Christian Th. Müller 

Tausend Tage
bei der »Asche«

Unteroffiziere in der NVA

2003 im Links Verlag 

mit 39 Abbildungen 

Christian Th. Müller (2003) Tausend Tage bei der »Asche« Unteroffiziere in der NVA

2003  448 Seiten 

DNB.Buch 

DNB.person *1970

Bing.Buch

Goog.Buch 

 

detopia:

Aschebuch  

M.htm 

Möller Klaus EK  

 

Wikipedia EK 

linksverlag.de  

 

Ausgehend von der Scharnierfunktion des Unteroffizierskorps zwischen Offizieren und Mannschaften gibt das vorliegende Buch erstmals Aufschluß über den Alltag in den Kasernen der NVA. 

Basierend auf einer Fülle neu erschlossener Archivquellen und zahlreicher Zeitzeugen­befragungen bietet es nicht nur eine tiefgehende Analyse von Motivation, Rolle und Selbstverständnis der "Unter­offiziere auf Zeit", sondern auch Einblicke in die Praxis gesellschaftlicher Disziplinierung in der DDR. 

Dazu wurden neben dem Leben in den Streitkräften auch die "sozialistische Wehrerziehung" und die jeweiligen mentalen Prägungen in die Analyse einbezogen. 

Den Text veranschaulichen zahlreiche Tabellen und Grafiken sowie ein umfangreicher Bildteil. 

 


Pressestimmen 

 

Was Tausend Tage bei der Asche so lesenswert macht, ist die nahezu besessene Detailtreue des Autors, die unglaubliche Fülle an Fakten, belegt durch jede Menge Archivmaterial. Dabei bezieht Müller auch thesen anderer Publizisten ein, verwirft diese oder bekräftigt jene. Besonders lebendig wird die Lektüre, wenn betroffene Zeitzeugen zu Wort kommen. (Leipziger Volkszeitung)

Müller liefert ein anschauliches Bild von Dienstalltag, Motivation und Selbstverständnis der Uffze auf Zeit. Neben eigenen Erfahrungen bilden zahlreiche Interviews die Grundlage für die wohl umfangreichste Betrachtung des Unteroffizierskorps der DDR. (Rostocker Sonntag)

Eine lesenswerte, informative und gut strukturierte Arbeit über die inneren Verhältnisse in der NVA, die für militärgeschichtlich wie militärsoziologisch, aber auch generell an der DDR interessierte Leser von Interesse sein dürfte. (H-Soz-u-Kult)

H-Soz-u-Kult, 7.6.03 Eine lesenswerte, informative und gut strukturierte Arbeit über die inneren Verhältnisse in der NVA, die für militärgeschichtlich wie militärsoziologisch, aber auch generell an der DDR interessierte Leser von Interesse sein dürfte.

 


 

Fehlkauf     7.12.2007    Von casus (Dresden) 

Bei dem vorliegenden Titel handelt es sich in erster Linie um eine eher wissenschaftliche Arbeit, auch wenn Titel und Titelbild etwas anderes suggerieren. Von der Aufmachung habe ich mich täuschen lassen und eher einen Erlebnisbericht eines "Betroffenen" erwartet. Für mich war es deshalb ein Fehlkauf.

Der Autor analysiert sehr umfassend und leider auch trocken die Rolle von Unteroffizieren in der NVA. Die eher an eine Diplom- oder Doktorarbeit erinnernde Lektüre habe ich zu lesen angefangen, später nur überflogen und dann abgebrochen. Insofern möchte ich über den Inhalt nicht den Stab brechen.

Titel und Titelbild halte ich jedoch für dieses Werk als absolut ungeeignet und täuschend. Als Internetkäufer konnte ich weder im Buch blättern noch auf zum Kaufzeitpunkt nicht vorhandene Rezensionen zurückgreifen.

