung auf die formalen Herrschaftsstrukturen zu überwinden und den offiziellen Anspruch einer »sozialistischen« Armee mit der Wirklichkeit, wie sie sich anhand von Archivalien und Zeitzeugenberichten darstellt, zu vergleichen. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Analyse sollen an dieser Stelle in knapper Form zusammengefaßt werden.

Was den Charakter der NVA im allgemeinen betrifft, so war er, wie auch in anderen staatlichen Institutionen der DDR, durch die Herrschaft der SED geprägt. Der offizielle Anspruch, daß es sich bei der NVA um eine genuin »sozialistische« Armee mit »sozialistischen Beziehungen« sowie »sozialistischen Soldaten- bzw. Unteroffizierpersönlichkeiten« handele, die ihrerseits durch »sozialistische Soldatentugenden« gekennzeichnet seien, stand jedoch in offenkundigem Widerspruch zur realsozialistischen Wirklichkeit. 

Abgesehen von einer immer stärker bloß rituelle Züge tragenden ideologischen Verbrämung und einer bei den Berufssoldaten in relativ hohem Maße, bei den Wehrpflichtigen und Zeitsoldaten hingegen nur eingeschränkt gegebenen Loyalität zur herrschenden Partei weisen Alltag und Binnenstruktur weitgehende Parallelen mit anderen hochtechnisierten Wehrpflichtarmeen auf, während die propagierten Soldatentugenden mit Mut, Kameradschaft, Disziplin und Opferbereitschaft weitestgehend traditioneller Natur waren.37)

Denkt man an die Schwierigkeiten der Bundeswehr, in den fünfziger und sechziger Jahren ein ausreichend aufgefülltes und qualifiziertes Unteroffizierkorps zu schaffen, so waren die Entwicklungsprobleme des Unteroffizierkorps der NVA ähnlicher Natur, wenn auch in ihrem Ausmaß weitaus virulenter. Anders als in der Bundeswehr war das Hauptsorgenkind hier jedoch die Gruppe der Berufsunteroffiziere.

 

37)  Vgl. Traditionelles Prinzip von Befehl und Gehorsam, Sozialisationspraktiken von »totalen Institutionen«, Soldatensubkultur und informale Hierarchie der Tageszahl, Wandel der Autorität, Probleme im Innendienst, Inflation der mittieren Dienstgrade etc. Soldatentugenden vgl. Militärische Ausbildung, S. 31.

* Olf, 2009: Druckfehler im Original: <Disziplin> ohne s 


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Bis Anfang der sechziger Jahre stellte bereits die rein quantitative Auffüllung des Unteroffizierkorps ein ungelöstes Problem dar, während die gewünschten Bildungsvoraussetzungen für die Berufsunteroffizierbewerber auch bis zum Ende der DDR vielfach nicht sichergestellt werden konnten. Das nicht selten geradezu klischeehaft niedrige Niveau und das daraus resultierende geringe Ansehen der Berufsunteroffiziere führte gepaart mit den schlechten Dienst-, Arbeits- und Lebensbedingungen dazu, daß der Beruf des Unteroffiziers in der DDR als einer der unattraktivsten galt, was sich in einem ständigen relativen Fehlbestand an Berufsunteroffizieren niederschlug. Bis zum Ende der DDR gelang es daher nicht, ein gleichermaßen qualifiziertes wie personell stabiles Berufsunteroffizierkorps zu schaffen.

Um so wichtiger wurde die Gruppe der drei bzw. vier Jahre dienenden Unteroffiziere auf Zeit, die sich hinsichtlich ihrer sozialen Zusammensetzung und ihrer Verpflichtungsmotive grundsätzlich von den Berufsunteroffizieren unterschieden. So war ihr durchschnittliches Bildungsniveau deutlich höher als das der Berufsunteroffiziere, waren doch seit 1973 allein 20 Prozent der UaZ Abiturienten. Deutliche Unterschiede waren auch hinsichtlich der Mitgliedschaft in der SED zu konstatieren. Die Gruppe der UaZ selbst war jedoch bezüglich Büdungsmveau, beruflicher Perspektive und Verpflichtungsmotiv in sich stark differenziert, wie bereits die unterschiedliche Zusammensetzung der Frühjahrsund der Herbsteinberufungen zeigt.