 

 

 

Inhalt    Inhalt.pdf

 

Vorwort  (XI)   Danksagung (XIII)   Einleitung (1)

 

I. Rolle und Entwicklung des Unteroffizierkorps der NVA  (7)

1. Die Charakteristika des Unteroffizierkorps der deutschen Streitkräfte  (7) 

2. Die Entwicklungsprobleme des Unteroffizierkorps der NVA und die Versuche ihrer Lösung - Ein chronologischer Überblick  (15) 

a) Die Anfänge 1956-1961/62  (17)
b) Konsolidierung und Reorganisationsbestrebungen 1962-1969  (21)
c) Fortschreitende Professionalisierung und beginnender Niedergang 1969-1989/90  (31) 

3. Entwicklung und Bedeutung des Dienstverhältnisses Unteroffizier auf Zeit (UaZ)   (43) 

 

II. Vor Eintritt in die NVA. Zur Sozialisation in Elternhaus und Schule   (55)

 

1. Die Rolle der Elternhäuser  (55)

2. Der Einfluß von Schule und »sozialistischer Wehrerziehung« (SWE)   (61)

a) Die »sozialistische Persönlichkeit« als Erziehungsziel und die Rolle der SWE  (61) 
b) Die Entwicklung der »sozialistischen Wehrerziehung« - Ein Überblick  (64) 
c) Die Wahrnehmung der »sozialistischen Wehrerziehung« durch die Betroffenen  (78) 

3. Intensität und Effizienz von Werbemaßnahmen (87)

4. Motive und Erwartungen an den Dienst als UaZ  (95)  a) Das Wehrmotiv (95)  b) Die Erwartungen an den Wehrdienst und ihre Quellen (97)

 

III. Die Ausbildung zum Unteroffizier  (107)

 

1. Die Ausbildung der Unteroffizierschüler an Unteroffizierschulen und in den Truppenteilen der NVA   (107)
a) Die »sozialistische Unteroffizierspersönlichkeit«  (107)
b) Die Entwicklung der Unteroffizierausbildungseinrichtungen  (110)
c) Die Unteroffizierausbildungsprogramme der verschiedenen Teilstreitkräfte (115) Landstreitkräfte 115 Luftstreitkräfte/Luftverteidigung 129  Volksmarine 134  Grenztruppen 139
d) Die Ausbildung von Unteroffizieren in der Dienststellung  (143)
e) Weibliche Unteroffiziere auf Zeit 146 f) Zusammenfassende Bemerkungen zur erreichten Befähigung 150

 

2. Die ersten Erfahrungen in der »totalen Institution« Militär 155

a) Militär als »totale Institution« 155
b) Die Planung und Durchführung des Erziehungsprozesses 157
c) Die Ergebnisse des Erziehungsprozesses und die Folgen für den Habitus der Unteroffizierschüler  168 

 

3. Lebensbedingungen und zwischenmenschliche Beziehungen an den Unteroffizierausbildungseinrichtungen 173 

a) Die Norm der »sozialistischen Beziehungen« 173
b) Das Verhältnis zu den Vorgesetzten 174
c) Das Verhältnis der Unteroffizierschüler untereinander 179
d) Der Status des Unteroffizierschülers 183

 

IV. Formale Hierarchie und Praxis der »sozialistischen Beziehungen«  (189)

 

1. Die Rolle der UaZ in der formalen militärischen Hierarchie  (189)

a) Der Unteroffizier als Erzieher und Ausbüder 189
Die Anforderungen an den Unteroffizier als Erzieher und Ausbüder 189
Der Unteroffizier bei der »kommunistischen Erziehung« 191
»soziaüstischer Soldatenpersönlichkeiten«

Die formale Rolle des Unteroffiziers im Ausbüdungsprozeß 195

b) Ausbildungsprofile, militärische Qualifikation und Dienststellungen 197

Die Zusammensetzung der Gruppe der UaZ in der NVA 197

Aufstiegschancen hinsichtlich Dienstgrad und Dienststellung 198

Zum Grad der militärischen und pädagogisch-methodischen Befähigung   201 

c) Rechte und Pflichten der UaZ 202 # Allgemeine Pflichten und Dienstpflichten 202  #  Allgemeine und disziplinare Rechte 204  #  Ansprüche hinsichtlich materieller Versorgung und Förderung 206

 

2. Die zwischenmenschlichen Beziehungen in der NVA  (212)

 

a) Das Verhältnis der UaZ zu den Berufskadern 212

Soll und Ist 212

Rolle und Austragungsformen von Konflikten 215 in militärischen Organisationen

Die wechselseitige Bewertung von Berufssoldaten und UaZ 219

b) Das Verhältnis zu den Soldaten im Grund-und 227 Reservistenwehrdienst

Problemaufriß - Der Rollenkonflikt der UaZ 227 gegenüber den Wehrpflichtigen

Die Folgen der Formal-Informal-Dichotomie 230

Das Phänomen der »sekundären Anpassung« 234 im Kasernenalltag

c) Das Verhältnis der UaZ untereinander 241

Konfliktlimen innerhalb der Gruppe der UaZ 241

Die Rolle der »EK-Bewegung« unter den UaZ 243

 

V. Die UaZ in den Truppenteilen der NVA   (249) 

1. Versetzung und erste Erfahrungen in der Truppe  (249)  
a) Ernennung zum Unteroffizier, Versetzung und Ankunft im Truppenteil  (249)
b) Erwartungen an den Truppendienst und erste Erfahrungen 252 im Vergleich

2. Der UaZ im Ausbildungsbetrieb sowie im Wach- und Innendienst  (256) 
a) Problemaufriß - Ein Vergleich zwischen formaler und realer Rolle 256
b) Der UaZ im Ausbüdungsprozeß als Ausbilder und Auszubildender 258

Hauptträger der unmittelbaren Führungsverantwortung gegenüber den Wehrpflichtigen   258 

Das Problem des Autoritätswandels im Technisierungsprozeß der Streitkräfte   263 

c) Der UaZ im Wach- und Innendienst  (271) 

Die Problematik des Innendienstes  (271) 

Pflichten und Probleme der Wach- und Tagesdienste   276 

d) Folgen für die Selbst- und Fremdwahrnehmung der UaZ   (281)

3. Die Stellung der UaZ in den Tmppenteüen und Einheiten 283

a) Die Akzeptanz bei Vorgesetzten und Unterstellten  (283)

Die Mikrophysik der Macht 283 Akzeptanz der UaZ durch die Soldaten im Grundwehrdienst 286

Akzeptanz der UaZ durch die Vorgesetzten 291

 

b) Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und Interessendurchsetzung  295 

Beschwerderecht und -praxis 295

Freizeitgestaltung in und außerhalb der Kaserne 302

c) Die Abschottung der kasernierten Armeeangehörigen von der Gesellschaft  (308)

Selektierter Zugang zu Medien 308

Gefahr der Entfremdung von Freunden und Verwandten  (311)   Folgen für die Partnerschaft  (313)

 

VI. Ausmaß und Formen politisch-ideologischer Indoktrination und Überwachung  (317)

1. Politunterricht - Inhalte und Methoden  (317) 

a) Ziele und Funktion der politisch-ideologischen Erziehung in der NVA  (317)

b) Gesellschaftswissenschaftliche Ausbildung und politische Massenarbeit an den Unteroffizierausbildungseinrichtungen  (319)

Gesellschaftswissenschaftliche Ausbildung 319

Das Fach Militärpädagogik und -psychologie 323

Art und Umfang der politischen Massenarbeit 327

c) Politschulung und politische Massenarbeit in den Truppenteilen (330)

Die Politschulung 330

Die politische Massenarbeit im Truppenteil 332

2. Die Partei- und FDJ-Orgamsationen in der NVA - Anspruch und Realität (337)

a) Die Parteiorganisationen in den Truppenteilen der NVA 337

Die Roüe der Parteiorganisationen im Erziehungs- und 338 Ausbüdungsprozeß

b) Die FDJ-Organisationen in den Truppenteilen der NVA 343 Strukturen und Aufgaben 343