Die ungefähr 400 000 zwischen 1962 und 1989/90 in den Streitkräften der DDR dienenden Unteroffiziere auf Zeit bzw. bis 1973 Soldaten auf Zeit/Unter-offiziere büdeten dabei mit einem Bestand zwischen 20 000 und 40 000 Mann die Masse des aktiven Unteroffizierkorps von NVA und Grenztruppen sowie das entscheidende Kaderpotentlal für Unteroffiziere und Offiziere der Reserve.

Überwiegend in der ersten Unteroffizierdienststellung als Gruppenführer oder militärisch-technische Speziallsten ohne Unterstellte eingesetzt, waren sie als Vorgesetzte der untersten Ebene die unmittelbaren Soziallsationsagenten der Wehrpflichtigen bzw. die Hauptakteure der militärischen Arbelt und als solche für das Funktionieren der NVA als Müitärorgamsation unverzichtbar. Darüber hinaus wurden sie in erheblichem Umfang auf Berufssoldatenplanstellen eingesetzt.

Obwohl sie den Berufsunteroffizieren im Durchschnitt hinsichtlich Schulbildung, beruflicher Qualifikation sowie der im Unteroffizierlehrgang gezeigten Leistungen überlegen waren, wurden auch bei den UaZ die grundsätzlichen Probleme der NVA-Unteroffizierausbildung offenkundig. Aufgrund knapper personeller und materieller Ressourcen mußten die Unteroffzierlehrgänge für die Masse der Verwendungen auf sechs Monate begrenzt werden, in denen lediglich militärische »Grundkenntnisse« und keinerlei Truppenpraxis vermittelt werden konnten. Diese Umstände sowie ihr mit 18 bis 21 Jahren im Vergleich zur Masse der Wehrpflichtigen deutlich geringeres Lebensalter erschwerten ihnen die Wahrnehmung ihrer Rolle als Vorgesetzte und Soziallsationsagenten erheblich. Daher konnten sie ihre Führungs- und Erziehungsaufgaben in der Regel erst nach einer Einarbeitungszelt von ein bis zwei Diensthalbjahren weitgehend erfüllen.


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Trotz dieser Einschränkungen waren sie abgesehen vom mittelbar den Unteroffizieren zuzurechnenden Fähnrichskorps die eigentlichen Leistungsträger im Unteroffizierkorps der NVA, weshalb Joachim Goldbachs These dahingehend zu modifizieren wäre, daß nicht die Unteroffiziere im allgemeinen, sondern speziell die Berufsunteroffiziere den »chronischen Schwachpunkt« der NVA darstellten.

Von entscheidender Bedeutung für die Rekrutierung von Berufs- und Zeltsoldaten waren die in den Elternhäusern sowie vor allem die im Büdungs- und Erziehungssystem der DDR erhaltenen sozialisatorischen Prägungen. Galt die »sozialistische Persönlichkeit« als offizielles Soziallsationsziel, so wurde die »Bereitschaft zum Schutz des Soziallsmus« als eines ihrer elementaren Charakteristika betrachtet. Das in den sechziger Jahren entwickelte gestaffelte System der »sozialistischen Wehrerziehung« vom Kindergarten bis zum Studium war in erster Linie durch eine zum Teü massive ideologische Indoktrination und eine im Vergleich dazu weniger kontinuierliche vormilitärische Ausbildung gekennzeichnet.

Die dabei erzielten Ergebnisse blieben aber gerade auf ideologischem Gebiet erheblich hinter den Erwartungen zurück, während die vormilitärische Ausbildung nicht nur erste militärische Kenntnisse vermittelte, sondern auch die Ausprägung traditioneller Sekundärtugenden wie Ordnung und Disziplin förderte. Letztere blieben jedoch in starkem Maße fremdzwangabhängig und wurden daher nur eingeschränkt internalisiert.

In der Wahrnehmung der Betroffenen war die Wehrerziehung insgesamt eine zum großen Teü langweilige, häufig mit bis zum Überdruß wiederholten Phrasen versetzte Selbstverständlichkeit im DDR-Alltag, der man sich nur um den Preis schwerwiegender beruflicher Nachteüe entziehen konnte. Ihr somit nötigender Charakter induzierte bei der Masse der Jugendlichen ein mehr oder minder stark ausgeprägtes »Als-ob-Verhalten«, an dem die Umsetzung der ideologieträchtigen Axiome der sozialistischen Persönlichkeit scheiterte, während die Anerziehung traditioneller Sekundärtugenden nur bedingte Erfolge zeitigte.