Die Rolle der FDJ im Erziehungs- und Ausbildungsprozeß 345

3. Die Überwachung durch die Berufskader 351

4. Die Strukturen des Ministeriums für Staatssicherheit und die  Wirkung informeüer Mitarbeiter in den Tmppenteüen (354)

a) Aufgaben und Strukturen der Hauptabteüung I 354

b) Die Rolle der inoffiziellen Mitarbeiter in den Truppenteilen und Einheiten (355)

c) Die Wahrnehmung des Staatssicherheitsdienstes durch die kasernierten Armeeangehörigen (360)

 

VII. Ausblick und Resümee  (365)

 

1. Selbstverständnis der UaZ und Bewertung des Militärdienstes als Lebensabschnitt im Spiegel der Zeitzeugenbefragung   (365)

a) Mentalität und Selbstverständnis der UaZ  (365)  b) Die Folgen des Wehrdienstes für die Persönlichkeitsentwicklung (368)  c) Die Rolle des Wehrdienstes in der Biographie  (375) 

2. Resümee  (379)

 

 

Bildteil (389)  Pseudonyme und Kurzvorstellungen der Interviewpartner (397)  Glossar (401)

Abkürzungsverzeichnis (405)  Verzeichnis der Diagramme, Tabellen und Schaubilder (411) 

Quellen- und Literaturverzeichnis (413)    Personenregister (427)   Zum Autor (429)

 

 

 

https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-4392

 

Rezensiert für H-Soz-Kult von Nina Leonhard, Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, Strausberg

 

Mit der Gruppe der Unteroffiziere hat man sich im Gegensatz zu den militärischen Eliten seitens der Militärhistoriographie wie auch in der Militärsoziologie bislang nur selten beschäftigt, obwohl die Unteroffiziere als Verbindungsglied zwischen den Soldaten und dem Offizierkorps die Hauptlast der Ausbildung und Erziehung der Masse der Armeeangehörigen tragen. Während für die Bundeswehr zumindest einige Untersuchungen aus den 1980er Jahren vorliegen [1], gibt es über das Unteroffizierkorps der Nationalen Volksarmee (NVA) so gut wie keine Erkenntnisse. Dieses Forschungsdesiderat hat Christian Th. Müller nun für seine Auseinandersetzung mit der Geschichte der NVA aufgegriffen. Die Ergebnisse seiner an der Universität Potsdam eingereichten Dissertation sind im März diesen Jahres in der vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) herausgegebenen Reihe „Militärgeschichte der DDR“ erschienen.

Müller hat seine Untersuchung speziell den Unteroffizieren auf Zeit (UaZ) der NVA gewidmet. Damit sind Zeitsoldaten gemeint, „die sich zwischen 1962 und 1990 zu einer Dienstzeit von in der Regel drei, in den Flottenverwendungen der Volksmarine vier Jahre verpflichtet hatten und als Führer kleiner Einheiten oder militärische Spezialisten im Unteroffizierrang eingesetzt wurden“ (S. 2). Müllers Entscheidung für diesen speziellen Fokus ergibt sich aus der ambivalenten Stellung der UaZ in der NVA: Einerseits fungierten die Unteroffiziere auf Zeit gegenüber den Soldaten im Grundwehrdienst als direkte Vorgesetzte mit Führungs-, Überwachungs- und Disziplinierungsaufgaben, andererseits waren sie wie diese den Zwängen der „kasernierten Vergesellschaftung“ [2] unterworfen (ibid.). Angesichts dieser Zwitterrolle scheinen die UaZ in der Tat ein besonders geeigneter Ausgangspunkt zu sein, um die Binnenstruktur, den Alltag der Armeeangehörigen sowie insbesondere das Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit in der NVA als „sozialistischen Armee“ zu untersuchen (S. 1).

Müller folgt bei seiner Analyse, deren Schwerpunkt auf den 1980er Jahren liegt, der „Ontogenese des Unteroffiziers auf Zeit von seiner Primär- und Sekundärsozialisation über die Phasen des Wehrdienstes bis hin zur Rückkehr in das Zivilleben und zur retrospektiven Bewertung dieses Lebensabschnittes“ (S. 3): Nach einer einführenden Überblicksdarstellung über die Rolle und Entwicklung des Unteroffizierkorps der NVA im Allgemeinen behandelt er zunächst mit Blick auf die Sozialisation in Elternhaus und Schule die Zeit vor dem Eintritt der Zeitsoldaten in die NVA. Er untersucht danach die Ausbildung zum Unteroffizier sowie die formale Hierarchie und Praxis der „sozialistischen Beziehungen“, bevor er auf die Erfahrungen der Unteroffiziere auf Zeit in den Truppenteilen der NVA und auf das Ausmaß und die Formen der politisch-ideologischen Indoktrination und Überwachung eingeht. Im siebten und letzten Abschnitt erfolgt schließlich eine zusammenfassende Bewertung des Selbstverständnisses der UaZ und der biographischen Relevanz des Wehrdienstes.

Müllers Versuch, „die in der SBZ/DDR-Forschung bislang weitverbreitete Fixierung auf die formalen Herrschaftsstrukturen zu überwinden und den offiziellen Anspruch einer ‚sozialistischen Armee’ mit der Wirklichkeit, wie sie sich anhand von Archivalien und Zeitzeugenberichte darstellt, zu vergleichen“ (S. 380), ist insgesamt geglückt: So weist er beispielsweise hinsichtlich der Verpflichtungsmotive nach, dass die dreijährige Verpflichtung zum Unteroffizier auf Zeit höchstens bei Mitgliedern der SED als Zeichen einer besonders ausgeprägten „sozialistischen Wehrmotivation“ gelten kann. Zumeist jedoch war sie eher das Ergebnis der Abwägung beruflicher und materieller Interessen, wobei die insbesondere in der Schule erfolgte politisch-moralische Nötigung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte.

Darüber hinaus arbeitet Müller sehr anschaulich die Probleme heraus, mit denen die Unteroffiziere auf Zeit bei der Durchsetzung ihrer Vorgesetztenautorität konfrontiert waren. Wie er anhand der einzelnen Ausbildungsschritte und unter Berücksichtigung der offiziellen Vorgaben zeigt, wurden die UaZ insbesondere im Hinblick auf die Dienstgepflogenheiten und in „Führungsfragen“ nur äußerst unzureichend auf den Truppendienst vorbereitet.

Deshalb, und weil sie von den Berufsoffizieren kaum anders als die Wehrpflichtigen, die ihnen unterstellt waren, behandelt wurden, hatten sie es schwer, ihre Rolle als Vorgesetzte und Sozialisationsagenten wahrzunehmen.

Noch verschärft wurde dies durch den Altersunterschied zwischen den 18 bis 21jährigen Zeitsoldaten und den zumeist deutlich älteren Wehrpflichtigen. Die UaZ konnten daher, so Müllers Fazit, „ihre Führungs- und Erziehungsaufgaben in der Regel erst nach einer Einarbeitungszeit von ein bis zwei Diensthalbjahren [...] erfüllen“ (S. 381).

Neben dem Aufzeigen der Diskrepanz zwischen traditionaler Amts- und funktionaler Sachautorität, die insbesondere „im Innendienst mit seinen funktional nicht gerechtfertigten Forderungen“ (S. 385) deutlich zu Tage trat, belegt Müller ferner auf eindringliche Weise die Formen „sekundärer Anpassung“, durch welche die formalen Strukturen unterlaufen wurden, so dass die Durchsetzung der Befehle und Dienstvorschriften „nur noch zum Teil gewährleistet werden konnte“ (S. 385). Deutlich erkennbar wird hier die „passive Stärke“ der Unterstellten, die „eine Mischform von Kommando- und Aushandlungsstrukturen“ konstituierte, welche wiederum beispielhaft für die DDR-Gesellschaft insgesamt waren (S. 284 u. 385).