Durch Formen politisch-moralischer Nötigung, gepaart mit beruflichen und materiellen Anreizen, waren auch die Praktiken der Gewinnung von Berufsund Zeitsoldaten gekennzeichnet. Dabei ist die Zusammenarbeit von FDJ, Schule, Wehrkreiskommando und anderen Institutionen bei der Werbung des militärischen Nachwuchses und der Wehrerziehung ein deutliches Indiz für die Militarisierung der DDR. Unter diesen Umständen war die Längerverpflichtung keineswegs per se Ausdruck der offiziell gewünschten »sozialistischen Wehr-motivation«, sondern entsprang einem Bündel von Motiven, dessen wichtigstes die Verbesserung der beruflichen Perspektiven bzw. die Zulassung zum gewünschten Studium war. Verpflichtungsmotiv und Erfahrungen in der vormilitärischen Ausbildung spiegelten sich auch in den insgesamt diffusen und kli-scheebeladenen Erwartungen an den Wehrdienst wider.


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Die mit der Einberufung stattfindende faktische Konfrontation mit der »totalen Institution« NVA wirkte aufgrund der abrupten Trennung von der zivilen Umwelt und den mit ersten Gehorsamstests einhergehenden Eintrittsprozeduren als schwere Krisenerfahrung. Zwar ermöglichte die vormilitärische Sozialisation den Unteroffizierschülern eine rasche Anpassung an die Forderungen der militärischen Disziplin und Ordnung. Der anfängliche seelische Ausnahmezustand wich aber erst allmählich der Gewöhnung an den Kasernenalltag.

Von entscheidender Bedeutung war dabei das hohe Maß an solidarischem Zusammenhalt in der Notgemeinschaft der Unteroffizierschüler, die sich zunächst primär auf die gegenseitige Unterstützung bei der Bewältigung der Anforderungen des militärischen Alltags, dann aber auch zunehmend auf das Unterlaufen des formalen Reglements konzentrierte. Wurden die rigiden Forderungen der militärischen Disziplin und Ordnung durch Ansätze einer »sekundären Anpassung« teüweise umgangen, so prallten die ideologischen Erziehungsversuche großenteils am bereits in der Schulzelt eingeübten »Als-ob-Verhalten« ab.

Trotz dieser Einschränkungen darf jedoch nicht verkannt werden, daß den künftigen Unteroffizieren während des Unteroffizierlehrganges eine durch rigide Disziplinforderungen und einen streng reglementierten Tagesablauf gekennzeichnete militärische Basissoziallsation zuteü wurde, in der traditionelle Soldatentugenden und vor allem »Haltungsdisziplm« ausgeprägt wurden.

Was die fachliche Befähigung betraf, so wurde in den zumeist nur sechs verfugbaren Monaten unter hohen physischen und psychischen Belastungen bei weitgehend eingeschränkter Freizeit viel geleistet, ohne daß jedoch die herangebildeten Unteroffiziere den Ansprüchen der Truppe voll genügen konnten. Gelang es im allgemein-militärischen Bereich in guter bis sehr guter Qualität fundierte Grundlagen zu vermitteln, so wiesen die Absolventen im Umgang mit der Technik und der pädagogisch-methodischen Befähigung deutliche Schwächen auf.

Das entscheidende Defizit bestand jedoch dann, daß die Unteroffizierschü-ler in den Unteroffizierausbüdungseinnchtungen völlig unzureichend auf die Dienstgepflogenheiten in den Truppenteilen vorbereitet worden waren und somit nicht über adäquate Durchsetzungsstrategien für die weit weniger streng an den formalen Dienstvorschriften orientierte Truppe verfügten. Dies erwies sich spätestens nach der Versetzung in den Truppendienst.

Formal sollte der Unteroffizier als taktischer Führer der untersten Ebene und somit unmittelbarer Vorgesetzter von Soldaten fungieren, wobei unter den Bedingungen des Ost-West-Konfliktes vor allem die Rolle des Erziehers und Ausbüders im Vordergrund stand. Als »Hauptträger der täglichen Erziehung und Ausbildung« war er gemäß dem Prinzip der Einzelleitung vor die Aufgabe gestellt, die untrennbare Vernetzung von politischer und militärischer Führung sicherzustellen.