Gleichfalls erhebt Müller den Anspruch, nicht nur neben Wolfram Wettes Forderung nach einer Militärgeschichte „von unten“ [3] Fragestellungen und Ergebnissen der Alltags- und Sozial- sowie der Zeitgeschichtsforschung, sondern auch Erkenntnisse der „Militärsoziologie, aber auch der soziologischen Theorie, der Jugendforschung sowie der Anthropologie und der Sozialpsychologie“ zu berücksichtigen (S. 4). Müllers Bestreben, „die Erkenntnismöglichkeiten verschiedener Wissenschaftsdisziplinen“ zu nutzen und seine „historiographische Analyse [...] durch soziologische Instrumentarien“ zu unterstützen (ibid.), ist ohne Zweifel zu begrüßen, lässt sich doch die Frage nach den inneren Verhältnissen in der NVA in Theorie und Praxis nicht allein auf der Grundlage des Aktenstudiums beantworten.

Vor allem der Rückgriff auf Erving Goffmans Theorem der „totalen Institution“ sowie auf Michel Foucaults Machtbegriff [4] erweist sich als besonders geeignet, um die bereits angedeutete prekäre Stellung der Unteroffiziere auf Zeit zwischen den Wehrpflichtigen auf der einen und den Berufssoldaten auf der anderen Seite sowie – nicht zuletzt am Beispiel der „EK-Bewegung“ [5] – das Verhältnis von formalen und informalen Machtstrukturen zu erfassen.

Soziologisch-hermeneutische Ansätze scheinen bei der Auswertung der Interviews – über die man allerdings nichts weiter erfährt (siehe unten) – jedoch kaum eine Rolle gespielt zu haben, werden doch die Aussagen der Befragten in erster Linie komplementär zu den aus den Akten herausgelesenen Informationen angeführt.

Dies ist um so bedauerlicher, als Müller dadurch mitunter die Chance vergibt, das von ihm immer wieder angeführte, bereits in der Schule ausgebildete und in der NVA verstärkt zum Tragen kommende „Als-ob-Verhalten“, das seiner Ansicht nach einen der wesentlichen Grundzüge der Mentalität der Unteroffiziere auf Zeit ausmacht, empirisch im Einzelnen herauszuarbeiten.

Vor allem deshalb bleibt die Analyse der politischen Haltung der Unteroffiziere auf Zeit und ihr Umgang mit der politisch-ideologischen Indoktrination etwas blass. Die Feststellung, dass die „politisch-ideologischen Erziehungsbemühungen in den Streitkräften zwar in der Lage waren, die zum Zeitpunkt der Einberufung bereits ausgeprägten politischen Auffassungen zu festigen oder zu relativieren, es jedoch nicht vermochten, sie grundsätzlich zu verändern“ (S. 351), klingt somit plausibel, bleibt aber letztlich abstrakt. Auch die Bewertung der Folgen der „gebetsmühlenartigen Wiederholung identischer oder zumindest ähnlicher Thesen“, die „in erster Linie Lethargie bei den Betroffenen“ erzeugt und „die Diskussion abweichender Standpunkte in der Regel vermieden“ hätten, leuchtet ein (ibid.).

Genau über diese „Lethargie“, die, wie Müller ausführt, systemstabilisierend wirkte und durch die „die Wehrpflichtigen und Zeitsoldaten als Teil der Bevölkerung über längere Zeit neutralisiert“ werden konnten, der aber andererseits ein mitunter hohes Maß an „Pflichtbewusstsein, Leistungsbereitschaft und Loyalität gegenüber der durchaus als Heimat betrachteten DDR“ (S. 387) gegenüberstand, hätte man gerne mehr erfahren, betrifft dies doch ein grundsätzliches Wesensmerkmal der Herrschaftsstrukturen in der DDR, das, wie Müller selbst richtig feststellt, in der NVA genauso wie in anderen Bereichen der Gesellschaft wirkte.

Ein Grund für manche solcher Unschärfen liegt in der mangelnden Erläuterung des methodischen Vorgehens. Die in der Einleitung genannte Zahl von 52 Befragten bezieht sich offenbar auf die schriftliche Befragung, da im Anhang nur 36 Personen als Interviewpartner aufgeführt werden. Geht daraus zumindest die Anzahl der mündlich befragten Wehrpflichtigen, Zeitsoldaten und Berufssoldaten hervor, bleibt die Zusammensetzung des schriftlich befragten Samples im Dunkeln. Dies ist insofern von Bedeutung, als die Auswertung der schriftlichen Befragung eine wesentliche Rolle bei der Gegenüberstellung von Anspruch und Realität des NVA-Alltags darstellt. Angesichts der kleinen Fallzahlen ist außerdem zu fragen, ob man die Ergebnisse anstatt in Prozent nicht besser in absoluten Zahlen hätte angegeben sollen. Bedauerlich ist ferner das Fehlen jeglicher Informationen über die Durchführung der Interviews und die Art der Auswertung. Zwar weist Müller im Anhang darauf hin, dass die Fragebögen, Interviewleitfäden und transkribierten Interviews beim MGFA einzusehen sind (S. 397). Für mehr Transparenz und eine unmittelbar größere Nachvollziehbarkeit bei der Lektüre hätte man allerdings erwarten können, dass die wichtigsten Informationen über die Erhebung und Auswertung der Interviews in einem gesonderten Abschnitt kurz zusammengefasst werden.

Trotz dieser Einschränkung stellt das Buch von Müller in jedem Fall eine lesenswerte, informative und gut strukturierte Arbeit über die inneren Verhältnisse in der NVA dar, die für militärgeschichtlich wie militärsoziologisch, aber auch generell an der DDR interessierte Leser von Interesse sein dürfte. Zu hoffen bleibt, dass weitere Forscherinnen und Forscher dem Beispiel Müllers folgen werden: Zum einen ist es wichtig, dass in zukünftigen Studien die vergleichende Perspektive gestärkt wirkt. Denn nur so können spezifische Eigenheiten der NVA (oder einer anderen Armee) gegenüber allgemeinen Besonderheiten im Militär identifiziert werden, wie es Müller – sofern es die magere Datenlage erlaubt hat – ansatzweise mit Blick auf das Unteroffizierkorps der Bundeswehr versucht hat. Zum anderen ist dieses Buch das beste Beispiel dafür, wie fruchtbar es ist, über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinauszublicken und andere wissenschaftliche Ansätze zu berücksichtigen.

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Anmerkungen:

[1] Siehe z.B. Klein, Paul (Hg.), Das strapazierte Rückgrat. Unteroffiziere der Bundeswehr, Baden-Baden 1983; Grodzki, Manfred; Klein, Paul; Rohde, Horst (Hgg.), Soldat – ein Berufsbild im Wandel, Bd. 1: Unteroffiziere, Bonn 1989. [2] Treiber, Hubert, Wie man Soldaten macht. Sozialisation in „kasernierter Vergesellschaftung“, Düsseldorf 1973. [3] Vgl. Wette, Wolfram, Militärgeschichte von unten, in: ders. (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992, S. 9-47. [4] Vgl. Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1973; Foucault, Michel, Dispositive der Macht, Berlin 1978; ders., Mikrophysik der Macht, Berlin 1976. [5] EK steht für Entlassungskandidat; mit „EK-Bewegung“ wird eine NVA-spezifische Ausprägung einer informalen Hierarchie unter Wehrpflichtigen bzw. Zeitsoldaten bezeichnet, die sich an der Zahl der noch in der Armee zu dienenden Tage orientiert.

Zitation

Nina Leonhard: Rezension zu: Müller, Christian Th.: Tausend Tage bei der "Asche". Unteroffiziere in der NVA. Berlin 2003. ISBN 3-86153-297-2, In: H-Soz-Kult, 24.06.2003, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-4392>. Copyright (c) 2021 by H-NET, Clio-online and H-Soz-Kult, and the author, all rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial, educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact hsk.redaktion@geschichte.hu-berlin.de.

 

 

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Christian Th. Müller (2003) Tausend Tage bei der »Asche« Unteroffiziere in der NVA