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Beschränkte sich dies in der Praxis auf den militärischen Bereich, so wurde die Rolle des Unteroffiziers als Soziallsationsagent andererseits durch den zunehmenden Anteü von Unteroffizieren in Spezialfunktion ohne Unterstellte, die damit einhergehende Inflation der Unteroffizierdienstgrade und den Wandel der Vorgesetztenautorität relativiert. Die UaZ ohne Unterstellte hatten praktisch keine Soziallsationsaufgaben, die, gemessen an den Erziehungszielen, sicherlich den kompliziertesten Tätigkeitsbereich des Unteroffiziers darstellten. Andererseits blieb ihnen bis 1990 eine Beförderung im Dienstgrad verwehrt. Demgegenüber hatten die UaZ in Führungsfunktionen bzw. in Berufssoldatenplanstellen weit bessere Aufstiegschancen als jemals in der deutschen Miltärgeschichte.

Diesen Chancen stand jedoch eine intensive, beinahe totale Inpfllchtnahme gegenüber, erhob die Institution doch gegenüber ihren Angehörigen den Anspruch ständiger Verfügbarkelt und legte ihnen zahlreiche Pflichten auf, denen lediglich Mitgestaltungsrechte, die sich praktisch auf die Erfüllung der Befehle und Dienstvorschriften beschränkten, und spartanische Dienst-, Arbeits- und Lebensbedingungen gegenüberstanden.

Deutet das bereits auf einen eher prekären Status hin, so erlebten die jungen Unteroffiziere nach ihrer Versetzung in die Truppe die Diskrepanz zwischen formalem Status und realer Stellung in häufig frustrierender und enttäuschender Weise. Wesentlichen Anteü daran hatten die in der NVA auftretenden Probleme im zwischenmenschlichen Bereich. Die in der Theorie mit dem hochgradig ideologisierten Begriff der »sozialistischen Beziehungen« bezeichnete Interaktion der Armeeangehörigen gleichen und unterschledllchen Dienstgrades blieb in der Praxis durch die Mechanismen der »totalen Institution« gekennzeichnet. Dabei war die NVA als soziales Gebüde von einem Netz sich wechselseitig ausgleichender Konfliktlinien durchzogen, das entscheidende Bedeutung für die faktischen soziallsatonschen Wirkungen des Wehrdienstes besaß.

Das Verhältnis zwischen UaZ und Berufssoldaten war dabei vor allem durch Distanz gekennzeichnet. Den Wehrpflichtigen gegenüber befanden sich zumindest die UaZ mit Führungsfunktion in einem Rollenkonflikt, waren sie doch einerseits Vorgesetzte mit Führungs-, Überwachungs- und Disziplimerungs-fimktion, andererseits genauso wie die Soldaten den Zwängen der »kasernierten Vergesellschaftung« ausgesetzt. Als Vorgesetzte bereits grundsätzlich kritisch betrachtet, stellte die durch den gleichzeitigen Insassenstatus bedingte Einordnung in die informale Hierarchie der Tageszahl ihren formalen Status nachhaltig in Frage. Alle dabei bestehenden Animositäten zwischen Wehrpflichtigen und UaZ wurden jedoch gleichzeitig vom Zusammenhalt der Insassen gegen die Reglementierungen durch die Institution in Gestalt der Berufssoldaten überlagert, etwa wenn es darum ging, den Empfang von Westsendern, Alkoholkonsum oder EK-Rituale gegen Kontrollen zu sichern.

Das Verhältnis der UaZ untereinander war neben der Insassensolidarität durch verschiedene Konfliktlinien gekennzeichnet, deren signifikanteste auch bei den UaZ die »EK-Bewegung« als informale Hierarchie der Tageszahl war.


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Häufig war sie mit Ausbeutung und zum Teil auch erheblichen Schikanen gegen die jüngeren UaZ verbunden.

Insgesamt blieben die zwischenmenschlichen Beziehungen erheblich hinter dem Anspruch der »sozialistischen Beziehungen« zurück, wobei die gravierendsten Defizite im Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Unterstellten auftraten. Das Vorgesetztenverhalten insbesondere der Offiziere, die nicht zuletzt Vorbild sein sollten, spiegelte sich in der Folge auch im Verhalten der Wehrpflichtigen und Zeitsoldaten wider. Gemeinsam mit dem Charakter der NVA als »totale Institution«, welche die Freiräume der Insassen rigide einschränkte und so die Ausprägung einer informalen Hierarchie der Diensthalbjahre begünstigte, bildete dies den Nährboden für die verschiedensten Spielarten unwürdigen Verhaltens, die bis zu offenen Gewalttätigkeiten reichten.

Die offiziell angestrebten Sozialisationsziele der »sozialistischen Soldatenpersönlichkeit« waren unter diesen Bedingungen nicht realisierbar. Statt dessen wurden die formalen Strukturen im Zuge »sekundärer Anpassung« unterlaufen, was durch das seit der Schulzeit antrainierte »Als-ob-Verhalten« kaschiert wurde.

Die Stellung der UaZ im Truppendienst war vor allem durch ihren ambivalenten Status zwischen »Personal« und »Insassen« sowie die ihrer Rolle als Hauptträger der unmittelbaren Ausbildung der Soldaten zunächst noch nicht voll genügende militärische und pädagogische Befähigung gekennzeichnet. Diesbezügliche Defizite konnten erst im dritten oder vierten Diensthalbjahr weitgehend ausgeglichen werden. Das Hauptproblem der jungen UaZ in Füh-rungsfünktion war somit primär die Erlangung der Vorgesetztenautorität auch gegenüber den in ihrer speziellen Verwendung dem Unteroffizier ebenbürtigen, wenn nicht überlegenen Wehrpflichtigen des zweiten oder dritten Diensthalbjahres.

Damit eng verknüpft war der Widerstreit von traditionaler Amtsautorität per Dienstgrad und der aus der Beherrschung technischer Abläufe resultierenden funktionalen Sachautorität im Zuge der fortschreitenden Technisierung der Streitkräfte. Manifest wurde dieses Problem vor allem im Innendienst mit seinen funktional nicht gerechtfertigten Forderungen. Anstatt zu disziplinieren, verstärkten sie faktisch die Formen sekundärer Anpassung, so daß die Durchsetzung der Befehle und Dienstvorschriften nur noch teilweise gewährleistet werden konnte.

Hier zeigte sich, daß es auch in den formal streng hierarchisch strukturierten Streitkräften der DDR eine Mikrophysik der Macht gab, wo die »passive Stärke« der Unterstellten defacto eine »Mischform von Kommando- und Aushandlungsstrukturen« konstituierte, so daß die Macht des Vorgesetzten sich im Element der »immerwährenden Schlacht« befand38.

 

38)  Foucault, Dispositive, S. 12.


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Demgegenüber blieb die Reaktion der meisten Unteroffiziere auf Zelt auf die praktizierten Formen der politisch-ideologischen Indoktrination und Überwachung durch das mitunter mit vorsichtig geäußerten Vorbehalten verbundene »Als-ob-Verhalten« gekennzeichnet, während ein kleiner Teü die offiziell propagierten Positionen praktisch vorbehaltlos übernahm und lediglich einzelne UaZ mehr oder weniger oppositionell auftraten.

Trotz eines in der deutschen Militärgeschichte bislang nie dagewesenen Aufwandes blieben die Ergebnisse der politisch-ideologischen Erziehung in der NVA weit hinter den gesteckten Zielen zurück. Waren die soziallsatorischen Zielstellungen stark ideologlsiert, so hatten die vermittelten Inhalte wenig Praxisbezug und ließen nicht selten eine deutliche Diskrepanz zu den gesellschaftlichen Erfahrungen der Armeeangehörigen erkennen.

Die Gesellschaftswissenschaftliche Ausbildung während des Unteroffizierlehrganges erwies sich dabei nicht nur als für die intendierte Entwicklung des politischen Bewußtseins wenig geeignet, sondern vermittelte den Unteroffizierschülern außerdem in den Fächern Militärpädagogik und -psychologie sowie Führung der politischen Arbeit auch nicht das notwendige Rüstzeug für die später von ihnen erwartete politische und militärische Erziehung der Soldaten.

So verwundert es nicht, daß Politschulung wie politische Massenarbeit in den Truppenteilen dann weitestgehend hinter dem Anspruch praktizierter »kommunistischer Erziehung« zurückblieben, in der Regel formalen Charakter trugen und von fast allen Beteiligten als langwellig und erzieherisch wirkungslos angesehen wurden.

Die mit einem umfassenden Führungs-, Erziehungs- und Kontrollanspruch verbundene Tätigkeit der SED-Parteiorganisationen in der NVA trug dagegen zwar weniger formale Züge, blieb jedoch in ihrer unmittelbaren Wirksamkeit auf die Parteimitglieder beschränkt, während sie für die Nichtmitglieder, wenn überhaupt, nur mittelbar über die als Transmissionsriemen der SED fungierenden FDJ-Organisationen spürbar wurde.

Die politische Erziehung und Bildung in der NVA war somit durch den auch für andere Bereiche der DDR-Gesellschaft charakteristischen Widerspruch zwischen Theorie und Praxis geprägt. Dabei mündete das Mißverhältnis zwischen so hochtrabenden wie diffusen Sozialisationszielen einerseits und schablonenhafter Methodik sowie über Jahrzehnte kaum modifizierten, weltfremden und ideologisierten »Argumenten« andererseits bereits in den siebziger Jahren in eine mehr und mehr formale Durchführung der vorgeschriebenen Veranstaltungen. 

Die gebetsmühlenartige Wiederkehr gleicher Inhalte, gleicher Vermittlungsprobleme, der gleichen für deren Lösung untauglichen Mittel und der nichtsdestotrotz gleichlautenden, von den Erfolgen »kommunistischer Erziehung« kündenden Berichte verdeutlicht dabei den weltgehend rituellen Charakter der praktizierten politisch-ideologischen Erziehung. Ihre herrschaftsstabilisierende Wirkung bestand daher vor allem darin, die Masse der Armeeangehörigen in politische Lethargie zu versetzen.


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Wo dies nicht gelang, wo also »falsche« oder gar »feindliche« Meinungen geäußert wurden oder Einflüsse von »politisch-ideologischer Diversion« konstatiert werden mußten, wurde der Überwachungs- und Repressionsapparat aktiv. Unmittelbar in den Einheiten hatten vorbeugend die Berufssoldaten, speziell die als Leitungsdienste eingesetzten, die militärische Disziplin und Ordnung aufrechtzuerhalten und die Abwehr der »politisch-ideologischen Diversion« sicherzustellen.

War es dennoch zu als schwerwiegend angesehenen Vorkommnissen oder Vergehen gekommen, so traten die Militärstaatsanwaltschaft und/oder das Ministerium für Staatssicherheit auf den Plan. Die für die Streitkräfte zuständige Hauptabteilung I des MfS verfügte für ihre Ermittlungen ebenso wie für vorbeugende Sicherheitsüberprüfungen über ein ausgedehntes Netz hauptamtlicher und inoffizieller Mitarbeiter in den Truppenteilen und Einheiten, in das Unteroffiziere auf Zeit sowohl als Spitzel wie auch als Bespitzelte verstrickt wurden.

Für die Masse der UaZ, die keine bewußten Kontakte zum MfS hatte, blieb es jedoch eine eher »abstrakte Wesenheit«, die gemeinsam mit Partei- und Politorganen sowie vorgesetzten Berufssoldaten als Teil der Obrigkeit angesehen wurde, welche aufgrund einer unterschwellig immer spürbaren, dabei aber weltgehend unbestimmten Drohung mit einer breiten Sanktionspalette, »latente Angst« hervorrief, die eine Weiterführung des probaten »Als-ob-Verhaltens« bedingte.

War Letzteres sicherlich ein Charakteristikum der Mentalität der Unteroffiziere auf Zeit der NVA, so stellte sich diese doch, ähnlich wie die der DDR-Bevölkerung insgesamt, als eine in sich differenzierte, zum Teil auch widersprüchliche Gemengementalität dar. Gemeinsam ist ihnen dabei die fehlende oder nur geringe Begeisterung für den Militärdienst und die SED-Politik einschließlich der sie begleitenden Rituale. Dennoch legten sie überwiegend ein hohes Maß an Pflichtbewußtsein, Leistungsbereitschaft und Loyalität gegenüber der durchaus als Heimat betrachteten DDR an den Tag.

Die Erfahrung des Wehrdienstes wirkte dabei jedoch nur eingeschränkt im Sinne einer Stärkung des »sozialistischen Bewußtseins«. Statt dessen führte sie die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit des DDR-Sozialismus besonders deutlich vor Augen. Das wirkte zunächst desillusionierend, verhalf manchem dann aber zu einer kritischen Sicht auf den realexistierenden Sozialismus. Besonders kritisch wird dabei die NVA betrachtet, was sich auch negativ auf das Ansehen der Streitkräfte und die Attraktivität des Soldatenberufes in der Bevölkerung auswirkte.

Hinsichtlich der Rolle des Wehrdienstes in der Biographie ist das Urteil der ehemaligen UaZ dagegen weitaus zwiespältiger; werden doch charakterliche Prägungen wie Disziplin und Durchhaltevermögen, die im Umgang mit Menschen gesammelten Erfahrungen oder berufliche Vorteile durchaus positiv bewertet, während vor allem die heute überwiegend zu einer Verweigerung des Wehrdienstes tendierenden Abiturienten den Militärdienst als Zeit geistiger Stagnation betrachten, die in der Rückschau für ihre Persönlichkeitsentwicklung nicht unbedingt notwendig gewesen wäre.


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Insgesamt stellte der Dienst als UaZ spätestens seit Anfang der siebziger Jahre, als der Abiturientenanteil unter den Zeitsoldaten aufgrund der impliziten Verknüpfung von Studium und längerem Wehrdienst sprunghaft zugenommen hatte, eine typische Statuspassage für berufliche und soziale Aufsteiger dar.

Versucht man die UaZ hinsichtlich ihrer weiteren beruflichen Entwicklung bzw. Perspektiven in eine von vier Kategorien ostdeutscher Identität einzuordnen, wie sie Markus L. Müller verwendet, so bietet sich in erster Linie die Kategorie der »Macher« an, welche als Angestellte oder Angehörige der Intelligenz beruflich verantwortliche Positionen auf mittlerer oder höherer Ebene bekleideten sowie durch DDR-Verbundenheit und eine grundsätzlich positive Haltung zum Sozialismus gekennzeichnet waren.39)

Bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre hinein spielte die militärische Disziplinierung auch eine zentrale Rolle bei der Sozialisation und Integration der männlichen Bevölkerung hinsichtlich pflichtbewußten und zumindest vordergründig systemkonformen Verhaltens im Beruf ebenso wie als Staatsbürger.40)

Setzt man abschließend die betrachteten Phänomene mit internationalen Trends und insbesondere mit Entwicklungen in der Bundeswehr in Beziehung, so ergibt sich abgesehen von Spezifika, die aus dem politischen System oder der Zugehörigkeit zu verschiedenen Militärbündnissen resultierten, eine Reihe von Parallelen.41)

Bei der weiteren Erforschung der Militärgeschichte von DDR und BRD sollte daher die vergleichende Perspektive noch stärkere Beachtung finden, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede jenseits der jeweiligen Selbstdarstellung systematisch zu untersuchen. Ein weiteres Desiderat stellt der Vergleich der Nationalen Volksarmee mit den anderen Armeen des Warschauer Vertrages und insbesondere der Sowjetarmee dar.

 

 

Ende

 

 

39)  Die verbleibenden Kategorien sind: »Nomenklatura« (5 %), »Durchschnittsbürger« (65%) und »Oppositionelle« (3-5 %), während die »Macher« 25-28 % der Bevölkerung gestellt hätten. Vgl. Müller, Identitätsprobleme, S. 210.  
40)  Vgl. Niethammer, Die SED, S. 325. 
41)  Beispiele für derartige Parallelen sind: der Charakter einer hochtechnisierten, vollmechanisierten Armee in einer hochindustrialisierten Gesellschaft, die Inflation der mittleren Dienstgrade, der Wandel der Vorgesetztenautorität, die Ausbildung informaler Hierarchien der Tageszahl, Autoritätsprobleme der jüngeren Unteroffiziere, sowie die häufig nur formale Praxis der politischen Bildung. Zu den strukturellen Gemeinsamkeiten von NVA und Bundeswehr, die die üblicherweise in Ost wie West betonte Unvereinbarkeit beider Armeen relativieren vgl. den Aufsatz von Detlef Bald, Militär.


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